In Erinnerung an die geisteswissenschaftliche Pädagogik [Textfassung a]
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In Erinnerung an die geisteswissenschaftliche Pädagogik:

Wozu Pädagogik? Versuch eines thematischen Profils

1. Ausgangsfragen

[135:1] Die Frage,
wozu
es Pädagogik gebe, innerhalb unserer Kultur und in der merkwürdig doppelten Bedeutung, nämlich daß das Wort einerseits einen gesellschaftlich eingespielten Zusammenhang von Handlungen und dem dazu gehörenden Alltagswissen bezeichnet, andererseits aber auch, neben dem Terminus
Erziehungswissenschaft
, eine akademische Disziplin, die sich jenen Zusammenhang zum Gegenstand ihrer Forschung macht – die Frage also,
wozu
besonders diese akademische Tätigkeit dienlich sein könnte, mag man heutzutage ziemlich skeptisch beurteilen und beantworten. Sie hat entfernte Ähnlichkeit mit den drei Fragen, die Jean-Paul Sartre vor einigen Jahrzehnten für die Literatur stellte: Was heißt schreiben? Warum schreibt man? Für wen schreibt man? Jener Essay war eine Antwort auf Einwendungen, die angesichts des von Sartre geprägten Begriffs der
litterature engagée
vorgetragen wurden (Sartre o. J.). Wenig später kennzeichnete ein hervorragender Vertreter einer geisteswissenschaftlich verfahrenden Pädagogik, als akademischer Disziplin, nämlich Wilhelm Flitner, diese als
reflexion engagée
, ein Denken und Schreiben also, das sich (so die Wortbedeutung) bindet, verpflichtet weiß, gar
eidlich gebunden
ist – woran?
[135:2] Der
Stoff
der Literatur, schreibt
Sartre (S. 203)
, sei
die Praxis ... auf dem Boden der Geschichte ... mit dieser feindseligen und freundschaftlichen, furchtbaren und spöttischen Welt, die uns einhüllt
. In dieser Praxis also solle die Literatur die Referenz ihres Engagements finden. Sartre glaubte, 1947, sie im
Sozialismus, der Demokratie, dem Frieden
(S. 253)
finden zu können, sah sich dann aber in der Schwierigkeit, in der gesellschaftlichen Praxis – und da dachte er vor allem an das von ihm in marxistischer Manier als in
entfremdeter
Praxis lebende Proletariat, das am ehesten den Fluchtpunkt seines Engagements verbürgen könnte – für diese Art von Literatur keine zuverlässigen Leser mehr zu finden.
Eine Literatur der Praxis entsteht in der Epoche des unauffindbaren Publikums
(ebd.)
. Die Frage
für wen schreibt man
wird so zu der Frage
wie konstruiere ich mir, schreibend, mein Publikum
. Die Ironie, die in dieser Wendung steckt, hat |a 16|Sartre in einer bitteren Fußnote, vielleicht ohne die Ironie zu bemerken, formuliert, und zwar für die Situation der Résistance in den 40er Jahren:
Die Gestapo hatte es zweifellos vorgezogen, ihre Bemühungen auf ... den Maquis zu konzentrieren, deren tatsächliche Zerstörungen sie mehr behinderten, als unsere (der Schriftsteller) abstrakte Negativität
(S. 271 f.)
.
[135:3] Steckt die Pädagogik, als
reflexion engagée
, nicht in der gleichen Schwierigkeit? Hier sind es zwar nicht die Praxiszusammenhänge von sozialen Bewegungen, die den Hintergrund der Erörterungen Sartres bilden, sondern das, was seit Jahrhundertbeginn
Reform
heißt und für Flitner nun den Bezugspunkt dessen darstellt, was im Hinblick auf Erziehung und Bildung
Praxis
ist, an der engagiert sich zu beteiligen Aufgabe der akademischen Disziplin
Pädagogik
sei. Wie es sich – weniger für Schriftsteller, aber wohl für Pädagogen hierzulande – gehört, nimmt dieses Engagement eine positive Gestalt an. In der Annahme, es ziehe sich durch die abendländische Geschichte hindurch ein
pädagogischer Grundgedankengang
, den es weiter zu entfalten und immer wieder offensiv zu propagieren gelte, wurde gefolgert – den materialistischen Komponenten der Argumentation Sartres nicht unähnlich –, daß dieser Gedankengang, in der Praxis des Umgangs der älteren mit der jüngeren Generation immer deutlicher hervortretend, auf das Wohl des Kindes zulaufe. In den historischen Bewegungen der Praxis – so lassen sich diese beiden engagierten Positionen zusammenfassen – zeige sich das gesellschaftlich Gerechte, das pädagogisch Gute. Die Literatur habe das eine, die Pädagogik das andere voranzubringen. Kann man sich einer solchen Meinung heute noch anschließen, und welche Gründe gäbe es dafür?
[135:4] Ein Blick auf die aktuelle Szenerie läßt jenes Engagement zwar ehrenwert erscheinen, aber folgenlos.
  • [135:5] Als sich herausstellte, daß das deutsche Schulsystem in vielen Hinsichten einer Verbesserung bedürfte und daraufhin im Jahre 1966 der Deutsche Bildungsrat seine Tätigkeit begann, war das für die Pädagogik ein beträchtlicher Gewinn. Durch unzählige Aufträge für Expertisen und Einzeluntersuchungen mußte sie sich ihrer Ressourcen versichern, ihre Forschungskompetenz unter Beweis stellen, sich um die Beantwortung relativ neuer Fragen kümmern, ihren Personalbestand erweitern. Aber 30 Jahre später schon befindet sie sich eher in der Defensive.
    Reflexion engagée
    heißt heute etwa – von einigen Personen und Institutionen abgesehen: Edition von Schriften der
    Reformpädagogen
    aus dem ersten Drittel des Jahrhunderts; immer wieder erneuerte Optionen für innere Schulreform, im Tenor seit 70 Jahren bekannt; hier und da wissenschaftliche Begleitung eines Schulversuchs; marginale Kommentierung von Privatschulaktivitäten oder Modelleinrichtungen.
  • [135:6] Daß der Lehrplan der Schulen nicht nur in die traditionsbedürftigen Wis|a 17|sensstände einzuführen hat, sondern in seiner Struktur auch das Aktuelle, zumal das Zukunftsfähige, zu repräsentieren habe, ist eine seit Humboldt vertraute Problemstellung. Sie spitzt sich in unserem Jahrhundert zu und wurde, im Zusammenhang mit den erwähnten Initiativen des Deutschen Bildungsrates, zu einem höchst wichtigen Thema, z. B. in der
    Hessischen Curriculum-Kommission
    . Trotz solcher der Sache nach naturgemäß aufwendigeren kulturanalytischen und pädagogisch-konstruktiven Bemühungen hat sich der Lehrplan der Schulen, haben sich die Fächer-Klassifikationen bis heute kaum geändert.
  • [135:7]
    Pädagogik
    ist nicht gleichbedeutend mit
    Theorie der Schule und Didaktik
    . In Zahlen ausgedrückt von scheinbar geringerer Relevanz, gehörten auch die Jugendhilfe oder Sozialpädagogik dazu. Hier ist die Szenerie ähnlich. Zwischen 1965 und 1975, als der Modernisierungsbedarf in diesem Bereich offenkundig wurde, gab es eine Art Wechselwirkung zwischen akademischer Theorie und pädagogischem Praxis-Alltag: Unterstützt durch erziehungswissenschaftliche Argumentation und Forschung, änderten sich gravierend die kommunalen pädagogischen Angebote im Hinblick auf Freizeiteinrichtungen für Jugendliche; die nichtstaatlichen Träger der Jugendhilfe (Wohlfahrtsverbände und gemeinnützige Vereine) erneuerten ihre Strategien; die Erziehungsheime wurden reformiert; ambulante und therapeutische Maßnahmen gewannen an Gewicht; die pädagogischen Milieus und Umgangsweisen von Kindergärten erwarben sich ein neues Profil; psychoanalytische Theoriebestände fanden Eingang in die pädagogische Praxis und Argumentation. Und heute? Um 1980 herum war ein Stand erreicht, der dann schließlich zum neuen Kinder- und Jugendhilfe-Gesetz (KJHG 1991) führte, eine passable Plattform, bei der nur noch Finanzierungsfragen und kleinteilige Differenzen strittig sind. Die Thematik als Gegenstand einer akademischen und auf öffentliche Resonanz hoffenden Disziplin scheint fast ausgeschöpft zu sein. Interessantes Indiz ist die Tatsache, daß anläßlich der Diskussion des 9. Jugendberichts der Bundesregierung im März 1995 sich nur 74 Abgeordnete (von 672) im Bundestag einfanden – und dies, obgleich dieser Bericht besonders die schwierige Lage der Kinder und Jugendlichen in den ostdeutschen Regionen zum Thema macht.
