Über Mutmaßungen zum „Niedergang“ der Allgemeinen Pädagogik – eine Glosse [Textfassung a]
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Über Mutmaßungen zum
Niedergang
der Allgemeinen Pädagogik – eine Glosse

[137:1] Eine (nahezu) fiktive Situation: Frauen und Männer, die das Fach
Pädagogik
an einer Universität lehren, freilich mit je besonderen Schwerpunkten, beraten sich über den Ausschreibungstext einer neu zu besetzenden C-4-Stelle. Soll es
Pädagogik
sein, mit einem Schwerpunktvermerk, etwa:
außerschulische Erziehung und Bildung
? Soll an diesen Vermerk noch angefügt werden:
unter Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Fragen
? Wäre es nicht ebensogut zu begründen, daß auch die Fragen nach Arm und Reich oder nach kulturellen Unterschieden im Vermerk genannt würden? Sollte man statt
außerschulische Erziehung und Bildung
nicht besser
Jugendhilfe
oder
Sozialpädagogik
schreiben? Oder sollte man alle Zusätze im Titel fallenlassen und nur
Allgemeine Pädagogik
sagen? Man sucht nämlich jemanden, der über Erziehung, Bildung und Sozialisation gut Bescheid geben kann, und zwar auch historisch; jemanden, der überdies nicht nur die Schule im Blick hat, sondern das Ganze des Erziehungssystems oder Generationenverhältnisses. Gibt es solche Leute überhaupt noch? Ist das nicht eine veraltete Erwartung, ein nutzlos gewordenes Lehr- und Forschungsgebiet und ein Vorankommen in unserem Fach nur noch mit Differenzierungen/Spezialisierungen möglich? Welchen Rat könnte man jenem Gremium geben?
[137:2] In einem kürzlich mit großem Anspruch erschienenen Sammelband, in dem die Frage aufgeworfen wird, ob die Pädagogik sich
am Beginn einer neuen Epoche
befinde (Krüger/Rauschenbach 1994) – über Epocheneinteilungen will ich hier nicht streiten; derartige Mutmaßungen gehören zum Ritual von Selbstprofilierungen –, steht der Satz: Es dränge sich
die Vermutung auf, daß die Allgemeine Pädagogik sich vorrangig gleichsam selbstreferentiell mit ihrer eigenen Geschichte sowie ihren Theorieansätzen und Grundbegriffen beschäftigt
(S. 117)
und daß sie sich nicht nur in quantitativer, sondern auch in qualitativer Hinsicht
auf dem Rückzug
befinde
(S. 121)
und insofern vielleicht entbehrlich sei. Ist das richtig?
[137:3] Richtig ist die Feststellung, wenn man den empirischen Befunden zur Ausdifferenzierung der Disziplin folgt, daß der proportionale Anteil der
Allgemeinen Pädagogik
, im Vergleich zu den differentiellen Aufmerksamkeiten des Fachs, kontinuierlich zurückgegangen ist. Das ist normal und erfreulich. Es entspricht einer Disziplin, die sich ausweitet, sich auf genauer umgrenzte Forschungsthemen konzentriert und auf ein immer größer werdendes Berufsfeld sich zu beziehen versucht, die nicht nur – wie noch in den 50er Jahren zumeist – einem Lehstuhlinhaber, einer Lehrstuhlinhaberin das ganze Problemfeld zu bearbeiten zumutet, sondern nun vielfältige Arbeitsteilungen ins Werk setzt.|a 278| Das ist in vielen Beiträgen jenes Sammelbandes zuverlässig dokumentiert. Was indessen
qualitativ
daraus folgt, darf als strittig gelten.
[137:4] Wenn indessen M. Winkler behauptet,
daß die Allgemeine Pädagogik ihren systematischen Ort im Zusammenhang pädagogischer Reflexion ... verloren hat
(S. 94)
, daß sie an einem
offensichtlichen Mangel an positivem Wissen
leide, es sich kaum um
szientifisch gesicherte Inhalte
handele und man deshalb einen
Niedergang der Allgemeinen Pädagogik
konstatieren müsse
(S. 95)
– wenn er derartiges sagt, dann ist mir das als Selbstkritik seiner Veröffentlichungen aus dem letzten Jahrzehnt sympathisch. Es geht aber an der Lage des Fachs vorbei. Wie kommt dieses Unbehagen zustande, zumal die Heftigkeit, mit der es vorgetragen wird? Will etwa Krüger den Theoretikern der Erwachsenenbildung, Winkler den Sozialpädagoginnen und -pädagogen sagen, sie sollten sich mehr um die Problemstellungen der Allgemeinen Pädagogik kümmern, oder umgekehrt der Allgemeinen Pädagogik, sie solle das Besondere (
positives Wissen
!) nicht ignorieren, oder halten sie (
Niedergang
!) die Allgemeine Pädagogik überhaupt für entbehrlich?
