Schwierigkeiten in der Rede über ästhetische Bildung
Versuch einer Antwort auf Kritik
1. Lernen, Erfahrung,
»Ästhetisches«
2.
Problemstellungen, die sich auf
»ästhetische«
Ereignisse im engeren Sinne beziehen
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–[127:6] Mir scheint, daß Sie, angesichts der Pluralität von Theorien der Kunst und der ästhetischen Erfahrung, der Verunsicherung auf andere Weise zu entgehen suchen als ich (»Prämissen«!). Sie suchen die Bekräftigung Ihrer»Prämissen«bei denen, deren Argumente wenigstens gelegentlich (vgl. Bubner) in den Katalog didaktischer Handlungsziele sich einfügen lassen (»Anschauung revisionsfähig«»in den Rahmen allgemeiner Erfahrung«»Autonomie«der Künste, die ich als einen Entschluß gleichsam zur Fiktionalität interpretiere – zu konturieren versuchen. Wir zitieren also Verschiedenes, gelegentlich aber auch Gleiches ( und z.B. könnte ich, verständig ausgewählt, auch für meine Hypothesen geltend machen). Kurz und selbstironisch gesagt: Wir beide sind das Opfer unserer selektiven Leseerfahrungen; aber vielleicht auch nur Vollstrecker der Handlungskontexte, in denen wir uns vornehmlich bewegen: Sie im Bereich der Schule, ich eher in außerschulischen Feldern möglicher Erfahrung.
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–[127:7] Diese Differenz führt nun zu eigentümlichen Verzerrungen. Sie werfen mir vor, ich wählte ein äußerst reduziertes, nämlich»romantisch«»Kunsterlebnis«»günstigenfalls skeptisch zu bezeichnendes«»Erlebnis«nicht die von mir bevorzugte Vokabel wäre). Bei der Vokabel»romantisch«haben Sie sich sicher etwas gedacht, historisch und argumentativ, nicht als Stammtisch-Vokabel – und genau mit diesen ästhetischen Erwägungen und Produkten zwischen 1800 und 1830 beginnt das, was ich meine (oder haben Sie vielleicht nicht bemerkt, daß ich Schubert-Interpretation für meine Argumente herangezogen hatte?). Und mit dem Adjektiv»skeptisch«ehren Sie mich nun ungemein; ich habe es nicht verdient, denn ich halte die Skepsis für die äußerste und schwierigste wissenschaftliche Tugend, die gegenüber jeder Behauptung oder Gegenstands-Konstruktion geltend zu machen wäre. Ich werfe Ihnen vor, nach Lektüre Ihres Textes, daß Sie die Eigentümlichkeit ästhetischer Erfahrungen den didaktischen Imperativen opfern. Mir scheint, daß Sie die Probleme der Kunst und diejenigen, die sich einstellen, wenn ein Subjekt sich ästhetischen Ereignissen, produktiv oder rezeptiv, konfrontiert, voreilig auf ihre Lehrbarkeit in Schule und Unterricht zurechtstutzen – wogegen ich zu bedenken geben möchte |a 163|(hier ließen sich nun viele würdige Namen seit 1780 zitieren), daß»ästhetische Bildung«ein Problempanorama anzeigt, das weit mehr umfaßt und innerhalb dessen»Schule«und»Unterricht«nur einen ziemlich bescheidenen Platz besetzen. Den Streit um den»Akademismus«in der Geschichte der Kunst und ihrer Lehrbarkeit kennen Sie gewiß besser als ich, und ich muß Sie deshalb hier nicht mit Quellen-Hinweisen langweilen.
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–[127:8] Nun also steht Schule/Unterricht zur Diskussion, wohl auch überhaupt»Pädagogik«. Dies scheint Sie am meisten zu irritieren, denn anders kann ich mir nicht die vielen (falschen) Unterstellungen verständlich machen, zu denen Sie greifen. Ich möchte mich hier auf»Pädagogik«beschränken, mit gelegentlichem Verweis auf»Unterricht«: Ich habe nichts gegen»Pädagogik«, immerhin bin ich Besetzer eines Lehrgestühls mit diesem Namen. Aber pädagogische Allmachtsphantasien sind mir verdächtig, mindestens aber aufklärungsbedürftig. Damit meine ich: Im Spektrum meines»pädagogischen«Nachdenkens kommt»Schule«nur unter anderem vor; mir ist die Formel offenbar näher als Ihnen, daß das pädagogische Nachdenken sich auf das»Verhältnis der Generationen«beziehen solle – und dieses Verhältnis ist in ziemlich vielen Hinsichten einer gegebenen Kultur artikuliert. Wenn nun Sie Schule und Unterricht, also einen ziemlich kleinen, wenngleich äußerst wichtigen Teil jener Generationen-Verhältnisse zur entscheidenden Selektionsinstanz für bildungstheoretisch relevante Fragen machen wollen, dann will ich Ihnen diese Vorliebe nicht vermiesen. Man kann das tun. Ich halte das indessen nicht für besonders produktiv oder auch nur empfehlenswert, angesichts des Zustandes unserer Kultur und besonders im Hinblick auf das, was man»ästhetische Erfahrung«nennt. Man unterwirft sich so vorab einer Einschränkung, die den möglichen Kreis bildungstheoretischer Problemstellungen ohne Not recht klein hält.
