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E&W-Gespräch mit Prof.
Klaus Mollenhauer
Grenzgänge zwischen Normalität und Abweichung
[V78:1] E&W führte mit dem Göttinger Erziehungswissenschaftler Prof.
Dr. Klaus Mollenhauer ein Gespräch über das
Selbstverständnis von Sozialpädagogik und Jugendhilfe und die Bedeutung des
Bildungsbegriffs.
[V78:2] Denkt man an eine künftige Zusammenarbeit von
Jugendhilfe und Schule, fällt einem zunächst die alte Zuschreibung ein, daß
sich Sozialarbeit in erster Linie um Jugendliche kümmert, die in Notlagen
geraten sind, währenddem die Schulpädagogik sich auf die Vermittlung von
Wissen und Kulturtechniken konzentriert. Ist das noch immer so – hier
Krisenintervention – dort Normalität?
[V78:3] Klaus Mollenhauer:
Sie sprechen eine Frage an, die eigentlich, seit es die
Jugendhilfe gibt, ein Dauerproblem der Pädagogik gewesen ist. Soll die
Sozialpädagogik oder sollen die Jugendhilfeeinrichtungen als Sorge der
Gesellschaft für Notlagen verstanden werden, oder soll die Jugendhilfe, die
Sozialpädagogik sich, wie die Schule, am selbstverständlichen Normalfall des
Aufwachsens in einer modernen Gesellschaft orientieren? Seit dem ersten
Reichsjugendwohlfahrtsgesetz der
Weimarer Republik ist das die Alternativfrage geblieben.
[V78:4] Teilen Sie diese
Normalitätsvorstellung?
[V78:5] Klaus Mollenhauer:
„Normal“
wäre sozusagen eine
Bildungskarriere, die ohne größere Konflikte zu irgendeiner Form von
Integration des jungen Menschen innerhalb des sozialen Systems, auch
innerhalb des Beschäftigungssystems führt, ohne große biographische
Verletzungen. [V78:6] Eine derartige
Normvorstellung scheinen viele Fachkolleginnen und -kollegen auch für die
Sozialpädagogik zu empfehlen. Ich nehme hier allerdings eine etwas andere
Position ein, die, wie mir scheint, im Augenblick aber nicht mehrheitsfähig
ist. Ich meine, daß die Jugendhilfe der Teil unseres Erziehungssystems ist,
der am deutlichsten mit der schwierigen Balance zwischen
Normalitätsentwürfen und -abweichungen zu tun hat. Und die Dauerhaftigkeit
unseres Jugendhilfesystems und damit auch die Zukunftsorientierung einer
Theorie der Sozialpädagogik hängt meines Erachtens davon ab, ob es einer
modernen demokratischen Gesellschaft wie der unseren gelingt, kontinuierlich
und professionell über Normalitätsentwürfe und deren
Abweichungsmöglichkeiten nachzudenken. Normalität herzustellen ist ja ein
Problem, das weit in die intimen Verhaltensprobleme des einzelnen
hineingeht. An dieser Grenze aber operiert die Jugendhilfe. Also hat sie
notwendigerweise mit Notlagen zu tun.
[V78:7] Dahinter steckt doch auch ein Konflikt: nämlich
die Erwartung der Gesellschaft, daß die Jugendhilfe bei auftretenden
Defiziten soziale Feuerwehr spielt. Leistet sie deshalb nicht vor allem
Anpassungsarbeit?
[V78:8] Klaus Mollenhauer:
Wenn man leugnet, daß die Jugendhilfe an Defiziten arbeitet,
dann würde man so tun, als hätte unsere Gesellschaft nicht wirklich
strukturell pathogene Elemente.
„Anpassung“
ist ja nichts
Schlimmes, oder doch nur, wenn man sich an das
„Schlimme“
anpaßt. Ich denke, wir sollten durch die Psychoanalyse soweit aufgeklärt
sein, daß wir nicht wesentliche Komponenten unserer Berufstätigkeit
verdrängen. Das zum einen. Nun steckt aber in dieser Defizitdefinition noch
etwas Weitergehendes. Die ganze Jugendhilfe, die Kindergärten nehme ich hier
einmal aus, hat es mit der Schwierigkeit einer modernen Gesellschaft zu tun,
eine Art Normalitätserwartung aufrechtzuerhalten, sie aber nicht mehr
autoritär durchsetzen zu können. Das vielleicht anschaulichste Beispiel
dafür sind die ethnisch-kulturellen Differenzen. Mit solchen Differenzen
umzugehen, in ein und derselben Gesellschaft, heißt für die Professionellen,
daß sie dauernd ihre eigenen Normalitätsentwürfe in Frage
stellen.
[V78:9] Was bedeutet dann Professionalisierung, wenn man
Jugendhilfe als Grenzgängerin zwischen Normalität und Abweichungen
versteht?