[137:5] Die erste und die zweite Empfehlung sind gewiß nützlich. Zwischen soziologischen und therapeutischen Bemühungen um angemessene Problemdefinitionen eingeklemmt, hat die Sozialpädagogik (beispielsweise) sich schwergetan, einen genuin pädagogischen Gedankengang gut begründet aufrechtzuerhalten. Die disziplininterne Arbeitsteilung hat hier zwar einerseits zu einer nicht bestreitbaren sozialwissenschaftlichen Bereicherung und Differenzierung der Problemstellungen geführt – gleiches gilt für die therapeutischen Komponenten der Jugendhilfe; sie hat aber andererseits auch eine Entfernung von den Fragen der Allgemeinen Pädagogik befördert. Winkler selbst hat sich seinerzeit bemüht, an solchen Kontinuitäten dennoch festzuhalten (Winkler 1982, 1988). Eine Kritik der Diskussionslage in der Sozialpädagogik, ihrer Defizite und Problemverengungen ist deshalb durchaus angebracht. Sie würde sicher durch die Kenntnis und produktive Auseinandersetzung mit der Allgemeinen Pädagogik gewinnen, zumal dann, wenn auch diese sich von gelegentlichen institutionellen Verengungen frei machen würde. Kann sie das? Die Beantwortung der Frage hängt ab von dem, was dieser oder jener Autor unter diesem Etikett zur Kenntnis nimmt. Und das ist durchaus unterschiedlich. So wird gelegentlich ein Zerrbild Allgemeiner Pädagogik gezeichnet, für dessen Zustandekommen ich mir nur selektive Leseerfahrungen oder teildisziplinäre Blickverengungen vorstellen kann. Es sind drei Sorten von Behauptungen, die mir unbedacht erscheinen:
  1. 1.
    [137:6] Die Allgemeine Pädagogik befinde sich, so heißt es, in einem
    Ghetto von Schultheorie, Unterrichtswissenschaft und ihrer alleinigen Fixierung auf die Lehrerbildung
    (Krüger 1994, S. 127)
    , aus dem sie sich lösen solle. Der anstößige Paradefall ist Benners
    Allgemeine Pädagogik
    (Benner 1987), zeige er doch, daß hier von der Schule her gedacht werde – besonders in den Bezugnahmen auf Herbart – und also der Anspruch des pädagogisch Allgemeinen schon aus diesem Grunde nicht aufrechterhalten werden könne – so als ließe sich aus Anlaß eines Besonderen nichts darüber hinausgehend Allgemeines denkend zur Sprache bringen. Das bedürfte allerdings einiger begrifflicher Anstrengung, die Benner – darin zutreffend von Krüger referiert – in der |a 279|Form seiner praxeologischen Klassifikation, der Bestimmung von
    Prinzipien
    und der Beschreibung einer
    nicht-hierarchischen und nicht-teleologischen Ordnung der menschlichen Gesamtpraxis
    vorführt. Statt sich auf diese Denkbefunde Benners argumentativ zu beziehen, gibt sich Krüger mit dem Anlaß oder Ausgangspunkt zufrieden. Benner selbst würde gewiß zustimmen, wenn man ihm mit Gründen zeigen würde, welche seiner Ordnungsgesichtspunkte korrekturbedürftig sind. Ebendies sollte getan werden. Das aber verlangt die Auseinandersetzung mit den vorgetragenen Argumenten und ist nicht ganz leicht zu bewerkstelligen. Würde denn jemand Oevermann vorwerfen, seine Entfaltung von Theoremen der Allgemeinen Soziologie sei deshalb unzureichend, weil er sie am Fall einer Fernsehansage demonstriert hat (Oevermann 1983)? Man darf gespannt sein auf Erörterungen des pädagogisch Allgemeinen, die aus den Teildisziplinen kommen. Es wäre z. B. hilfreich zu erfahren, ob Benners praxeologische Klassifikation aus der Sicht der Sozialpädagogik aufrechterhalten werden kann oder korrekturbedürftig ist. Bis heute ist dazu noch nichts in Sicht – insbesondere von den Autoren, die ihr Mißfallen an der
    Allgemeinen Pädagogik
    so deutlich zum Ausdruck bringen.
