Kinder- und Jugendhilfe [Textfassung a]

Zusammenfassung

[136:1] Sozialpädagogik faßt eine Reihe divergierender Praxisfelder und theoretischer Fragestellungen in sich, der Autor versucht in dem Beitrag zu bestimmen, welche Forschungsprobleme sich in diesem Feld stellen und vor allem, ob sie sich als charakteristisches sozialpädagogisches Profil ordnen lassen. Er beschreibt das Gegenstandsfeld und das daraus resultierende Verhältnis von Praxis und Theorie, dessen Differenz er nicht eingeebnet wissen will. Pädagogik habe die doppelte Last der praktisch ethischen Begründung und der zuverlässigen Beschreibung zu tragen. Als Konturen der theoretischen Problemlagen beschreibt er die Generationenverhältnisse, Normalitätsbalancen, Armut und Interkulturalität als
Hauptstücke
sozialpädagogischer Forschung und Praxis.
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Kinder- und Jugendhilfe.

Theorie der Sozialpädagogik – ein thematisch-kritischer Grundriß

[136:2]
Kritik
heißt Vergleich, Abwägung des Verschiedenen, Erläuterung der Gründe für dieses oder jenes, und zwar in der Annahme, durch solche Tätigkeit eine Problemlage besser bestimmen zu können, als es in naiver Parteinahme möglich wäre. Allerdings entgeht auch
Kritik
nicht grundsätzlich dem Verdacht der Parteinahme, der nicht hinreichend begründeten Option. Ob dieser dann naiv oder berechtigt ist, zeigt sich regelmäßig erst später. Das gilt auch für die hier vorgelegte Argumentation. Sie soll sich auf die Frage beziehen, ob das Ensemble der Kinder- und Jugendhilfe als Gegenstandsfeld der Sozialpädagogik in forschungsrelevanten theoretischen Themen fundiert werden könnte oder ob von vornherein, der Vielfalt im Gegenstandsfeld anzutreffender Sachverhalte wegen,
Sozialpädagogik
nur der ausbildungspragmatische Sammelname für Heterogenes und also theoretisch irrelevant ist. Diese Fragen sind nicht neu. Sie spielen allerdings in den Veröffentlichungen zum Thema eher eine untergeordnete Rolle. Nur gelegentlich werden sie thematisch, so z. B. wenn Winkler eine ausführliche Studie mit dem bescheidenen (und darin realistischen) Vermerk vorlegt, es handele sich nur um
eine
Theorie der Sozialpädagogik (Winkler 1988); oder wenn nach den klassifikatorischen Geltungsgründen für die Unterscheidung zwischen Sozialpädagogik und Sozialarbeit gefragt wird (Gängler/Rauschenbach 1996, S. 157 ff.).
[136:3] Es mag deshalb nützlich sein, sich das Praxisfeld, die Institutionen und Handlungen also, zu vergegenwärtigen, das, worauf der theoretisch gemeinte Name
Sozialpädagogik
zumeist bezogen wird. Es soll gefragt oder geprüft werden, ob sich in der Vielfalt der Praktiken theoretisch relevante Fluchtpunkte ausmachen lassen, die in eine befriedigende Kontinuität gebracht werden können, und es soll schließlich angedeutet werden, welche Forschungsprobleme sich in diesem Feld stellen könnten oder schon in Angriff genommen sind, vor allem aber, ob sie sich als ein charakteristisches thematisches Profil ordnen lassen. Dabei wird mich die Frage, ob
Sozialpädagogik
innerhalb des Konzerts der vielen |a 870|Teilpädagogiken oder auch im Hinblick auf Nachbardisziplinen so etwas wie
Eigenständigkeit
zukommt, nicht ausdrücklich beschäftigen; ich bin zufrieden, wenn man es
Pädagogik
nennt und damit eine Frage in den Vordergrund rückt, an der andere Disziplinen weniger interessiert sind.