  • [135:8] Seit 200 Jahren ist die Mißhandlung von Kindern ein Thema des akademischen Nachdenkens über pädagogische Probleme. Was sich seitdem geändert hat, ist schwer zuverlässig festzustellen. Daß das Problem innerhalb unserer Kultur nicht verschwunden ist, das jedenfalls läßt sich mit Gewißheit sagen. Wozu also braucht man
    Pädagogik
    ? Liegt die Beseitigung derartiger Probleme nicht eher in der Kompetenz von Familien- und Sozialpolitik, in den Einrichtungen der Rechtsprechung, in der Siedlungspolitik?
  • |a 18|
  • [135:9] Eine pädagogische Theorie des Kindergartens gibt es seit 150 Jahren, und zwar gedacht als eine allgemeine Elementarbildung für alle. Aber nur sehr zögernd kam die Verbreitung dieser Einrichtung in Gang und hat selbst heute noch nicht – trotz vieler und empirisch zuverlässiger Studien zu Lernen, Entwicklung, Kindheit – einen Umfang erreicht, der tatsächlich die Interessen aller befriedigen könnte. Schaut man sich indessen genauer an, wann und in welchem Ausmaß diese Einrichtungen vermehrt werden, dann stellt sich rasch die Hypothese ein, daß für die Verbreitung von Kindergärten andere als pädagogische Gründe ausschlaggebend waren: Bevölkerungspolitik und Frauenerwerbstätigkeit – wenngleich freilich besonders diese nicht nur ein sozialstrukturelles Datum ist, sondern tief in die pädagogischen Verhältnisse hineinreicht.
  • [135:10] Oder schließlich das Problem anscheinend zunehmender Gewaltbereitschaft in der jungen Generation. Pädagogisch interessierte und wissenschaftlich zuverlässige Aggressionsforschung gibt es seit einem halben Jahrhundert – wenn man einmal die frühen Anfänge der Psychoanalyse außer acht läßt. Dieser akademische Kenntnisstand unserer Kultur hat nicht verhindern können, daß erneut Dispositionen für Rechtsradikalismus und auch diffuse Formen von körperlicher Gewaltbereitschaft entstanden sind; und auch im Hinblick auf korrigierende pädagogische Interventionen ist unsere Fähigkeit geringer, als gelegentlich glauben gemacht wird. Auch hier also: Was praktisch geschieht und geschehen könnte im Umgang der Generationen miteinander, hängt vielleicht eher von Faktoren des gesellschaftlichen Geschehens ab, die anderswo zu lokalisieren sind, als in dem, was
    Pädagogik
    heißt.
[135:11] Ist
Pädagogik
, als Form des Nachdenkens über Erziehung und Bildung, vielleicht nur die (entbehrliche) Geranie auf dem bürgerlichen Balkon, hinter dem sich Kräfte Geltung verschaffen, die von anderer Art sind? Sartre hat, in gewisser Weise, leicht reden, war er doch selbst produktives Teil der Literatur, von der er
engagement
einforderte, und konnte deshalb, im gleichen Medium, vorführen, was er im Sinn hatte. Die
Pädagogik
ist, als akademische Disziplin, in einer anderen Lage. Vielleicht hilft ein Vergleich mit der Literaturwissenschaft: Kaum jemand wird ernstlich erwarten, daß die Literatur besser würde dadurch, daß es eine Literaturwissenschaft gibt. Die Praxis des Schreibens speist sich aus anderen Quellen als denen der Wissenschaft. Bei der Praxis des Erziehens ist es ähnlich: Sie geschieht innerhalb eines komplizierten, mal dichter, mal weitmaschiger geknüpften Netzes von materiellen, sozialstrukturellen, institutionellen und symbolisch-kulturellen Bedingungen, die die
Pädagogik
als akademische Disziplin zwar beschreiben und aufklären, nicht aber im engagierten Zugriff verändern können muß. Ihre Dignität als Wissenschaft hängt nicht daran.
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2. Erinnerungen

[135:12] Diese Lage kann leicht als beschwerlich empfunden werden. Der
reflexion engagée
zu entsagen und also nur noch, gleichsam von außen und mit ethnologischem Blick, das Erziehungs- und Bildungsgeschehen unserer Kultur zu beschreiben und zu diagnostizieren, kommt manch einem wie eine Zumutung vor für eine Wissenschaft, die sich doch eine Praxis, einen Zusammenhang bedeutsamer Handlungen also, zum Gegenstand macht, und zumal einen solchen Zusammenhang, dem der Diagnostiker, zwar nicht als Erzieher, aber doch als kulturell Beteiligter, selbst angehört. Diesem Zusammenhang gegenüber eine schlechterdings exzentrische Position einzunehmen, fällt schwer. Zu tief sitzt der Blickpunkt unserer Kultur in unser aller Gedanken. Einige Beispiele:
  • [135:13] Im Sinne einer anthropologischen Behauptung mit pädagogischen Folgen meinte Wilhelm von Humboldt, der Mensch könne
    sein Denken und Handeln nicht anders, als nur vermöge eines Dritten, nur vermöge des Vorstellens und Bearbeitens von etwas
    bilden und suche deshalb,
    soviel Welt als möglich zu ergreifen, und so eng, als er nur kann, mit sich zu verbinden
    (Humboldt 1960, S. 235)
    . Daraus ergäben sich
    die beiden Hauptregeln
    der Bildung,
    die eine für die Bildung seiner selbst, sich bei seiner eignen moralischen Bearbeitung schlechterdings keine schonende Rücksicht auf scheinbare Hindernisse des Körpers, des Temperaments oder der Gewohnheit u. s. f. zu erlauben, und die andre für die Bildung andrer, die Eigenthümlichkeiten ihrer Individualität aufzusuchen und denselben mit strenger Anhänglichkeit getreu zu bleiben. Die Beherzigung dieser beiden Regeln ist um so nothwendiger, als die feige Schwäche, zufälligen Schwierigkeiten der Umstände und der physischen Natur nachzugeben, und das einseitige Verlangen, alle Naturen Einer Richtschnur zu unterwerfen, nur zu allgemein verbreitet sind
    (a. a. O., S. 482)
    . Das ist eine Programmatik, an deren Blickpunkt die akademische Pädagogik seitdem
    engagiert
    festgehalten und die sie immer detaillierter und empirisch gehaltvoller ausformuliert hat.
  • [135:14] Wenig später (1826) sagte F. E. D. Schleiermacher, der erste Schritt für eine Theorie der Erziehung sei die Frage:
    Was will denn eigentlich die ältere Generation mit der jüngeren? Wie wird die Tätigkeit dem Zweck, das Resultat der Tätigkeit entsprechen?
    (Schleiermacher 1983, S. 9)
    . Das war seitdem das Thema der geisteswissenschaftlichen Pädagogik: die Willensrichtungen der erziehenden Generation auslegen; deren Vernunftgründe ermitteln und argumentationszugänglich machen; Ziele, Tätigkeiten und faktische Resultate zuverlässig beschreiben; und dies alles in der geschichtspraktischen Perspektive einer evolutionären Vor|a 20|stellung, der es um das
    Erhalten und Verbessern des gegenwärtigen Zustandes
    der Gesellschaft geht.
  • [135:15] Am Ende des Ersten Weltkrieges schrieb Franz Kafka jenen berühmten
    Brief an den Vater
    , dessen quälende Beschreibung erlittener Erziehung so beginnt:
    Liebster Vater, Du hast mich letzthin einmal gefragt, warum ich behaupte, ich hätte Furcht vor Dir. Ich wußte Dir, wie gewöhnlich, nichts zu antworten, zum Teil eben aus der Furcht, die ich vor Dir habe, zum Teil deshalb, weil zur Begründung dieser Furcht zu viele Einzelheiten gehören, als daß ich sie im Reden halbwegs Zusammenhalten könnte. Und wenn ich hier versuche, Dir schriftlich zu antworten, so wird es doch nur sehr unvollständig sein, weil auch im Schreiben die Furcht und ihre Folgen mich Dir gegenüber behindern und weil die Größe des Stoffs über mein Gedächtnis und meinen Verstand weit hinausgeht.