  2. 2.
    [137:7]
    Es gibt einen zweiten Hinweis auf das Unbehagen an
    Allgemeiner Pädagogik
    . Man befürchtet
    Großtheorie
    (Krüger 1994, S. 123)
    ; die Geschichte der
    Allgemeinen Pädagogik
    sei eine
    Verlust- und Verfallsgeschichte
    , sie leide an
    Inhaltsmangel
    (Winkler 1994, S. 97)
    , erfasse
    Erziehung als heilsgeschichtlich begründete Lösung aus menschlicher Grenzerfahrung
    (ebd.)
    , sie beziehe sich
    auf substantielle, überzeitlich gegebene Wesensmerkmale
    oder auch nur
    auf den statistischen Durchschnitt
    (S. 99)
    , sei
    eher unverbindliches Raisonnement über Gott, die Welt, vielleicht auch Elternschaft
    (S. 105)
    , könne
    nur mehr Ethik produzieren
    (S. 104)
    und so weiter. Und Krüger empfiehlt, unter dem Druck derartiger Vergeblichkeitsurteile, allen Ernstes Vokabeln wie
    Hilfen zur Lebensbewältigung
    für theoretisch (
    kategoriale Erweiterung
    sagt er,
    S. 122
    ) weiterführende Argumentationen, ohne zu fragen, ob Benners praxeologischer Entwurf nicht eben zu dieser Frage einiges Differentielle beizutragen versuchte, und ohne (offenbar) die frühen Versuche Schleiermachers in dieser Hinsicht zur Kenntnis zu nehmen. Wir hätten eine historisch-gesellschaftliche Situation – so die Meinung Winklers –, in der die pädagogisch allgemein gedachten Argumentationen hinter den aktuellen Herausforderungen der Erziehungs- und Bildungsverhältnisse zurückblieben; es hätten
    die jüngeren Entwürfe zur Allgemeinen Pädagogik die veränderte Situation
    nicht zur Kenntnis genommen
    (S. 112)
    .
    Man kann diesen Ärger verstehen; aber ist er begründet? Die Mängelrügen sind zu pauschal, als daß man sie prüfen könnte, es sei denn, es wird der Allgemeinen Pädagogik vorgeworfen, daß sie eben Allgemeines zur Sprache bringe, und es wird unterstellt, daß
    allgemein
    gleichbedeutend mit
    universalistisch
    sei – keine sehr vernünftige Unterstellung, solange sie nicht konkret und kritisch gegen diese oder jene Schrift ins Feld geführt wird. Benner jedenfalls kann nicht gemeint sein, bringt er doch schon am Anfang seines Buches alle nun als angeblich neue Einwände präsentierten Schwierigkeiten zur Sprache. Man darf also raten, wer und was gemeint ist. Immerhin aber ist beruhigend, daß Winkler, nach der Auflistung von Irr- und Fehlwegen, dann |a 280|doch zu den Vätern der Allgemeinen Pädagogik zurückkehrt: Der Ausweg, den er empfiehlt, ist eine modifizierende Paraphrase auf die Problemstellungen Schleiermachers (S. 110 ff.), allerdings in ziemlicher Verdünnung. Er hat sicher recht, jedenfalls nach meiner Sichtweise auf die Problemstellung hin, wenn er schreibt, das Programm einer
    Allgemeinen Pädagogik ... verlangt ... heute durchaus Bescheidenheit
    , und wenn er darüber hinaus denkt,
    es geht im Kern um eine historische Sozialwissenschaft
    (S. 113)
    . Aber: könnte eine solche auf das Nachdenken über ihre leitenden Begriffe verzichten? Ob die Anstöße für solches Nachdenken aus der Schule, der Erwachsenenbildung, der Sozialpädagogik oder sonstwoher stammen, ist nebensächlich; wohin sie führen, das aber ist wichtig. Und das letzte Zitat zeigt überdies, daß Winkler nur wiederholt, was seit 20 Jahren jeder weiß.
  3. 3.
    [137:8] Man befürchtet nicht nur
    Großtheorie
    , sondern hat Vorbehalte vor allem gegenüber
    Systementwürfen
    oder
    abgerundeten
    Argumentationen bzw. Begriffskonstrukten
    (Krüger 1994, S. 118f.)
