In Erinnerung an die geisteswissenschaftliche Pädagogik:
Wozu Pädagogik? Versuch eines thematischen Profils
1. Ausgangsfragen
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–[135:5] Als sich herausstellte, daß das deutsche Schulsystem in vielen Hinsichten einer Verbesserung bedürfte und daraufhin im Jahre 1966 der seine Tätigkeit begann, war das für die Pädagogik ein beträchtlicher Gewinn. Durch unzählige Aufträge für Expertisen und Einzeluntersuchungen mußte sie sich ihrer Ressourcen versichern, ihre Forschungskompetenz unter Beweis stellen, sich um die Beantwortung relativ neuer Fragen kümmern, ihren Personalbestand erweitern. Aber 30 Jahre später schon befindet sie sich eher in der Defensive.„Reflexion engagée“heißt heute etwa – von einigen Personen und Institutionen abgesehen: Edition von Schriften der„Reformpädagogen“aus dem ersten Drittel des Jahrhunderts; immer wieder erneuerte Optionen für innere Schulreform, im Tenor seit 70 Jahren bekannt; hier und da wissenschaftliche Begleitung eines Schulversuchs; marginale Kommentierung von Privatschulaktivitäten oder Modelleinrichtungen.
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–[135:6] Daß der Lehrplan der Schulen nicht nur in die traditionsbedürftigen Wis|a 17|sensstände einzuführen hat, sondern in seiner Struktur auch das Aktuelle, zumal das Zukunftsfähige, zu repräsentieren habe, ist eine seit vertraute Problemstellung. Sie spitzt sich in unserem Jahrhundert zu und wurde, im Zusammenhang mit den erwähnten Initiativen des , zu einem höchst wichtigen Thema, z. B. in der„Hessischen Curriculum-Kommission“. Trotz solcher der Sache nach naturgemäß aufwendigeren kulturanalytischen und pädagogisch-konstruktiven Bemühungen hat sich der Lehrplan der Schulen, haben sich die Fächer-Klassifikationen bis heute kaum geändert.
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–[135:7]„Pädagogik“ist nicht gleichbedeutend mit„Theorie der Schule und Didaktik“. In Zahlen ausgedrückt von scheinbar geringerer Relevanz, gehörten auch die Jugendhilfe oder Sozialpädagogik dazu. Hier ist die Szenerie ähnlich. Zwischen 1965 und 1975, als der Modernisierungsbedarf in diesem Bereich offenkundig wurde, gab es eine Art Wechselwirkung zwischen akademischer Theorie und pädagogischem Praxis-Alltag: Unterstützt durch erziehungswissenschaftliche Argumentation und Forschung, änderten sich gravierend die kommunalen pädagogischen Angebote im Hinblick auf Freizeiteinrichtungen für Jugendliche; die nichtstaatlichen Träger der Jugendhilfe (Wohlfahrtsverbände und gemeinnützige Vereine) erneuerten ihre Strategien; die Erziehungsheime wurden reformiert; ambulante und therapeutische Maßnahmen gewannen an Gewicht; die pädagogischen Milieus und Umgangsweisen von Kindergärten erwarben sich ein neues Profil; psychoanalytische Theoriebestände fanden Eingang in die pädagogische Praxis und Argumentation. Und heute? Um 1980 herum war ein Stand erreicht, der dann schließlich zum neuen Kinder- und Jugendhilfe-Gesetz (KJHG 1991) führte, eine passable Plattform, bei der nur noch Finanzierungsfragen und kleinteilige Differenzen strittig sind. Die Thematik als Gegenstand einer akademischen und auf öffentliche Resonanz hoffenden Disziplin scheint fast ausgeschöpft zu sein. Interessantes Indiz ist die Tatsache, daß anläßlich der Diskussion des 9. Jugendberichts der Bundesregierung im März 1995 sich nur 74 Abgeordnete (von 672) im Bundestag einfanden – und dies, obgleich dieser Bericht besonders die schwierige Lage der Kinder und Jugendlichen in den ostdeutschen Regionen zum Thema macht.
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–[135:8] Seit 200 Jahren ist die Mißhandlung von Kindern ein Thema des akademischen Nachdenkens über pädagogische Probleme. Was sich seitdem geändert hat, ist schwer zuverlässig festzustellen. Daß das Problem innerhalb unserer Kultur nicht verschwunden ist, das jedenfalls läßt sich mit Gewißheit sagen. Wozu also braucht man„Pädagogik“? Liegt die Beseitigung derartiger Probleme nicht eher in der Kompetenz von Familien- und Sozialpolitik, in den Einrichtungen der Rechtsprechung, in der Siedlungspolitik?
