Über die bildende Wirkung ästhetischer Erfahrung [Textfassung a]
|a 17|

Uber die bildende Wirkung ästhetischer Erfahrung

[126:1] Der Schein des Schönen ist ubiquitär – jedenfalls in der kommentierenden kulturdiagnostischen Rhetorik. Er liegt zwar nicht, wie Karl-Heinz Bohrer meint, wie
ein Terror über dem Land
; aber die universalisierende rhetorische Attitüde, die so viel Plausibilität verbreitet, macht es denen, die widersprechen möchten, schwerer als ehedem. Wenn die Rede geht von der
Ästhetisierung
, der
Verhübschung
unserer Lebensformen (Welsch), vom
Aufstieg des Ästhetischen zum Paradigma der zeitgenössischen Gesellschaft
(Mattenklott)
, von der Bilderflut, hinter der die Referenten der Wirklichkeit angeblich entschwinden, oder davon, daß selbst die wissenschaftliche Rede nicht etwa Wirklichkeit zur Sprache bringe, sondern
fiktionär
sei, also einem ästhetischen Konstruktionsmodus folge – nehme ich also derartige Redeweisen vom Ästhetischen als einem nicht nur marginalen, sondern zentralen Merkmal unserer kulturellen Lage zur Kenntnis, dann denke ich: nein, dies ist nicht mein Thema; ich habe kein Motiv, diese verwirrenden und teils auch verworrenen Diskurse durch eigene Bemühung zweifelhaft zu bereichern. Das Verhältnis zwischen den behaupteten Sachverhalten und den rhetorischen Figuren, in denen solche Sachverhalte zur Sprache gebracht werden, ist mir unklar. Freilich mag ich nicht widersprechen, wenn es heißt, daß es in der Neuzeit keine Epoche gegeben habe, in der die kulturkommentierende Rede derart ästhetische Blickpunkte zu universalisieren versucht, wie die gegenwärtige. Früher nannte man das gelegentlich
Überbau
. Blicke ich indessen auf den
Unterbau
oder auch nur Zwischenbau, auf die kulturellen Sachverhalte also, die die Überbau-Rhetorik zur Sprache bringen möchte, dann vermisse ich, an Geschichte orientiert und angesichts der expliziten und impliziten Vergleichsurteile, die mir in jenen Diskursen begegnen, die Daten. Nehme ich die überwältigende Flut von Ästhetisierungen zur Kenntnis, die in der Frührenaissance die öf|a 18|fentlichen und halböffentlichen Räume in einigen italienischen Regionen überschwemmte und die intellektuelle und ökonomische Elite bis in ihre privaten Lebensformen hinein durchdrang, dann frage ich mich, ob das, was als Charakteristikum der Gegenwart behauptet wird, tatsächlich so originell ist oder ob die Originalität vielleicht nur in der Tätigkeit der Kommentatoren zu suchen wäre. Aber ich sagte ja schon: zur Bereicherung dieser Art von Tätigkeit fehlt mir das Motiv.
[126:2] Ähnlich geht es mir mit einem Typus von bildungstheoretischer Rhetorik auf der gleichsam anderen Seite dieser fingierten Problemlage.
Mindestens eine ästhetische Kompetenz besitzen wir alle
, schrieb kürzlich Gert Selle, nämlich:
die Logik des Spürens gegen die Scheinrationalität der Verhältnisse zu richten oder mit der Kraft der Sinne der Entsinnlichung unserer Lebenswelten eine Absage zu erteilen
1
1Vgl. Selle, G. (Hrsg.): Experiment Ästhetische Bildung. Reinbek 1990, S. 14.
. Besteht eigentlich, so frage ich mich, irgendein argumentativer Kontakt zwischen jenen Ästhetisierungs-Rhetorikern, die eine zunehmende reale Verallgemeinerung von Ästhetisierungen der Lebensformen behaupten, und denen, die wie Selle gerade deren
Entsinnlichung
beklagen? Man müßte schon einen sprachlichen Ausdruck wie etwa
entsinnlichte Ästhetisierung
für sinnvoll und hilfreich halten, um eine argumentative Brücke zu bauen. Aber auch dazu fehlt mir das Motiv, obschon Wolfgang Welsch mit Hinweis auf die weitverzweigte Semantik des Wortes
ästhetisch
mir würde hilfreich sein können. Was mich aber an dem Zitat Gert Selles vor allem irritiert, ist sein symptomatischer Charakter. Es handelt sich um einen Topos, mit dem die reformpädagogischen Bemühungen seit Beginn der Neuzeit einen Teil ihrer Rechtfertigungen suchten. In der
Kraft der Sinne
einen Grund zu finden, um die Reformen in Bewegung zu halten, und zwar in Opposition zu den abstrakteren Formen der Verstandestätigkeit, gar zu der
Scheinrationalität der Verhältnisse
, das ist, so scheint mir, ein hartnäckiges Partikel der pädagogischen Erzählungen. Dieser Topos ist, wie in mythologischen Konstrukten, resistent gegen Erfahrungen der Vergeblichkeit. Das gilt besonders für seine ästhetische Version, die uns seit Herder vertraut ist und nun, subjekttheoretisch, das
Spüren
gegen die
Verhältnisse
setzt, ausgestattet mit der offenbar unausrottbaren Hoffnung der Pädagogen, Erziehung, nun besonders ästhetische, könne etwas ausrichten zur Verbesserung der Lebensformen.
|a 19|
[126:3] Zu beiden Problemkomponenten, der kulturdiagnostischen und der pädagogisch-moralischen, habe ich nichts beizutragen. Ich bevorzuge statt dessen eine Perspektive, die nach zwei Seiten hin begrenzt ist: ich möchte von den Erfahrungen sprechen, die Kinder machen können, wenn sie ästhetische Produkte hervorbringen – und ich möchte mich dabei vorsichtig leiten lassen von dem engeren Begriff von Ästhetik, der sich, wie es in unserer Kultur heißt, auf die Hervorbringungen von
Kunst
bezieht.2
2Ein solcher Versuch riskiert Mißverständnisse. Es ist damit nicht im mindesten gemeint, daß die ästhetischen Produkte von Kindern als Kunst betrachtet werden sollten. Ihnen fehlen zu viele Merkmale dessen, was heute
Kunst
genannt werden kann, als daß eine solche Betrachtung sinnvoll sein könnte. Daß ich mich dennoch von
Kunst
leiten lassen möchte, soll nur bedeuten, daß auch das Verständnis der kulturellen Tätigkeiten von Kindern von dem Begriff profitiert, der in einer gegebenen Kultur profiliert wurde. Religiöse Bildung beispielsweise bringt
Religion
ins Spiel, politische Bildung einen historisch konturierten Begriff von Demokratie. Man kann also mit Gewinn, wie es D. Benner für die Vielzahl der Praxen gezeigt hat, sich leiten lassen vom jeweils kulturell gegebenen Begriff der Sache, der
Praxis
, wenn man vermeidet, die Praxen hierarchisch anzuordnen, in unserem Fall dann etwa so, als sei die ästhetische Tätigkeit von Kindern der aktuellen Kunst-Praxis untergeordnet. Zwischen beiden besteht ein problematisches Verhältnis.- Vgl. Benner, D.: Allgemeine Pädagogik. Weinheim, München 1987.