    . Die Schwierigkeiten, in die solche systematisch konzipierten Konstruktionen hineinführen, hat kürzlich H.-E. Tenorth, in der skeptischen Attitüde der Wissenschaftsgeschichtsschreibung, am Verhältnis H. Nohls und der Wissenschaftsgruppe in dessen näherem Umfeld zur
    Reformpädagogik
    eindrucksvoll beschrieben (Tenorth 1994); und jedem, der heute den Mut zu einer Allgemeinen Pädagogik aufbringt, kann dies ein hilfreiches Lehrstück sein. Aber unabhängig davon: Offenbar fasziniert von dem, was
    Systementwürfe
    genannt werden könnte, ist manch einem entgangen, was in den letzten Jahren innerhalb der Pädagogik geschah, ohne daß die entsprechenden Publikationen immer schon das Etikett
    Allgemeine Pädagogik
    bei sich trugen. Allgemeine Pädagogik muß nicht
    systematisch
    sein. Die Arbeiten U. Becks beispielsweise – um eine benachbarte Disziplin heranzuziehen – sind wie ein ausufernder Essay zur Allgemeinen Soziologie, nicht aber eine
    systematische
    Soziologie. Derartiges zu erwarten ist schon lange unbillig (dennoch darf man denen, die es versuchen, Respekt zollen). Was deshalb in unserer Disziplin heute der Allgemeinen Pädagogik zuzurechnen wäre, sind am ehesten – neben den
    systematisch
    beabsichtigten Texten über Problempanoramen oder (noch am fruchtlosesten) sogenannten
    Paradigmen
    -Erörterungen – Beiträge zu solchen Fragen, die für das Verhältnis der Generationen zueinander innerhalb unserer, aber auch anderer kultureller Formationen geltend gemacht werden können, und zwar relativ unabhängig davon, in welchem institutionellen Rahmen sie auftauchen. Die Verwendung eines theoretischen Terminus wie
    Interaktion
    , dessen Erläuterung und Erörterung ich der Allgemeinen Pädagogik zurechne, wäre ganz sinnlos, wenn nicht unterstellt würde, daß – trotz situativer, kultureller und institutioneller Differenzen – eine Verwandtschaft der sozialen Beziehungen bestünde zwischen Eltern und Kindern, Lehrern und Schülern, Heimerziehern und Klienten, und zwar im Hinblick auf strukturelle Ähnlichkeiten der
    Interaktion
    . An derartiges zu erinnern ist trivial. Solche Erörterungen müssen indessen nicht in der Absicht
    systematischer
    Pädagogik vorgetragen werden.
[137:9] Freilich versucht manch einer, der etwa ein Proseminar zur Einführung in das Fach durchführt, einen
systematischen
Zusammenhang von Grundpro|a 281|blemen und -begriffen zur Darstellung zu bringen; gelegentlich macht man auch immer noch von einem literarischen Genre Gebrauch, in dem derartige Ordnungsabsichten dokumentiert werden. Es ist ja nicht schlechterdings unnütz, zwischen Begriffen wie
Erziehung
,
Bildung
,
Praxis
,
Sozialisation
,
Beratung
,
Bildsamkeit
,
Selbsttätigkeit
usw. einen auch logisch rechtfertigungsfähigen thematischen Zusammenhang zu suchen. Man folgt damit einer Tradition, die (z. B.) von Nohl und W. Flitner über Langeveld bis zu Benner und Winkler reicht. Freilich wurden derartige Versuche, wo sie nicht Proseminarbedürfnisse zu befriedigen suchten,
bescheidener
und
skeptischer
, auch
asketischer
– wie uns nun als Neuigkeit empfohlen wird
(Winkler 1994, S. 111 f.)
.
Unverbindliches Raisonnement über Gott, die Welt, vielleicht auch über Elternschaft
(S. 105)
hingegen ist schon seit langem immer seltener geworden und überdies gewiß keine Besonderheit der Allgemeinen Pädagogik, eher noch eine, die bei der Einführung in spezialisierte Fachkongresse gepflogen wird.