    Wovon dort die Rede ist, das sperrt sich gegen jede Form wissenschaftlicher Beschreibung. Dennoch aber ist der Brief eines von jenen Dokumenten – die Ziele und
    Zwecke
    des Vaters bleiben Franz verborgen, die
    Mittel
    bleiben blind und unverständlich, das
    Resultat
    ist eine um die Schuldfrage kreisende, zu keinem Ende kommende Selbstreflexion die an die mit Humboldt, Schleiermacher und anderen begonnene Tradition pädagogischen Denkens noch gebunden bleiben, ein Dokument, auf das wir angewiesen sind, wenn wir den Sinn von Pädagogik in der Moderne auslegen wollen.
  • [135:16] 1973 erschien ein Buch von M. Mannoni mit dem Titel
    Education impossible
    , dessen deutsche Version (1976) mit
    Scheißerziehung
    übersetzt wurde; mit diesem deutschen Titel wurde einer damals verbreiteten Stimmung Ausdruck verliehen, deren Selbstetikett dann
    Anti-Pädagogik
    hieß und die die in unserer Kultur gebräuchlichen Formen und Institutionen der Erziehung in Grund und Boden verdammen wollte. Das Buch ist indessen besser als der (deutsche) Titel: Es wird beschrieben, wie man mit psychotisch erkrankten Jugendlichen umgehen kann, wenn man die Grenzen der familialen und der institutionellen Versorgung überschreitet; es wird Erziehung beschrieben als vernünftiger Umgang mit Kindern und Jugendlichen, freilich in kritischer Absicht, aber im Namen einer Idee von
    Verbesserung
    (Schleiermacher), die historisch möglich scheint. Dem folgt selbst noch die Vorstellung einer
    Negativen Pädagogik
    (Gruschka 1988), die sich die Analyse
    bürgerlicher Kälte
    zur Aufgabe setzt (Gruschka 1994).
[135:17]
Reflexion engagée
? Sartre hatte mal kurz, mal weit gegriffen, als er schrieb, Fluchtpunkt des Engagements sei
der Sozialismus, die Demokratie, der Frieden
. Die relative kulturelle Kleinteiligkeit der Pädagogik, im Vergleich mit Gesellschaftsstruktur, Ökonomie und Politik, erfordert be|a 21|scheidenere, vor allem weniger globale Fluchtpunkte. Von diesen soll nun die Rede sein.

3. Individualisierungen

[135:18] Vor gut einem Jahrzehnt haben die Soziologen entdeckt, daß
Individualisierung
zu den wesentlichen Strukturkomponenten der Moderne gehört. Es fiel ihnen auf, weil etwas, das zunächst wie eine Caprice der Berliner bürgerlichen Salons um 1800 erschien und deshalb freilich der späteren soziologischen Kritik heftig ausgesetzt war, nun die Niederungen alltäglicher Lebensführung erreicht: gut beobachtbare Zunahme individueller Entscheidungssituationen im Lebenslauf; starkes Anwachsen der Wahlmöglichkeiten zwischen immer mehr Alternativen, vom Bildungsgang über die Familiengründung bis zum Konsumverhalten; Lebensstil- oder
Erlebnis
-Suche; individuelle Entwürfe für die je eigene Präferenz kultureller Form.
[135:19] Die Tatsache, daß den Soziologen das auffiel, ist wie ein
cultural lag
dieser Wissenschaft, denn eigentlich war die Problemkonstellation bereits in der Bildungstheorie der deutschen Klassik angelegt. Etwas vereinfacht und freilich auch etwas ironisch kann man sagen: Das
bürgerlich-idealistische
Konzept der Individualität hat sich historisch so entwickelt, wie es gemeint war: als integraler Bestandteil der von Humboldt und dem preußischen Schulgesetzentwurf, samt Berliner Universitätsgründung zu Beginn des 19. Jahrhunderts, konzipierten
Allgemeinbildung
– sie sollte die Bildung von Individualitäten auf der Grundlage von
allgemein
notwendigem Wissen und moralischen Orientierungen, und zwar für alle, sichern – hat dieses Konzept eine der Tendenz nach erstaunliche soziale Kraft entfaltet. Längst ist es nicht mehr (wie ursprünglich gedacht) nur auf die akademischen Staatsbeamten beschränkt, sondern hat sich in die ständig sich vergrößernden sozialen Mittelschichten und über deren Grenzen hinaus verbreitet.
[135:20] Freilich hat die Individualitäts-Idee, als sie, in die Praxen der modernen Massengesellschaft sich einfädelnd, zur sozialen Individualisierung wurde, einiges von ihrem edlen Flair verloren. Zwischen 15 Pizza-Sorten unterscheiden und wählen zu können oder gar zu müssen (vgl. Beck 1993) ist etwas anderes als das, was Humboldt im Sinn hatte. Die komplexe Idee von der Individualität hat, im Durchgang durch das Nadelöhr massendemokratischer Verbreitung, einige Federn lassen müssen. Aber selbst in der Form von
Individualisierung
ist sie noch provokant genug, besonders für pädagogisches Nachdenken. Sie bezeichnet nämlich nach wie vor ein Problem und nicht etwa nur einen empirisch zu konstatierenden Sachverhalt.
[135:21] Das Problem, mit dem sich Familien- und Jugendhilfeinstitutionen, Schulen und Berufsausbildungseinrichtungen auseinander setzen müssen, ist nämlich (u. a.) dieses: Wie kann die je unterstellte und in Bildung begriff|a 22|fene Individualität der jungen Leute sich im Gemeinschaftlich-Allgemeinen Geltung verschaffen, und zwar wirkungsvoll? Oder umgekehrt: Wie kann das Allgemeine, jene
Richtschnur
(Humboldt), so in Geltung gesetzt werden, daß die individuellen Konturen nicht verblassen? Diese abstrakt-allgemeine Frage wird zur konkreten und historisch besonderen, wenn man sich fragt, ob die Erwartung, die darin liegt, daß die nachwachsende Generation nun diese Balance zwischen Individualisierungen und Verallgemeinerungen herstellen soll, nicht zu einer anspruchsvollen Zumutung wird. An zwei aktuellen Schwierigkeiten läßt sich das veranschaulichen: an der sogenannten
Politik-Verdrossenheit
und an den
gewaltbereiten
Jugendlichen, zumeist in rechtsradikalen Szenerien. Beide Symptome mögen eher in die Fächer von Rechtswissenschaft, Soziologie oder Sozialpsychologie einsortiert werden. Hier sollen sie unter pädagogischem bzw. bildungstheoretischem Gesichtspunkt zur Sprache kommen.
[135:22] Von Beginn an war das Konzept
Individualität
dicht mit republikanischen und demokratischen Erwartungen verknüpft. Es bedarf allerdings eines genauen Quellenstudiums, um das plausibel zu machen. Demokratie als eine der dominanten Komponenten unserer Kultur setzt das urteils- und entscheidungsfähige Individuum voraus. Nur unter solcher Bedingung ist eine Erwartung wie etwa
politische Partizipation
sinnvoll. Die Pädagogik hat mit dieser Vorstellung, mit diesem Konstrukt operiert, ohne sich die mühevollen Wege der Geschichte klargemacht zu haben, die zu dessen Realisierung führen. Die Bildung des
citoyen
, des demokratisch argumentations- und handlungsfähigen Bürgers, der die Ausformung seiner Individualität mit dem Allgemeinen zu balancieren vermag, ist, wie wir heute besser wissen als seinerzeit Rousseau, Condorcet, Humboldt und Schleiermacher, ein schwieriges empirisches Großexperiment der Geschichte, das immer noch nicht voll gelungen ist – das gelegentliche Versagen, die barbarischen Rückfälle, die Ermüdungen waren zu zahlreich, um über die schwierigen Zumutungen hinwegsehen zu können, die in dem Kulturprojekt
Individualisierung plus Demokratie
verborgen sind.
[135:23] Ganz falsch wäre es, in dieser Lage den Praktikern des pädagogischen Feldes die ganze Schuld zuzuweisen. Vielmehr ist es ein Problem der Gesamtkultur: Schreib- und Lesefähigkeit sind zwar, wie es scheint, unabdingbare Voraussetzung demokratischer Beteiligung in modernen Massengesellschaften, und zwar nicht nur wegen der damit ermöglichten Menge an Informationen und Entscheidungsalternativen (das könnte auch in einer narrativ-oralen oder durch Bildwelten geordneten Kultur möglich sein), sondern vor allem wegen der spezifischen Bildungsfunktion von Schriftlichkeit, mit deren Hilfe zwischen Erfahrung und Urteil, sinnlicher Information und intelligibel balancierter Handlung eine Art Denkpause eingeschoben werden kann (vgl. Sting 1995). Für diese elementare Bildungsbewegung kann die |a 23|Praxis in Familien und Schulen zwar einiges leisten. Ohne stabile und produktive kulturelle Milieus, die diesen Vorgang stützen, seinen Sinn bekräftigen und jenes Gleichgewicht zwischen individuellen Entwürfen und demokratisch-allgemeinen Imperativen ermöglichen, bliebe die Tätigkeit von Lehrerinnen und Lehrern, Müttern und Vätern eine Sisyphos-Arbeit.