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–[135:9] Eine pädagogische Theorie des Kindergartens gibt es seit 150 Jahren, und zwar gedacht als eine allgemeine Elementarbildung für alle. Aber nur sehr zögernd kam die Verbreitung dieser Einrichtung in Gang und hat selbst heute noch nicht – trotz vieler und empirisch zuverlässiger Studien zu Lernen, Entwicklung, Kindheit – einen Umfang erreicht, der tatsächlich die Interessen aller befriedigen könnte. Schaut man sich indessen genauer an, wann und in welchem Ausmaß diese Einrichtungen vermehrt werden, dann stellt sich rasch die Hypothese ein, daß für die Verbreitung von Kindergärten andere als pädagogische Gründe ausschlaggebend waren: Bevölkerungspolitik und Frauenerwerbstätigkeit – wenngleich freilich besonders diese nicht nur ein sozialstrukturelles Datum ist, sondern tief in die pädagogischen Verhältnisse hineinreicht.
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–[135:10] Oder schließlich das Problem anscheinend zunehmender Gewaltbereitschaft in der jungen Generation. Pädagogisch interessierte und wissenschaftlich zuverlässige Aggressionsforschung gibt es seit einem halben Jahrhundert – wenn man einmal die frühen Anfänge der Psychoanalyse außer acht läßt. Dieser akademische Kenntnisstand unserer Kultur hat nicht verhindern können, daß erneut Dispositionen für Rechtsradikalismus und auch diffuse Formen von körperlicher Gewaltbereitschaft entstanden sind; und auch im Hinblick auf korrigierende pädagogische Interventionen ist unsere Fähigkeit geringer, als gelegentlich glauben gemacht wird. Auch hier also: Was praktisch geschieht und geschehen könnte im Umgang der Generationen miteinander, hängt vielleicht eher von Faktoren des gesellschaftlichen Geschehens ab, die anderswo zu lokalisieren sind, als in dem, was„Pädagogik“heißt.
2. Erinnerungen
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–[135:13] Im Sinne einer anthropologischen Behauptung mit pädagogischen Folgen meinte , der Mensch könne„sein Denken und Handeln nicht anders, als nur vermöge eines Dritten, nur vermöge des Vorstellens und Bearbeitens von etwas“„soviel Welt als möglich zu ergreifen, und so eng, als er nur kann, mit sich zu verbinden“(Humboldt 1960, S. 235)„die beiden Hauptregeln“„die eine für die Bildung seiner selbst, sich bei seiner eignen moralischen Bearbeitung schlechterdings keine schonende Rücksicht auf scheinbare Hindernisse des Körpers, des Temperaments oder der Gewohnheit u. s. f. zu erlauben, und die andre für die Bildung andrer, die Eigenthümlichkeiten ihrer Individualität aufzusuchen und denselben mit strenger Anhänglichkeit getreu zu bleiben. Die Beherzigung dieser beiden Regeln ist um so nothwendiger, als die feige Schwäche, zufälligen Schwierigkeiten der Umstände und der physischen Natur nachzugeben, und das einseitige Verlangen, alle Naturen Einer Richtschnur zu unterwerfen, nur zu allgemein verbreitet sind“(a. a. O., S. 482)„engagiert“festgehalten und die sie immer detaillierter und empirisch gehaltvoller ausformuliert hat.
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–[135:14] Wenig später (1826) sagte , der erste Schritt für eine Theorie der Erziehung sei die Frage:„Was will denn eigentlich die ältere Generation mit der jüngeren? Wie wird die Tätigkeit dem Zweck, das Resultat der Tätigkeit entsprechen?“(Schleiermacher 1983, S. 9)„Erhalten und Verbessern des gegenwärtigen Zustandes“
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–[135:15] Am Ende des Ersten Weltkrieges schrieb jenen berühmten„Brief an den Vater“, dessen quälende Beschreibung erlittener Erziehung so beginnt:„Liebster Vater, Du hast mich letzthin einmal gefragt, warum ich behaupte, ich hätte Furcht vor Dir. Ich wußte Dir, wie gewöhnlich, nichts zu antworten, zum Teil eben aus der Furcht, die ich vor Dir habe, zum Teil deshalb, weil zur Begründung dieser Furcht zu viele Einzelheiten gehören, als daß ich sie im Reden halbwegs Zusammenhalten könnte. Und wenn ich hier versuche, Dir schriftlich zu antworten, so wird es doch nur sehr unvollständig sein, weil auch im Schreiben die Furcht und ihre Folgen mich Dir gegenüber behindern und weil die Größe des Stoffs über mein Gedächtnis und meinen Verstand weit hinausgeht.“„Zwecke“des Vaters bleiben verborgen, die„Mittel“bleiben blind und unverständlich, das„Resultat“ist eine um die Schuldfrage kreisende, zu keinem Ende kommende Selbstreflexion die an die mit , und anderen begonnene Tradition pädagogischen Denkens noch gebunden bleiben, ein Dokument, auf das wir angewiesen sind, wenn wir den Sinn von Pädagogik in der Moderne auslegen wollen.