1. Zum Gegenstandsfeld

[136:4] Fast ist es zu trivial, um eigens hervorgehoben zu werden: Aufstieg und Dominanz in den erziehungswissenschaftlichen/pädagogischen Diskursen verdankte die sogenannte
Schulpädagogik
einer kulturhistorischen Entwicklung und ihrer Professionalisierungsfolgen: Schickt sich eine Kultur – wie die unsere spätestens seit dem 17. Jahrhundert, seit Comenius also – an, eine (schulische) Bildung für alle zu inszenieren, dann wird dies zum Brennpunkt für kulturelle Überlieferung, führt also zu einer Profession, zum (akademischen) Projekt der Professionalisierung, zu einer akademischen Disziplin schließlich, die solches zu besorgen versucht. Schulpädagogik, Schultheorie, Curriculumargumentation, Schulorganisationsprobleme dominieren seither das Feld – angesichts der Tatsache, daß nahezu 100 % der nachwachsenden Generation diese Einrichtungen besuchen, kein sehr überraschender Tatbestand.
[136:5] Bereits Schleiermacher aber ahnte – auch dies nur eine Erinnerung an das, was alle wissen –, daß die Problemlage dieser (damals noch philosophischen) Teildisziplin schwieriger ist: Es sei das
Verhältnis der Generationen
überhaupt, das in Rede stünde. Anstelle der quantitativen Frage (Wie bringen wir die Schulbesuchquote auf 100 %, wie können wir diese Population hinreichend motivieren?) und der didaktisch qualitativen (Mit welchen Themen können oder müssen wir sie zu erreichen versuchen?) stellte er eine kulturtheoretische Frage, häufig zitiert, nämlich:
Was will denn eigentlich die ältere Generation mit der jüngeren?
Wichern, Hörer von Schleiermachers Vorlesungen, hatte das mißverstanden, so als sei der Wille der älteren Generation, wenn er sich nur auf kirchengeschichtliche Überlieferung stützen könnte, hinreichender Grund. Aber immerhin schrieb er, in der Zeit seines Vikariats, sorgfältige Protokolle über Besuche bei verarmten Familien.
[136:6] Für eine Kultur, die ihrer kognitiven, moralischen und politisch-hierarchischen Bestände gewiß ist (so noch für Wichern und später immer noch für die Autoren der preußischen Fürsorgegesetzgebung 1900 oder des Jugendpflegeerlasses von 1911), war diese Thematik kein ernsthafter, problematischer Gegenstand. Mit dem Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (1924), den pädagogischen Argumentationen Fischers und Nohls (z. B.), beide gestützt auf Jugend- und Reformbewegungen, und den ersten, nun die Thematik Schleiermachers in das 20. Jahrhundert hinein fortführenden soziologischen Argumenten (z. B. Mannheim 1928), vor allem aber durch die inzwischen entstandenen Ausbildungsstätten für soziale Berufe und die sie begleitende theoretisch interessierte Kommentierung begann die Lage sich zu ändern. Seitdem gibt es, neben dem schulpädagogischen, einen
sozialpädagogischen Blick
(Rauschenbach u. a. 1993). Was geriet diesem Blick ins Gesichtsfeld?
[136:7] Die Vielfalt der Einrichtungen, Maßnahmen und Methoden, die Schwierigkeit, für sie eine theoretische Klammer zu finden, ist unstrittig. Sozialwissen|a 871|schaftliche Forschungserfahrung hat uns überdies gelehrt, daß es die erste Tugend der an Erkenntnis Interessierten ist, zu unterscheiden. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz legt solche Unterscheidungen – wenngleich nicht durchweg akzeptiert – nahe. Es dokumentiert damit ein Selbstverständnis der gesellschaftlichen Lage, das mit den wissenschaftlichen Zugriffen auf das Feld verträglich ist – nicht immer, aber doch in groben Zügen: Es gibt Einrichtungen verschiedener Organisationsgrade, nach Altersklassen gestaffelt, nach methodischen Sorten des Zugangs zur Klientel differenziert usw. Ihnen allen ist besonders ein negatives Merkmal gemeinsam: Kinder- und Jugendhilfe ist nicht, wie die Schule, einem relativ leicht zu identifizierenden institutionellen Typus zuzuschlagen; vielmehr entfaltet sich in diesem Feld eine sozialwissenschaftlich schwer zu kalkulierende Vielfalt institutioneller Bedingungen und Wege. Es könnte also naheliegen, den Ausdruck
Sozialpädagogik
als eine für wissenschaftliche Bemühungen signifikante Vokabel fallenzulassen. Was hat denn noch der Kindergarten mit dem Jugendstrafvollzug, die Heimerziehung mit der Beratungsstelle, die Familienbildungseinrichtung mit Streetwork oder einer Behindertenwerkstätte zu tun? Ehe man im Hinblick auf die Klienten eine vereinheitlichende Orientierung empfiehlt, wäre es vielleicht nützlich, die Verschiedenartigkeit der Institutionen und die je zugeordneten professionellen Positionen und Rollen zu studieren. Dazu gehört, als triviales Ausgangsdatum, wenigstens die Kenntnis tatsächlicher Häufigkeitsverteilungen, und seien es quantitative Schätzungen; und es gehören dazu sozialwissenschaftlich sorgfältige Beschreibungen/Analysen der jeweiligen institutionellen oder semiinstitutionellen Kontexte. Die Jugendberichte der Bundesregierung (8. und 9. Bericht) haben das versucht.
[136:8] Man kann aber auch, unabhängig von solchen Aufträgen, anders verfahren. Als
Arbeitsfelder der Erziehungswissenschaft
taucht, in einem kürzlich erschienenen
Einführungskurs
, die Sozialpädagogik/Jugendhilfe als Überschrift nicht mehr auf. Stationäre Erziehungshilfen, Interkulturelle Arbeit, Erwachsenenbildung, Beratung, Schulen usw. werden nebeneinander, ohne klassifikatorische Hierarchien oder Sektionierungen aufgeführt (Krüger/Rauschenbach 1995). Ist das der bessere Weg? Es könnte so scheinen, auch wenn dabei Einrichtungen, die nur 1 % der Bevölkerung erreichen, denen gleichrangig werden, deren Klientel nahezu 100 % der Altersjahrgänge betrifft. Schon bei einer derart oberflächlichen Beschreibung der quantitativen Verhältnisse und der je zugeordneten institutionellen Settings stellt sich eine kultur- oder gesellschaftstheoretische Frage ein: Sind quantitative Proportionen ein Indikator für Relevanz? Man wird diese Frage schon deshalb nicht positiv beantworten können, weil gesellschaftliche Umstrukturierungen im historischen Prozeß zumeist nicht plötzlich sich einstellen, sondern mit quantitativ zunächst unerheblich scheinenden Verschiebungen beginnen. Darin liegt freilich auch das theoretische Risiko jeder aktuellen Relevanzhypothese, die sich Künftiges zum Gegenstand macht. Jedenfalls: Niemand kann heute zuverlässig sagen, ob etwa die Neukonzeption einer
Sozialarbeitswissenschaft
neben der
Sozialpädagogik
, ob eine Integration beider (vgl. dazu die ausgezeichnete Problembeschreibung von Gängler/Rauschenbach 1996, auch die Rezensionen von Merten 1995 und Lüders 1995) oder ob deren Auflösung in eine Pluralität von
Arbeitsfeldern
mit zugeordneten Forschungstätigkeiten jeweils geringere oder größere theoretische Risiken enthält.
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[136:9] Daß es indessen Prüfungsordnungen und Studiengänge gibt, die das Etikett
Sozialpädagogik
oder
Soziale Arbeit
bei sich führen und die die unbestreitbare Heterogenität der Gegenstände unter einem Sammelbegriff subsumieren, das ist, wie Gängler und Rauschenbach vorgeführt haben, eine professionspolitische Frage, nicht identisch mit den epistemologischen Problemen der Sozialpädagogik. Allerdings ist das eine mit dem anderen verknüpft. Rückt man die epistemologisch-theoretischen Fragen in den Vordergrund, dann treten die Verschiedenheiten von Strukturen und Problemlagen innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe (und darüber hinaus der
Sozialen Dienste
überhaupt) hervor. Favorisiert man indessen berufs- und ausbildungspolitische Perspektiven, dann ist an die Berufsstandsprobleme von Sozialpädagogik/Sozialarbeit zu denken, an ein Etikett mit Arbeitsmarktfolgen also, von Flösser und Otto (1996) knapp und prägnant beschrieben. Es scheint deshalb nützlich, Probleme der Theorie zu unterscheiden von solchen der Praxis.