Die Beispiele, an denen ich meine Fragen erläutern möchte, entnehme ich der Musik. Ich habe dafür zwei Gründe: Während Bildmaterialien schon lange und unter verschiedenen Gesichtspunkten Eingang in die Argumentation der Allgemeinen Pädagogik gefunden haben, ist von musikalischen Ereignissen immer noch nahezu ausschließlich nur in didaktischen und therapeutischen Kontexten die Rede; ich möchte nun endlich auch die Musik in unsere bildungstheoretischen Bemühungen einfädeln.3
3Diese Absichtserklärung mag anmaßend klingen. In der umfangreichen musikpädagogischen Literatur finden sich kaum empirisch begründete, also objektivierte Hinweise auf die Bedeutung musikalischer Erfahrung für die Bildung des Kindes. Derartige Begründungen werden dem bloßen Meinen überlassen, um dann rasch zu den Lehr-Lern-Problemen übergehen zu können.- Vgl. etwa Abel-Struth, S.: Grundriß der Musikpädagogik. Darmstadt 1985. Auf der Seite der allgemeinen Pädagogik oder der Bildungstheorie sieht es ähnlich öde aus: Probleme der sprachlichen Kompetenz und der damit verbundenen Erfahrung, der moralischen Urteils- und Handlungsfähigkeit, der Entwicklung von Raum- und Zeit-Begriffen, auch der Bedeutung bildnerischer Ereignisse gehören inzwischen zum selbstverständlichen Bestand bildungstheoretischer Argumentationen; die musikalische Erfahrung wird demgegenüber nur marginal oder gar nicht zur Sprache gebracht und der Fachdidaktik überlassen. Vielleicht hat die Asymmetrie auch damit zu tun, daß im Hinblick auf jene anderen Dimensionen des Bildungsprozesses man sich in Soziologie, Linguistik, Ethik, Politikwissenschaft, Kunstgeschichte kundig gemacht hat, die vergleichbare Aufmerksamkeit aber der Musikwissenschaft, insbesondere der Musiktheorie und Musikhermeneutik versagte.
Der zweite Grund betrifft die |a 20|musikalisch-ästhetischen Sachverhalte selbst, denn Musik ist gleichsam die radikalste Probe auf die Behauptung, ästhetische Erfahrungen hätten etwas mit Bildung zu tun und seien also bedeutungsvoll für unser Leben im ganzen. Ehe ich jedoch die von Kindern produzierten musikalischen Improvisationen präsentiere, erläutere ich einige meiner Fragen, und den Musikstücken samt deren Beschreibung lasse ich dann, abschließend, einige verallgemeinernde Deutungen folgen.

1. Fragestellungen

[126:4] Gleichviel, was wir uns im Rahmen bildungstheoretischer Argumentationen zum Thema machen und welcher Terminologien wir uns dabei bedienen – es sind drei in der Ästhetik-Diskussion unstrittige Fragen, die auf jeden Fall einer Vergewisserung bedürfen, wenn von der ästhetischen Dimension der Bildung die Rede sein soll: Was ist der Gegenstand ästhetischer Erfahrung? Wie verhält diese sich zum ästhetischen Objekt? Und wie verhält das Dokument sich, ästhesiologisch4
4Der von H. Pleßner eingeführte Terminus einer
Ästhesiologie des Geistes
hat in der Bildungstheorie bisher kaum Spuren hinterlassen.- Vgl. Pleßner, H.: Anthropologie der Sinne. Gesammelte Schriften Bd. 3, Frankfurt/M. 1980. Nur im Umkreis der phänomenologisch orientierten Pädagogik werden derartige Problemstellungen fortgeführt, wenngleich als
Minderheiten-Position
innerhalb der Disziplin.- Vgl. z.B. Lippitz, W./Rittelmeyer, Chr. (Hrsg.): Phänomene des Kinderlebens. Heilbrunn 1989; Meyer-Drawe, K.: Illusionen von Autonomie. Diesseits von Ohnmacht und Allmacht des Ich. München 1990. Das ist angesichts der unübersehbaren Behauptung von der
Ästhetisierung
der Lebensformen verwunderlich, denn ein ernsthaftes Verfolgen der von Pleßner – oder vor zwei Jahrhunderten bereits von Herder – begonnenen Linie, bis hin zu den neuesten Ergebnissen der Physiologie und der Erforschung von Nervenzellen, läge eigentlich nahe.
, zum Subjekt der produktiven oder rezeptiven ästhetischen Tätigkeit?
|a 21|
[126:5] Der Gegenstand ästhetischer Erfahrung ist nicht das beschreibbare Mediending, nicht das bloß konfrontierte Spüren5
5Vgl. Pothast, U.: Philosophisches Buch. Schrift unter der aus der Ferne leitenden Frage, was es heißt, auf menschliche Weise lebendig zu sein. Frankfurt/M. 1988.
eines materialen Widerstandes wie die Härte des Steins, der Schmerz im Knie, der schrille Ton, die geblendete Netzhaut. Diese Feststellung ist trivial; sie gilt für alles, was zeichenhaft ist; auch beim Lesen ist nicht die unregelmäßig verteilte Druckerschwärze der Gegenstand meiner Leseerfahrung, beim Hören dieses Vortrags nicht die Verteilung von Frequenzen. Obwohl also alles, was irgendwie
Bedeutung
hat, immer zwischen den physiologisch beschreibbaren Sinneswahrnehmungen und den Codierungs- und Decodierungsakten des Subjektes liegt, der Erfahrungsgegenstand deshalb in diesem Zwischenfeld angenommen werden kann, gilt für die ästhetische Erfahrung – jedenfalls dann, wenn man sie von der Kunst her ins Auge faßt – eine zusätzliche Einschränkung: sie hat, in der Terminologie Nelson Goodmans, eine
metaphorische Exemplifikation
zum Gegenstand6
6
Vgl. Goodman, N.: Sprachen der Kunst. Frankfurt/M. 1973
.