[135:24] Die
Politik-Verdrossenheit
ist ein Symptom dafür, daß das Vorhaben, einerseits
Individualitäten
zur eigenen Profilierung zu verhelfen, andererseits diese in ein System gemeinschaftlich-gesellschaftlicher Verantwortlichkeit einzufädeln, eine immer noch schwierige Zukunftsvorstellung ist. Es ist sozialpsychologisch eine ähnliche Konstellation wie bei der Frage, ob wir uns in bezug auf das bürgerliche Ehe- und Familienkonzept Alternativen als real-möglich vorstellen können. Derartiges greift tief in die Grundschichten von historisch entstandenen Mentalitäten ein. Hier können wir aus der Geschichte lernen: Innerhalb nur eines Jahrhunderts die Mentalität der Gesellschaftsmitglieder umzustellen, das wäre eine Erwartung oder ein Vorgang, für den es historisch kein Beispiel gibt. Für die Pädagogik wäre indessen wichtig, ob sie an dem Projekt der Verknüpfung von Individualität und Demokratie festhalten will. Will sie das, dann müßte sie kollektivierenden (
Solidaritäts
-)Zumutungen ebenso skeptisch gegenüberstehen wie den
individualisierenden
Fluchttendenzen. Sie hätte genau diese Problemlage zu analysieren.
[135:25] Damit ist schon die zweite Hinsicht auf die Frage angedeutet, in welche Probleme die konstatierte
Individualisierung
in der Gegenwartskultur hineinführen kann:
gewaltbereite
Jugendliche in politisch
rechts
lokalisierten Szenerien.
Individualität
ist eine Bildungszumutung, die nicht nur das Verhältnis zum gesellschaftlich Allgemeinen zum Problem macht, sondern sozialpsychologisch tiefere Schichten der Person betrifft. Individualisierung setzt Gemeinschaftlichkeit aufs Spiel. Das ist ein elementarer Sachverhalt, dem – heutzutage und in unserer Kultur – Jugendliche im Alter zwischen 15 und 18 Jahren konfrontiert sind, wenn sie beginnen, sich von der Herkunftsfamilie zu emanzipieren. Wenn dieser Vorgang gelingen soll, müssen Herkunfts-
Solidaritäten
gekündigt werden. Aber was folgt danach?
[135:26] Hier kann man nun argwöhnen, daß die Theorien, von denen es natürlich zuhauf gibt, in leichtem rhetorischem Flug über die schwierigen Phänomene hinweggleiten. Aber sie können doch aufmerksam machen auf eine praktische Konstellation, die unsere pädagogische Kultur nicht befriedigend bewältigt: Wie kann der Übergang vonstatten gehen (
rites de passages
), ohne daß mit dem Wechsel der Solidaritätsgruppe (die Familie, die peer-group, die Gang, die Arbeitskumpel usw.) die Individualität geopfert wird? Daß dies eine höchst schwierige Aufgabe, nicht nur für die Jugendlichen, sondern auch für deren Eltern und Erzieher ist, davon können Eltern, die |a 24|ein
liberales
Erziehungsklima bevorzugen, die vielleicht seinerzeit in antiautoritären Kinderläden engagiert waren, die zumeist den akademischen Mittelschichten angehören, berichten. Ihnen gegenüber aber stehen jene Familien, die, nach ökonomischem Status und intellektueller Differenzierung des pädagogischen Milieus, eher traditional konstituiert sind und deren Kinder (deshalb?) eher nach neuen Gruppenzugehörigkeiten greifen, als ein
Individualisierungs
-Projekt voranzubringen, das seinerseits ebenso eigentümliche Pathologien erzeugt wie etwa die individualistische Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der anderen.
[135:27] Quantitativ unbedeutend, aber in ihrem Symptomwert für diese Frage ziemlich wichtig sind zwei extreme Erscheinungen der Jugendkultur:
Autonome
und
Skinheads
. Obwohl in sprachlicher und in körperlicher Rhetorik, zumal in den politisch relevanten Optionen, sehr verschieden, weisen sie, wie mir scheint, auf ein ungelöstes Problem im Verhältnis der Generationen und dessen pädagogischer Bewältigung hin. In beiden Fällen, so scheint es, wird die Individualisierungs-Zumutung nicht oder kaum ertragen; sie wird kompensiert durch eine dem unmittelbaren Erleben noch zugängliche
Solidarität
, die den Schoß der Familie, nun freilich von ihr distanziert, erneuert oder, wie im Falle vieler
Skinheads
, allererst sucht. In solcher Situation sind Feindbilder wichtig. Daß es Feindbilder gibt (z. B. den
Faschismus
), die eher gerechtfertigt sind als andere (z. B. die Ausländer, die Leistungsschwachen), ist zwar wichtig, aber keine Antwort auf das hier zugrunde liegende ungelöste Problem einer Erziehung zur
Mündigkeit
, die von dem Individualitäts-Konzept nicht zu trennen ist. Als Folge dieses Konzepts und im Kontext der sozialwissenschaftlich konstatierten Individualisierung von Lebenslagen und Lebensverläufen kann nun auch Vereinzelung drohen. Daß in einer solchen Situation viele auf die Gewißheiten, die sozialpsychologischen Stützen vormoderner Kollektive zurückgreifen, die politische und vorpolitische Selbstkonturierung nicht im argumentierenden Diskurs, sondern in der Aktion suchen, ist eigentlich nicht sehr überraschend.
[135:28] Auch in dieser Hinsicht wäre es ein Zeugnis sozialwissenschaftlicher Unaufgeklärtheit, den Familien und Schulen die Lösung des Problems zuzumuten. Das bedeutet für die Pädagogik, daß ihr Blick kulturtheoretisch erweitert werden muß (was bereits im Gange ist). Nicht nur die pädagogischen Institutionen, sondern alle gesellschaftlichen Praxen (Benner 1987) erheischen, in modernen Sozietäten, Antworten auf jene Frage Schleiermachers:
Was will denn eigentlich die ältere Generation mit der jüngeren?
Gleichsam flankiert, gelegentlich gar eingeklemmt zwischen vormodernen Kollektivierungen und postmoderner Vereinzelung, hat hier die Pädagogik ein Thema, das vermutlich noch lange aktuell bleiben wird.
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4. Werte

[135:29] Derartigen Problemlagen gegenüber tritt die Frage nach den
Werten
vergleichsweise, nicht nur in wissenschaftlicher Perspektive, eher zurück. Zwar ist davon derzeit viel die Rede, und gelegentlich wird der Eindruck erweckt, es handele sich hier um eine der wichtigsten Grundfragen der Pädagogik. Dieser Eindruck ist falsch, wenn er die Meinung enthält, die Pädagogik müsse nun, im historisch schwierig gewordenen Kontext des
Wertewandels
, zu einer materialen Wertethik zurückfinden, um ihre praktischen Optionen auf sie zu gründen. Der Eindruck ist indessen richtig, wenn damit hervorgehoben werden soll, daß – unter den Bedingungen der Moderne und deren 200jähriger Ethik-Diskussion – nun die Frage in den Vordergrund rückt, wie überhaupt Wertorientierungen des Individuums sich bilden. Es ist eine Platitüde, daß wertfreie Gesellschaften nicht bekannt sind. Ebenso platt – aber deshalb nicht unrichtig – ist die Behauptung, die Orientierung an Werten, die allgemein in Geltung sein sollen, könne nicht in jeder Generation wieder neu zur Disposition stehen, Werte müßten also gleichsam
ab ovo
immer schon unterstellt werden, und zwar deshalb, weil niemand aufwächst, ohne sich schon in einer wertorientierten Gemeinschaft vorzufinden. Derartiges ist trivial.