[137:10] Soll die Allgemeine Pädagogik vorankommen, wird man also nur gelegentlich Hilfe bei
Systematikern
finden, obgleich diese, bei gehöriger wissenschaftstheoretischer Bildung, nicht nur hilfreich sind, sondern eine bleibende, wenn auch vielleicht uneinlösbare Herausforderung. Das resignierende oder deprimierende Urteil über diese Komponente erziehungswissenschaftlicher Tätigkeit scheint mir aber ein Produkt selektiver Leseerfahrung zu sein. Erwartet man nämlich nicht unbedingt
Systematik
, sondern ist man aufmerksam für das, was für unsere Kultur das
Allgemeine
des Generationenverhältnisses, zumal auch für den Status der heranwachsenden Generation, betrifft, dann eröffnet sich ein theoretisch und empirisch eindrucksvolles Panorama (wenn man sich von traditionellen Etiketten freimacht):
  • [137:11] Im Hinblick auf die Leibgebundenheit (z. B. Lippitz/Rittelmeyer 1989; Rittelmeyer 1994) der Erziehung und Bildung bis hin zu den Autonomieparadoxien, in die die
    allgemeinpädagogische
    Mündigkeitserwartung hineinführt, sind wir seit einem Jahrzehnt besser unterrichtet worden als vordem (z. B. Meyer-Drawe 1984, 1990).
  • [137:12] Daß nicht nur die kulturellen Praktiken des Generationenumgangs, sondern auch die
    theoretischen
    Begriffe, auch nach der Aufklärung, Mythen produzieren und aufrechterhalten, ist uns heute, 20 Jahre nach den ungebrochenen Systeminteressen unserer Väter, fast selbstverständlich geworden (z. B. Lenzen 1985).
  • [137:13] Daß dabei die philosophischen Traditionsbestände beständig in Revisionsnot geraten, dokumentieren die Berichte der Kommission
    Bildungs- und Erziehungsphilosophie
    der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft.
  • [137:14] Das Bauhaus brachte in Programmatik, Produktion und Kommentaren einen allgemeinpädagogischen
    Habitus
    hervor, zwar mit seinen deutlichen ästhetischen Akzenten, aber, angesichts der
    Ästhetisierungen
    unserer pädagogischen Kultur, ein ziemlicher wichtiger Befund, in einer klaren Problemkontur erst jetzt zugänglich, auch schon als Entwurf einer pädagogischen Ikonologie (Wünsche 1989, 1991).
  • [137:15] Überhaupt wurde die ästhetische Dimension von Bildungsprozessen immer deutlicher den Konzepten Allgemeiner Pädagogik eingefügt, ein seit Schil|a 282|ler lange Zeit nur nachlaßverwalterisch behandeltes Thema, nun aber, bei neuen Herausforderungen, erweiternd und modifizierend behandelt (z. B. Lehnerer 1994; Lenzen 1990; Mollenhauer 1990; Koch/Marotzki/Peukert 1994).
  • [137:16] Auch der Vorgang, daß Attitüden/Verhaltensmuster der nachwachsenden Generation in Konflikt geraten mit denen der Erwachsenen, dennoch aber
    in der Tiefe
    verbunden zu sein scheinen mit Charakteristiken der Gegenwartskultur, etwas mit dem kulturellen
    Habitus
    (ein Terminus der Allgemeinen Soziologie?) zu tun haben, wird uns in den phänomenologischen Beschreibungen und Deutungen von Skinheads, Skateboard-Fahrern, Trebegängern vorgeführt. Solche Studien und mehr noch die Auseinandersetzungen mit interkulturellen Integrationen und Segregationen werfen zunehmend deutlicher erkennbar Fragen der Allgemeinen Pädagogik auf (vgl. z. B. Birtsch u. a. 1993; oder auch Heinelt/Lohmann 1992).
  • [137:17] Man sollte nicht vergessen, daß auch historische Studien gelegentlich die Allgemeine Pädagogik zum Thema haben, wie man es geradezu klassisch an Blankertz studieren kann, aber auch dort, wo eher speziellen Fragen der Allgemeinen Pädagogik nachgegangen wird (Blankertz 1982; und z. B. Gruschka 1988, 1994; Ruhloff 1989).
  • [137:18] Schließlich die moralische Dimension der Thematik, die ethische Komponente Allgemeiner Pädagogik: Das durch die Kognitionstheorien ermöglichte empirisch gehaltvolle Reden (
    positives Wissen
    !) über moralische Orientierungen und ihre Entwicklung ist vielleicht einer der wichtigsten Beiträge zur Allgemeinen Pädagogik im letzten Jahrzehnt. Das zeigt sich u. a. und beispielsweise daran, daß die Befunde und Argumentationsweisen dieser Forschungsrichtung nicht nur im Hinblick auf die Schule, sondern auch für die Sozialpädagogik (z. B. besonders Brumlik 1992) geltend gemacht werden konnten. Dieser Fall ist auch deshalb besonders interessant, weil bei ihm psychologische und sozialwissenschaftliche Empirie mit philosophischer Reflexion Zusammenkommen mußten, um sich als überzeugendes allgemeinpädagogisches Problemfeld zu etablieren.
