Ein „Mutuum Colloquium“ zum 100. Geburtstag Erich Wenigers [Textfassung a]
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Ein
Mutuum Colloquium
zum 100. Geburtstag Erich Wenigers1
1Die Beiträge der Kommentatoren in diesem Heft beziehen sich auf den Vortrag von Ilse Dahmer.

Einführung in den Themenschwerpunkt

[131:1]
Weniger mobilisiert anscheinend immer noch das Fach
, meint H.-E. Tenorth auf den folgenden Seiten,
aber mehr durch die Provokation der Probleme als durch die Aktualität der Lösungen
. Das ist die Formel, auf die sich wohl alle einigen können, die an jenem Wechselgespräch teilnahmen – in Göttingen, Anfang November 1994. Aber sie ist alles andere als beruhigend, denn sie könnte bedeuten, daß die
Erbschaft
Erich Wenigers eher aus Schulden bestünde und weniger aus Kapitalien. Sind die Erben also noch kreditwürdig? Wie häufig in solchen Fällen, läßt sich ein merkwürdiges Gemisch aus Affirmation und Zweifel konstatieren. Wäre es anders gewesen, könnte jenes Kolloquium nicht als Veranstaltung zur Wissenschaftsgeschichte der Pädagogik gelten. Aber eben darum handelte es sich.
[131:2] Manches darf in einer solchen Perspektive, in einem solchen Blick auf einen der zweifellos wichtigsten akademischen Lehrer des Fachs
Pädagogik
zwischen 1925 und 1961 in den Hintergrund gerückt werden: etwa die in der Sekundärliteratur selbst nur mittelmäßig zur Darstellung gebrachte Meinung, Weniger sei ein
mittelmäßiger Denker
gewesen; die eher terminologische Frage, wo das Etikett
geisteswissenschaftliche Pädagogik
am besten angebracht wäre; ob – so eine der Thesen des Einleitungsreferates von Ilse DahmerWenigers Pädagogik im Grunde
solipsistisch strukturiert
sei; ja selbst noch das Rätselraten über die Frage, ob der pädagogischen Theorie (der wissenschaftlichen, der des Praktikers)
Befangenheit
im Blick auf die praktische Verantwortung wesentlich sei; schließlich die von Dahmer pointiert vor getragene These – und da geraten nun die Metaphern in arge Schwierigkeiten –, das Erziehungsverhältnis sei von Weniger als eine Imitatio Christi gedacht worden – derartiges darf man vernachlässigen, wenn man der Aufforderung Tenorths folgt und prüft, in welchen Hinsichten denn von einer
Provokation der Probleme
oder Problemstellungen immer noch gesprochen werden könne, oder ob wir nicht doch, hier und da, uns mit unwiderruflichem Veralten abfinden müssen.
Veralten
hieße ja nicht, daß die Fehler vergessen würden – M. Brumlik hat auf die Schuld solchen Vergessens, die schon in Wenigers eigenen Texten nach 1945 wenigstens hypothetisch anzunehmen ist, deutlich hingewiesen (vgl. hier S. 427 ff.); es hieße aber – ein freilich gelegentlich schmerzhafter Prozeß in der Ablösung der Generationen –, wenigstens an einigen Stellen die |a 360|Kontinuitäten aufzukündigen, keine
Traditionen
, wie Tenorth sagt, zu etablieren. Stellt man solche schwer wägbaren Komponenten des pädagogischen Denkens Wenigers vorerst hintan, dann bleiben einige wichtige Fragen, die aber zumeist auch, jedenfalls für mich, ziemlich irritierend sind.
  1. 1.