; da aber das ästhetische Produkt nur die gleichsam eine Seite der Metapher präsentiert und nicht notwendig schon sagt,
als was
sie gesehen oder gehört werden soll7
7Diese Behauptung führt eine Argumentation weiter, die Ricoeur im Anschluß an Wittgenstein für die sprachliche Metapher geltend macht.
Das
Sehen als ...
(bezeichnet) die nichtsprachliche Vermittlung der metaphorischen Aussage
, der
metaphorische Sinn ... lebt von der Tiefendimension des Imaginären
, die Metapher sei die Verbindung
zwischen einem sprachlichen und einem nichtsprachlichen Moment
.-
Ricoeur, P.: Die lebendige Metapher. München 1986, S. 207, 198
. Eben dies läßt sich nicht nur für die sprachliche Metapher geltend machen, sondern, wie Ricoeur es für die bildende Kunst vorschlägt, auch auf die bildnerischen oder musikalischen Produkte von Kindern anwenden. Der Unterschied zur sprachlichen Metapher besteht darin, daß nicht ihre beiden Elemente zuverlässig gegeben sind, sondern nur eines. Von ästhetischen Produkten als
Metaphern
zu reden, ist mithin nur sinnvoll, wenn die Behauptung als eine im Prinzip einlösbare Unterstellung behandelt wird.
, ist der
Gegenstand
der ästhetischen Erfahrung das symbolisierende Spiel zwischen der Einbildungskraft und den materialen Eigenschaften des Objekts.
|a 22|
[126:6] Das ästhetische Objekt, das beschreibbare Mediending, ist dem einen, dem Rezipienten, Anlaß für ästhetische Erfahrung. Für den anderen, den Produzenten, ist es das Dokument einer Erfahrung. Da es die eine Hälfte der Metapher ist, kann diese gar nicht anders verstanden werden als durch eine sorgfältige Beschreibung des Objektes. Das gilt nicht nur für
Kunst
, sondern auch für die Hervorbringungen von Kindern. An musikalischen Produkten wird das vielleicht noch deutlicher als an bildnerischen: Können wir an Kinderzeichnungen beispielsweise immer noch im Regelfall außerästhetische Referenten ausmachen, durch figürliche Bestandteile des Bildes etwa, so ist uns im Falle der Musik dieser Ausweg versperrt: die musikalischen Figurationen verweisen immer nur auf andere musikalische Figurationen. Zu einer gemalten Pfeife kann man immerhin noch sagen
Dies ist keine Pfeife
; zu einer fallenden Terz kann man nicht sagen, es sei keine, allenfalls könnte man sagen, es sei der Ruf des Kuckucks.8
8Was tut man aber, wenn man die fallende Terz mit dem Kuckuck in Zusammenhang bringt? Man identifiziert, in einer diatonischen Musikkultur, in der überdies die Terz eine hervorragende Rolle spielt, einen
Natur-Laut
als ein Partikel dieser Kultur. Man bleibt also innerhalb des Kreises musikalischer Ereignisse. Alles andere wäre freie Assoziation.
Man kann das auch so ausdrücken: Die Musik gestattet uns keine Ausreden in außerästhetische Erfahrungen hinein. Aus diesem Grunde auch sind etwa psychoanalytische Deutungen musikalischer Ereignisse um vieles peinlicher, als solche Deutungen bildnerischer Ereignisse es sind.
[126:7] Mit dem Hinweis auf psychoanalytische Deutung ist indessen die dritte meiner Grundfragen angesprochen, die andere Hälfte der Metapher. Wenn, nach Nelson Goodman, ästhetische Objekte
metaphorische Exemplifizierungen
sind, als Beispiele oder Proben für etwas; wenn wir nicht durch gründlich eingespielte Konventionen auf Anhieb wissen können, was dieses Etwas ist; und wenn schließlich aus dem metaphorischen Charakter des Objektes oder Dokumentes folgt, daß erst die Erschließung dessen, was das Exempel exemplifiziert, was es
ausdrückt
, wovon es eine Probe ist, das Verstehen des metaphorisch strukturierten Objektes ermöglicht – dann bleibt uns, wenn ich recht sehe, keine Wahl: wir müssen auf die Suche gehen nach diesem
Wovon
, etwa so, wie Gottfried Boehm es in bezug auf Bilder sowohl in |a 23|begrifflichen Umrissen als auch in Einzelanalysen getan hat.9
9Mir scheint, daß das theoretische Programm und die Bildanalysen Gottfried Boehms den gegenwärtig überzeugendsten Berührungspunkt zwischen Kunstwissenschaft und Bildungstheorie präsentieren, sofern deren phänomenologisch-hermeneutisch zugängliche Komponente in Rede steht.- Vgl. Boehm, G.: Zu einer Hermeneutik des Bildes. In: Gadamer, H.-G./Boehm, G.: Seminar: Die Hermeneutik und die Wissenschaften. Frankfurt/M. 1978, S. 444-471; Ders.: Bildsinn und Sinnesorgane. In: Anschauung als ästhetische Kategorie. Hrsg. v. Bubner, R./Cramer, K./ Wiehl, R. Göttingen 1980, S. 118-132 (Neue Hefte für Philosophie, H. 18/19); Ders.: Über die Konsistenz ästhetischer Erfahrung. In: Zeitschrift für Pädagogik 36 (1990), S. 469-480.
Jedes Werk der Kunst
, also auch der musikalischen, präsentiere einen
sinnlich organisierten Sinn
.10
10
Boehm, G.: Bildsinn und Sinnesorgane. A.a.O., S. 119
.
Ich sehe keinen Grund, dies nicht auch für die Werke von Kindern zu behaupten. Man ahnt sogleich die Zustimmung, die diese These finden wird, zeigen doch Entwicklungstheorie und therapeutische Berichterstattung seit je schon, daß das sinnlich organisierte Material der Kinder- und Klientenprodukte es erlaubt, den Entwicklungsstatus oder den Krankheitssinn zu rekonstruieren. Derartige subsumptionslogische Urteile sind indessen in der Sichtweise Boehms nicht im Blick. Es mag gelegentlich hilfreich sein, auch vor Deutungsfehlern bewahren, Robert Schumanns
Album für die Jugend
, van Goghs Bilder aus St. Remy oder das Produkt eines 12jährigen Kindes im Kontext seelischer Erkrankung oder entwicklungslogischer Regression zu interpretieren; die Eigentümlichkeit der in der sinnlichen Organisation des Materials dokumentierten ästhetischen Erfahrung berühren solche Urteile aber höchstens am Rande. Es ist deshalb ein Weg zu finden, aus den Dokumenten der kindlich-ästhetischen Praxis den Erfahrungsmodus und also den Bildungssinn zu ermitteln, der in ihnen zur Darstellung kommt. Das ist, wie sich gleich zeigen wird, höchst schwierig.