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–[127:9] Eine andere Schwierigkeit habe ich damit – oder verstehe ich Sie falsch? –, daß Sie die Probleme ästhetischer Bildung gern einer Vorstellung von pädagogischem oder unterrichtlichem Handeln subsumieren möchten. Hier komme ich mit meiner Lehrstuhl-Bezeichnung in Konflikt: sprachliche Ausdrücke wie»Pädagogik«, Unterrichten, Erziehen u.a. nehmen allemal Bezug auf ein Handeln, und zwar, wenigstens im Falle von Unterrichten, auf ein zweckrationales. Derartige Kulturprojekte sind gewiß sinnvoll. Aber meinen Sie nicht auch, daß gelegentlich, etwa im Falle ästhetischer Bildung, die gewünschten Effekte nicht»garantiert«werden können? Warum bringt Sie nun eine solche, wie mir scheint, empirisch kaum bestreitbare Behauptung so gegen mich auf, daß Sie, ziemlich unsinnig, argwöhnen, damit sei zugleich behauptet, daß»Erziehung [...] das Gegenteil dessen, was Bildung will«»Bildung«etwas»wollen«könne, sehe ich nun deutlicher, wie solche Kli|a 164|schees zustande kommen: Sie sehen»ästhetische Bildung«durch die Brille des Unterrichtens, ich sehe sie durch die Brille einer»Theorie der Bildung des Menschen«. Und nun mache ich geltend – was Sie verdrießlich finden –, daß, wenn man es so sieht, Unterricht zwar einiges beizutragen vermag, aber nicht das, was mir»ästhetisch«wesentlich scheint. Darüber läßt sich streiten. Nicht streiten aber möchte ich – da es mir allzu offensichtlich scheint – darüber, ob der Kunstunterricht ästhetische Erfahrungen garantieren könne oder nicht. Er kann es nicht, und er darf auch nicht darauf verpflichtet werden, wie im Falle des Lesen-, Schreiben- und Rechnen-Könnens. Verpflichten kann man ihn allenfalls für»ästhetische Alphabetisierung«, was soviel heißen soll wie: die Kulturtatsache»Kunst«zur Kenntnis nehmen, mit den Produktionsbedingungen dafür vertraut werden, sich mit den Deutungsspielräumen bekannt machen usw. (lesen Sie doch einfach noch einmal die Seiten 484 ff. des Textes von mir, der Ihnen so anstößig erscheint).
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–[127:10] Und weil Sie sich nun so schrecklich über mich ärgern, werfen Sie mir vor, was ich nirgends behauptet habe (aber ich wollte ja jede Apologie möglichst vermeiden; ich beschränke mich auf das, was mir als das in Ihrer Sicht wichtigste Problem erscheint): Die empfindliche Vokabel ist»absichtsvoll«»absichtsvoll«nicht herbeigeführt werden können. Aber wäre das so schlimm? Das Leben führt so vieles herbei, was im Horizont der Schulmeister kaum auftaucht. Warum nicht auch dieses? Ich möchte tatsächlich nicht die Bildungswege der nachwachsenden Generation nur von Schulen besetzt halten. Als Bildungstheoretiker denke ich deshalb mit Gewinn darüber nach, was außerhalb derselben geschieht, ohne Absichten von Didaktikern und anderen. Mit einer literarischen Erinnerung gesprochen: Ideen zur ästhetischen Bildung sind mir in den belebenden Erzählungen von»Wilhelm Meisters Lehrjahren«, im Chaos einer vagabundierenden Theatertruppe, näher als die hölzernen Belehrungen der»Wanderjahre«. Über ästhetische Erfahrung kommt mir durch die oder Musikkritik mehr Information zu als durch , von werde ich besser informiert als von .
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–[127:11] In einer derartig verschiedenen Wahl der Blickpunkte, wie sie offenbar zwischen Ihnen und mir vorliegt, sind dann Verstümmelungen bis zur Unkenntlichkeit der je angegriffenen Position zwar naheliegend, aber nicht unvermeidlich. Sowenig wie ich Ihnen flugs und nur aufgrund Ihres Vortragstextes ein»instrumentelles«und»naiv-normatives Pädagogikverständnis«vorwerfen dürfte (eine entsprechende Zitaten-Collage fiele mir |a 165|nicht schwer), nur an Schule und sonst nichts interessiert, ebensowenig sollten Sie mir, übereilig, ein Verständnis von Wissenschaft unterstellen, das ich nur für eine schlechte Karikatur halten kann. Der Salat aus»Fakten«,»Wirkungen«,»Verstandesgebrauch«,»Handlungskompetenz«,»instrumentell«, den Sie da anrichten, macht mir keine Gaumenfreude. Ich weiß nicht mehr, was ich zu essen bekomme. Indessen gibt es Sachfragen, die mich interessieren.