2.
Theorie
und
Praxis

[136:10] Es soll hier nicht erneut die in der Erziehungswissenschaft nicht enden wollende allgemeine Frage nach dem sogenannten Verhältnis
zwischen Theorie und Praxis
diskutiert werden. Gemeint sind nur die beiden Weisen der Vernunft, die eine gerichtet auf die Erkenntnis dessen, was der Fall ist, die andere gerichtet auf die Frage, wie unser Handeln beschaffen sein soll. Die Pädagogik, also auch die Sozialpädagogik, hat es mit beiden zu tun. Das ist das schwierige Erbe, das sie seit ihrem Ausgang aus der praktischen Philosophie mit sich herumträgt. Diese Schwierigkeit konturiert sich in der Sozialpädagogik sichtbarer als in der Schulpädagogik. Das hat häufig zur Folge, daß die Frage, wie gehandelt werden solle, die theoretisch-epistemologischen Probleme in den Hintergrund treten läßt oder daß diejenigen, die an Differenzierendem, an Unterscheidungen wissenschaftlicher Objektkonstruktionen sich vornehmlich interessiert zeigen, als Verächter des sozialpädagogischen Ethos erscheinen. Das aber ist eine schiefe Frontlinie oder gar die Einebnung sinnvoller Fronten, die ich mir (derzeit) nicht anders erklären kann als so, daß ausbildungspraktische Optionen die epistemologischen Fragestellungen beständig zu durchkreuzen drohen.
[136:11] Die damit gegebene Schwierigkeit soll an einer Vokabel erläutert werden, die, ganz im Unterschied zu ihrem ursprünglich epistemologischen Sinn, zur Bezeichnung für eine berufsmoralische Option verwendet wird, und zwar inflationär:
Lebensweltorientierung
. Sieht man von Standortfragen und Zitierroutinen ab, dann ist immer noch erstaunlich, wie ein solcher Ausdruck oder gar ein solches
Konzept
, ein
Begriff
also, derartige Verbreitung finden konnte, und zwar ein Begriff, der die Besonderheit oder auch
Eigensinnigkeit
der erziehungswissenschaftlichen Teildisziplin mit Namen
Sozialpädagogik
zur Sprache bringen soll als wissenschaftlich-forschende Tätigkeit. Nirgends wurde er so vehement und von so vielen aufgegriffen wie hier. Er empfiehlt sich freilich zur berufsmoralischen
Orientierung
des Handelns, wird deshalb gern auf Methoden der sozialpädagogischen Praxis bezogen (Rauschenbach/Ortmann/Karsten 1993) und ist aus diesen und anderen Gründen hervorragend geeignet, ein Ausbildungs- und Praxisverständnis zu bekräftigen, das Wissenschaft und Praxis |a 873|verschiedenartigster Herkunft zusammenfügt und in gemeinsamer Einstellung, praktischer Option eben, vereint. Da kann es gar keinen sinnvollen Streit mehr geben zwischen Sozialpädagogik und Sozialarbeitswissenschaft, zwischen Erziehungswissenschaft und Sozialpädagogik, zwischen den vielfältigen und heterogenen Strukturen und Prozeduren. An
Lebenswelt
ist jeder interessiert, wie seinerzeit an
Erziehungswirklichkeit
oder
Praxis
überhaupt.
[136:12] Daß es sich, in dieser Art von Literatur, um berufsmoralische Optionen und nicht – wie etwa bei Habermas (1981) – um ein gesellschaftstheoretisch-epistemologisches Problem handelt, zeigt sich schon im Vokabular:
Lebensweltorientierte Sozialarbeit
sei
ein sozialpolitisch verortetes Arbeitsprogramm: Ganzheitlichkeit, Offenheit und Allzuständigkeit
einerseits, und
Struktur, Differenzierung, Methode
andererseits
(Thiersch 1993, S. 12)
. Statt
Allzuständigkeit
ist auch von
Einmischung
die Rede und davon, daß diese Orientierung eine
Gegenorientierung zu einer zunehmenden Institutionalisierung, Spezialisierung und Professionalisierung
sei
(S. 13)
, ein
Gestaltungsprinzip
(S. 15)
. Das ist, wenn ich es recht verstehe, kein theoretisches Programm, das Erkenntniswege skizziert, sondern eine Handlungsempfehlung, für die es mannigfache Gründe geben mag. Die verschiedenen, in knapp 10-Jahres-Abständen in der Pädagogik ausgerufenen
Wenden
, darunter z. B. auch die
emanzipatorische
, haben uns nachträglich die argumentativen Schwierigkeiten gelehrt, wenn es, in solchen Vokabeln, nicht nur um theoretische Beschreibung dessen, was der Fall ist oder war, sondern um prospektive praktische Imperative geht (zur Kritik von
Emanzipation
vgl. Ruhloff 1980). Die Pädagogik kann indessen von solchen – zumeist argumentativ riskanten – praktischen Optionen nicht lassen. Das hat, wie Brumlik für die Sozialpädagogik immer wieder geltend macht, einige gute Gründe, mindestens aber diesen: Unter welchen Umständen und mit welchen Argumenten läßt sich rechtfertigen, in das Leben eines anderen einzugreifen mit dem Anspruch, ihm
Hilfe
zukommen zu lassen?
Weder der Prozeß der Professionalisierung noch die durch kritische Sozialwissenschaft gewonnenen Einsichten in Funktionen und Wirkungsweisen von Sozialpädagogik und Sozialarbeit erübrigen die Frage nach deren normativer Grundlegung, sondern fordern sie geradezu heraus
(Brumlik 1992, S. 205)
. Das gilt auch für
Lebensweltorientierung
.
[136:13] Soll also die Differenz von Praxis und Episteme nicht eingeebnet, sondern mit Brumlik aufrechterahlten werden, dann stellen sich angesichts der Empfehlung von
Lebensweltorientierung
als berufsmoralische Klammer für die Sozialen Dienste Fragen ein: Folgt diese Orientierung nicht dem, was 1981 schon als auf Schütz gemünzte Befürchtung eines
kulturalistisch verkürzten Konzepts der Lebenswelt
(Habermas 1981, S. 205)
bemängelt wurde? Will die
Lebensweltorientierung
das
egologische Bewußtsein
rechtfertigen, so wie Husserl es konzipierte
(ebd., S. 196)
? Handelt es sich um einen
hermeneutischen Idealismus
(S. 223)
? Oder:
Je komplexer die Gesellschaftssysteme, um so provinzieller werden die Lebenswelten
(S. 258)
– stimmt das? Welche Berufsmoral unter solchen Bedingungen empfehlenswert ist und wie diese ethisch begründet werden könnte, ist eine Frage, die durch gegenstandserkennende theoretische Forschung allein nicht beantwortet werden kann, sie
erübrigt
sich deshalb durch diese auch nicht. Und also muß die eine von der anderen deutlich unterschieden werden.
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[136:14] Die eine Seite sozialpädagogisch interessierter akademischer Bemühungen ist also – so scheint mir – durch die ethischen Argumentationen Brumliks und die auf das differenzierte und heterogene Feld von Handlungen und Institutionen der Sozialpädagogik bezogenen Erläuterungen Thierschs getroffen, etwa unter dem Titel: Auf der Suche nach einer berufsmoralisch hinreichend konkreten und zugleich ethisch begründbaren Einheit der Sozialen Dienste. Aber ergibt sich daraus schon die Konsistenz eines akademischen Fachs? Oder anders gefragt: Wie verhält sich die
reflexion engagée
zu den aufzuklärenden Sachverhalten, Tatbeständen, empirischen Befunden? Im Vergleich gesprochen: Die Erkenntnisse der Kunstgeschichtsschreibung sind nicht abhängig von einem normativen Begriff von
Kunst
; die Politikwissenschaft benötigt, zur Definition des Feldes ihrer Gegenstandskonstruktion, keine Idee von
guter Politik
; der
hippokratische Eid
gibt der szientifischen Thematik moderner Medizin (als Wissenschaft, nicht als Praxis) nur eine sehr ungefähre Vorgabe.
Pädagogik
aber, das sagt schon der Name, bürdet denen, die sie betreiben, jene doppelte Last der praktisch-ethischen Begründung und der zuverlässigen Beschreibung auf. In keiner Richtung folgt das eine aus dem anderen. Deshalb ist diese Unterscheidung wichtig. Aber warum eigentlich sollte das, was
Sozialpädagogik
heute ist, nur auf dem Wege über eine Berufsmoral, eine Gesinnung oder Haltung, eine für
Lebenswelt
(vielleicht ist ja nur die Vokabel unglücklich gewählt?) optierende Einstellung bestimmt werden können, so nützlich diese Bestimmung auch sein mag?