[126:8] Zwei mögliche Mißverständnisse möchte ich aber zuvor noch abwehren: Man könnte meinen, ich wollte durch die Analogisierung von Kunst- und Kind-Produkten den alten Topos vom
Genius im Kinde
wieder aufwärmen. Das ist nicht meine Absicht. Allerdings möchte ich den methodischen Stand, den die Kunstwissenschaft und die Musik-Hermeneutik derzeit erreicht haben, auch auf die Produkte von |a 24|Kindern anwenden. Argumentative Hilfe finde ich dazu in der Theorie der Ästhetik. Martin Seel hat eine Beurteilungshierarchie ästhetischer Ereignisse vorgeschlagen, die mir nützlich scheint. Es gebe, so meint er, zunächst die Frage, ob ein Ereignis oder Gegenstand überhaupt ästhetisches Interesse verdiene; es gebe sodann die Frage, ob dieses Ereignis oder dieser Gegenstand ästhetisch relevant genannt werden dürfe; ein solches Relevanzurteil aber sei, schließlich, nur möglich, wenn ein virtueller Begriff von ästhetisch Gelungenem im Spiel sei.11
11Vgl. Seel, M.: Die Kunst der Entzweiung. Frankfurt/M. 1985, S. 180ff.
Ästhetische Produkte von Kindern sind in der Zone ästhetisch relevanter Gegenstände zu lokalisieren.
[126:9] Ein zweites Mißverständnis könnte dem Argwohn entstammen, ich hätte eine gänzlich unhistorische, gegenüber gesellschaftlichen Bedingungen völlig gleichgültige Deutung ästhetischer Ereignisse im Sinn. Obwohl ich die Frage offen lassen möchte, wie sich universalistische Annahmen – etwa gegründet auf die Physiologie des Gehörs – zur Historizität des musikalischen Materials verhalten: unschwer läßt sich erkennen, wie dicht die musikalischen Improvisationen von Kindern an die konventionellen Bestände gebunden sind. Das zeigt sich nicht nur in der diatonischen Organisation des Materials – schon durch die Wahl der Instrumente vorgegeben –, sondern in allen musikalischen Parametern. Auch die Befunde der Musikethnologie sind Warntafeln, die zu relativierender Bescheidenheit auffordern.12
12Skepsis ist sogar gegenüber gelegentlich anzutreffenden Annahmen angebracht, die durch den Rhythmus-Parameter beschreibbaren musikalischen Innenwelt-Bezüge seien universell: Die Körperbewegungen, die Versuchspersonen unterschiedlicher Kulturen, dazu aufgefordert, beim Hören der Musik einer afrikanischen Percussion-Gruppe vollführten, riefen bei den Musikern Gelächter über deren vollständige Abwegigkeit hervor. Die historisch relative Kultivierung erreicht also offenbar auch solche
Tiefenschichten
der Person, die manch einem als elementar, als vorsozialisatorisch erscheinen.
Innerhalb solcher Grenzen aber läßt sich die Hypothese aufrechterhalten, daß die musikalische Improvisation eines Kindes nicht nur auf die außenweltlich historischen Bestände verweist, sondern als Metapher auch
Innenweltliches
zur musikalischen Sprache bringt, das in seiner Bedeutung dem
Außenweltlichen
nicht gleich ist.13
13Die Unterscheidung von
Innenwelt
und
Außenwelt
, von äußerer und innerer Wahrnehmung mag neurologisch strittig sein, vielleicht auch den Verdacht erregen, das Äußere verweise auf historische Umwelten, das Innere auf universelle Gesetze des Organismus. In diesem (möglichen) Streit kann ich nicht Stellung nehmen. Unstrittig scheint mir indessen, daß wir in einer Kultur leben, für die diese Unterscheidung ein wichtiges Orientierungsdatum ist. Wir verstehen uns besser, historisch angemessener, wenn wir diese Differenz ins Spiel bringen. Ein Schlüsselbegriff unserer jüngeren kulturellen Tradition wie etwa
Individualität
hätte keinen, höchstens noch einen soziologischen Sinn, wenn wir von der Möglichkeit jener Unterscheidung keinen Gebrauch mehr machten.- Vgl. dazu Ciompi, L.: Außenwelt – Innenwelt. Die Entstehung von Zeit, Raum und psychischen Strukturen. Göttingen 1988.
|a 25|

2. Beispiele und Beschreibungen14
14Die folgenden Musikbeispiele entstammen einem von der DFG geförderten Forschungsprojekt zu Grundfragen der ästhetischen Bildung. Neben Bildmaterialien wurden ca. 350 musikalische Improvisationen von Kindern erhoben und zum größten Teil in Notenschrift transkribiert. Die Kinder (N = 50) waren im Alter zwischen 9 und 14 Jahren und setzten sich aus drei Vergleichsgruppen zusammen: wegen neurotischer
Erkrankung
in kinderpsychoanalytischer Behandlung (stationäre Unterbringung), wegen zumeist somatisch ausgelöster Verhaltensauffälligkeit in einer heilpädagogischen Einrichtung, Kinder einer öffentlichen Schule (Orientierungsstufe). Die folgenden vier musikalischen Improvisationen entstammen diesen drei Teilstichproben. Sie wurden unter jeweils anderen Bedingungen erhoben (Fortspinnen einer vorgegebenen Thematik, Interaktionsaufgabe, unterstützende Begleitung durch die Versuchsleiterin, freier musikalischer Einfall ohne gerichteten Anreiz u.ä.). Für die hier in meiner Argumentation vordergründige Thematik ist die Zuordnung der Improvisationen zur Persönlichkeitscharakteristik der Kinder und Produktionssituation unerheblich, etwa so, wie wir bei der Interpretation eines Bildes von Newman oder eines Cello-Stückes von Cage auch nicht notwendig auf die Kenntnis von Persönlichkeits- oder Situationsvariablen angewiesen sind. Derartige Fragen und Hypothesen können nur bei Verwendung des gesamten erhobenen Materials, im quantifizierenden Vergleich also, sinnvoll diskutiert werden. Im übrigen verdanke ich für die folgenden Interpretationsversuche Wesentliches der Projektmitarbeiterin Cornelie Dietrich.