[V78:10] Klaus Mollenhauer:
Nehmen wir z. B. ein muslimisch-türkisches fünfzehnjähriges
Mädchen, das seit drei Jahren in der Bundesrepublik lebt und sich während
der Pubertät entscheidet, in Deutschland zu bleiben. An diesem Beispiel kann
ich ganz gut erläutern, was das Wort Professionalität im Bereich der
Jugendhilfe bedeutet. [V78:11] Wir haben uns
angewöhnt, und das ist ja fast schon eine Sonntagspredigtvokabel, für den
Klienten Partei zu ergreifen und ihm Hilfe zur Selbsthilfe zu vermitteln.
Aber man müßte sich doch genauer fragen, wofür ergreife ich eigentlich
Partei. Natürlich bei unserem Beispiel für das fünfzehnjährige türkische
Mädchen. [V78:12] Aber diese Parteinahme ist
bereits beim ersten Schritt differenziert. Ich kann diesem Mädchen nicht
helfen, ohne daß ich beispielsweise den Koran gelesen habe. Ich muß mich
also ein Stück weit in deren Kultur hineinbegeben. Ich kann dem Mädchen
nicht helfen, wenn ich mir nicht vorstellen kann, wie eine Balance zwischen
deren kultureller Herkunft und einem modernen weiblichen Lebensentwurf
aussehen könnte. [V78:13] Partei ergreifen
ist also keine Sentimentalität. Es geht hier vielmehr um das Wissen über
Konflikte, die durch historisch gleichsam aufgenötigte Orientierungsprobleme
der Klientel entstehen.
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[V78:14] Es gibt ja heute das Bemühen der
Landesjugendämter, den Schulen Dienstleistungen und Angebote der Jugendhilfe
zur Verfügung zu stellen. Bedeutet das, daß eine Annäherung von Jugendhilfe
und Schule nur auf pragmatischer Ebene stattfindet, oder setzt eine solche
Annäherung voraus, daß zunächst einmal grundsätzlich über das
Selbstverständnis von Jugendhilfe und Schule neu nachgedacht
wird?
[V78:15] Klaus Mollenhauer:
Zum einen ist hier die Frage, ob wir eine solche Annäherung
institutionell überhaupt auf den Weg bringen können und wollen, zum Beispiel
durch die Ganztagsschule. Zum anderen läßt sich vielleicht durch einen
kleinen historischen Exkurs zum Schicksal des Wortes
„Bildung“
zeigen, wie sich die pädagogischen Orientierungen von
Schule und Jugendhilfe getrennt haben. Ursprünglich, in der Zeit zwischen
1780 und 1820, als Herder seine ersten bildungstheoretischen
Texte und Humboldt seine frühen Schriften verfaßt hat, als Schleiermacher seine großen Vorlesungen über Pädagogik
hielt, in dieser klassischen Konstellation war Bildung das Wort für die
Form, in die sich der Mensch im Laufe seines Lebens selbst bringt. Bildung
war nicht das Synonym für irgendeine bestimmte Art der Formierung. Im
Verlauf des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart hinein hat sich dieser
ursprünglich weit gefaßte Bildungsbegriff dann verengt. [V78:16] Wenn wir heute das Wort
„Bildungswesen“
verwenden, denkt niemand an die Heimerziehung. Die
Jugendhilfe hat deshalb ihr Selbstverständnis woanders gesucht. Und hier war
natürlich das Fremdwort Sozialisation sehr willkommen. Wo Humboldt und Schleiermacher Bildung meinten,
sprach die Jugendhilfe fortan von Sozialisation. Ich finde das auch ganz
vernünftig so. Wir haben uns damit ganz neue wissenschaftliche Ressourcen
erschlossen. Die ganze sozialwissenschaftliche Orientierung ist auf diese
Weise überhaupt erst in die Pädagogik hineingekommen. [V78:17] Aber man muß sich klarmachen, daß durch die
verschiedenen Vokabularien eine deutlichere Trennung als wünschenswert
eingeführt worden ist zwischen dem Schulsystem auf der einen und dem
Jugendhilfesystem auf der anderen Seite. Wenn es uns gelingt, sowohl in der
sozialpädagogischen Forschung wie auch an den entsprechenden
Ausbildungsorten, wieder stärker an diesem elementaren anthropologischen
Vorgang, den wir Bildung nennen, anzuschließen und wir dies gut begründen,
könnten wir die institutionellen Probleme, die es im Augenblick zwischen
Landesjugendämtern und Schulen gibt, vermutlich besser lösen.
[V78:18] Nun gibt es natürlich bei dem pädagogischen
Vokabular noch einen Begriff, den Sie möglicherweise mit Absicht
unterschlagen haben, den Begriff Erziehung, der jetzt wieder mehr die
öffentliche Diskussion bestimmt.