[135:30] Weniger trivial ist hingegen die Frage, wie in einer modernen Kultur mit der jungen Generation umgegangen wird oder auch umgegangen werden solle, wenn – letzten Endes – die Rechtfertigungen für leitende Werte nicht mehr durch die Anrufung von Autoritäten oder Traditionen gefunden werden kann. Die jüngste vom Vatikan verbreitete Enzyklika ist ein solcher Fall von Anrufung und autoritärer Antwort, die freilich durch Geschichte und Struktur des katholischen Klerus verständlich werden kann (man fühlt sich erinnert an den Patriarchen in Lessings
Nathan der Weise
). Zur Formulierung von Problemen, mit denen die Pädagogik der Moderne konfrontiert ist, tragen solche Texte nichts bei – wie immer ehrenwert sie gemeint sein mögen. Die Humanität unserer Lebensform kann nur noch durch säkulare Argumentationen einen zukunftsfähigen Halt finden. Aber was heißt das im Hinblick auf die Frage, wie pädagogisches Nachdenken in einer solchen kulturellen Lage beschaffen sein kann, zumal die Lernwege des Kindes zu solcher, das eigene Gewissen subtil in Anspruch nehmenden Urteilskompetenz naturgemäß ziemlich lang sind? Die durch die Länge des Weges wahrscheinlichen Risiken beunruhigen
Liberale
und
Kommunitaristen
zwar überraschend wenig im Hinblick auf Pädagogik, aber doch in deren politikwissenschaftlichem und ethischem Vorfeld (Honneth 1993, Brumlik/Brunkhorst 1993). Gibt es, so raffe ich die sehr differenzierten Auseinandersetzungen in pädagogischer Absicht grob zusammen, Werte, die in den säkularen Argumentationen zwar beständig Gegenstand des Diskurses sind, |a 26|aber dennoch nicht aufs Spiel gesetzt werden dürfen, jedenfalls so lange nicht, als das Kind/die Jugendlichen noch nicht den Erwachsenenstatus erreicht haben und solange, in historischer Perspektive, an der europäischen Vorstellung von Demokratie festgehalten werden soll? Ich sehe vor allem drei solcher Werte, die für den Umgang der Generationen derzeit von elementarer pädagogischer Bedeutung sind.
[135:31] Erst neuerdings – durchaus nach-kantisch und durch die katastrophalen Folgen einer rigoros anthropozentrischen Mentalität im Umgang mit der Natur uns allmählich deutlich werdend – wird die Frage diskutiert, ob es eine
advokatorische Ethik
geben müsse, die nicht nur die für unmündige Kinder stellvertretende Wertorientierungs-Vorgabe durch die Erwachsenen begründet, sondern die auch auf den Umgang mit dem Lebendigen überhaupt ausgedehnt wird (Brumlik 1992). Wenn nämlich vom Schutze des Lebens, auch im Zusammenhang der Abtreibungsdebatte, die Rede ist, dann darf (oder muß?) man sich fragen, warum dem menschlichen Fötus ein höherer Wert zugesprochen wird als dem Affen, dem Kalb, der Katze oder dem Huhn. Die christlich-idealistische Rechtfertigungsfigur, bis in die Anthropologien des 20. Jahrhunderts hinein, lebt von der Unterstellung, daß nur der Mensch keinem anderen Zweck zu unterstellen sei als dem seiner selbst. An dieser Art von Wertorientierung hatte schon Franz von Assisi Zweifel, wenn man den Quellen glauben darf. Heute werden sie uns nicht nur als moralische Zweifel, sondern als (empirische) anthropologische und historische Wahrscheinlichkeiten und Denkzumutungen präsentiert und dem Diskurs zur Erörterung aufgegeben. Da die Erziehung des Menschen kein Naturprozeß, sondern ein
Handlungsfeld
(Brumlik 1992, S. 103)
ist, ist es wichtig, daß wir uns, mit Hilfe der Pädagogik, darüber aufklären, wie in dieser Hinsicht die Praxis heute noch beschaffen ist und welche Gründe geltend gemacht werden können für diese oder jene Option. Die Optionen und auch die damit verbundenen tatsächlichen Erziehungshandlungen bleiben mit ziemlicher Sicherheit nicht unberührt von der Frage, ob wir uns (anthropozentrisch) als die
Krone der Schöpfung
selbst definieren oder als systemisches Moment derselben. Was uns von anderem
Lebendigen
unterscheidet, ist (soweit wir wissen), daß wir dies denkend abwägen und also Hypothesen darüber formulieren können, ob eine Vermehrung unserer Spezies dem übrigen Lebendigen keinen Schaden antut.
[135:32] Weniger auf Probleme der Gattung bezogen und historisch vielleicht relativ kurzfristig ist die Frage, welchen Rang
Individualität
in der Erziehung und Bildung einnehmen solle. Davon war schon die Rede mit Bezug auf jene sozialstrukturelle Gegebenheit, die
Individualisierung
genannt wird. Auch hier scheint die aktuelle Lage wenig Spielraum für beliebige Alternativen zu lassen. Immer noch nicht wissen wir hinreichend genau, auf welchen Wegen die Person sich zuverlässig zur Individualität bildet und |a 27|diese zwanglos und ohne Schaden für sich und die Gemeinschaft zur Geltung bringen kann. Die verbreiteten allgemeinen und praktizistischen Appelle, selbst noch in Handbüchern, der Individualität der Person besser zum Zuge zu verhelfen, täuschen zumeist über den Mangel an zuverlässigem Wissen hinweg. Ein Symptom dafür ist das nur schwach bestimmt bleibende Vokabular, mit durchaus unterschiedlicher Herkunft:
persönliche Betroffenheit
,
Kreativität
,
Selbstverwirklichung
,
coming-out
,
Individualisierung der Lernorganisation
,
mein Bauch gehört mir
usw. – schließlich auch der auslegungsbedürftige Ausdruck
das Wohl des Kindes
. Wenn tatsächlich die Vorstellung, jedem solle zur Bildung seiner Individualität verholten werden, zu den elementaren pädagogischen Wertorientierungen unserer Kultur gerechnet werden kann, dann nimmt es wunder, wie mager die empirischen Kenntnisse über die Wege sind, die dahin führen, wie wenig wir noch darüber wissen, in welchen kulturellen Milieus dies zuverlässig gelingen kann. Wir verfügen lediglich über einige sozialwissenschaftliche Hypothesen, die die Bedingungen und Folgen betreffen, z. B.: Den sozialen Mittelschichten fällt es leichter, diesen Wert zur Geltung zu bringen, als anderen; ein
liberaler
Erziehungsstil begünstigt eher solche Orientierungen, ist aber nicht notwendige Voraussetzung; stark ausgeprägte Individualitäten haben weniger Schwierigkeiten mit den
Individualisierungs
-Zumutungen der Sozialstruktur; wem schon als Kind die Bildung der eigenen Individualität als Wert erfahrbar wird, der ist innerhalb unseres Schulsystems erfolgreicher als andere usw. Derartige Hypothesen sind Wahrscheinlichkeitsbehauptungen, die außerdem nur die Ränder des Problems betreffen. Wozu also Pädagogik? Um uns besser aufzuklären über die Schwierigkeiten, die dieser Wert der modernen Erziehung und Bildung aufbürdet!
[135:33] Schaut man gleichsam zur anderen Seite hin, auf das der Individualität nebenzuordnende Wert-Konstrukt der Solidarität, dann verdeutlicht sich jene Bürde. Wenn wir uns weiterhin innerhalb der von der bürgerlichen Demokratie historisch vorgegebenen Kontingenz aufhalten wollen, dann kann das – im Sinne einer geschichtsprognostischen Hypothese – nur dann gelingen, wenn dem Respekt (Goethe sagte in der
Pädagogischen Provinz
Ehrfurcht
) vor dem Lebendigen und der Orientierung an Individualität die Solidarität (Fraternité, Brüderlichkeit) hinzugesellt wird. Die Pädagogik der deutschen Klassik nannte das, im Unterschied zur individuellen, die
universelle
Richtung der Erziehung
(Schleiermacher 1983, S. 34 ff.)