[126:10] Keines dieser kleinen Stücke (Notationen 1-4) ist eine pure expressive Geste, an nichts interessiert außer an Klangerzeugung. Vielmehr scheinen alle Kinder zu spüren oder zu akzeptieren, daß ihre Äußerung einer Gestalt bedarf, um überhaupt befriedigen zu können. Unwillkürlich machen sie Gebrauch von dem, was in den Hypothesen der |a 26|Gestalttheorie der ersten Jahrhunderthälfte als
dynamische Gestalt
beschrieben wurde, die Kontrastierung von mindestens zwei in Differenz zueinander stehenden Komponenten der Wahrnehmung.15
15Unabhängig davon, daß manche Hypothesen der
Gestalttheorie
, besonders die auf Musik bezogenen, teils zu unbestimmt, teils voreilig scheinen – etwa die Meinung, das, was im visuellen
Figur-Grund
-Schema der Grund sei, sei in der Musik die Tonika-Orientierung –, ist doch der Hypothesen-Typus für die Aufklärung ästhetischer Erfahrung äußerst nützlich.- Vgl. z.B. Arnheim, R.: Kunst und Sehen. Berlin 1965; Ders.: Neue Beiträge. Köln 1991; Metzger, W.: Gesetze des Sehens. Frankfurt/M. 1975³; Wellek, A.: Musikpsychologie und Musikästhetik. Frankfurt/M. 1963; Kurth, E.: Musikpsychologie. Berlin 1931. Obwohl in der Kunstpsychologie zum fast selbstverständlichen Argumentationsbestand gehörend, hat die allgemeine Bildungstheorie von dieser Forschungstradition kaum Gebrauch gemacht, mit Ausnahme vielleicht dessen, was gegenwärtig unter dem Titel
Gestaltpädagogik
diskutiert wird.- Vgl. Kobbert, M.J.: Kunstpsychologie. Darmstadt 1986; Schuster, M.: Psychologie der bildenden Kunst. Heidelberg 1990; Portele, G.: Der Mensch ist kein Wägelchen. Köln 1992.
[126:11] Als Geschehen in der Zeit steht die improvisierte Organisation musikalischen Materials anders unter Zeitdruck als das Malen. Blitzschnell müssen die Erinnerung an gerade Verklungenes, die präsentische Empfindung des jetzt angeschlagenen Tons und die Antizipation des nächsten Schrittes aufeinander bezogen werden. Das ist, wie die Beispiele zeigen, eine schwierige Erfahrungszumutung. Die Musik-Kultur hält indessen Entlastungen bereit, zu denen die Kinder Zuflucht nehmen, mal mehr, mal weniger: vertraute Intervallfolgen, gleichbleibende Rhythmen, Motive und Themen-Fragmente. So kann sich die Aufmerksamkeit, durch das Stereotyp von Erinnerung entlastet, um so mehr auf das Kommende richten.
[126:12] Dieses Gerichtet-Sein, so scheint mir, ist nicht die Erwartung eines unstrukturierten, irgendwie offenen und unbestimmten Erlebnisraums, der gleichsam wie von selbst durch das spontan produzierte musikalische Material konturiert werden könnte. Vielmehr folgen die Kinder einer Form-Idee, die sich allerdings erst im Vorgang der tätigen musikalischen Einbildungskraft mal früher, mal später präzisiert: Das Finden von Motiven und Themen, deren Zusammenfügen, das A-B-A-Schema liedhafter Komposition, die einfache Beschleunigung des |a 27|Rhythmus, die Schwierigkeit, einen Schluß zu finden. Hier werden nicht nur jene unwillkürlich ins Spiel gebrachten Gestaltcharakteristika geäußert, in Anspruch genommen, sondern es werden, wie Hanslick wohl gesagt hätte,
musikalische Ideen
versuchsweise zur Darstellung gebracht.16
16
Vgl. Hanslick, E.: Vom musikalisch Schönen. Wiesbaden 1980²⁰ (1. Aufl. 1854)
[126:13] Man hört an den Stücken aber auch, wie die Kinder hier an ihre Grenzen stoßen. Von den vier in der Musiktheorie relativ unstrittigen Parametern bringen sie im Regelfall je nur zwei zur Geltung: Intervall und Rhythmus, Klangfarbe und Rhythmus, Lautstärke und Intervall, Lautstärke und Rhythmus; außerdem bevorzugen sie relativ kurze Stücke, die der Erinnerung und der Antizipation nicht allzuviel zumuten; schließlich vermeiden sie ästhetisch signifikante Pausen. Die
musikalischen Ideen
, die Formprojekte müssen sich also nach der Decke strecken, nach den Komplexitätsgraden nämlich, die in diesem Alter entwicklungslogisch möglich sind.
[126:14] Ich hoffe, mit diesen vier Charakteristika zwar nicht alle, aber doch einige wichtige wenigstens plausibel beschrieben zu haben, Merkmale, die die musikalischen Produkte von Kindern auszeichnen und von denen ich annehme, daß sie erste Hinweise auf die bildende Wirkung ästhetisch-musikalischer Erfahrungen sind.
[126:15] Der nächste Schritt ist schwieriger und riskanter. Ich hatte gesagt, das musikalische Produkt, das
Werk
, sei die eine Hälfte der Metapher, deren zweite in der
Innenwelt
gesucht werden müsse. Kann eine solche Suche erfolgreich sein? Musiktheoretische Puristen sind eher skeptisch.
Was man hier Ausdruck nennt
, schrieb 1819 Zelter an Goethe,
sind mir böhmische Dörfer
17
17Zitiert nach Zaminer, in: Faltin, P./Reinecke, H.-P. (Hrsg.): Musik und Verstehen. Köln 1973.
; und Tibor Kneif möchte allenfalls und widerwillig
semantische Enklaven
gelten lassen, ein Sachverhalt, über den die
eigene Imagination
unkontrolliert hinwegtäusche. Ist die
eigene Imagination
also dem Musikwerk fremd? Es gibt indessen auch andere Stimmen. Von einer Sonate Beethovens heißt es beispielsweise, das Thema,
aufwärts gehend
, verkünde
ein Streben, das es aber im Gewand der Ruhe verbirgt
, das Gegenthema bedeute ein
Verharren-Wollen im Habit der Hast
, sei ein
Sich-|a 28|Durchsetzen
und stürme schließlich
weit aus den anfänglichen Grenzen heraus
18
18Halm, A.: Von zwei Kulturen der Musik. Stuttgart 1947³, S. 57f.