[V78:19] Klaus Mollenhauer:
Ich halte den Ausdruck Bildung für gewichtiger. Wenn ich nämlich
Bildung sage, dann drücke ich damit ganz zwanglos aus, daß jemand auch sich
selbst bilden kann. Ich kann aber nicht sagen, jemand sozialisiert sich
selbst, das wäre Unsinn. Im Begriff Bildung dagegen steckt die volle
Aktivität des tätigen Subjekts. Sage ich aber Erziehung, dann meine ich
bereits ein in bestimmter Weise geordnetes Sozialverhältnis, das ist
natürlich immer ein Machtverhältnis.
[V78:20] Sie haben gerade den Bildungsbegriff auf seine
historischen Wurzeln zurückgeführt. Aber es gibt ja noch eine zweite
Möglichkeit, den Bildungsbegriff zu hinterfragen. Man stellt immer wieder
fest, daß es Entwicklungen und Bewegungen im Bildungswesen gibt, die mit dem
gesellschaftlichen Bedarf zusammenhängen. Ist jetzt wieder eine Zeit
angebrochen, wo Bedarf ist, sich des Fundaments und der Verankerung zu
vergewissern, in welcher Gesellschaft und für welche Gesellschaft betreiben
wir Erziehung und Bildung?
[V78:21] Klaus Mollenhauer:
Sie erlauben, noch einmal zwei Dinge deutlich zu sagen. Wenn ich
eben Herder, Humboldt und Schleiermacher genannt habe,
meine ich damit nicht, man müsse nur zu den Klassikern zurück, und dann sei
alles wieder in Ordnung. [V78:22] Wenn ich
zum Beispiel an eine Jugendliche denke, die zwischen dem 14. und 16.
Lebensjahr ihre Familie verlassen will, um selbständig zu sein, dann hat
diese Jugendliche ein Problem zu bewältigen, mit dem schon die Gesellschaft
strukturell nicht fertig wird, das aber, um Ihre Worte zu verwenden, wir
gegenwärtig zu lösen haben. Nämlich: Wir haben einerseits die überlieferte
Orientierung am Wert der Individualität des Menschen. Und die Soziologen
haben inzwischen auch gemerkt, daß das vor 150 Jahren gar nicht so eine
spinnerte idealistische Idee gewesen ist. Bloß sprechen sie heute von
Individualisierung der Lebensläufe, der Lebenschancen usw. Das heißt, man
muß dauernd wählen und sich entscheiden. Die Anforderung an den einzelnen
steht aber in einem scharfen Kontrast zu dem, was wir unter Solidarität
verstehen, und dazu gehört auch (!) die Solidarität mit der
Herkunftsfamilie. Auch eine Vokabel, die zur historischen Überlieferung
gehört. Schauen wir uns heute um, was [V78:23] sich tatsächlich in den individuellen Bildungskarrieren abspielt, dann
sehen wir, daß unsere Gesellschaft, mit dem Konflikt zwischen
Individualisierung und Solidarität nicht zurechtkommt. Es gibt relativ
privilegierte Gruppen, die diese Balance von Solidarität und Individualität
schaffen. Dazu gehört – leider! – eine gewisse Wohlhabenheit. Ich schaffe
diese Balance vielleicht. Ich kann auch meinen Kindern die Spielräume
vermitteln, die nötig sind, damit sie einerseits moralisch-politische
Solidaritäten eingehen können und andererseits dabei ihre Individualität
nicht aufs Spiel setzen. Aber der Skinhead und auch der privatisierende
„Selbstverwirklicher“
können es nicht. Der eine fällt in
eine vormoderne Attitüde zurück, weil er die gesellschaftliche Anforderung
an seine Individualität einfach nicht erfüllen kann, der andere bleibt
unsozial. Beide sind in ihren Lernmilieus vielleicht nicht darauf
vorbereitet worden. So bildet sich keine vernünftige Balance zwischen
Individualität und Solidarität aus. Blinde Aktion, einem rechtsradikalem
Parolenschmied nachlaufen, sich individualistisch zurückziehen, das sind
verlorene Auswege. Diese Balanceleistung von Individualität und Solidarität
fehlt nicht nur bei den Rechtsradikalen, sie fehlt an vielen
gesellschaftlichen Orten. [V78:24] Zu unserem
Normalitätsentwurf, das heißt zu unserem besseren Begriff von uns selber,
gehört, daß wir sowohl Solidaritäten eingehen als auch unsere
Individualitäten in sozialen Kontexten noch zur Geltung bringen können. Bei
dem Versuch, dorthin zu kommen, gibt es vielerlei Abweichungen, damit müssen
wir leben.