Rainer Winkels Kritik an der „emanzipatorischen Pädagogik“ [Textfassung a]
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Rainer Winkels Kritik an der
emanzipatorischen Pädagogik

Viele Erziehungswissenschaftler in die richtige Traditionslinie gestellt, diese aber falsch beschrieben

[125:1] Es wird derzeit an der merkwürdigen Konstruktion gebastelt, die sogenannte emanzipatorische Pädagogik könne bei der Erklärung von beklagenswerten Erscheinungen der gegenwärtigen pädagogischen Praxis in besonderer Weise in Anspruch genommen werden. Nun hat auch Rainer Winkel in diesen Streit eingegriffen und zwar mit einer Rhetorik, die mich an die Rede des Antonius erinnert:
But Brutus was an honorable man!
Winkel behauptet beispielsweise folgendes:
  • [125:2] Die Rationalitätszumutungen jener
    emanzipatorischen Pädagogik
    hätten zu einer
    Bauchkultur
    , ihre Theoreme hätten zu
    didaktischem Anarchismus
    geführt;
  • [125:3] Das Nachdenken über den Zusammenhang von Erkenntnis und Interesse sei in der Pädagogik
    kläglich gescheitert
    ;
  • [125:4] Die
    emanzipatorische Pädagogik
    sei
    ohne Sensibilität für die Emanzipation der Frau
    gewesen.
[125:5] Auch mir tut Rainer Winkel Ehre an: Ich sei dafür verantwortlich, daß man es heute mit
Unerzogenen
zu tun habe.
[125:6] Wie soll man angesichts einer derartigen Mischung aus Vorurteil, mangelhafter Lektüre, Unterstellungen, historiographischer Nachlässigkeit und sozialwissenschaftlicher Unaufgeklärtheit reagieren? Soll man es auf sich beruhen lassen?
[125:7] Ich will das nicht und mache deshalb auf einige Schwierigkeiten aufmerksam.
  1. Erstens:
    [125:8] Die
    emanzipatorische Pädagogik
    – wenn man denn schon dieses Etikett für im Detail ziemlich Verschiedenes verwenden will – hat sich nicht das Insgesamt dessen, was wir Erziehung und Bildung nennen, zum Thema gemacht. Vielmehr, wie in der Wissenschaft üblich, nur einige Komponenten dieser Wirklichkeit. Es ist deshalb richtig, daß es Bereiche im Felde pädagogischer Fragen gibt, die dort nicht behandelt wurden. Es ist aber merkwürdig, wenn daraus ein Vorwurf konstruiert wird.
  2. Zweitens:
    [125:9] Davon abgesehen, sind manche Vorwürfe dennoch richtig. Zum Beispiel der, daß die Geschlechterdifferenz vernachlässigt worden sei. Das aber ist nun gerade kein Charakteristikum der
    emanzipatorischen Pädagogik
    , wie ein Blick in die Wissenschaftsgeschichte der Pädagogik zeigt. Ähnliches gilt für
    rationalistische Erziehung
    .
  3. Drittens:
    [125:10]
    Aber vielleicht will Rainer Winkel gar nicht den wissenschaftlichen Diskurs zurechtrücken. Und die Auswahl, die er unter den zitierten Autoren trifft, ist ihm eher zufällig aus der Feder gerutscht. Vielleicht meint er ja die gegenwärtige pädagogische Praxis oder, vorsichtiger gesprochen, einige ihrer Tendenzen, die ihm mißfallen. Aber dann – das liest sich für wissenschaftsgeschichtlich aufgeklärte Kollegen ziemlich überraschend – soll die
    emanzipatorische Pädagogik
    Ursache sein für derart Beklagenswertes.
    Da ist eine ärgerliche Art von Wissenschaftsgläubigkeit im Spiel. Ich habe jedenfalls immer angenommen, daß Denken und Handeln zweierlei sind und daß deshalb auch das Handeln sich nicht schon deshalb ändert, weil hier oder dort anders gedacht würde. Wie nun aber eine Handvoll erziehungswissenschaftlicher Autoren – ohne sich auf staatliche oder ökonomische Macht zu stützen – es geschafft haben könnte, derart Schlimmes anzurichten, ist mir schleierhaft.
  4. Viertens:
    [125:11]
    Immerhin aber haben
    manche ihrer (der
    emanzipatorischen Pädagogik
    ) Vertreter
    eben dies sich zum Thema gemacht. Zum Beispiel war uns damals, zwischen 1966 und 1975, die Frage wichtig, wie sich das Denken häufig unauffällig jenen Verhältnissen anbequemt, die beklagenswert erscheinen. Und auch die, ob dann nicht wenigstens diejenigen, die in Akademien für das Denken bezahlt werden, aus solcher Bequemlichkeit sich lösen könnten. Und so haben sie denn – Akademiker und Praktiker – gelegentlich zusammengewirkt.