3. Konturen
theoretischer
Problemlagen, methodologisch

[136:15] Der berufsmoralische Weg einer Bestimmung von Sozialpädagogik bliebe, wenn er über den Begriff der
Lebenswelt
, als einer praktischen und theoretischen Option, gesucht werden und dennoch das wissenschaftliche Ganze dieser Disziplin oder Teildisziplin im Blick haben sollte, defizitär. Auch in der Fassung, die Brumlik dieser Problemkonstellation gibt, nämlich Lebenswelt und System mit einbeziehend, kann sie nur die eine Hälfte der Begründungsbemühungen für eine Einheit der Kinder- und Jugendhilfe bzw. der Sozialen Dienste sein: Sie betrifft nur das Selbstverständnis derer, die in diesem Praxisfeld handeln, ihre Handlungsbegründungen, ihre Einstellungen und
Einmischungen
, schließlich auch ihre
sozialpädagogischen Kompetenzen
(Thiersch 1993, S. 22 f.)
nun strikt unterscheiden von anderen, die eine Charakteristik der Sozialpädagogik als empirisch-forschende wissenschaftliche Tätigkeit zu gewinnen suchen. Was könnte dabei herauskommen?
[136:16] Forschungsrichtungen – und die sich um sie herumgruppierenden Vorgänge der Formierung einer wissenschaftlichen Disziplin – reagieren häufig, nicht immer (!), auf einen Bedarf: Ein Feld gesellschaftlicher Praxis rückt in die Aufmerksamkeit; die Mittel seiner argumentativen Bearbeitung aber müssen erst noch erworben werden. Das war bei der Kameralistik im 18. Jahrhundert der Fall, bei der allmählichen Konturierung einer Schulpädagogik, viel später bei der Erwachsenenbildung – und seit dem 19. Jahrhundert eben auch bei der Sozialpädagogik. Der Vorgang ist oft beschrieben worden, besonders auch die da|a 875|mit verbundene Suche nach einer Thematik, die in anderen wissenschaftlichen Arbeitsfeldern wenig oder kaum Aufmerksamkeit fand. Angesichts der institutionellen Pluralität des Praxisfeldes – vom Kindergarten über die Tätigkeit in Jugendämtern bis zur
Kriminalpädagogik
– ist es nicht überraschend, wie Niemeyer am Beispiel der Diskussionen der 20er Jahre überzeugend gezeigt hat (Niemeyer 1993), daß die thematische Bestimmung von Forschungsproblemen unter dem Namen
Sozialpädagogik
oder
Jugendwohlfahrtspflege
(vgl. Nohl 1927) lange Zeit strittig blieb. Daß es sich dabei nur um Randerscheinungen des Modernisierungsweges handelte, ist zwar immer noch nicht – jedenfalls nicht mit quantitativen Befunden, läßt man die heute fast dem Bildungswesen zuzuschlagenden Kindergärten außer Betracht – völlig von der Hand zu weisen. Aber, wie eingangs schon erwähnt: Auch qualitative Befunde könnten signifikante Indikatoren sein, besonders dann, wenn von Forschungs- oder Wissenschaftsbedarf die Rede ist.
[136:17] Eine durch einen neuen Bedarf in die Diskussion kommende Problematik könnte sich im Spiel der Disziplinen methodologisch empfehlen. Das schien für die Sozialen Dienste der Fall zu sein. Von den noch eher an praktischen Prozeduren interessierten Case-Work-Vorstellungen Richmonds (1917) über Salomon (1926) gibt es eine Linie zu Schützes Interpretationsstrategien narrativer Interviews bis hin zu der Empfehlung,
Lebenswelt
sollte das sozialpädagogisch orientierende Konzept sein (Sachsse 1993; Schütze 1993). Versteht man diese Empfehlung methodologisch, d. h. im Sinne von Praktiken der Forschung, nicht des Berufshandelns, dann stellen sich Fragen ein, z. B. diese: Kann die Eigentümlichkeit einer Disziplin oder Teildisziplin, jedenfalls eines Forschungsfeldes, unterschieden von anderen, mit Hilfe methodologischer Unterscheidungen bestimmt werden? Ist das Verfahren, die Selbst- und Fremddeutungen von Personen aus Interviews und anderen Beobachtungen zu gewinnen und sie dann (vielleicht auch) den gleichzeitigen Systemimperativen (Recht, Organisation, Verwaltung usw.) zu konfrontieren, für die Sozialpädagogik, für die Forschungen zur Kinder- und Jugendhilfe also, charakteristisch? Ein Blick in die Forschungslandschaft läßt das bedenklich erscheinen.
Lebensweltorientierung
– als Forschungs-, nicht als Handlungsorientierung – ist heute in vielen Disziplinen beheimatet, die sich Sozietäten zum Gegenstand machen. An den Anfang in der französischen Historiographie gegen Ende der zwanziger Jahre (vgl. dazu die autobiographischen Berichte von Chaunu u. a. 1987; Raulff 1995, die
Oral history
(z. B. Niethammer 1980), die sozialisationstheoretischen Studien Oevermanns, den Boom der qualitativen Sozialforschung, auch die neueren Arbeitsweisen der Industriesoziologie (Baethge u. a. 1988) oder der politikwissenschaftlichen Erforschung von Milieus) soll hier nur erinnert werden. Als forschungsmethodologisches Kriterium zur Bestimmung einer Besonderheit von Sozialpädagogik im Konzert der sozialwissenschaftlich interessierten Disziplinen oder Forschungsrichtungen ist also der Terminus
Lebenswelt
offenbar wenig geeignet. Das wird prägnant deutlich, wenn jüngst Meyer-Drawe in einer bildungsphilosophischen Studie die alte
Maschinen
-Metapher der
Lebenswelt
gegenüberstellt, allerdings ohne nun
Orientierungen
zu empfehlen (Meyer-Drawe 1996).
[136:18] Das ist indessen nicht überraschend. Schon die Beschreibung der Berufstätigkeit derer, die sich im Felde der Sozialen Dienste professionell bewegen, zeigt |a 876|die Schwierigkeit: Quantitative Vorgaben über Wahrscheinlichkeiten, institutionelle Strukturen, administrative Prozeduren, professionelle Rollendefinitionen, Aufmerksamkeit für besondere Lebenslagen, für Selbstdeutungen der Klientel, für kulturale Traditionen etc. sind in verschiedener Mischung beständig präsent. Methodologisch erfordern sie eine Pluralität von Zugängen. Es wäre, in dieser Situation, eher schädlich, wollte die wissenschaftliche Sozialpädagogik die Leiterin eines Jugendamtes oder den Sozialpädagogen in einer Wohngemeinschaft mit einem Wissen versorgen, das sich nur einer methodischen Option verdankt. (Einer einseitigen Methodologie in der Sozialpädagogik ist es vielleicht zuzuschreiben, daß es zwar keinen Mangel gibt an Praxisberichten, Fallanalysen, Alltagsbeschreibungen etc., daß aber etwas fehlt, das dem Stand der kontinuierlichen Berichterstattungen über schulische Entwicklungen auch nur annähernd gleichkommt.)
[136:19] Methodologisch also läßt sich für
Sozialpädagogik
kein Spezifikum ausmachen, das deren innere Konsistenz und Besonderheit verbürgen könnte; bei einer sozialwissenschaftlichen Disziplin, die immer auch geisteswissenschaftlich-historische Problemstellungen mit sich führt, wäre das ohnehin merkwürdig. Gibt es, so ist nun zu fragen, vielleicht eine thematische Kohärenz von Problemstellungen, die in den anderen Teildisziplinen der Pädagogik zurücktritt oder wegen dort dringlicherer Fragen gar nicht recht erkennbar wird? Historisch gesehen, kann einem das als wahrscheinlich Vorkommen, jedenfalls als eine plausible Hypothese.

