Über Mutmaßungen zum
„Niedergang“ der Allgemeinen Pädagogik
– eine Glosse
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1.[137:6] Die Allgemeine Pädagogik befinde sich, so heißt es, in einem„Ghetto von Schultheorie, Unterrichtswissenschaft und ihrer alleinigen Fixierung auf die Lehrerbildung“(Krüger 1994, S. 127)„Allgemeine Pädagogik“(Benner 1987), zeige er doch, daß hier von der Schule her gedacht werde – besonders in den Bezugnahmen auf – und also der Anspruch des pädagogisch Allgemeinen schon aus diesem Grunde nicht aufrechterhalten werden könne – so als ließe sich aus Anlaß eines Besonderen nichts darüber hinausgehend Allgemeines denkend zur Sprache bringen. Das bedürfte allerdings einiger begrifflicher Anstrengung, die – darin zutreffend von referiert – in der |a 279|Form seiner praxeologischen Klassifikation, der Bestimmung von„Prinzipien“und der Beschreibung einer„nicht-hierarchischen und nicht-teleologischen Ordnung der menschlichen Gesamtpraxis“vorführt. Statt sich auf diese Denkbefunde argumentativ zu beziehen, gibt sich mit dem Anlaß oder Ausgangspunkt zufrieden. selbst würde gewiß zustimmen, wenn man ihm mit Gründen zeigen würde, welche seiner Ordnungsgesichtspunkte korrekturbedürftig sind. Ebendies sollte getan werden. Das aber verlangt die Auseinandersetzung mit den vorgetragenen Argumenten und ist nicht ganz leicht zu bewerkstelligen. Würde denn jemand vorwerfen, seine Entfaltung von Theoremen der Allgemeinen Soziologie sei deshalb unzureichend, weil er sie am Fall einer Fernsehansage demonstriert hat (Oevermann 1983)? Man darf gespannt sein auf Erörterungen des pädagogisch Allgemeinen, die aus den Teildisziplinen kommen. Es wäre z. B. hilfreich zu erfahren, ob praxeologische Klassifikation aus der Sicht der Sozialpädagogik aufrechterhalten werden kann oder korrekturbedürftig ist. Bis heute ist dazu noch nichts in Sicht – insbesondere von den Autoren, die ihr Mißfallen an der„Allgemeinen Pädagogik“so deutlich zum Ausdruck bringen.
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2.[137:7]Es gibt einen zweiten Hinweis auf das Unbehagen an„Allgemeiner Pädagogik“. Man befürchtet„Großtheorie“(Krüger 1994, S. 123)„Allgemeinen Pädagogik“sei eine„Verlust- und Verfallsgeschichte“„Inhaltsmangel“(Winkler 1994, S. 97)„Erziehung als heilsgeschichtlich begründete Lösung aus menschlicher Grenzerfahrung“(ebd.)„auf substantielle, überzeitlich gegebene Wesensmerkmale“„auf den statistischen Durchschnitt“(S. 99)„eher unverbindliches Raisonnement über Gott, die Welt, vielleicht auch Elternschaft“(S. 105)„nur mehr Ethik produzieren“(S. 104)„Hilfen zur Lebensbewältigung“„kategoriale Erweiterung“S. 122) weiterführende Argumentationen, ohne zu fragen, ob praxeologischer Entwurf nicht eben zu dieser Frage einiges Differentielle beizutragen versuchte, und ohne (offenbar) die frühen Versuche in dieser Hinsicht zur Kenntnis zu nehmen. Wir hätten eine historisch-gesellschaftliche Situation – so die Meinung –, in der die pädagogisch allgemein gedachten Argumentationen hinter den aktuellen Herausforderungen der Erziehungs- und Bildungsverhältnisse zurückblieben; es hätten„die jüngeren Entwürfe zur Allgemeinen Pädagogik die veränderte Situation“(S. 112).Man kann diesen Ärger verstehen; aber ist er begründet? Die Mängelrügen sind zu pauschal, als daß man sie prüfen könnte, es sei denn, es wird der Allgemeinen Pädagogik vorgeworfen, daß sie eben Allgemeines zur Sprache bringe, und es wird unterstellt, daß„allgemein“gleichbedeutend mit„universalistisch“sei – keine sehr vernünftige Unterstellung, solange sie nicht konkret und kritisch gegen diese oder jene Schrift ins Feld geführt wird. jedenfalls kann nicht gemeint sein, bringt er doch schon am Anfang seines Buches alle nun als angeblich neue Einwände präsentierten Schwierigkeiten zur Sprache. Man darf also raten, wer und was gemeint ist. Immerhin aber ist beruhigend, daß , nach der Auflistung von Irr- und Fehlwegen, dann |a 280|doch zu den Vätern der Allgemeinen Pädagogik zurückkehrt: Der Ausweg, den er empfiehlt, ist eine modifizierende Paraphrase auf die Problemstellungen (S. 110 ff.), allerdings in ziemlicher Verdünnung. Er hat sicher recht, jedenfalls nach meiner Sichtweise auf die Problemstellung hin, wenn er schreibt, das Programm einer„Allgemeinen Pädagogik ... verlangt ... heute durchaus Bescheidenheit“„es geht im Kern um eine historische Sozialwissenschaft“(S. 113)