    Die Akademiker versuchten, das Handeln so einzurichten, daß Einsicht und Handeln nicht so weit voneinander entfernt blieben. Wie der Übergang vom einen zum anderen von den geprüften Argumenten zur aushaltbaren Praxis, beschaffen sein mag, das zu wissen kann nur der Scharlatan behaupten. Denn dazwischen liegen der Zustand von Familien, die ökonomischen Ungleichheiten, die Verschiedenheit von Mentalitäten, die institutionellen Bedingungen, die administrativen Vorgaben, die politischen Klimata, die Autoritätshierarchien, auch gesamtgesellschaftlich Unvorhergesehenes.
  5. Fünftens:
    [125:12]
    Rainer Winkel betont,
    nichts soll von den Wahrheiten der
    emanzipatorischen Pädagogik
    zurückgenommen werden
    im übrigen aber hätte sie Unheil angerichtet. Ausgerechnet an mir demonstriert er dann den ersten seiner Vorwürfe: Mein Satz, der Pädagogik falle
    die Aufgabe zu, in der heranwachsenden Generation das Potential gesellschaftlicher Veränderungen hervorzubringen
    – gewiß ein unschöner Satz –, enthalte eine
    Instrumentalisierung
    von Kindern; enthalte die Meinung,
    Kinder, Schüler, Jugendliche dienen meinen, unseren Interessen
    . Habe ich richtig gelesen?
    Ich denke – um meinen eigenen Satz hier noch einmal zu erläutern –, daß ich gut daran tue, meine Kinder so zu erziehen, daß sie imstande sind, ihr Handeln so einzurichten, daß die Welt besser wird, als sie ist.
    Potential gesellschaftlicher Veränderung
    ist eine – ich gebe es zu – etwas gestelzte Formel für diese einfache Sache. Jedenfalls aber meint sie das Gegenteil von
    Instrumentalisierung
    .
    Die preußische Schulgesetzgebung der Mitte des 19. Jahrhunderts, die Jugendpflege-Erlasse des Kaiserreichs, die Einwirkungen der Großindustrie auf die Berufsbildung der sechziger Jahre, die
    wertkonservativen
    Verordnungsabsichten von diesen und jenen Kulturpolitikern – das alles und ähnliches sind vielleicht
    Instrumentalisierungen
    des Nachwuchses für
    unsere
    Zwecke. Das
    Potential gesellschaftlicher Veränderungen
    hingegen kann sich auch gegen mich, gegen uns, gegen jedes Instrumentalisierungsinteresse richten. Und da meine Vernunftkräfte begrenzt sind, stehen bei jedem neuen Argument der jungen Generation diese auf dem Spiel. Für so riskant halte ich das Unternehmen
    Demokratie
    .
    Rainer Winkel ist der geradezu klassische Fall eines flexiblen
    Neo-Konservativen
    . Er will es mit keinem verderben. Hätte er doch nur nicht nur Jürgen Habermas’ Aufsatz
    Erkenntnis und Interesse
    , sondern auch das gleichnamige Buch gelesen, mit den dichten Interpretationen der Psychoanalyse! Und das Ehepaar Mitscherlich nicht so schräg zitiert! Manches verquere Urteil hätte er sich vielleicht erspart.
[125:13] Die
Gefahr einer Instrumentalisierung von Kindern
hätte er (übrigens schon bei Horkheimer) von manchen Vertretern der
emanzipatorischen Pädagogik
ziemlich pointiert kritisiert gefunden:
  • [125:14]
    die Einseitigkeit einer rationalistischen Erziehung
    könnte ich ihm für gelegentliche Äußerungen zugestehen;
  • [125:15] die
    pauschale Schwarzweißmalerei
    ist als Vorwurf ein beliebtes, aber falsches Stereotyp, es sei denn, es handelt sich um die, denen es gut geht (Rainer Winkel und ich z. B.), und die, die ungerecht leiden;
  • [125:16] die geschlechtsspezifische Solidarität habe ich in Rainer Winkels Forschung (ich meine
    Forschung
    ) bis heute nicht erkennen können und vermute deshalb, daß es sich um ein allgemeineres Problem handelt. Und mit der
    Scheu, Regeln, Rituale und Referees" (Was ist das? K. M.) in der Erziehung zu akzeptieren
    , hat Winkel wohl recht. Dieses Problem haben wir, und Winkel weiß das vielleicht, seit dem 18. Jahrhundert – an dieser Stelle wäre ich bereit, mich selbst zu korrigieren.
[125:17] Rainer Winkel beschließt seine Aufrechnung von Gewinn und Verlust der
emanzipatorischen Pädagogik
mit den aus Ossietzky gefolgerten Fragen:
Wem aber nutzen die Fäuste? Wem nutzen die sich darreichenden Hände?
[125:18] Wem nutzt Winkels Artikel? Eine Schwarzweißfrage mit Grautönen. Soll das Grau die Farbe der Antwort sein? Vielleicht gibt es Leute, die das mögen oder denen das gar vonNutzen ist. Ich gehöre nicht dazu. Aber ich kenne viele andere, denen solche Traktate passend scheinen. Und auch der Autor des erbaulichen Artikels ist salviert, hat er doch versucht, sich nach beiden Seiten hin abzusichern. Diderot hätte das wohl nicht getan.