  • [137:19] Die Kritiker der Allgemeinen Pädagogik bemängeln, daß das
    Theorie-Praxis
    -Problem fast nur noch in rituellen Formeln und abstrakten Begriffsbekundungen zur Sprache komme und deshalb verständlicherweise die
    Praxis
    gar nicht mehr erreiche. Ihnen ist offenbar entgangen, daß das nämliche Problem inzwischen mit anderen Vokabeln beschrieben wird. H. Thiersch beispielsweise wird seit Jahren nicht müde, die Begriffe
    Alltag
    und
    Lebenswelt
    als Orientierungen wenigstens für den sozialpädagogischen Teil der Zunft zu empfehlen, und zwar erfolgreich. Diese – wenn ich recht sehe – zunächst in der (französischen) Historiographie und Sozialphilosophie, dann auch in der deutschen Soziologie, schließlich auch in der Pädagogik aufgegriffenen Vokabeln nehmen das vor zwei Generationen exponierte Problem des Verhältnisses von wissenschaftlicher Theorie und den Orientierungen der
    Alltags
    -Praxis auf, nun sozialwissenschaftlich besser aufgeklärt – auch wenn dabei der phänomenologisch-erkenntniskritische Sinn des Ausdrucks
    Lebenswelt
    verlorenzugehen droht. Auch das ist, nach meinem Verständnis,
    Allgemeine Pädagogik
    , aus dem Besonderen eines Praxisfeldes (hier der Jugendhilfe) herausgearbeitet, theoretischer, |a 283|empirisch gehaltvoller Befund und (worüber man sich leicht informieren kann) für die Praxis relevant.
  • -
    [137:20] Endlich noch einmal zurück zu Benner, dessen
    Allgemeine Pädagogik
    manch einen irritiert hat. Wir sollten mit Gründen darüber streiten, ob Benners Klassifikation der
    menschlichen Gesamtpraxis
    und der Lokalisierung der Pädagogik innerhalb dieser Klassen sozialwissenschaftlich akzeptabel, hinreichend empirisch gehaltvoll und praktisch tatsächlich orientierend ist. Man mag daran zweifeln, sollte das dann aber als Argumentation vortragen. Beispielsweise mag man sich fragen, ob überhaupt und wie in einem solchen Entwurf die fundamentalen Differenzen zwischen den Geschlechtern, zwischen Arm und Reich, zwischen kulturellen Traditionen Berücksichtigung finden können, die besondere Kontur des Generationenverhältnisses heute, die Form- und Inhaltsfragen, die sich auf Umwelt und Frieden beziehen.
[137:21] Die Liste der Problemstellungen ist kurz und eher zufällig; sie ließe sich verlängern. Sie sollte indessen nur andeuten, welche Schwierigkeiten ich sehe, wenn man sich gegenwärtig zur
Allgemeinen Pädagogik
äußern möchte. Sie hat sich nämlich, mit einem unschönen Wort gesprochen, diffundiert. Das derart Verstreute einzusammeln kann nicht mehr, wie mir scheint, in einen Zusammenhang gebracht werden, der das Etikett
systematisch
mit Gründen verdient; die Verluste, die dabei in Kauf genommen werden müßten, wären zu groß – gleichviel ob eine solche Systematik mit empirischer Anthropologie anhebt, mit pädagogisch-ethischen Grundfragen beginnt, sich an die Kritische Theorie anzuschließen sucht, ihre Ausgangspunkte bei historischer Anthropologie und Ethnologie zu finden hofft, sich von der systemtheoretischen Perspektive einen zufriedenstellenden Weg verspricht, von einem praxeologischen Zugang oder in anderer Manier. Man muß das nicht beklagen, es nicht
Niedergang
nennen. Allerdings verlangt die Lage eine Umorientierung der Aufmerksamkeiten, wenn ich recht sehe, auch den Mut zum Fragment, wohl eine skeptische Distanz zu Deduktionen und universalistischen Strategien.