. Diese
Brüderlichkeit
– die Schwestern mögen den Gebrauch dieser Vokabel, den historischen Umständen geschuldet, hier nachsehen – wurde gedacht als eine sich allmählich, über Stände, Regionen, Kleinstaaten, Nationen bis hin zu einer weltbürgerlichen Gemeinschaftlichkeit der Kulturen und Geschlechter sich evolutionär und gewaltlos ausdehnende Akzeptanz der Orientierung an Solidarität (vgl. dazu Rorty 1989). Wir wissen heute, |a 28|daß der empirische Weg dorthin beschwerlicher ist als damals erhofft. Erstaunlich ist indessen doch, daß vor knapp 200 Jahren dies als ein Grundproblem der Pädagogik und nicht etwa nur der Politik gesehen wurde. Was unsere Vordenker damals nur phantasieren konnten, ist uns heute empfindlich-empirische Gewißheit von den großen Schwierigkeiten, denen damit die Erziehungswirklichkeit konfrontiert ist. Daß unsere
Nation
– oder wie immer man dieses merkwürdige Konstrukt aus Sprache, Herkunft und Region in den verschiedenen Rhetoriken bezeichnen mag – mit der Solidaritäts-Zumutung in jenem klassischen Sinne befriedigend umzugehen vermag, läßt sich kaum behaupten, weder politisch noch pädagogisch. Da erbauliche Appelle, auch in diesem Fall, nicht Sache der Wissenschaft sein können, muß man sich fragen, was die Pädagogik, als akademische Disziplin, dazu beizutragen hätte. Solidarität – wenn man sich nicht mit
Adressen
und
Resolutionen
begnügen will, mit Predigten also – bedeutet: das mir (wenngleich vielleicht verborgen) Ähnliche im Anderen und Fremden zu entdecken. Dies in eine zukunftsfähige Pädagogik zu übertragen ist – neben der Orientierung an dem Wert des
Lebendigen
– das vielleicht anspruchsvollste Programm einer Pädagogik der Gegenwart. Welche Probleme Kinder und Jugendliche zu bewältigen haben, die mit zwei Kulturen aufwachsen müssen, ihrer Herkunft und ihrer Zukunft, wie ein solcher Konflikt im Vorgang der eigenen Bildung zu bewältigen ist, wie man – auf der anderen (anscheinend sicheren) Seite – auf derartige Probleme human reagieren kann, wie also kleinteilige (nationale oder regionale oder statusspezifische oder sonstwie eingegrenzte) Solidaritäten sich verträglich erweitern können (vgl. Rorty 1989, S. 305 ff.), schon in der jüngeren Generation, darüber wissen wir ziemlich wenig. Wir klagen nur. Aber wir klagen im Namen des Wertes
Solidarität
, eines Wertes, der mindestens im Auge hat, daß niemand soll ungebührlich Schmerz oder Leid empfinden müssen. Wozu Pädagogik? Dazu, die immensen Schwierigkeiten zu beschreiben und aufzuklären, die mit der Solidaritätserwartung verbunden sind, will man sie in den Alltag der Erziehungswirklichkeit übertragen, ohne sich mit allgemeinen Appellen oder Anekdoten in den Medien zu begnügen.
[135:34] Wenn es in Pathologien hineinführt, in Fehler, Versäumnisse, schlimme Falschheiten, angesichts der postulierten Werte, dann sind wir, nicht nur die Pädagogen, sondern auch Soziologie, Psychoanalyse, Sozialpsychologie, Psychiatrie, vielleicht nicht gut genug, aber doch empirisch zuverlässig. Diagnosen, auch
kritische
, sind inzwischen wissenschaftliche Routinehandlungen, die man schon im Studium lernt. Wie aber – und das wäre der Schritt von der Diagnose zu begründeten konstruktiven Entwürfen – solche kritischen Beschreibungen und Erklärungen in Handlungen überführt werden können, denen ein Wissen zugrunde gelegt werden kann, das nicht nur in der Negation des Diagnostizierten besteht, sondern ebenso spezifisch empirisch |a 29|differenziert ist wie die kritische Diagnose, diese Aufgabe fällt uns noch ziemlich schwer.
[135:35] Aber vielleicht ist ja die Frage nach den Werten und ihrer realen Einlösung völlig überflüssig. Derartiges entscheidet sich andernorts, jedenfalls nicht in pädagogischen Feldern – könnte man meinen. Mir erscheint das wie eine Ausrede: Entscheidet nicht beständig die erwachsene Generation im Umgang mit der nachwachsenden – seien es nun Föten, Säuglinge, Grundschulkinder, Jugendliche –, ob Leben, Individualität und Solidarität relevante Werte sind, und zwar weniger vielleicht in ihren Proklamationen als vielmehr in ihren Erziehungshandlungen? Sollte man darüber nicht Genaueres wissen wollen?

5. Perspektive und Planimetrie

[135:36] Die Frage nach den Werten – sie konnte hier nur andeutend skizziert werden – hat etwas zu tun mit der Perspektive, in der wir überhaupt auf den Vorgang blicken, den wir Erziehung und Bildung nennen. Es scheint gelegentlich, als sei unser pädagogischer Blick noch der Manier der Malerei der Frührenaissance verbunden. Wir konstruieren den Bildungsgang eines jungen Menschen, jedenfalls in unseren Alltagserwartungen, wie ein perspektivisch gemaltes Bild: Der Bildungsweg der nachwachsenden Generation wird organisiert nach Maßgabe einer Ordnung von Dingen und Wegen, von Vorder- und Hintergründigem, Haupt- und Nebensachen, die alle auf einen Fluchtpunkt hin komponiert sind. Dieser Gestus der perspektivischen Malerei repräsentierte einen kulturellen Habitus, der für Pädagogen verführerisch war: Wie im ästhetischen Schein einer nach Blick- und Fluchtpunkt geordneten Welt machte man sich daran – spätestens seit Comenius im 17. Jahrhundert –, auch die Erziehungs- und Bildungswege derart zu entwerfen und zu organisieren. Der Fluchtpunkt wurde, bis in die Mitte unseres Jahrhunderts hinein, immer eindeutiger, zum Abitur hin, freilich (so der Titel eines Bildes von Paul Klee) mit Haupt- und Nebenwegen, und obwohl schon Humboldt, in jener frühromantischen Anwandlung, das
Verlangen, alle Naturen Einer Richtschnur zu unterwerfen
, skeptisch beurteilte (dennoch mochte er dann Schinkel mehr als Friedrich).
[135:37] In jener Zeit meldeten sich erste Zweifel an jenem perspektivischen Projekt. Maler hatten ihn früher schon (im 17. Jahrhundert) ins Bild gebracht; die planimetrische und panoramische Bildkomposition wurde ihnen wichtiger als die perspektivische, aber das war vielleicht nur eine dem umherschweifenden Malerblick geschuldete Eigentümlichkeit (Alpers 1985). Inzwischen aber entstand auch in der Pädagogik oder, hier besser gesagt, in den vorbereitenden bildungstheoretischen Reflexionen seit dem Ende des 17. Jahrhunderts – etwa zum Identitätsbegriff (Locke 1981) oder den Rollen-|a 30|Diffusionen von
Rameaus Neffe
(Diderot 1984) – eine eher skeptische Einstellung. Für die Pädagogik im engeren Sinne aber schien das zunächst irrelevant zu sein. Daß der Bildungsweg eines Menschen und die diesem beigeordneten Erziehungshandlungen nach der Art eines perspektivisch gemalten Bildes mit klar bestimmbarem Fluchtpunkt geordnet sein müsse, blieb unstrittig. Individualität und Sozialität wurden so gedacht, daß sie, letzten Endes,
harmonisch
zusammenstimmen und alles andere auf dieses Ende hin geordnet werden könne, auch wenn das Ende in utopischer Ferne vermutet werden mochte.
[135:38] Diese Vorstellung, dieser pädagogische Denk-Habitus (er hatte sein soziales Korrelat in den Selektionsfunktionen der pädagogischen Einrichtungen) wurde im 20. Jahrhundert noch einmal bekräftigt durch die inflationär gewordene Vokabel
Identität
, die – und schon Locke hatte sich darüber gewundert – in bezug auf das Individuum fast nur im Singular Verwendung fand. Hatte die Malerei schon im 19. Jahrhundert die Zentralperspektive als den gleichsam korrekten Blick auf die Welt verabschiedet, so dämmert es der Pädagogik erst in der Gegenwart, daß
Identität
– wenn man diese Vokabel überhaupt weiter verwenden will – auch in der grammatischen Form des Plurals gedacht werden kann, und daß die Wendung, jemand
habe eine Identität
, den tatsächlichen Verhältnissen nicht gerecht wird. Wer mit solchen zentralperspektivischen Ausdrücken operiert und sie auch noch an die Stelle der älteren Rede von
Bildung
setzt, der wird die biographisch-bildungstheoretischen Probleme, die sich mit der wohlfeilen Vokabel
kulturelle Integration
verbinden, eher verfehlen, jedenfalls aber kaum angemessen beschreiben können.