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3.[137:8] Man befürchtet nicht nur„Großtheorie“, sondern hat Vorbehalte vor allem gegenüber„Systementwürfen“„abgerundeten“(Krüger 1994, S. 118f.). Die Schwierigkeiten, in die solche systematisch konzipierten Konstruktionen hineinführen, hat kürzlich , in der skeptischen Attitüde der Wissenschaftsgeschichtsschreibung, am Verhältnis und der Wissenschaftsgruppe in dessen näherem Umfeld zur„Reformpädagogik“eindrucksvoll beschrieben (Tenorth 1994); und jedem, der heute den Mut zu einer Allgemeinen Pädagogik aufbringt, kann dies ein hilfreiches Lehrstück sein. Aber unabhängig davon: Offenbar fasziniert von dem, was„Systementwürfe“genannt werden könnte, ist manch einem entgangen, was in den letzten Jahren innerhalb der Pädagogik geschah, ohne daß die entsprechenden Publikationen immer schon das Etikett„Allgemeine Pädagogik“bei sich trugen. Allgemeine Pädagogik muß nicht„systematisch“sein. Die Arbeiten beispielsweise – um eine benachbarte Disziplin heranzuziehen – sind wie ein ausufernder Essay zur Allgemeinen Soziologie, nicht aber eine„systematische“Soziologie. Derartiges zu erwarten ist schon lange unbillig (dennoch darf man denen, die es versuchen, Respekt zollen). Was deshalb in unserer Disziplin heute der Allgemeinen Pädagogik zuzurechnen wäre, sind am ehesten – neben den„systematisch“beabsichtigten Texten über Problempanoramen oder (noch am fruchtlosesten) sogenannten„Paradigmen“-Erörterungen – Beiträge zu solchen Fragen, die für das Verhältnis der Generationen zueinander innerhalb unserer, aber auch anderer kultureller Formationen geltend gemacht werden können, und zwar relativ unabhängig davon, in welchem institutionellen Rahmen sie auftauchen. Die Verwendung eines theoretischen Terminus wie„Interaktion“, dessen Erläuterung und Erörterung ich der Allgemeinen Pädagogik zurechne, wäre ganz sinnlos, wenn nicht unterstellt würde, daß – trotz situativer, kultureller und institutioneller Differenzen – eine Verwandtschaft der sozialen Beziehungen bestünde zwischen Eltern und Kindern, Lehrern und Schülern, Heimerziehern und Klienten, und zwar im Hinblick auf strukturelle Ähnlichkeiten der„Interaktion“. An derartiges zu erinnern ist trivial. Solche Erörterungen müssen indessen nicht in der Absicht„systematischer“Pädagogik vorgetragen werden.
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–[137:11] Im Hinblick auf die Leibgebundenheit (z. B. Lippitz/Rittelmeyer 1989; Rittelmeyer 1994) der Erziehung und Bildung bis hin zu den Autonomieparadoxien, in die die„allgemeinpädagogische“Mündigkeitserwartung hineinführt, sind wir seit einem Jahrzehnt besser unterrichtet worden als vordem (z. B. Meyer-Drawe 1984, 1990).
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–[137:12] Daß nicht nur die kulturellen Praktiken des Generationenumgangs, sondern auch die„theoretischen“Begriffe, auch nach der Aufklärung, Mythen produzieren und aufrechterhalten, ist uns heute, 20 Jahre nach den ungebrochenen Systeminteressen unserer Väter, fast selbstverständlich geworden (z. B. Lenzen 1985).
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–[137:13] Daß dabei die philosophischen Traditionsbestände beständig in Revisionsnot geraten, dokumentieren die Berichte der Kommission„“ der .
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–[137:14] Das brachte in Programmatik, Produktion und Kommentaren einen allgemeinpädagogischen„Habitus“hervor, zwar mit seinen deutlichen ästhetischen Akzenten, aber, angesichts der„Ästhetisierungen“unserer pädagogischen Kultur, ein ziemlicher wichtiger Befund, in einer klaren Problemkontur erst jetzt zugänglich, auch schon als Entwurf einer pädagogischen Ikonologie (Wünsche 1989, 1991).
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–[137:15] Überhaupt wurde die ästhetische Dimension von Bildungsprozessen immer deutlicher den Konzepten Allgemeiner Pädagogik eingefügt, ein seit lange Zeit nur nachlaßverwalterisch behandeltes Thema, nun aber, bei neuen Herausforderungen, erweiternd und modifizierend behandelt (z. B. Lehnerer 1994; Lenzen 1990; Mollenhauer 1990; Koch/Marotzki/Peukert 1994).
