Ein
„Mutuum Colloquium“ zum 100.
Geburtstag 1
Einführung in den Themenschwerpunkt
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1.[131:3] Sofern wir uns noch irgendwie in den Überlieferungen der geisteswissenschaftlichen Pädagogik lokalisieren – hat dafür einen zuverlässigen Rahmen beschrieben (vgl. S. 409 ff.) –, ist die„Identität des Fachs“(Tenorth, S. 415)„Identität“finde, ist mir nicht bekannt. Wir dürfen also auch diese alte Frage des Fachs„Pädagogik“auf sich beruhen lassen, wenngleich in wissenschaftshistorischer Erinnerung, argumentative Anstrengungen im Hinblick auf„die Eigenständigkeit der Pädagogik in Theorie und Praxis“
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2.[131:4] Wenn auch – der Politikwissenschaft vergleichbar – heute kaum noch über„Autonomie“und„Eigenständigkeit“in jenem wissenschaftspolitischen oder -organisatorischen Sinn seriös gestritten wird, hat sich doch eine andere Komponente jener von über (z. B.) , , , und eben bis hin zu immer wieder zum Thema gemachten Argumentationsfigur erhalten (oder ist es inzwischen nur ein Topos?): das„Erzieherische“. Da ist dann gelegentlich von dessen„Wesen“die Rede, oder, zurückhaltender, von der„Eigenlogik der Erziehung“„Wesen“der Kunst, dem„Künstlerischen“oder der„Eigenlogik“künstlerischer Produktion beantwortet zu haben. Zwar finden derartige Diskussionen statt, aber eher am Rande, wenngleich sie dann, wenn sie zu respektablen Argumentationen führen, auch die Perspektiven des Fachs zu verändern vermögen. Was also seinerzeit für , aus Gründen der Wissenschaftspolitik, im Zentrum seines Bemühens stand, dürfen wir heute den philosophisch interessierten Kolleginnen und Kollegen überlassen, jedenfalls brauchen wir es nicht mehr zur Feststellung der„Identität“des Fachs. Der kulturell unbestreitbare Sachverhalt, daß eine Kultur immer über Generationsgrenzen hinweg vermittelt werden muß – von schon mit vielen Implikationen so klar formuliert, daß wir mit der Ausführung dieses Theorie-Programms noch lange beschäftigt sein werden – bedarf derart aufwendiger empirischer Recherchen, daß die Pädagogik ihre„Identität“eher in den zuverlässigen kultur|a 361|theoretischen, historischen und aktuell-empirischen Beschreibungen hat als im„Wesen“des„Erzieherischen“. Freilich werden unsere wissenschaftlichen Studien um so besser sein, je deutlicher uns auch die Frage ist, was es denn, im Rahmen anderer Kulturverhältnisse, mit dem Verhältnis der Generationen zueinander auf sich hat. Dies war freilich wichtigste Frage. Er hat sie aufgeworfen – wie viele andere auch –, aber nicht ausgeführt.
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3.[131:5] Daß das nicht tat, hängt (u. a.) mit seiner Abstinenz gegenüber den Sozialwissenschaften und der kulturempirischen Forschung zusammen. Insofern war er – und nur hier ist recht zu geben – etwa im Vergleich mit oder auch mit dem Pädagogen –„mittelmäßig“. Sein Oeuvre seit 1949 ist eine Sammlung von Fragmenten. Wäre er ein Schriftsteller gewesen, dessen Texte weniger auf die enge Professionalität pädagogischer Berufe hin orientiert sind, dann wären es vielleicht beachtliche Essays geworden. So aber ist das meiste: Theorie-Skizze, begriffliche Konturierung, Aufforderung zu einem Weg, den andere gehen mußten, wenn sie denn den Weg der wissenschaftlichen Profession einschlagen wollten. Ich vermute, daß er das wußte und daß dieses eigene Defizit eine Quelle seiner Liberalität war. Als ich ihm, als sein Assistent 1959, einen Aufsatz über„Anpassung“vorlegte, mit mir damals sehr wichtigen Bezugnahmen auf Soziologie und kognitivistische Entwicklungstheorie, sagte er:„Sie verlassen damit die Pädagogik! Aber wir drucken es“(in der ). Er merkte wohl, daß mir anderes wichtiger war als„Eigenständigkeits“-Argumentationen, ohne daß deshalb diese„Provokation“erloschen wäre. Er konnte das akzeptieren. Das war als Hochschullehrer.
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4.[131:6] Mit dem Theorem, daß die pädagogische Theorie die„Befangenheit“, die„Parteilichkeit“oder ähnliches mit der Praxis teilen müsse, steht es anders. nimmt darauf ausdrücklich Bezug, indirekt, aber wohl auch zustimmend. Dieser aus der engen Bindung an die pädagogischen Reformbewegungen entstandene quasi-theoretische Topos leidet, unter dem Gesichtspunkt seiner Theoriefähigkeit, an zwei Mängeln: Als Terminus der praktischen Philosophie – so scheint er gemeint zu sein, denn es geht um das pädagogisch Gute – wird er durch ethische Argumentation zu wenig gestützt.„Befangenheit“ist so letzten Endes kaum mehr als„Parteilichkeit“für den epochalen Trend in der Erziehungswirklichkeit.„Befangenheit“mag die Sicht auf Fragen der aktuell-kulturellen Problemstellungen erschließen, aufmerksam machen auf dieses oder jenes, hat aber insofern nur eine Zubringerfunktion für das, was wissenschaftliche Theorie sich zum Thema macht, gehört also eher der Genese als der Geltung theoretischer Sätze an. Das zeigt den zweiten Mangel: Das Theorem von der„Befangenheit“der Theorie ist historisch unzureichend aufgeklärt. Gerade dann, wenn die Pädagogik„historisch-systematisch“(Klafki) arbeiten sollte, müßte sie eingestehen, mindestens heute, daß sie es mit einer Pluralität von Befangenheiten zu tun hat, und zwar so, daß diese zwar häufig und ehrlicherweise dem Wohl der Kinder, ziemlich häufig jedoch (um mich vorsichtig auszudrücken) dem Wohl der Erwachsenen dienen, auch dort, wo etwa das Kind verherrlicht oder„vergöttlicht“wird – eine merkwürdige Ambivalenz |a 362|der Reformpädagogik. Historische Aufklärung würde also das Theorem der„Befangenheit“eher bei Alltagstheorien ansiedeln als dort, wo es um wissenschaftliche Konstruktionen geht. Aber auch dies bleibt, wenn ich recht sehe, eine„Provokation“. Eine wissenschaftliche Pädagogik, die die Frage nach dem pädagogisch-sittlich Guten gar nicht mehr aufwirft, ist mir derzeit nicht gut vorstellbar; sie müßte sich allerdings des Rahmens einer historischen Anthropologie des 20. Jahrhunderts argumentativ versichern.