4. Konturen
theoretischer
Problemlagen, thematisch

[136:20] Schleiermacher hatte 1826 offenbar eine solche damals noch durchaus prognostisch riskante Hypothese im Kopf. Häufig zitiert wurde seine in ihren Folgen erst gegenwärtig deutlich erkennbare Bestimmung der Pädagogik als einer akademischen Tätigkeit, die sich das Verhältnis der Generationen zum Gegenstand macht. Weniger häufig zitiert wurden die von ihm erst sehr zaghaft vorgetragenen Hinweise auf das Forschungsfeld, das sich neben Familie und Schule künftig eröffnen würde.
[136:21] Es bedürfe, neben Schule und Hauswesen, eines
Supplements, das wohl am besten in einem gemeinsamen Leben der Jugend selber gegeben sein möchte
(Schleiermacher 1983, S. 352)
. Freilich dachte er auch in dieser Hinsicht an
Anstalten
, an Vereine, die den
geselligen Verkehr
begünstigten. Auch diese hätten
eine allgemeine Gültigkeit und sind nicht bloß zufällig
, denn:
Wenn jene Gemeinschaft, die mit Beziehung auf ein bestimmtes Gewerbe gebildet ist (Schleiermacher meint hier die Schulen), die Jugend sondert, so hat die Gemeinschaft im Gebiet der freien Tätigkeit eine gegenwirkende Kraft
(ebd., S. 353)
,
es müsse deshalb eine größere Freiheit darin stattfinden
(S. 356)
,
die größte Verschiedenheit
(S. 357)
usw.
[136:22] Diese Zitate sind natürlich, was hier nicht vorgetragen werden soll, nach mehreren Seiten hin interpretationsbedürftig. Deutlich scheint indessen zu sein, daß Schleiermacher ein pädagogisches Praxis- und Problemfeld in den Blick zu bekommen suchte, dessen Respektierung und Erörterung ihm künftig notwendig schien, wenn letzten Endes ein Erziehungssystem gedacht werden soll, das |a 877|dem
servilen Zustande widerstrebt
(S. 369)
. Derart anspruchsvolle Erwartungen wird man heute kaum an die Sozialpädagogik herantragen müssen. Aber hinter dem normativen Gehalt wird eine kulturtheoretisch relevante deskriptive Aufgabe der Erziehungswissenschaft erkennbar – und das wäre dann die erste Fragestellung im Rahmen einer forschungs- und themenbezogenen Wissenschaft
Sozialpädagogik
, nämlich:
[136:23] (1) Generation. Die Abfolge der Generationen läßt sich, für das 20. Jahrhundert, nicht mehr nur (!) durch die in pädagogischen Institutionen zu beobachtenden Transformationen von Curricula, von Lehr-Lern-Strategien und deren Eigendynamik – etwa als schulische Reformbemühungen – beschreiben. Trotz der im Generationenverhältnis nach wie vor gegebenen Dominanz der Bildungseinrichtungen und Familien läßt sich heute konstatieren, daß die kulturelle Kontinuität, die Schleiermacher noch nach Maßgabe einer Vorstellung vom Fortschreiten der Vernunft erhoffte, weniger fraglos ist, als er dachte. Das ist eine kulturtheoretische Frage, bei der offenbleiben mag, ob sie eher der Allgemeinen Pädagogik oder eher der Sozialpädagogik zugehört. Beide sollten sie sich zum Thema machen. Aber das ist schon geschehen: Zur Seite der Sozialpädagogik hin gibt es seit längerem zahlreiche Studien, die Lebensläufe entlang jener von Schleiermacher nur vermuteten Grenze zwischen institutioneller Formierung und eigener Lebensdeutung (hier nur beispielhaft Bonstedt 1972; Nölke 1994) beschreiben und erklären. Gleiches aber zeigt sich, in allgemeinerer Perspektive, in der pädagogisch interessierten Lebenslauf- oder Biographieforschung (beispielhaft vgl. etwa Fuchs-Heinritz/Krüger 1991; besonders und zusammenfassend auch Büchner 1995). Zwei Forschungsthemen sind es, die hier vor allem hervortreten: die Auseinandersetzung der nachwachsenden Generation mit den kultural-institutionellen Gliederungen des Lebenslaufs und die Formierung von Generationsprofilen, die, so scheint es, in immer kürzerer Abfolge zu beobachten sind. Dem an der institutionellen Kontinuität der Schulen haftenden Blick erscheint dies als Störung, Irritation oder Reformnötigung. Dem
sozialpädagogischen Blick
könnte es als die pädagogische Grundfrage erscheinen. Er würde damit sich anschließen können nicht nur an die einschlägigen soziologischen Argumentationen (z. B. Mannheim 1928; Eisenstaedt 1966; Tenbruck 1962), sondern auch an die Problemstellungen der Kulturgeschichtsschreibung und der Sozialgeschichte. Das gilt besonders deshalb, weil – und das wäre die zweite Komponente dieses Forschungsthemas – erst in diesen Jahrzehnten deutlich wird, daß das Generationenverhältnis nicht mehr in kulturalistischer Kurzform analysiert werden kann, sondern tief in die Probleme der materiellen Reproduktion, in Sozialpolitik hineinreicht (vgl. Rauschenbach 1994; auch Liebau/Wulf 1996). Was die Schulpädagogik zurückstellt – freilich entgeht auch ihr diese Thematik nicht rückt für die Sozialpädagogik in den Vordergrund, und zwar deshalb, weil die vor allem in Schulen institutionalisierten Prozeduren zur Aufrechterhaltung kultureller Kontinuitäten und
Identitäten
für sie nicht zu den dominanten Themen gehören muß. Die Jugendhilfe hat es mit kritischen sozialen Lagen, mit kritischen Lebenssituationen zu tun, die zumeist sich in biographischen Brüchen, in den Konfrontationen von Generationsdifferenzen, in Konflikten mit den auf generationelle Kontinuität hin ausgelegten pädagogischen Institutionen manifestieren.
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[136:24] Generationenverhältnisse haben es indessen nicht nur mit Formen des personbestimmten intergenerationellen Handelns zu tun, sondern in der Form von
Verträgen
mit rechtsförmigen Regelungen, schließlich auch mit gleichsam vertragsambivalenten Strukturfragen. Jüngstes und in dieser Hinsicht ziemlich aufregendes Beispiel ist die gegenwärtig dramatische Verknappung von Lehrstellen, ein Strukturdatum, dessen Folgen für eine Beziehung zwischen den Generationen der sozialpädagogischen Forschung dringend zum Forschungsstudium zu empfehlen wären, und zwar als strukturelle Thematik, nicht als vielleicht erlebnisdichte Beschreibung beklagenswerter Lebenslagen. Damit steht auch auf dem Spiel, was als
Normalität
Geltung beanspruchen kann. Dies ist deshalb mein zweites Thema sozialpädagogischer Forschung.