; und über die 6. Sinfonie von Mahler kann man lesen, sie sei, im ersten Satz, ein
furchtbares Ringen
, bringe
schmerzzerwühlte Zerrissenheit
zum Ausdruck und spende schließlich
eisigen Trost von einer Höhe aus ... die nur der zur Resignation sich Aufschwingende erreicht
. Diese beiden Beschreibungen stammen nicht etwa von Selbsterfahrungs-Enthusiasten aus irgendwelchen quasi-therapeutischen Settings. Die Beethoven-Charakterisierung schrieb August Halm, Musikwissenschaftler und zeitweilig Musiklehrer an der Freien Schulgemeinde Wickersdorf; die Beschreibung der Mahler-Sinfonie stammt von Arnold Schönberg. Gibt es eine Brücke zwischen jenen Puristen und diesem, letzten Endes auf innere Bewegungen, auf Ausdruck von seelischen Gehalten also zielenden Vokabular? Sofern wir unterstellen, daß der Ausdruck
musikalische Bildung
nicht nur die Kenntnis musikalischer Kultur-Tatsachen betrifft, sondern die Form, zu der das Subjekt auf dem Wege über wichtige ästhetische Erfahrungen gelangt, ist dies die fundamentale bildungstheoretische Frage.
[126:16] Carl Dahlhaus, obwohl an Musik-Hermeneutik und kaum an Bildungstheorie interessiert, steht unsereins bei, wenn wir versuchen, uns durch den Engpaß zwischen reiner Werkbeschreibung und subjektiv-semantischen Ausdrucksassoziationen hindurchzuzwängen. Er meint – und hat dafür nicht nur systematisch überzeugende Argumente, sondern auch ein reichhaltiges historisches Beweismaterial beigebracht –, daß die sprachlichen Kommentare der Musik nicht äußerlich oder gar fremd seien, sondern daß sie zur Sache gehören.19
19Vgl. C. Dahlhaus in: Faltin, P./Reinecke, H.-P. (Hrsg.): Musik und Verstehen. A.a.O.; ferner Dahlhaus, C. (Hrsg.): Musikalische Hermeneutik. Regensburg 1975; Ders.: Die Musiktheorie im 18. und 19. Jahrhundert. Erster Teil: Grundzüge einer Systematik. Darmstadt 1984.
Wie immer schwierig diese Fragen einer musikalischen Semantik oder Semiotik beschaffen sein mögen – die Tatsache, daß wir ästhetische Sachverhalte auf Spürens-Vorgänge beziehen, mithin auf Ereignisse unserer Innenwelt, ist demnach keine im Prinzip entbehrliche Zutat, jedenfalls dann, wenn wir daran festhalten, daß ein ästhetisches Objekt
sinnlich organisierter Sinn
(Boehm)
ist. Aber man darf noch etwas mehr sagen: |a 29|Unsere Sinne sind so konstituiert, daß sie zwischen Außen- und Innenwahrnehmung vermitteln können. Eine musikalische Beschleunigung wird nicht nur wahrgenommen als Merkmal dieses musikalischen Objektes, sondern ihm korrespondiert etwas im Antriebshaushalt unseres Organismus, wirkt auf die Verfassung des Gemüts ein und kann am Ende in einem sprachlichen Kommentar repräsentiert werden. Das ist die zweite Hälfte der Metapher, unter deren Form ich nun eine musikalische Beschleunigung, die ein Merkmal des Objektes ist,
sehen kann als
einen Vorgang meiner Antriebe, oder meine Antriebe so, als seien sie wie die Beschleunigung des musikalischen Rhythmus.
[126:17] Bildungstheoretisch sind damit zwei Wege versperrt: der puristische über die Beschränkung auf bloße Werkbeschreibung würde ästhetische Bildung nur als professionelle oder professionell-propädeutische zulassen; der Weg über eine bloß assoziative Semantik, in der die Empfindungen des Moments nur locker auf die
sinnliche Organisation
des musikalischen Materials bezogen werden, öffnet dem subjektivistischen Gerede die Türen. Ich will versuchen, die vielleicht verbleibende Paßstraße zu finden in der, nun individualisierenden, Beschreibungsskizze der präsentierten musikalischen Improvisationen. Ich beschränke mich auf äußerst knappe Beschreibungen. Das Problem, das mir daran wichtig ist, erläutere ich anschließend.
[126:18] Das erste Stück ist eine freie Erfindung auf dem Metallophon. Vorwiegend in kleinen Intervallschritten scheint die Spielerin zu erkunden, wie die produzierten Töne oder Klänge sich anfühlen; sie nimmt sich ein wenig Zeit auch für kleinste Pausen, wie beim Atemholen; sie macht einen schüchternen Klangfarben-Versuch und sucht Ruhe im Volumen der Tonfolgen mit längeren Tönen und sehr großem Ambitus. Das Stück probiert eine seelische Gestimmtheit aus, die nahezu vollständig aus der Tonerzeugung und dem Hören auf dieses Erzeugnis konstruiert ist, die
sinnliche Organisation
eines Selbstgesprächs.
[126:19] Das zweite Stück ist eine zweistimmige Invention. (Es ist nicht abwegig, sie im Lichte der Erfahrungen zu hören, die wir vielleicht mit den Inventionen Bachs gemacht haben.) Dominant sind hier nicht die Intervalle; das Stück ist von Rhythmus und Lautstärke her konstruiert. Das Hören apperzipiert hier weniger den eigenen Ton als vielmehr die Töne des Mitspielers. Im Fortgang der musikalischen Interaktion konturiert sich das musikalische
Vokabular
, bleibt aber in kontrolliert engem Rahmen; eine Art Syntax wird entwickelt, musikalische |a 30|
Sprech
-Akte gleichsam, die Zuwendung und Zugehörigkeit zur Darstellung und diese Gesten musikalisch allererst hervorbringen.
[126:20] Das dritte Stück geht mit dem Selbst, dieser wissenschaftlich nicht erreichbaren Kontingenz, völlig anders um: Der Junge, der die Lotusflöte bläst, kann sich zwar an die Rhythmus-Vorgabe der Versuchsleiterin anschließen, ist also von einer musikalisch wichtigen Parameter-Entscheidung entlastet; er verwendet aber die ihm nun offenstehenden Freiheiten für eine höchst konturierte Ausdrucksgeste. Er stößt seinen Atem in gleichsam gebremster, kontrollierter Eile; er zeigt und teilt mit in einer Art von wortlosem Sprechgesang; er gibt seinen Klängen Farbe durch die gleitenden Tonbewegungen. Hier scheint es kaum reflexive Hinwendungen, sei es zur eigenen Klangerzeugung, sei es zum Mitspieler, zu geben. Es ist vor allem der tätige Organismus, dessen Äußerungslust, ermöglicht durch die ästhetische Disziplinierung der rhythmischen Vorgabe, die das Kind sich zur Erfahrung bringt.