[137:22] Indessen ist dies doch längst, mindestens seit zehn Jahren, im Gange, wenngleich verstreut. Derart Verstreutes wird – wenn es sich nicht um spezialisierende Monographien für die Fachöffentlichkeit handelt – in der Regel in
Einführungen
, in
Handbüchern
für das Studium, in
Grundkursen
für solche, die sich im Sinne eines Überblicks informieren wollen, zusammengefaßt. Solche Veröffentlichungen sind deshalb eine Trivialprobe auf den Stand der Allgemeinen Pädagogik. Und was finden wir da? Diejenigen, die vordem so heftig ihr einen
Niedergang
vorhielten, beteiligen sich nun mit gleichem Ernst an ihrer Kontur, und zwar bis in die eingespielten
Grundbegriffe
oder
Grundvorgänge
hinein (vgl. Krüger/Helsper 1995; Lenzen 1994; Lenzen/Mollenhauer 1981). Den Mängelrügen, die noch 1994 heftig vorgetragen wurden, wird nun, ein Jahr später, die Spitze abgebrochen: Die Stichworte und Beiträge, die sich der Allgemeinen Pädagogik zurechnen lassen, unterscheiden sich in der nun neuesten
Einführung
(Krüger/Helsper 1995) nur rhetorisch von dem, was man zuvor schon lesen konnte. Und angesichts der jüngeren Diskussion ist es durchaus überraschend, daß – in allen derartigen Veröffentlichungen seit 15 Jahren – drei, wie mir scheint, höchst wichtige Problemstel|a 284|lungen der Allgemeinen Pädagogik nicht als ausdrückliches Thema auftauchen: der
primordiale
Status des Leibes für Erziehungs- und Bildungsvorgänge, die
Interkulturalität
derselben und das
Generationen
-Verhältnis. Die Kritiker der Allgemeinen Pädagogik scheinen also konservativer zu sein, als sie ahnen. Das wird dann, eher indirekt, auch an so grundlegenden Artikeln wie
Sozialisation
(vgl. Geulen in Lenzen 1994, S. 99 ff.; Helsper in Krüger/Helsper 1995, S. 71 ff.) oder
Bildung
(vgl. Langewand in Lenzen 1994, S. 69 ff.; Hörster in Krüger/Helsper 1995, S. 43 ff.) deutlich: Vor dem Hintergrund einer relativ verläßlichen empirischen und historischen Forschung konturieren die Autoren eine je eigene Sicht, eine je individuelle Variante, die aber, gewichtet man die eigenen Deutungsvorlieben nicht besonders, fast (im Vergleich) auf dasselbe hinauslaufen, nämlich (etwa bei
Bildung
) auf eine gewisse Enthaltsamkeit von Allgemeiner Pädagogik. Es ist schon überraschend, wenn unter der Überschrift
Bildung
Autoren wie etwa Piaget, Merleau-Ponty, Sartre gar nicht auftauchen oder Meyer-Drawe nur mit einem kleineren Aufsatz, nicht aber mit ihren umfänglichen Recherchen zu Geschichte und Systematik des Problems.
[137:23] Der beklagte
Niedergang
der Allgemeinen Pädagogik ist also offenbar ein Niedergang der Lesetätigkeit der Kläger. Aber – und darin ist den Kritikern unverhohlen recht zu geben – er ist auch ein Mangel an empirischem Gehalt (
positives Wissen
,
szientistisch gesicherte Inhalte
). Am Problem der
Interkulturalität
ließe sich das gut demonstrieren. Die Allgemeine Pädagogik hätte darin eine Bewährungsprobe (neben manchen anderen): Das Problem ist von Schleiermacher 1826, aber auch schon von Herder eine Generation früher, exponiert worden. Die Empirie der Gegenwart hält andere Pointen bereit. Allgemeine Pädagogik müßte also die Denktradition mit unserem aktuellen
positiven Wissen
ins Verhältnis setzen, um daraus eine
Grundfrage
zu machen.
[137:24] Das ist nun (leider) einer der Konjunktive, für die man sich eher schämen sollte. Besser wäre es, man täte selbst das, was man anderen zu tun empfiehlt. Eine mehrfache Peinlichkeit, wie man sieht. Indessen: solange noch die (empirische) Frage aufrechterhalten werden kann, wie Erziehung und Bildung in dem
Habitus
der Institutionen und kulturellen Segmente lokalisiert sind und welche Formationen und Transformationen im Verhältnis der Generationen zueinander zu beobachten sind, so lange wird auch die Allgemeine Pädagogik ihre Themen haben, sei es in systematischen, sei es in essayistischen, sei es in strenger empirischen Textsorten. Man muß nur gründlicher suchen als ehedem. Und ein wenig
romantische Ironie
könnte nicht schaden.