    [131:3] Sofern wir uns noch irgendwie in den Überlieferungen der geisteswissenschaftlichen Pädagogik lokalisieren – D. Benner hat dafür einen zuverlässigen Rahmen beschrieben (vgl. S. 409 ff.) –, ist die
    Identität des Fachs
    (Tenorth, S. 415)
    ein Dauerthema. Das ist, jedenfalls in einer hier zunächst angesprochenen Hinsicht, eine wissenschaftsgeschichtliche Marotte, eine Skurrilität, die man sonst selten beobachten kann. Daß dies bei uns zu besonderer Wichtigkeit avancierte, das hängt, wie ich vermute, mit der wissenschaftsgeschichtlichen Herkunft und mit der arbeitsteilig-wissenschaftssystematischen Lokalisierung der Pädagogik in den 20er Jahren zusammen. Daß es etwa, um einen Vergleich heranzuziehen, innerhalb der Sozialwissenschaften heute noch eine nennenswerte und vom Fach als bedeutsam registrierte Diskussion zu der Frage gäbe, worin denn die Politikwissenschaft ihre
    Identität
    finde, ist mir nicht bekannt. Wir dürfen also auch diese alte Frage des Fachs
    Pädagogik
    auf sich beruhen lassen, wenngleich in wissenschaftshistorischer Erinnerung, Wenigers argumentative Anstrengungen im Hinblick auf
    die Eigenständigkeit der Pädagogik in Theorie und Praxis
    einen höchst respektablen Schritt in Richtung auf die Pädagogik als akademischer Disziplin darstellten.
  2. 2.
    [131:4] Wenn auch – der Politikwissenschaft vergleichbar – heute kaum noch über
    Autonomie
    und
    Eigenständigkeit
    in jenem wissenschaftspolitischen oder -organisatorischen Sinn seriös gestritten wird, hat sich doch eine andere Komponente jener von Dilthey über (z. B.) Nohl, Buber, Flitner, Litt und eben bis hin zu Weniger immer wieder zum Thema gemachten Argumentationsfigur erhalten (oder ist es inzwischen nur ein Topos?): das
    Erzieherische
    . Da ist dann gelegentlich von dessen
    Wesen
    die Rede, oder, zurückhaltender, von der
    Eigenlogik der Erziehung
    . Das sind freilich wichtige Fragen, zumal dann, wenn man sie kulturhistorisch angeht. Aber auch hier kann man sich Entlastung vor zu hohen Ansprüchen bei anderen Wissenschaften holen. Die Kunstwissenschaft beispielsweise hat in den letzten Jahrzehnten eindrucksvolle Wissensbestände hervorgebracht, ohne die Frage nach dem
    Wesen
    der Kunst, dem
    Künstlerischen
    oder der
    Eigenlogik
    künstlerischer Produktion beantwortet zu haben. Zwar finden derartige Diskussionen statt, aber eher am Rande, wenngleich sie dann, wenn sie zu respektablen Argumentationen führen, auch die Perspektiven des Fachs zu verändern vermögen. Was also seinerzeit für Weniger, aus Gründen der Wissenschaftspolitik, im Zentrum seines Bemühens stand, dürfen wir heute den philosophisch interessierten Kolleginnen und Kollegen überlassen, jedenfalls brauchen wir es nicht mehr zur Feststellung der
    Identität
    des Fachs. Der kulturell unbestreitbare Sachverhalt, daß eine Kultur immer über Generationsgrenzen hinweg vermittelt werden muß – von Schleiermacher schon mit vielen Implikationen so klar formuliert, daß wir mit der Ausführung dieses Theorie-Programms noch lange beschäftigt sein werden – bedarf derart aufwendiger empirischer Recherchen, daß die Pädagogik ihre
    Identität
    eher in den zuverlässigen kultur|a 361|theoretischen, historischen und aktuell-empirischen Beschreibungen hat als im
    Wesen
    des
    Erzieherischen
    . Freilich werden unsere wissenschaftlichen Studien um so besser sein, je deutlicher uns auch die Frage ist, was es denn, im Rahmen anderer Kulturverhältnisse, mit dem Verhältnis der Generationen zueinander auf sich hat. Dies war freilich Wenigers wichtigste Frage. Er hat sie aufgeworfen – wie viele andere auch –, aber nicht ausgeführt.
  3. 3.