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5.[131:7] Das rührt an die„historisch-systematische“und oben schon unter anderen Termen angesprochene Frage, ob es sinnvoll sei, einen pädagogischen„Grundgedankengang“„Einheit“des Fachs zu verbürgen hätte(vgl. Benner, S. 412). ist, wenn ich seinen Kommentar recht verstanden habe, nach zwei Seiten hin skeptisch: Einerseits befürchtet er – wie 1960 meinem ersten Versuch zur Ausweitung der Disziplingrenzen gegenüber – eine Diffundierung des Fachs in eine Agglomeration von mehr oder weniger zuverlässigen Wissensbeständen aus anderen Wissensfeldern, also dem ähnlich, was„Halbbildung“nannte; andererseits und deshalb müsse die Pädagogik zu einer Kritik der Verhältnisse, der„Welt“unter den Gesichtspunkten pädagogischer Fragestellungen in der Lage sein. Wie ist das möglich? hat diese Schwierigkeit, nach ihren beiden Seiten hin, nicht bewältigt; aber er hat uns das Problem überliefert. Ob die Gegenstandskonstruktionen des Fachs und seiner Forschungsoperationen untereinander noch in einem sinnvollen Zusammenhang stehen, ist in der Tat eine Frage, die uns mit Gründen beunruhigen sollte.
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6.[131:8] Demgegenüber scheint mir zweitrangig zu sein, ob das Denken an die Schwelle einer„Theorie kommunikativen Handelns“heranführt. und sind dieser Meinung; auch ich bezog aus dieser heuristischen Hypothese in den 70er Jahren viel Motivation, aber nur deshalb, weil sie mir einen Kontinuitätsentwurf für meine Karriere erlaubte. Der objektive wissenschaftshistorische Sachverhalt ist weniger eindeutig, besonders dann, wenn man die Kritische Theorie nicht nur in der Variante von vor Augen hat, sondern in der von und (vgl. dazu Brumlik im folgenden). Diese Komponenten der„Erbschaft“dürfen strittig sein. Das gilt auch für die Frage, welche Namen wir nun für den Sinnzusammenhang unserer Gegenstandskonstruktionen verwenden; das„Erzieherische“,„Erziehungswirklichkeit“,„Generationen-Verhältnis“oder – wie zwischen , , und anderen offenbar strittig –„Bildung“oder„Lernen“. Freilich verändern sich mit der Wahl derartiger„grundlegender Konzepte“(Schulze)„Bildung“, weil er die historischen Konnotationen deutlicher ins Spiel bringt als der Begriff„Lernen“; mit diesem indessen lassen sich evolutionstheoretische Erwägungen besser verknüpfen, die sich bei„Bildung“nur dann zwanglos ergeben, wenn man, beispielsweise, der Metamorphose-Vorstellung folgt. Aber das alles ist kein sinnvoller Gegenstand für Grundsatzdiskussionen. Wieder ein Vergleich mit der Kunstwissenschaft: Ob von„Kunst“,„ästhetischen Objekten“,„visueller Kommunikation“oder ähnlichem die Rede ist, verschiebt zwar die thematischen Aufmerk|a 363|samkeiten, auch die in Anspruch zu nehmenden theoretischen Konstruktionen, beschädigt aber nicht die„Identität“des Fachs, sofern erhalten bleibt, daß es sich um visuelle Repräsentationen handelt und sofern einige methodologische Imperative im Hinblick auf die Deutung der Materialien in Geltung bleiben.
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7.[131:9] Damit ist man nun wieder bei . Auch wenn er – im Unterschied etwa zu – keine Erörterungen vorgetragen hat, die den Namen Methodologie in einem heute anspruchsvollen Sinne verdienen, ließ er doch, wenn ich recht sehe, keinen Zweifel daran, daß die Pädagogik, letzten Endes, sich auf Verfahren der Sinn-Auslegung verpflichten sollte. Daß auch die quantifizierende Sozialforschung Beträchtliches dazu beizutragen vermag, vermochte er kaum zu sehen. Aber der postulierte Fluchtpunkt pädagogischer Forschung, die Explikation des pädagogischen Sinnes von Daten und Befunden in Geschichte und Gegenwart, bleibt auch für uns eine produktive„Provokation“. Hätte er sich ernsthaft auf den Weg der empirischen Forschung begeben, dann würde er heute vermutlich pädagogische Alltags- oder„Lebenswelt“-Forschung (), jedenfalls aber die qualitative Sozialforschung favorisieren – und wäre mitten im methodologischen Streit der Gegenwart.