[126:21] Das letzte Stück ist wesentlich länger als die anderen; das liegt, wenn ich recht höre, daran, daß es eine andere Aufgabe, ein komplexeres Problem, einen kaum in Kurzform äußerungsfähigen Sachverhalt zur Darstellung bringt. In großen und dissonanten Intervallsprüngen wird eine Art Thema vorgetragen, das zudem, auf dem Xylophon, heftige Körperbewegungen verlangt. Das zweite Thema, zunächst unvermittelt kontrastiert, beschränkt sich auf kleinste Intervallschritte und verwendet zur rhythmischen Konturierung höchst konventionelle Figurationen. Es sind zwei völlig verschiedene musikalische Gesten, Stimmungen, Haltungen, die hier aufeinander folgen. Die eine Stimmung wird durch einen starken Bewegungsduktus erzeugt; sie bringt Antriebe zur Sprache und ist damit seelisch anders lokalisiert als die zweite, in der eher ein Zustand beschrieben wird. In wenigen Sekunden also bringt der Spieler einen Wechsel in der psycho-physischen Verfassung hervor, ja er versucht auch noch, beide aufeinander zu beziehen, nicht nur als Erinnerung und Antizipation, sondern durch ein quasi-präsentisches Ineinander-Fädeln. Der klare und energische Schluß bekräftigt noch einmal diese musikalische Idee. Selbst die Tatsache, daß der Spieler sich mit seiner Idee der Mehrstimmigkeit vielleicht übernommen hat, zeigt noch, durch sein intensives Bemühen, wie ernst es ihm ist, eine Erfahrung zu
machen
, die wohl nur in der Sphäre ästhetischer Fiktion möglich ist.
|a 31|

3. Deutungen und Kontingenzen

[126:22] In den vier Beschreibungsskizzen habe ich versucht, ein Vokabular zu verwenden, das nicht nur beschreibt, sondern auch Deutungen enthält. Diese Deutungen betreffen vor allem die je vorgenommene Verknüpfung von Merkmalen des ästhetischen Objekts mit Orten oder Regionen des Seelenlebens. Ausdrücke, die sonst in der musikpsychologischen Literatur häufig, in der musikhermeneutischen gelegentlich anzutreffen sind, wie etwa
Gefühl
,
Affekt
,
Emotion
,
Trieb
und ähnliche, habe ich zu vermeiden gesucht. Wenn ich den Stand der musikpsychologischen Selbstkritik richtig interpretiere, dann wird auch dort von dem Dilemma Kenntnis genommen, daß die psychologischen Konstrukte in Gefahr sind, den Gegenstand ästhetischer Erfahrung zu verfehlen20
20Vgl. z.B. de la Motte-Haber:
Das geliehene Licht des Verstandes
. Bemerkungen zur Theorie und Methode der Hermeneutik. In: Dahlhaus, C. (Hrsg.): Musikalische Hermeneutik. A.a.O., S. 53-62; Rösing, H.: Zur Interpretation emotionaler Erscheinungen in der Musik. In: Ebd., S. 175-186.
, so wie andererseits eine bloße Werkanalyse den metaphorischen Charakter musikalischer Äußerungen gar nicht erreicht. Kurzum: Das angemessene Vokabular zur Beschreibung ästhetisch-musikalischer Erfahrungen ist erst noch zu finden.
[126:23] Sollte mein Beschreibungsversuch nicht nur auf Vorbehalte stoßen, sondern in der Tendenz Billigung finden, dann wäre für die Klärung des hier in Rede stehenden Sachverhaltes einiges gewonnen: es wäre möglich zu zeigen, daß musikalisch-ästhetische Erfahrungen nicht einfach ein Fall allgemein beschreibbarer Wahrnehmungsvorgänge im Sinne des generelleren Aisthesis-Begriffes sind, sondern (mindestens) ein Sonderfall, der dadurch ausgezeichnet ist, daß in ihm eine leibseelische Befindlichkeit zur musikalischen Darstellung kommt, gleichsam
auf Versuch
21
21Pothast, U.: Philosophisches Buch. A.a.O., S. 449ff.
, von Handlungsdruck entlastet und also in Differenz zu den pragmatischen Kontexten des Lebens. Von den vier kindlichen Musikern, deren Produkte ich vorgestellt habe, befinden sich drei wegen schwerer Verhaltensstörungen in therapeutischer Behandlung. Das gibt Karl-Heinz Bohrer recht, wenn er, trotz vieler Einwendungen, darauf besteht, daß das ästhetische Ich sich anders in |a 32|Szene setzt als das Ich praktischer Handlungen.22
22Vgl. Bohrer, K.-H.: Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität. München 1987.
Diese Kinder können im Medium des Ästhetischen sich hervorbringen als das, was sie sonst nicht sind, und zwar deshalb, weil diesem Ich das Realitätsprinzip gleichgültig sein kann.
[126:24] Aber kann man nun noch sagen, daß dieser Erfahrung eine bildende Wirkung eignet? Richard Rorty hat, zu meiner Argumentation passend, erläutert, inwiefern das Selbst, dieses merkwürdige Objekt der Rede im Satz, dessen Subjekt einfach nur
Ich
heißt, kontingent ist, nur ein
Produkt von Zeit und Zufall
.23
23
Vgl. Rorty, R.: Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt/M. 1989, S. 50
.
Der Versuch, mein Selbst zu beschreiben, und zwar so, daß die Beschreibung für mich zufriedenstellend ausfällt, muß scheitern, wenn er sich nur der konventionalisierten, zumal der wissenschaftlichen Sprachspiele bedient.
Der Prozeß der Selbsterkenntnis
, schreibt Rorty,
ist ... identisch mit dem Prozeß der Erfindung einer neuen Sprache – also neuer Metaphern.
24
24Ebd., S. 59.
Eben dies tun die Kinder in der musikalischen Sprache ihrer Produkte, auch wenn uns, musikalisch breiter erfahren, manche Metapher nicht so neu erscheint. Ich wüßte keinen Grund zu nennen, warum diese, das eigene Selbst in Metaphern konstruierende Tätigkeit nicht eine wesentliche Komponente von Bildung genannt werden sollte.