    [131:5] Daß Weniger das nicht tat, hängt (u. a.) mit seiner Abstinenz gegenüber den Sozialwissenschaften und der kulturempirischen Forschung zusammen. Insofern war er – und nur hier ist Beutler recht zu geben – etwa im Vergleich mit H. Plessner oder auch mit dem Pädagogen A. Fischer
    mittelmäßig
    . Sein Oeuvre seit 1949 ist eine Sammlung von Fragmenten. Wäre er ein Schriftsteller gewesen, dessen Texte weniger auf die enge Professionalität pädagogischer Berufe hin orientiert sind, dann wären es vielleicht beachtliche Essays geworden. So aber ist das meiste: Theorie-Skizze, begriffliche Konturierung, Aufforderung zu einem Weg, den andere gehen mußten, wenn sie denn den Weg der wissenschaftlichen Profession einschlagen wollten. Ich vermute, daß er das wußte und daß dieses eigene Defizit eine Quelle seiner Liberalität war. Als ich ihm, als sein Assistent 1959, einen Aufsatz über
    Anpassung
    vorlegte, mit mir damals sehr wichtigen Bezugnahmen auf Soziologie und kognitivistische Entwicklungstheorie, sagte er:
    Sie verlassen damit die Pädagogik! Aber wir drucken es
    (in der Zeitschrift für Pädagogik). Er merkte wohl, daß mir anderes wichtiger war als
    Eigenständigkeits
    -Argumentationen, ohne daß deshalb diese
    Provokation
    erloschen wäre. Er konnte das akzeptieren. Das war Weniger als Hochschullehrer.
  4. 4.
    [131:6] Mit dem Theorem, daß die pädagogische Theorie die
    Befangenheit
    , die
    Parteilichkeit
    oder ähnliches mit der Praxis teilen müsse, steht es anders. Th. Schulze nimmt darauf ausdrücklich Bezug, H. Thiersch indirekt, aber wohl auch zustimmend. Dieser aus der engen Bindung an die pädagogischen Reformbewegungen entstandene quasi-theoretische Topos leidet, unter dem Gesichtspunkt seiner Theoriefähigkeit, an zwei Mängeln: Als Terminus der praktischen Philosophie – so scheint er gemeint zu sein, denn es geht um das pädagogisch Gute – wird er durch ethische Argumentation zu wenig gestützt.
    Befangenheit
    ist so letzten Endes kaum mehr als
    Parteilichkeit
    für den epochalen Trend in der Erziehungswirklichkeit.
    Befangenheit
    mag die Sicht auf Fragen der aktuell-kulturellen Problemstellungen erschließen, aufmerksam machen auf dieses oder jenes, hat aber insofern nur eine Zubringerfunktion für das, was wissenschaftliche Theorie sich zum Thema macht, gehört also eher der Genese als der Geltung theoretischer Sätze an. Das zeigt den zweiten Mangel: Das Theorem von der
    Befangenheit
    der Theorie ist historisch unzureichend aufgeklärt. Gerade dann, wenn die Pädagogik
    historisch-systematisch
    (Klafki) arbeiten sollte, müßte sie eingestehen, mindestens heute, daß sie es mit einer Pluralität von Befangenheiten zu tun hat, und zwar so, daß diese zwar häufig und ehrlicherweise dem Wohl der Kinder, ziemlich häufig jedoch (um mich vorsichtig auszudrücken) dem Wohl der Erwachsenen dienen, auch dort, wo etwa das Kind verherrlicht oder
    vergöttlicht
    wird – eine merkwürdige Ambivalenz |a 362|der Reformpädagogik. Historische Aufklärung würde also das Theorem der
    Befangenheit
    eher bei Alltagstheorien ansiedeln als dort, wo es um wissenschaftliche Konstruktionen geht. Aber auch dies bleibt, wenn ich recht sehe, eine
    Provokation
    . Eine wissenschaftliche Pädagogik, die die Frage nach dem pädagogisch-sittlich Guten gar nicht mehr aufwirft, ist mir derzeit nicht gut vorstellbar; sie müßte sich allerdings des Rahmens einer historischen Anthropologie des 20. Jahrhunderts argumentativ versichern.
  5. 5.