[136:25] (2) Normalitätsbalancen. Daß es, trotz aller schon absehbaren institutionellen Differenzierungen des Erziehungs- und Bildungssystems, einen (republikanischen) Grundkonsens über die normativen Orientierungen geben müsse und könne, das war den pädagogischen Theoretikern der klassischen Phase nicht zweifelhaft. Dieser Optimismus hat an Reichweite einiges eingebüßt. Von Beginn an bestimmte zwar die sozialpädagogischen Diskurse die Abweichung von den gesellschaftlich herrschenden Normalitätsentwürfen. Was aber zunächst und bis in unser Jahrhundert hinein als Randproblem erschien, darf heute fast als ein Grundzug des Heranwachsens beschrieben werden.
[136:26] Das sind Fragen, die inzwischen bis in Gymnasiastenmilieus hineinreichen und in der neueren Jugendforschung vielfältig, explizit und implizit, dokumentiert werden. In der Sozialpädagogik haben sie indessen ihren gleichsam ersten Ort. Wenn wir uns also kulturhistorisch in einer Lage befinden sollten, in der noch unentschieden ist, welche Entwürfe für die
Normalität
eines Lebens Geltung beanspruchen dürfen, und zwar analytisch unabhängig von der Abfolge der Generationen, dann müßten wir uns eigentlich von der sozialpädagogischen Klientel belehren lassen können. Das, so scheint mir, ist ein starkes Motiv für eine Forschung, die nun
lebensweltliche
(im methodologischen Sinne des Wortes) Fragen aufwirft. Über welche Normalitätsgewißheiten verfügt die Klientel, in welchen Bedeutungszonen stellen sich Irritationen ein, gibt es
Normalitäts
-Experimente, wie wird der Bezug zu den institutionalisierten Normalitätsentwürfen gesehen, was liegt noch
in meiner unmittelbaren Reichweite
usw.? Die theoretischen Grundlagen für eine solche Thematik hat Winkler in einer Gründlichkeit und Genauigkeit beschrieben, die, wenn ich recht sehe, bisher unübertroffen ist (Winkler 1988).
Subjektivität
, heißt es dort, verfüge
stets über eine Affinität zur Anomalie
(S. 146)
.
Wie können unter den ständig veränderten Gesellschaftsbedingungen Individuen so
hergestellt
werden, daß Gesellschaft überhaupt bestehenbleibt
, wenn es, in der bürgerlichen Gesellschaft, doch das
Subjekt
ist, das den (einen) Fluchtpunkt pädagogischer Legitimation darstellen soll
(S. 186)
?
Sozialpädagogisches Handeln muß also mit der Normalität des Unterschiedes rechnen
, also z. B. mit der des Unterschiedes zwischen Öffentlichen und privaten Normalitätsentwürfen
(S. 270)
, oder müsse anerkennen (im Unterschied zur Schule, die in diesen Fragen einem anderen Auftrag folgt), daß die Klienten
sich ein eigenes Universum ... schaffen, das dem unsrigen fremd sein mag
(S. 279)
; derartiges bringe
das Subjekt in die eigentümliche Situation, |a 879|mit zwei konkurrierenden
Normalitäten
in seiner Biographie umgehen zu müssen
(S. 289)
.
[136:27] Eine auf diese Thematik bezogene sozialpädagogische Forschung würde durch die Kurzformel der
Parteinahme für die Klienten
nur sehr unzureichend, wenn nicht gar irreführend etikettiert. Nicht nur würde sie damit
das doppelte Mandat
der Jugendhilfe
(Schwab 1996, S. 136)
und jene von Winkler hervorgehobenen
zwei konkurrierenden Normalitäten
ignorieren. Sie bliebe auch zurück hinter dem Stand der Gegenwartsdiagnose, innerhalb deren etwa die auf Selbstdeutungen der Gesellschaftsmitglieder erpichte Ethnomethodologie nur eine methodische Variante, nicht aber die historische Lage beschreibende Theorie sein kann (vgl. dazu auch Bourdieu 1976; Habermas 1981, S. 182 ff.). Übrigens gibt es am Beginn der neueren sozialpädagogischen Diskussion in den siebziger Jahren einen wichtigen Hinweis: Der aus dem symbolischen Interaktionismus, besonders aus dem
labeling approach
, radikal gefolgerte Etikettierungsverzicht ist nichts anderes als die theoretische Version der praktischen Frage, wie in einer sich als verändernd verstehenden Gesellschaft mit Normalitätserwartungen umgegangen werden könne.
[136:28] (3) Armut. Daß die sozialpädagogisch interessierte Geschichtsschreibung meist mit den Armenpflegeinstitutionen der frühen Neuzeit beginnt (beispielgebend Sachsse/Tennstedt 1980) oder auch, vom
Überwachen
auf das
Strafen
verschoben, mit dem Amsterdamer
Tuchthuis
von 1596
(Winkler 1988, S. 239 ff.)
, ist nicht nur ein Datum der Historiographie. Läßt man die Kindergärten, für die freilich andere Bedingungen gelten, außer Betracht, dann zeigen die gegenwärtigen Jugend- und Sozialhilfestatistiken deutlich, daß der überwiegende Teil der
sozialpädagogischen
Klientel solchen Bevölkerungsgruppen entstammt, die (mindestens) von Armut bedroht sind, jedenfalls dann, wenn es sich nicht nur um relativ kurzfristige Maßnahmen handelt. Welche Art von Problemen führt ein Milieu mit sich, in dem die Sozialisationserwartungen unter dauerhafter Armut oder Armutsbedrohung stehen? Die sozialpädagogische Forschung (!) hat dies den soziologischen und sozialpolitischen Wegen der Erkenntnis überlassen. Interdisziplinarität, die ja häufig von sozialpädagogischer Seite her zur Sprache gebracht wird, bedeutet also hier offenbar nur, derartige Forschungsresultate zur Kenntnis, nicht aber eine eigene sozialpädagogische Armutsforschung systematisch in Angriff zu nehmen.
[136:29] Das ist bemerkenswert. Schon die frühe Studie von Hetzer (1937) hätte Anlaß geben können, das Armutsthema mehr zur Mitte sozialpädagogischer Forschung hinzurücken. Spätestens seit Zanders prägnanter und – wie wir heute sagen können – vorausschauender Problemskizze zur Armutsproblematik (Zander 1984), deutlicher noch in den theoretisch-methodologischen Konzepten der
dynamischen Armutsforschung
(Prein/Sommer 1995; Leibfried/Pierson 1995), den Unterscheidungen zwischen kurzfristiger Armutsbedrohung, indiziert durch Sozialhilfebezug, und längerfristiger, gelegentlich gar über die Generationengrenze hinweg dauerhaft manifester Armut, selbst noch im Hinblick auf Fragen nach den unter der Armutsbedrohungssituation leidenden Haushalten mit Kindern verbleibenden und häufig aktivierten humanen Ressourcen – die sozialpädagogische Forschung hätte hier eines ihrer dominanten Themen und hätte damit zugleich den Anschluß gesichert an die Syste|a 880|me der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Woran liegt es, daß sie davon keinen forschungsintensiven Gebrauch gemacht, sondern es eher bei Appellen und Zitaten gelassen hat?
[136:30] Wenn es stimmen sollte, daß
methodisches Arbeiten und Handeln in der Sozialarbeit
bedeute,
den Zusammenhang politischer, materieller, instrumenteller und sozialer Nöte und Aufgaben zu sehen
(Thiersch 1986, S. 45)