Literatur

    [137:25] Benner, D.: Allgemeine Pädagogik. Eine systematisch-problemgeschichtliche Einführung in die Grundstruktur pädagogischen Denkens und Handelns. Weinheim/München 1987.
    [137:26] Birtsch, E./Kluge, Chr./Trede, W. (Hrsg.): Autocrashing, S-Bahn-surfen, Drogenkonsum. Analysen jugendlichen Risikoverhaltens. Frankfurt a. M. 1993 (IGfH-Eigenverlag).
    [137:27] Blankertz, H.: Die Geschichte der Pädagogik. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Wetzlar 1982.
    |a 285|
    [137:28] Brumlik, H.: Advokatorische Ethik. Zur Legitimation pädagogischer Eingriffe. Bielefeld 1992.
    [137:29] Gruschka, A.: Negative Pädagogik. Einführung in die Pädagogik mit Kritischer Theorie. Wetzlar 1988.
    [137:30] Gruschka, A.: Bürgerliche Kälte und Pädagogik. Moral in Erziehung und Gesellschaft. Wetzlar 1994.
    [137:31] Heinelt, H./Lohmann, A. (Hrsg.): Emigranten im Wohlfahrtsstaat am Beispiel der Rechtspositionen und Lebensverhältnisse von Aussiedlern. Leverkusen 1992.
    [137:32] Koch, L./Marotzki, W./Peukert, H. (Hrsg.): Erziehungswissenschaft. Die Disziplin am Beginn einer neuen Epoche. Weinheim/München 1994.
    [137:33] Krüger, H.-H.: Allgemeine Pädagogik auf dem Rückzug? Notizen zur disziplinären Neuvermessung der Erziehungswissenschaft. In: Krüger/Rauschenbach 1994, S. 115–130.
    [137:34] Krüger, H.-H./Helsper, W. (Hrsg.): Einführung in Grundbegriffe und Grundfragen der Erziehungswissenschaft. Opladen 1995.
    [137:35] Krüger, H.-H./Rauschenbach, Th. (Hrsg.): Erziehungswissenschaft. Die Disziplin am Beginn einer neuen Epoche. Weinheim/München 1994.
    [137:36] Lehnerer, Th.: Methoden der Kunst. Würzburg 1984.
    [137:37] Lenzen, D. (Hrsg.): Enzyklopädie Erziehungswissenschaft, Bd. 1. Stuttgart 1981.
    [137:38] Lenzen, D.: Mythologie der Kindheit. Reinbek 1985.
    [137:39] Lenzen, D. (Hrsg.): Kunst und Pädagogik. Erziehungswissenschaft auf dem Weg zur Ästhetik. Darmstadt 1990.
    [137:40] Lenzen, D. (Hrsg.): Erziehungswissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek 1994.
    [137:41] Lippitz, W./Rittelmeyer, Ch. (Hrsg.): Phänomene des Kinderlebens. Bad Heilbrunn 1989.
    [137:42] Meyer-Drawe, K.: Leiblichkeit und Sozialität. Phänomenologische Beiträge zu einer pädagogischen Theorie der Inter-Subjektivität. München 1984.
    [137:43] Meyer-Drawe, K.: Illusionen von Autonomie. Diesseits von Ohnmacht und Allmacht des Ich. München 1990.
    [137:44] Mollenhauer, K.: Ästhetische Bildung zwischen Kritik und Selbstgewißheit. In: Zeitschrift für Pädagogik 36 (1990), S. 481–494.
    [137:45] Oelkers, J./Tenorth, H.-E. (Hrsg.): Pädagogisches Wissen. Weinheim 1991.
    [137:46] Oevermann, U.: Zur Sache. In: Adorno-Konferenz. Frankfurt a. M. 1983, S. 234–289.
    [137:47] Rittelmeyer, Chr.: Schulbauten positiv gestalten. Wie Schüler Farben und Formen erleben. Wiesbaden/Berlin 1994.
    [137:48] Ruhloff, J. (Hrsg.): Renaissance – Humanismus. Zugänge zur Bildungstheorie der frühen Neuzeit. Essen 1989.
    [137:49] Tenorth, H.-E.:
    Reformpädagogik
    . Erneuter Versuch, ein erstaunliches Phänomen zu verstehen. In: Zeitschrift für Pädagogik 40 (1994), S. 585–604.
    [137:50] Winkler, M.: Stichworte zur Antipädagogik. Elemente einer historisch-systematischen Kritik. Stuttgart 1982.
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