    [131:7] Das rührt an die
    historisch-systematische
    und oben schon unter anderen Termen angesprochene Frage, ob es sinnvoll sei, einen pädagogischen
    Grundgedankengang
    zu rekonstruieren, der die
    Einheit
    des Fachs zu verbürgen hätte
    (vgl. Benner, S. 412)
    . Benner ist, wenn ich seinen Kommentar recht verstanden habe, nach zwei Seiten hin skeptisch: Einerseits befürchtet er – wie 1960 Weniger meinem ersten Versuch zur Ausweitung der Disziplingrenzen gegenüber – eine Diffundierung des Fachs in eine Agglomeration von mehr oder weniger zuverlässigen Wissensbeständen aus anderen Wissensfeldern, also dem ähnlich, was Adorno
    Halbbildung
    nannte; andererseits und deshalb müsse die Pädagogik zu einer Kritik der Verhältnisse, der
    Welt
    unter den Gesichtspunkten pädagogischer Fragestellungen in der Lage sein. Wie ist das möglich? Weniger hat diese Schwierigkeit, nach ihren beiden Seiten hin, nicht bewältigt; aber er hat uns das Problem überliefert. Ob die Gegenstandskonstruktionen des Fachs und seiner Forschungsoperationen untereinander noch in einem sinnvollen Zusammenhang stehen, ist in der Tat eine Frage, die uns mit Gründen beunruhigen sollte.
  6. 6.
    [131:8] Demgegenüber scheint mir zweitrangig zu sein, ob das Denken Wenigers an die Schwelle einer
    Theorie kommunikativen Handelns
    heranführt. Dahmer und Klafki sind dieser Meinung; auch ich bezog aus dieser heuristischen Hypothese in den 70er Jahren viel Motivation, aber nur deshalb, weil sie mir einen Kontinuitätsentwurf für meine Karriere erlaubte. Der objektive wissenschaftshistorische Sachverhalt ist weniger eindeutig, besonders dann, wenn man die Kritische Theorie nicht nur in der Variante von Habermas vor Augen hat, sondern in der von Adorno und Horkheimer (vgl. dazu Brumlik im folgenden). Diese Komponenten der
    Erbschaft
    dürfen strittig sein. Das gilt auch für die Frage, welche Namen wir nun für den Sinnzusammenhang unserer Gegenstandskonstruktionen verwenden; das
    Erzieherische
    ,
    Erziehungswirklichkeit
    ,
    Generationen-Verhältnis
    oder – wie zwischen Dahmer, Klafki, Schulze und anderen offenbar strittig –
    Bildung
    oder
    Lernen
    . Freilich verändern sich mit der Wahl derartiger
    grundlegender Konzepte
    (Schulze)
    auch thematische Referenzen. Ich bevorzuge, mit Dahmer und Klafki, beispielsweise den Begriff
    Bildung
    , weil er die historischen Konnotationen deutlicher ins Spiel bringt als der Begriff
    Lernen
    ; mit diesem indessen lassen sich evolutionstheoretische Erwägungen besser verknüpfen, die sich bei
    Bildung
    nur dann zwanglos ergeben, wenn man, beispielsweise, der Metamorphose-Vorstellung Goethes folgt. Aber das alles ist kein sinnvoller Gegenstand für Grundsatzdiskussionen. Wieder ein Vergleich mit der Kunstwissenschaft: Ob von
    Kunst
    ,
    ästhetischen Objekten
    ,
    visueller Kommunikation
    oder ähnlichem die Rede ist, verschiebt zwar die thematischen Aufmerk|a 363|samkeiten, auch die in Anspruch zu nehmenden theoretischen Konstruktionen, beschädigt aber nicht die
    Identität
    des Fachs, sofern erhalten bleibt, daß es sich um visuelle Repräsentationen handelt und sofern einige methodologische Imperative im Hinblick auf die Deutung der Materialien in Geltung bleiben.
  7. 7.
    [131:9] Damit ist man nun wieder bei Weniger. Auch wenn er – im Unterschied etwa zu W. Flitner – keine Erörterungen vorgetragen hat, die den Namen Methodologie in einem heute anspruchsvollen Sinne verdienen, ließ er doch, wenn ich recht sehe, keinen Zweifel daran, daß die Pädagogik, letzten Endes, sich auf Verfahren der Sinn-Auslegung verpflichten sollte. Daß auch die quantifizierende Sozialforschung Beträchtliches dazu beizutragen vermag, vermochte er kaum zu sehen. Aber der postulierte Fluchtpunkt pädagogischer Forschung, die Explikation des pädagogischen Sinnes von Daten und Befunden in Geschichte und Gegenwart, bleibt auch für uns eine produktive
    Provokation
    . Hätte er sich ernsthaft auf den Weg der empirischen Forschung begeben, dann würde er heute vermutlich pädagogische Alltags- oder
    Lebenswelt
    -Forschung (Thiersch), jedenfalls aber die qualitative Sozialforschung favorisieren – und wäre mitten im methodologischen Streit der Gegenwart.