Integration
ist ein höchst mißverständliches Wort, wenn es nach Art eines perspektivischen und eindeutigen Fluchtpunktes gedacht wird. Das muslimische 15jährige Mädchen aus der Türkei, das, sagen wir, seit drei Jahren in Deutschland lebt und hier auch bleiben möchte, steht vor einem Problem seiner eigenen Bildung, für das uns noch das angemessene Vokabular fehlt. Es sind – um gerade eben noch in der veralteten Redeweise zu bleiben – mindestens drei
Identitäten
, drei verschiedene Fluchtpunkte, die in ihren Selbstentwürfen Vorkommen müßten, und zwar nicht-hierarchisch: der türkisch-muslimischen Kultur zugehörend, Frau und Bürgerin der Bundesrepublik Deutschland. Sie würde sich, vermutlich, seelisch-geistige Gewalt antun müssen, wollte sie von diesen dreien eins dem anderen aufopfern. Was also in diesem Fall das Wort
Integration
bedeuten könnte, ist ziemlich schwierig zu bestimmen.
[135:39]
Integration
ist also eine Vokabel, die in den Zusammenhängen staatlich-perspektivischen Handelns noch einige Plausibilität haben mag. Zur empirisch zuverlässigen Beschreibung von Bildungsproblemen der Gegenwart ist sie zu grobschlächtig. Das türkische Mädchen ist indessen nur ein besonders pointierter Fall. Im Prinzip nämlich sind die Konstellationen diffun|a 31|dierter Fluchtpunkte – das hat die soziologische Rollentheorie schon früh gesehen (Dahrendorf 1964) – ein generelles Problem moderner Biographie.
Wir alle spielen Theater
(Goffman 1969), wechseln zwischen Identitätsentwürfen und Fluchtpunkten; das wird uns schon durch die strukturellen
Individualisierungs
-Vorgaben abverlangt. Aber: Wie verläuft ein Bildungsprozeß, dessen Subjekt, strukturell zu jener Pluralisierungs-Mentalität, zur Aufgabe eines gleichsam zentralperspektivischen Lebensweges genötigt, die Heterogenität der verschiedenen Blicke zwanglos ertragen und bewältigen kann, ohne sich doch wieder in den alten Habitus hineinzuflüchten, weil nur dieser, angeblich, sozialpsychische Sicherheit verbürgt? Diese Flucht in die Eindeutigkeit hat derzeit viele Namen: Bekräftigung grundlegender
Werte
, um die Irritationen neutralisieren zu können; Feindbilder, die den eigenen Blickpunkt rechtfertigen sollen; Kollektive, die durch die Gruppennorm Entlastung von der Pluralitätszumutung versprechen;
selbstverwirklichungs
- oder
erlebnis
-orientierte Mentalitäten, die den perspektivischen Fluchtpunkt-Gestus wenigstens im privaten Bereich aufrechtzuerhalten suchen; quasi-religiöse Ersatzhandlungen; politisch
rechte
Einstellungen und Aktionen, die immer wieder noch hinter die Moderne zurückzugreifen versuchen; oder auch nur fast triviale Schwierigkeiten, vor allem im Felde der Jugendhilfe, wenn es darum geht, den Jugendlichen, mit großenteils ziemlich problemhaltigen Biographien, einen Spielraum zwischen familistischen Orientierungen und Berufseinmündungs-Fragen zu verschaffen (in beiden Orientierungsdaten steckt die Verführung zu zentralperspektivischen Lösungen).
[135:40] Wie die (unabgeschlossene) Aufzählung zeigt und schon gesagt wurde, tun wir uns mit der Beschreibung gleichsam pathologischer Befunde nicht besonders schwer. Der
Kritik
hat sich hier seit langem ein weites Feld eröffnet, und man darf vermuten, daß dieses Genre pädagogisch-wissenschaftlicher Literatur noch für lange Zeit ihre Leser finden wird – weil es sich nämlich um ein Problem handelt, das nicht flugs in einem halben Jahrhundert erledigt werden kann. Die
Kritik
aber hat ihren Grund in der Idee eines Gegenbildes – so wie man die Bilder Turners oder Friedrichs, noch pointierter vielleicht Cezannes dann besser versteht, wenn man weiß, im Namen welcher neuen Vorstellung die perspektivische Malerei aufgegeben wurde. Die Pädagogik verfügt, im Hinblick auf eine solche Vorstellung, über einige orientierende Kategorien, die zumeist der durch G. H. Mead eröffneten Tradition des
symbolischen Interaktionismus
entstammen: Ein moderner Bildungsgang müsse so gedacht werden, daß ein Aushandeln von
Identitäten
möglich sei; das Ergebnis bleibe immer
phantomhaft
; die Fähigkeit, Perspektiven anderer auf das Leben zu übernehmen, also immer auch aus der Perspektive des anderen blicken zu können, besonders auf soziale Verhältnisse, sei grundlegend; das Subjekt habe deshalb immer eine |a 32|Pluralität von Perspektiven in sich zu versammeln; wer die Definition seiner Beziehungen zu anderen immer nur der gleichen Regel folgen läßt, bringe sich und andere in Schwierigkeiten; dies alles sei nicht irgendwann abgeschlossen, sondern bleibe ein Spiel lebenslang, usw. Das ist alles nicht nur richtig, sondern auch Orientierungsdatum für vielfältige Bekräftigungsliteratur, die sich an frustrierte Adressaten der pädagogischen Praxis wendet. Allein: Wie sieht eine
Lebenswelt
aus (ein schon seit längerem in der Pädagogik beliebter Begriff), die, wie die Lage jenes türkischen Mädchens, nicht in nur einer Perspektive zu beschreiben ist, und welches Lernmilieu wäre richtig, um die Bemeisterung der Pluralitäts-Anforderung zu vollbringen? Das Mädchen hätte ja mindestens drei verschiedene
Lebenswelten
(in der sozialphilosophischen Bedeutung dieses Ausdrucks) irgendwie in ein erträgliches Verhältnis zu setzen. Über Derartiges wissen wir, über unser verallgemeinertes Vokabular hinaus, erstaunlich wenig. Und häufig genug täuschen wir uns, beispielsweise durch die neben
Identität
immer wieder auch bemühte Vokabel
Autonomie
, über die Schwierigkeiten hinweg, die in solcher Rede verborgen bleiben (Meyer-Drawe, 1990, hat das mustergültig vorgetragen).

6. Aufgaben

[135:41] Neben solchen für unsere Kulturlage eher fundamentalen Fragen gibt es freilich weitere, die teils vor-, teils nachgeordnet erscheinen mögen. Aus der Bildungs- und Lernforschung, besonders der Kognitions-Entwicklungstheorie, wissen wir, daß die Bildung des Individuums nicht nach Maßgabe eines gleichsam inneren Programms fortschreitet, sondern in Abhängigkeit von Aufgaben oder Herausforderungen. Allerdings müssen die Diskrepanzen, jedenfalls für das Kind,
dosiert
sein, nicht zu groß, nicht zu klein. Mit dem Fortgang der Wissenschaft steht es ähnlich. Sie wird eher vorankommen, wenn sie sich nicht nur mit der Bekräftigung der aktuellen Wissensbestände und -horizonte befaßt – es ist trivial, so etwas zu sagen –, sondern, und sei es nur in bescheidenem Maß, nach den Übergängen zum nächsten Schritt Ausschau hält. Das ist indessen immer – wie bei den Aufgaben, mit denen das Kind sich konfrontiert findet – riskant, kann ins Leere, ins Unbewältigbare, auch ins Irrelevante gehen. Ich riskiere dennoch, abschließend, die Formulierung von vier ziemlich verschiedenen derartigen Aufgaben der Pädagogik.
  • [135:42] Eine einerseits weltweite, andererseits aber auch für unsere Gesellschaft vermutlich noch relativ dauerhaft bleibende Problemstellung ergibt sich aus der Alternative von arm und reich. Es ist bemerkenswert, daß die erziehungswissenschaftlich zuverlässige, detailgenaue und strukturorien|a 33|tierte Beschreibung von Erziehungssituationen unter Armutsbedingungen immer noch dünn ist. Obwohl in Deutschland zwischen 5 und 10% (nach verschiedenen Schätzungen) der nachwachsenden Generation von Armut bedroht sind und obwohl dies vermutlich sich kaum nächstens zum Besseren hin ändern wird, gibt es zur Zeit nur einerseits eindrucksvolle Fallbeschreibungen, andererseits die sozialpolitisch freilich unerläßliche Datenlage (vgl. Deutscher Caritas-Verband 1993). Wie sich Armutsmilieus lernrelevant auswirken, wie sie zu differenzieren sind, was sie zu einer modernen Formation von
    Bildung
    , als skeptische Anfrage, beitragen, darüber ist wenig bekannt. Immerhin entstammt der größte Teil der Jugendhilfe-Klientel diesen Lebenssituationen. Die Instrumentarien zur Abschaffung oder Verminderung von Armutssituationen liegen jedoch in anderen Händen. Pädagogische Forschung kann diesen nur zuarbeiten oder die schlimmen Folgen mindern helfen.