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–[137:16] Auch der Vorgang, daß Attitüden/Verhaltensmuster der nachwachsenden Generation in Konflikt geraten mit denen der Erwachsenen, dennoch aber„in der Tiefe“verbunden zu sein scheinen mit Charakteristiken der Gegenwartskultur, etwas mit dem kulturellen„Habitus“(ein Terminus der Allgemeinen Soziologie?) zu tun haben, wird uns in den phänomenologischen Beschreibungen und Deutungen von Skinheads, Skateboard-Fahrern, Trebegängern vorgeführt. Solche Studien und mehr noch die Auseinandersetzungen mit interkulturellen Integrationen und Segregationen werfen zunehmend deutlicher erkennbar Fragen der Allgemeinen Pädagogik auf (vgl. z. B. Birtsch u. a. 1993; oder auch Heinelt/Lohmann 1992).
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–[137:17] Man sollte nicht vergessen, daß auch historische Studien gelegentlich die Allgemeine Pädagogik zum Thema haben, wie man es geradezu klassisch an studieren kann, aber auch dort, wo eher speziellen Fragen der Allgemeinen Pädagogik nachgegangen wird (Blankertz 1982; und z. B. Gruschka 1988, 1994; Ruhloff 1989).
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–[137:18] Schließlich die moralische Dimension der Thematik, die ethische Komponente Allgemeiner Pädagogik: Das durch die Kognitionstheorien ermöglichte empirisch gehaltvolle Reden („positives Wissen“!) über moralische Orientierungen und ihre Entwicklung ist vielleicht einer der wichtigsten Beiträge zur Allgemeinen Pädagogik im letzten Jahrzehnt. Das zeigt sich u. a. und beispielsweise daran, daß die Befunde und Argumentationsweisen dieser Forschungsrichtung nicht nur im Hinblick auf die Schule, sondern auch für die Sozialpädagogik (z. B. besonders Brumlik 1992) geltend gemacht werden konnten. Dieser Fall ist auch deshalb besonders interessant, weil bei ihm psychologische und sozialwissenschaftliche Empirie mit philosophischer Reflexion Zusammenkommen mußten, um sich als überzeugendes allgemeinpädagogisches Problemfeld zu etablieren.
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–[137:19] Die Kritiker der Allgemeinen Pädagogik bemängeln, daß das„Theorie-Praxis“-Problem fast nur noch in rituellen Formeln und abstrakten Begriffsbekundungen zur Sprache komme und deshalb verständlicherweise die„Praxis“gar nicht mehr erreiche. Ihnen ist offenbar entgangen, daß das nämliche Problem inzwischen mit anderen Vokabeln beschrieben wird. beispielsweise wird seit Jahren nicht müde, die Begriffe„Alltag“und„Lebenswelt“als Orientierungen wenigstens für den sozialpädagogischen Teil der Zunft zu empfehlen, und zwar erfolgreich. Diese – wenn ich recht sehe – zunächst in der (französischen) Historiographie und Sozialphilosophie, dann auch in der deutschen Soziologie, schließlich auch in der Pädagogik aufgegriffenen Vokabeln nehmen das vor zwei Generationen exponierte Problem des Verhältnisses von wissenschaftlicher Theorie und den Orientierungen der„Alltags“-Praxis auf, nun sozialwissenschaftlich besser aufgeklärt – auch wenn dabei der phänomenologisch-erkenntniskritische Sinn des Ausdrucks„Lebenswelt“verlorenzugehen droht. Auch das ist, nach meinem Verständnis,„Allgemeine Pädagogik“, aus dem Besonderen eines Praxisfeldes (hier der Jugendhilfe) herausgearbeitet, theoretischer, |a 283|empirisch gehaltvoller Befund und (worüber man sich leicht informieren kann) für die Praxis relevant.
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-[137:20] Endlich noch einmal zurück zu , dessen„Allgemeine Pädagogik“manch einen irritiert hat. Wir sollten mit Gründen darüber streiten, ob Klassifikation der„menschlichen Gesamtpraxis“und der Lokalisierung der Pädagogik innerhalb dieser Klassen sozialwissenschaftlich akzeptabel, hinreichend empirisch gehaltvoll und praktisch tatsächlich orientierend ist. Man mag daran zweifeln, sollte das dann aber als Argumentation vortragen. Beispielsweise mag man sich fragen, ob überhaupt und wie in einem solchen Entwurf die fundamentalen Differenzen zwischen den Geschlechtern, zwischen Arm und Reich, zwischen kulturellen Traditionen Berücksichtigung finden können, die besondere Kontur des Generationenverhältnisses heute, die Form- und Inhaltsfragen, die sich auf Umwelt und Frieden beziehen.