[131:10] Es war ein entschiedener Vorteil des Kolloquiums, daß die Modevokabel
Paradigma
in den Beiträgen kaum vorkam. Niemand kam auf die Idee, von
geisteswissenschaftlichen
oder anderen
Paradigmen
zu sprechen – etwa einem
kritischen
oder
empirisch-analytischen
, einem
systemischen
oder einem
lebensweltlichen
. Daß ein solcher wissenschaftstheoretischer Provinzialismus gar nicht erst aufkam, ist nun vielleicht doch Erich Weniger als dem gemeinsamen Bezugspunkt der Rede zu verdanken. Affirmation und Kritik wurden im gemeinsamen Horizont möglicher Verständigungen vorgetragen. Es war nicht strittig, welche Art von Sätzen oder Behauptungen als mögliche Wahrheitskandidaten in Frage kommen. Es wäre zu kurz gegriffen, dies als ein
geisteswissenschaftliches Paradigma
zu bezeichnen; es reicht viel weiter. Es betrifft, als Theorie und Methode, die zuverlässige historische Rekonstruktion des jeweiligen Sinns der kulturellen Praxis
Pädagogik
aus ihren empirisch zugänglichen Dokumenten. Egal, wie man das nennt; jedenfalls ein seit 250 Jahren, im Hinblick auf Sachverhalte der Kultur, von uns akzeptiertes
Paradigma
.
[131:11] Die oft erörterte Frage, wie die
historischen
zu den
systematischen
Geisteswissenschaften sich verhalten, mit der I. Dahmer ihre Darlegungen hier gleich eröffnen wird, gehört im Kontext der Vorstellungen, die Weniger von der Pädagogik als akademischem Fach hatte, gewiß zu den wichtigsten. So sorgfältig indessen solche Konstellationen, in wissenschaftshistorischer Perspektive, zu beschreiben sind, so zweifelhaft darf sein, ob, nach jenem Konzept Diltheys, die Sozialwissenschaften die legitimen Erben der
systematischen Geisteswissenschaften
sind und ob, in der verlängerten Sicht Wenigers, die Pädagogik dazu gehöre oder ob ihr gar im Vergleich zu anderen
Geisteswissenschaften
ein Sonderstatus zuzubilligen sei. Die tatsächlichen Entwicklungen in anderen Disziplinen – etwa der Literatur-, der Kunst-, der Musikwissenschaft – laufen nämlich weder auf die Trennung von Geschichte und System |a 364|zu noch profilieren sie sich, nach ihrer systematischen Seite hin, als Sozialwissenschaft. Davon bleibt unberührt, daß sie alle von soziologischer Aufklärung ungemein profitiert haben, ganz unzweifelhaft auch die Pädagogik. Für sie alle darf geltend gemacht werden, was Klafki auch für die Pädagogik postuliert: nämlich daß die wissenschaftlichen Bemühungen ihre historisch-philologischen und historisch-pragmatischen Beschreibungen theoriegeleitet vornehmen, also mit
systematischen
Fragestellungen verknüpfen – sei es, daß man, linguistisch interessiert,
Lichtenbergsche Konjunktive
analysiert, die Blickweisen der Phänomenologie oder der Ökonomie auf die Werke Rembrandts richtet, die Mannheimer
Empfindsamkeits
-Kompositionen als Vorboten von Autonomie interpretiert oder ob man (gelegentlich) Texte Pestalozzis, Autobiographien oder Schulgesetze nach Maßgabe eines pädagogischen Begriffs von Mündigkeit und Bildung zur Darstellung bringt. So könnte denn das wichtigste und kreditwürdige Erbe Wenigers und der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik darin bestehen, dieses Fach, wie etwa in der
Volkskunde
vergleichbar zu beobachten, in eine systematisch reflektierte und empirisch zuverlässig verfahrende Kulturwissenschaft zu transformieren. Im übrigen ist dieser Vorgang schon lange keine Neuigkeit mehr.