  • [135:43] Die Lehrpläne unserer allgemeinbildenden Schulen folgen immer noch, trotz der Reformbemühungen vor knapp 30 Jahren, dem traditionellen Kanon. Eine Neuordnung steht freilich vor allem in der Verantwortung von Kultusverwaltungen und der sonst zuständigen Entscheidungsorgane. Aufgabe der Pädagogik ist es indessen, solche Entscheidungen und Verantwortungen argumentativ vorzubereiten oder kritisch zu kommentieren. Der dafür nötige Wissensvorrat aber ist nicht ganz leicht zu erbringen. Das ist an zwei Ereignissen der Schulgeschichte gut zu studieren: an der Transformation der Lehrpläne des Mittelalters in ein vulgäres, an den Realia des Lebens orientiertes Curriculum im 17. Jahrhundert – und an der neuerlichen Transformation als Anpassung an die republikanische Moderne zu Beginn des 19. Jahrhunderts. In beiden Fällen waren Philosophen, Essayisten, Theologen, Pädagogen heftig beteiligt. Heute ist das Problem analog, aber die Lage anders. Die Überführung der Lehrpläne in ein modernes Curriculum steht uns bevor, wie damals; drei Jahrzehnte Vorarbeit reichen, wie man sieht, auch unter den Bedingungen beschleunigter gesellschaftlicher Veränderungen nicht aus. Die andere Lage, im Vergleich zu früheren Epochen, ist dadurch gekennzeichnet, daß nun ein spezialisiertes Spektrum von Fachwissenschaften (auch dies ein schon seit 50 Jahren diskutiertes Problem) die Lehrplanansprüche einerseits weiterhin geltend macht, andererseits aber durch die anwachsenden
    interdisziplinären
    Thematiken diese Ansprüche auch wieder relativiert. Wie verhalten sich also die Lehrpläne zu den kulturellen Milieus, in denen die nachwachsende Generation wird leben müssen? Lehrplan-Analyse ist also immer auch zu einem guten Stück Diagnose der Gegenwart.
  • [135:44] Jede Pädagogik operiert mit Normalitätsentwürfen, sei es verborgen, sei es explizit. Wenn nun – wie gegenwärtig zu beobachten – die Ungleich|a 34|verteilung materieller Güter und Lebenschancen nicht mehr durch einen Mythos gerechtfertigt werden kann; wenn die strukturelle
    Individualisierung
    Lebensrisiken birgt, die
    abweichende
    Bildungsverläufe wahrscheinlicher machen; wenn die Pluralisierung von Identitätsentwürfen und kulturellen Zugehörigkeiten dauerhaft einen neuen Typus innergesellschaftlicher Verständigung erforderlich macht; wenn die überlieferten Formen primärer Sozialisation, vor allem die Familie, labil zu werden beginnen und solche Milieus
    Normalität
    nicht mehr fraglos verbürgen – wenn Derartiges eintritt, dann wird die Balance zwischen der Aufrechterhaltung von (notwendigen) Vorstellungen von Normalität in den Verhältnissen und im Verhalten zum Gegenstand einer Dauerreflexion. Sie wird beispielsweise im System der Jugendhilfe praktisch zum Thema gemacht und findet in den
    Jugendberichten
    der Bundesregierung – inzwischen sind es, seit 36 Jahren, neun geworden – eine immer genauer werdende Dokumentierung. Der Pädagogik wächst aus solchen Konstellationen die Aufgabe zu, in sorgfältigen Beschreibungen von Lern- und Bildungsmilieus, von Situationen und biographischen Verläufen, von anthropologisch ermittelbaren Grenzen und Risiken das Normalitäts-Spiel der Kultur im Umgang der Generationen miteinander zuverlässig zu kommentieren und aufzuklären.
  • [135:45] Schließlich dringt von den Rändern her eine Thematik in die Pädagogik ein, die früher (fast) nur als Schulfach von sich reden machte: die ästhetische Bildung. Daß nicht nur Wort und Zahl, sondern auch Bild und Ton elementare Medien der Bildung sind, ist zwar keine Neuigkeit. Die kulturelle Allgegenwart – so scheint es – der Stimulierungen, Formierungen, Stilisierungen, Symbolisierungen von
    Sinnlichkeit
    hat gegenwärtig indessen zur Folge, daß die
    Aisthesis
    -Dimension der Bildung – Schiller hatte es geahnt – zu einem fundamentalen Thema avanciert. Ob es sich dabei nicht doch um einen Nebenweg, gar um einen jener oben angedeuteten Fluchtwege handelt, wird sich zeigen. Vorerst jedenfalls können wir ziemlich sicher sein, daß damit nicht nur eine wesentliche Komponente unserer Kultur, sondern auch elementare Ereignisse im Bildungsweg der jungen Generation zur Sprache kommen, von den ganz frühen Verhältnissen des Säuglings bis zur Auseinandersetzung mit Kunst, den Medien, der optischen und akustischen Charakteristik unserer Zivilisation. Für die pädagogische Forschung ein weites, gerade erst beschrittenes Feld.
[135:46] Das sind einige Antworten auf die Frage,
wozu Pädagogik
nötig sein könnte. Soviel sollte deutlich geworden sein: Sie ist ein Teil der Selbstauslegungsbemühungen unserer Kultur und gewinnt von dort ihre Themen. Solange wir daran festhalten wollen, daß der geschichtliche Weg im Wechsel der Generationen (wenigstens) auch von der jeweils älteren verantwortet |a 35|werden muß, in Kontinuität zur Tradition und im Vorgriff auf Künftiges, müssen wir sorgfältig beschreiben können, was das für Verhältnisse und Verhalten bedeutet. Das ist, wie man sieht, gar nicht so leicht.

Literatur

    [135:47] Alpers, S.: Kunst als Beschreibung. Köln 1985.
    [135:48] Beck, U.: Auflösung der Gesellschaft? In: D. Lenzen (Hrsg.): Verbindungen. Weinheim 1993.
    [135:49] Benner, D.: Allgemeine Pädagogik. Weinheim/München 1987.
    [135:50] Brumlik, M.: Advokatorische Ethik. Bielefeld 1992.
    [135:51] Brumlik, M./Brunkhorst, H. (Hrsg.): Gemeinschaft und Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. 1993.
    [135:52] Dahrendorf, R.: Homo Sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle. Köln/Opladen, 4., erw. Aufl. 1964.
    [135:53] Deutscher Caritas-Verband (Hrsg.): Arme unter uns. Freiburg 1993.
    [135:54] Diderot, D.: Rameaus Neffe. In: Ästhetische Schriften II. Berlin 1984, S. 405 ff.
    [135:55] Goffman, E.: Wir alle spielen Theater. München 1969.
    [135:56] Gruschka, A.: Negative Pädagogik. Einführung in die Pädagogik mit kritischer Theorie. Wetzlar 1988.
    [135:57] Gruschka, A.: Bürgerliche Kälte und Pädagogik. Wetzlar 1994.
    [135:58] Honneth, A. (Hrsg.): Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften. Frankfurt a. M. 1993.
    [135:59] Humboldt, W. v.: Werke in fünf Bänden, Bd. I, hrsg. von A. Flitner und K. Giel. Darmstadt 1960.
    [135:60] Locke, J.: Versuch über den menschlichen Verstand (1689/94). Hamburg 1981.
    [135:61] Mannoni, M.:
    Scheißerziehung
    . Von der Antipsychiatrie zur Antipädagogik. Frankfurt a.M. 1976.
    [135:62] Meyer-Drawe, K.: Illusionen von Autonomie. München 1990.
    [135:63] Rorty, R.: Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt a.M. 1989.
    [135:64] Sartre, J.-P.: Was ist Literatur? Hamburg o. J.
    [135:65] Schleiermacher, F. E.D.: Pädagogische Schriften I , hrsg. von E. Weniger und Th. Schulze. Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1983.
    [135:66] Sting, S.: Die Sinne der Schrift. In: Aisthesis/Ästhetik, hrsg. von K. Mollenhauer und Chr. Wulf. Weinheim 1995 (im Druck).