, dann ist es schwer verständlich, warum ebendies in den forschungsrelevanten Diskursen nicht in den Vordergrund gerückt wird. Die Furcht vor einem
minderen gesellschaftlichen Status
der Sozialarbeit als Praxis
(S. 44)
könnte hier in Theorie und Forschung hineingewirkt haben, so als riskiere auch eine sozialpädagogische Armutsforschung akademische Deklassierung. Die von Nohl/Pallat (1929) bis zu Böhnisch (1992) gelegentlich vorgetragenen Bestimmungen sozialpädagogischer Thematik lassen das vermuten. Daß die Sozialpädagogik, als wissenschaftliche Bemühung um die Aufklärung der Probleme von Kinder- und Jugendhilfe, es vornehmlich mit den Verlusten im Modernisierungsprozeß des Erziehungssystems zu tun hat, wird nur ungern akzeptiert, z. B. in den 1984 vorgeschlagenen drei
Hauptstücken
sozialpädagogischer Forschung (Thiersch//Rauschenbach 1984, S. 1001 ff.), nämlich die
Adressaten
, die
gesellschaftlichen Funktionen
und die
Institutionen
. Diese theoretische Gliederung von Forschungsproblemen ließe sich für ziemlich viele gesellschaftliche Felder geltend machen; es ist eine Theoriegrammatik für Pädagogik überhaupt. Die Differenz von Arm und Reich ist indessen ein Kriterium der Unterscheidung, ein wesentliches, die sozialpädagogischen Fragestellungen charakterisierendes Merkmal sozialer Existenz. Wenn also schon von
Hauptstücken
die Rede sein soll, in denen die Sozialpädagogik die ihr eigentümliche Thematik formuliert, dann sollte die pädagogische Problematik von Armutsmilieus, sollten die Strategien und Folgen der Sozialhilfe zu ihren ausgezeichneten Forschungsgegenständen gehören. Es wäre übrigens eine willkommene Bewährungsprobe für die mit Recht immer wieder betonte Nähe gerade der Sozialpädagogik zu anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen. Gegenwärtig zeigt sich indessen noch, wenn ich recht sehe, daß wir zwar mal mehr, mal weniger die Ergebnisse der Armuts- und Sozialhilfeforschung (z. B. Hauser/Hübinger 1993) zur Kenntnis nehmen, daß wir aber in diesem für die Sozialpädagogik zentralen Forschungsfeld kaum zu eigener Produktivität gelangt sind. Daß für sozialpädagogische Fragestellungen hier indessen viel zu tun wäre, läßt sich an der sozialpolitischen und soziologischen Forschungslage gut ablesen.
[136:31] (4) Interkulturalität. Generationenprobleme, Normalitätsentwürfe, Armutslagen bündeln oder kumulieren sich gleichsam angesichts der Tatsache, daß die Verschiedenheit kultureller Herkünfte nicht nur aktuell zum Problem des Erziehungssystems geworden ist, sondern vermutlich auch dessen Zukunft wesentlich mitbestimmen wird. Das – so meine Vermutung – wird künftig eines der herausragenden Themen der Sozialpädagogik sein. Man könnte einwenden, daß eine solche Behauptung auch für die Schulpädagogik geltend gemacht werden könnte, nehmen doch die Einwandererkinder als Schülerinnen und Schüler beständig zu, eine Zunahme, die ihrerseits die Probleme des
Schulehaltens
gelegentlich, besonders in Kindergärten, Grund- und Hauptschulen, kräftig tangiert. Diesem Einwand ließe sich die folgende Beobachtung entgegenhalten: Euro|a 881|päische Schulen folgen – auch wenn das gelegentlich beklagt werden mag – einer universalistischen Erwartung, führen diese indessen durch das Nadelöhr (mindestens) der Nationalsprache ein. Das Schulsystem, darin gestützt durch das Beschäftigungssystem, bringt, mindestens über die Sprache, eine Integrations- oder Assimilationserwartung zur Geltung. Die Sozialpädagogik als wissenschaftliche Aufklärung über die Probleme der Kinder- und Jugendhilfe hat es dann aber mit den Bedingungen und Folgen solcher Erwartungen zu tun. Hier, beispielsweise und m. E. ziemlich signifikant, kann die universalistische Erwartung nicht mehr gerechtfertigt inszeniert werden. Das Handlungsfeld liegt zwischen den Assimilationserwartungen der Schule und den ambivalenten, zwischen Herkunftskultur und Integrationswünschen häufig eingeklemmten familialen Milieus. Es ist ein (nun sozialpädagogisches) Handlungsfeld, das es mit fragmentierten oder konkurrierenden
Identitäten
(um dieses Modewort hier abkürzend zu verwenden) zu tun hat, jedenfalls mit der lebensgeschichtlich relevanten Frage nach Zugehörigkeiten. Das dokumentiert sich im
Jahresbericht 1995
der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Obwohl es dort heißt, daß die Erziehungswissenschaft
in einigen Teildisziplinen, beispielsweise die Sozialpädagogik ... mit Projektanträgen kaum in Erscheinung
tritt
(Deutsche Forschungsgemeinschaft 1995, Bd. 1, S. 70)
, werden doch mindestens fünf Projekte aufgeführt (Bd. 2, S. 73 f.), die sich auf das Problem der Interkulturalität beziehen und allesamt der Sozialpädagogik zugerechnet werden können (allerdings gibt es darüber hinaus fast nichts
Sozialpädagogisches
). Man darf also sagen, daß im Spiegel des DFG-Jahresberichts 1995 – freilich ist dieser Bericht nur ein schwacher Indikator unter vielen anderen – Interkulturalität als sozialpädagogische Forschungsthematik nicht bestritten werden kann.
[136:32] Diesem Befund kommt die Praxis zu Hilfe. Im Bereich der offenen Jugendarbeit, besonders der
aufsuchenden
und des
Streetworks
, aber auch schon in den Kindergartenkontexten und andernorts zeigt sich die zunehmend gewichtige Stellung dieser Thematik als eine der Sozialpädagogik eigentümliche. Sie wäre überdies hervorragend geeignet, die in der einschlägigen Literatur gern geltend gemachte Beziehung zwischen
System
und
Lebenswelt
einer genaueren empirischen Analyse zugänglich zu machen. Das alles ließe sich gut an der Situation eines 16jährigen türkischen Mädchens, in Berlin-Kreuzberg lebend und Besucherin einer Jugendfreizeiteinrichtung, erläutern, sowohl die verschiedenen methodologischen Zugänge zur Beschreibung einer solchen sozialen und kulturellen Lokalisierung als auch die mit Generation, Normalitätsentwürfen, Armutsbedrohung und Interkulturalität innerhalb unseres Erziehungssystems gegebene sozialpädagogische Thematik. Auch die Problemstellungen der Allgemeinen Pädagogik hätten hier ihren Ort: die theoretischen Konstrukte von Bildungsgenesen, die moralischen und ästhetischen Dimensionen des Heranwachsens, die Phänomenologie von Kindheit und Jugendalter, die Geschlechterdifferenzen, die in Anspruch genommene
Mündigkeits
-Erwartung, die sozialstrukturellen Bedingungen pädagogischer Interventionen und manches andere.
|a 882|