[126:25] Dennoch sind diese Vorgänge der verallgemeinernden Rede nicht gänzlich entzogen. Man kann sagen – ohne daß das fehlerhaft zu nennen wäre –, daß die ästhetischen Metaphern einen Kontakt zur Innenwelt herstellen; man kann sagen, daß sie, über physiologische Vorgänge vermittelt, innere Wahrnehmungen zur Folge haben;25
25Nicht für die musikalisch-ästhetische Erfahrung, aber für den Gesichtssinn folgt Chr. Rittelmeyer dieser Spur, und zwar als empirische Ermittlung der
inneren
Vorgänge beim visuellen Abtasten der Präsentationen von Schularchitektur.- Rittelmeyer, Chr.: Beiträge zu einer empirischen Phänomenologie der Schulbauarchitektur. In: Zeitschrift für Pädagogik 36 (1990), S. 495-522. Analoge Studien zu den Folgen von Musik für die
innere Wahrnehmung
stehen noch aus.
man kann sogar sagen, daß sie je verschiedene Anteile oder Regionen des Selbst erreichen und diese einem reflektierten Spüren zugänglich machen.
|a 33|
[126:26] Der schon einmal von mir zitierte Kunsthistoriker Gottfried Boehm hat sich gleichfalls, in Interpretationen von Bildern Cy Twomblys, Cézannes und Carl Schuchs, bis an diese Stelle vorgewagt und gesagt, daß dort immer auch eine
seelische Realität
mit ausformuliert werde,
der Stoff einer inneren Wirklichkeit
mitklinge, ein
seelisches Klima
erzeugt werde.26
26
Vgl. Boehm, G.: Die Essenz der Erscheinung. In: Ders. u.a.: Carl Schuch 1846-1903. Freiburg i.Br. 1986.
In einer kurzentschlossenen terminologischen Wendung nennt er diese Sachverhalte
Psychotope
. Das könnte in die Irre führen, wenn sich damit die Vorstellung verknüpfte, eine Art Landkarte des Selbst, auf der sich die Werk-Charakteristika verorten ließen, als Lese-Anleitung beim Verstehen ästhetischer Äußerungen, wäre möglich. Als heuristische Hypothese aber sind mir die
Psychotope
willkommen: sie bringen den Nexus zwischen den Figurationen des ästhetischen Objekts und den Innenwelt-Ereignissen zur Sprache, ohne den weder ästhetische Erfahrung noch ihre bildende Wirkung gedacht werden kann.
[126:27] Und nun finde ich sogar einen Anschluß an die zuvor so schlecht behandelte Psychoanalyse. Ziemlich genau diejenigen Probleme, die nicht nur die Bild-, sondern auch die Musikhermeneutik beschäftigen, macht sich auch Alfred Lorenzer unter dem Titel einer psychoanalytischen Symboltheorie zum Thema: Physiologie und sensomotorische Ereignisse, deren
sinnlich-unmittelbare Symbolik
, wiederum deren Repräsentation nicht nur in
Sprachfiguren
, sondern auch in dem
vielgestaltige(n) Feld der künstlerischen Phänomene und Objektivationen
, die allesamt
sinnlich-symbolische Interaktionsformen
seien, die, wie ich eingangs zitierte,
sinnliche Organisation von Sinn
(Boehm) also – alles dies sei
von grundlegender Wichtigkeit
nicht nur für die Bildung des Individuums, sondern sogar auch
für die Bildung kollektiver Lebenspraxis
. An dieser Stelle aber stockt auch dem Psychoanalytiker der theoretische Atem: Ästhetische Symbole – ich verwendete den Ausdruck
Metapher
, um deren logische Form hervorzuheben – seien
Ausdruck des Unsagbaren, der tieferen, nicht sprachlich reglementierten Lebenswelt
.27
27
Lorenzer, A.: Der Symbolbegriff und seine Problematik in der Psychoanalyse. In: Oelkers, J./Wegenast, K. (Hrsg.): Das Symbol – Brücke des Verstehens. Stuttgart, Berlin, Köln 1991, S. 21-30
.
|a 34|
Hier ist die Notation einer Einzelimprovisation eines Kindes auf einem Metallophon zu sehen.
Beispiel 1: Einzelimprovisation (Metallophon)
Hier ist die Notation einer Zweierimprovisation von zwei Kindern auf einem Xylophon und einer Trommel zu sehen.
Beispiel 2: Zweierimprovisation (Xylophon/Trommel)
Hier ist der erste Teil der Notation einer Zweierimprovisation von zwei Kindern auf einer Lotusflöte und Bongos zu sehen.
Beispiel 3: Einzelimprovisation (Metallophon)
|a 35|
Hier ist der zweite Teil der Notation einer Zweierimprovisation von zwei Kindern auf einer Lotusflöte und Bongos zu sehen.
Hier ist die Notation einer Einzelimprovisation eines Kindes auf einem Metallophon zu sehen.
Beispiel 4: Einzelimpr. (Xylophon)
|a 36|
[126:32] Was dort zum Ausdruck gebracht wird, als
metaphorische Exemplifizierung
, ist in den reglementierten Sprachspielen nur zu umkreisen und letzten Endes nicht zu vermessen. Es ist nur durch eine sensible Hermeneutik zugänglich. Das Verstehen der noch so bescheidenen Selbstexploration eines Kindes im Medium musikalischer Improvisation wird deshalb nur gelingen, wenn der Interpret das musikalische Geschehen
nachvollzieht
28
28Faltin, P.: Bedeutung ästhetischer Zeichen. Musik und Sprache. Hrsg. v. Chr. Nauck-Bömer. Aachen 1985.
hervorbringt, die das musikalische Werk ihm anbietet. Vielleicht liegt darin denn doch auch ein ethischer Sinn:
Wenn die Geschichte in Aufruhr ist und traditionelle Institutionen und Verhaltensmuster zusammenbrechen, brauchen wir etwas, das jenseits von aller Geschichte und allen Institutionen steht. Was kann das anderes sein als Solidarität unter den Menschen, als das wechselseitige Erkennen der Menschlichkeit, die uns allen gemeinsam ist?
29
29Rorty, R.: Kontingenz, Ironie und Solidarität. A.a.O., S. 305f.
Das ist nun ein überraschendes universalistisches Pathos. Aber es paßt zu den vorsprachlichen, teils unreglementierten Ereignissen des ästhetischen Ausdrucks, auch wenn die Verstehensgrenzen zwischen Individuen und Kulturen gelegentlich stark sein mögen.
Ob du und ich dasselbe Vokabular haben
, so beschließt Rorty seine Argumentation, ist eine völlig andere Frage als die,
ob du Schmerzen hast
.30
30
Ebd., S. 320
.