5. Einige (selbst-)kritische Erwägungen

[136:33] Es sollte in der vorstehenden Skizze um nichts weniger gehen als um eine thematische Bestimmung von
Hauptstücken
sozialpädagogischer Forschung. Solche Versuche enthalten immer Komponenten von Willkür, wie sich an der Verschiedenartigkeit der vorliegenden Vorschläge studieren läßt. Wie schon erwähnt, nennen Thiersch und Rauschenbach (1984)
Adressaten
-,
Funktionen
- und
Institutionen
-Forschung; Fatke und Hornstein (1987) plädieren für die Analyse der
Sicht der Betroffenen
, für das
Pädagogische in der Sozialpädagogik
und für die
Erforschung sozialer Problemlagen
; Winkler (1988) ermittelt zwei Brennpunkte, nämlich
Subjektivität
und
Orte
; Böhnisch (1992, S. 245 ff.) schließlich bestimmt, allerdings eher auf die Praxis als auf die Forschung bezogen,
Selbstwert
,
Gruppe
,
Sozialraum
,
Zeit
,
Biographie
,
Soziokultur
und
Milieu
als die letzten Endes fundierende Thematik der Sozialpädagogik. Die Reihe der Vorschläge ließe sich verlängern.
[136:34] In einer Hinsicht indessen scheint man sich einig zu sein: Eine forschende Aufmerksamkeit, die die Lage der Adressaten in den Blick nimmt, rangiert offenbar für alle am Diskurs Beteiligten an erster Stelle oder erscheint doch als unstrittig. Aber ebendies ist keine Besonderheit sozialpädagogischer Aufmerksamkeit, wenngleich dieses Problem sich hier dringlicher zeigen mag als andernorts. Adressatenforschung, Ermittlung der je besonderen Zustände also, in der sich Gesellschaftsmitglieder befinden, ist schon seit längerem eine sozialwissenschaftliche Orientierung, die (beispielsweise) in den Kontexten der Historiographie, der Erwachsenenbildung, der Schulpädagogik, der Industriesoziologie, der Politikwissenschaft, der Armutsforschung, der auf Entwicklungspolitik bezogenen wissenschaftlichen Recherchen eine immer gewichtiger werdende Rolle spielt. So wichtig dieser Forschungstypus ist, und zwar im Hinblick auf die sozialwissenschaftlich fundamentale Frage, wie denn die Gesellschaftsmitglieder ihre
primären
Erfahrungen zu den
Systemimperativen
(wie es häufig heißt) in Beziehung setzen, so wenig spezifisch ist diese Problemstellung für die Sozialpädagogik. Hinzu kommt eine methodologische Diffundierung: Die Verfahren der Erhebung und Interpretation narrativer Interviews (vgl. die beispielgebenden Arbeiten von Schütze) sind zwar auch sozialpädagogisch von Bedeutung; sie definieren aber nichts Spezifisches an ihr. Es gibt wohl kaum irgendeine Subdisziplin der Pädagogik, die heute die gründliche Aufklärung über
Adressaten
und die dafür notwendigen methodologischen Prozeduren geringachten würde. Für diese Sachlage ist es ein wichtiges Indiz, daß die forschungsstrategisch und -methodologisch wichtigsten
Adressaten
untersuchungen im Bereich der interpretativen Soziologie (vgl. Schütze 1993), der Biographieforschung (Fuchs-Heinritz/Krüger 1991; Krüger/Marotzki 1995), freilich dann auch in den Bemühungen um eine sozialpädagogische Diagnostik (vgl. etwa Müller 1993; Mollenhauer/Uhlendorff 1995), besonders aber in der phänomenologischen Forschung anzusiedeln sind. Die sozialpädagogische Forschung hat davon freilich profitiert. Wäre es ihr genuines Thema gewesen, dann hätte sie schon vor Jahren Musterbeispiele vorlegen können, die die Forschungsthematik und -methodologie vorantreiben, statt nur Anwendungen des Allgemeinen ins Spiel zu bringen (eine jüngere Ausnahme von dieser Regel ist Nölke 1994).
|a 883|
[136:35] Damit ist eine schwierige Frage gestellt, nämlich: Wie verhält sich das soziologisch oder pädagogisch Allgemeine zum Besonderen der Sozialpädagogik? Auf welcher Ebene von Abstraktion soll man sich bewegen, auf welche Thematik sich konzentrieren – in vergleichender Absicht? Methodologisch, so scheint mir, gibt es keinen Streit, denn eine besondere Methodologie sozialpädagogischer Forschung ist nirgends in Sicht. Anders steht es mit der Thematik. Man kann in dieser Hinsicht mit der Abstraktion ziemlich weit gehen und, wie erwähnt, die Themen in den Adressaten, den Institutionen, den Funktionen zu finden suchen; das stimmt immer und ist eine Klassifikation, die auch der Allgemeinen Pädagogik anzuempfehlen wäre. Man kann auch – wie Böhnisch – sehr ins Detail gehen und findet dann (überraschend) auch in den mikrosozialen Klassifikationen von
Prinzipien
das Allgemeine wieder – denn welcher Pädagoge wollte nicht anerkennen, daß das Selbst und die Gruppe, daß Zeit und Raum universelle Hinsichten auf die Bildungsbewegungen der nachwachsenden Generation sind. Derartige Beobachtungen könnten zu der Vermutung verführen,
Sozialpädagogik
sei nichts als ein besonderer Anwendungsfall dessen, was in der sozial- und kulturwissenschaftlich belehrten Allgemeinen Pädagogik schon bereitgehalten wird oder von ihr doch nächstens zu bearbeiten wäre. Man kann schließlich die neuere soziologisch-zeitdiagnostische Diskussion als Orientierungsmarke wählen und nun die Hypothesen zu Individualisierungs- und Pluralisierungsprozessen in die Sozialpädagogik importieren. Die Frage ist hier nicht, ob solche Importe, solche Anschlüsse an die Soziologie, die Allgemeine Pädagogik oder auch an kognitivistische Moraltheorien nützlich sind. Das sind sie allemal. Die Frage ist, ob es zwischen den Begriffen, Prinzipien oder Maximen der Allgemeinen Pädagogik, der Bildungstheorie und den Lehrmeinungen der Soziologie ein wissenschaftlich konstruierbares Gegenstandsfeld gibt, das der Sozialpädagogik eigentümlich sein könnte. Krüger und Rauschenbach (1995) scheinen nicht dieser Meinung zu sein; denn unter den
Arbeitsfeldern der Erziehungswissenschaft
tauchen, wie schon erwähnt, anstelle der Sozialpädagogik viele Institutionen und Maßnahmen auf, ohne einer
sozialpädagogischen
Thematik zugeordnet zu werden. Im Vordergrund solcher Klassifikationen steht die Besonderheit von Handlungstypen und darauf bezogenen Forschungsfragen. Die Besonderheit von
Sozialpädagogik
– nicht als Studiengang, als berufspraktische Einübung, sondern als theoretischer Entwurf – tritt dahinter zurück und scheint entbehrlich zu sein (vgl. dazu auch Mollenhauer 1980 und das Konzept der Enzyklopädie Erziehungswissenschaft 1981 ff.).
[136:36] Dennoch sollte uns daran gelegen sein, jedenfalls vorerst, danach zu fragen, ob das als Kinder- und Jugendhilfe bezeichnete Feld von Problemen, Maßnahmen und Einrichtungen einer Thematik folgt, die einen erziehungssystematisch besonderen Sinn hat – jedenfalls dann, wenn man der eingangs zitierten Vorausahnung Schleiermachers folgt, daß neben Familie und Schule die Pädagogik mit einem dritten Feld pädagogischer Institutionen und Problemen wird rechnen müssen; Winkler hat die damit gegebene Konstellation für Theorie und Forschung gut getroffen. In diesem dritten Feld unseres Erziehungssystems haben wir es indessen – das kann der empirischen Aufmerksamkeit nicht entgehen – mit Heterogenem zu tun, im Hinblick auf Problemlagen, Interventionssorten und Organisationsgraden. Will man also der Sozialpädagogik eine charakteristische Kontur zusprechen – nicht als verallgemeinerte Handlungsempfehlung für |a 884|die Praxis und die Ausbildung, sondern als Bestimmung theoretischer Fragen und deren Forschungsfolgen dann könnte dies so geschehen, daß der allgemeine epistemologische Gehalt von Termini wie
Lebenswelt
und
Milieu
, von
Raum
und
Zeit
, von
Subjekt
und
Handlung
, von
Adressaten
und
Professionellen
usw. auf die Konstellationen der Kinder- und Jugendhilfe nicht nur angewendet, sondern daß aus den empirischen Beständen dieses Sektors unseres Erziehungssystems dessen besondere Thematik herausgearbeitet wird. Die Sozialpädagogik sollte also zwischen dem theoretisch-allgemein Gebilligten und der schwer überschaubaren Vielfalt des praktisch-institutionell Auferlegten ihre Forschungswege suchen.

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Abstract

[136:91] Social work encompasses a number of divergent fields of pedagogical practice and theoretical issues. The author tries to determine research problems and to interpret them as a characteristic theme of social work. Criticizing attempts to level the distinction between theory and practice, he stresses the double burden of pedagogics which is to give practical moral foundations and to provide reliable descriptions. The following topics are considered the major concern of research and practice in social work: the intergenerational dimension, the adaptation of normality concepts, poverty, and intercultural relations.