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–[135:16] 1973 erschien ein Buch von mit dem Titel›Education impossible‹, dessen deutsche Version (1976) mit„Scheißerziehung“übersetzt wurde; mit diesem deutschen Titel wurde einer damals verbreiteten Stimmung Ausdruck verliehen, deren Selbstetikett dann„Anti-Pädagogik“hieß und die die in unserer Kultur gebräuchlichen Formen und Institutionen der Erziehung in Grund und Boden verdammen wollte. Das Buch ist indessen besser als der (deutsche) Titel: Es wird beschrieben, wie man mit psychotisch erkrankten Jugendlichen umgehen kann, wenn man die Grenzen der familialen und der institutionellen Versorgung überschreitet; es wird Erziehung beschrieben als vernünftiger Umgang mit Kindern und Jugendlichen, freilich in kritischer Absicht, aber im Namen einer Idee von„Verbesserung“(), die historisch möglich scheint. Dem folgt selbst noch die Vorstellung einer„Negativen Pädagogik“(Gruschka 1988), die sich die Analyse„bürgerlicher Kälte“zur Aufgabe setzt (Gruschka 1994).
3. Individualisierungen
4. Werte
5. Perspektive und Planimetrie
6. Aufgaben
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–[135:42] Eine einerseits weltweite, andererseits aber auch für unsere Gesellschaft vermutlich noch relativ dauerhaft bleibende Problemstellung ergibt sich aus der Alternative von arm und reich. Es ist bemerkenswert, daß die erziehungswissenschaftlich zuverlässige, detailgenaue und strukturorien|a 33|tierte Beschreibung von Erziehungssituationen unter Armutsbedingungen immer noch dünn ist. Obwohl in Deutschland zwischen 5 und 10% (nach verschiedenen Schätzungen) der nachwachsenden Generation von Armut bedroht sind und obwohl dies vermutlich sich kaum nächstens zum Besseren hin ändern wird, gibt es zur Zeit nur einerseits eindrucksvolle Fallbeschreibungen, andererseits die sozialpolitisch freilich unerläßliche Datenlage (vgl. Deutscher Caritas-Verband 1993). Wie sich Armutsmilieus lernrelevant auswirken, wie sie zu differenzieren sind, was sie zu einer modernen Formation von„Bildung“, als skeptische Anfrage, beitragen, darüber ist wenig bekannt. Immerhin entstammt der größte Teil der Jugendhilfe-Klientel diesen Lebenssituationen. Die Instrumentarien zur Abschaffung oder Verminderung von Armutssituationen liegen jedoch in anderen Händen. Pädagogische Forschung kann diesen nur zuarbeiten oder die schlimmen Folgen mindern helfen.
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–[135:43] Die Lehrpläne unserer allgemeinbildenden Schulen folgen immer noch, trotz der Reformbemühungen vor knapp 30 Jahren, dem traditionellen Kanon. Eine Neuordnung steht freilich vor allem in der Verantwortung von Kultusverwaltungen und der sonst zuständigen Entscheidungsorgane. Aufgabe der Pädagogik ist es indessen, solche Entscheidungen und Verantwortungen argumentativ vorzubereiten oder kritisch zu kommentieren. Der dafür nötige Wissensvorrat aber ist nicht ganz leicht zu erbringen. Das ist an zwei Ereignissen der Schulgeschichte gut zu studieren: an der Transformation der Lehrpläne des Mittelalters in ein vulgäres, an den Realia des Lebens orientiertes Curriculum im 17. Jahrhundert – und an der neuerlichen Transformation als Anpassung an die republikanische Moderne zu Beginn des 19. Jahrhunderts. In beiden Fällen waren Philosophen, Essayisten, Theologen, Pädagogen heftig beteiligt. Heute ist das Problem analog, aber die Lage anders. Die Überführung der Lehrpläne in ein modernes Curriculum steht uns bevor, wie damals; drei Jahrzehnte Vorarbeit reichen, wie man sieht, auch unter den Bedingungen beschleunigter gesellschaftlicher Veränderungen nicht aus. Die andere Lage, im Vergleich zu früheren Epochen, ist dadurch gekennzeichnet, daß nun ein spezialisiertes Spektrum von Fachwissenschaften (auch dies ein schon seit 50 Jahren diskutiertes Problem) die Lehrplanansprüche einerseits weiterhin geltend macht, andererseits aber durch die anwachsenden„interdisziplinären“Thematiken diese Ansprüche auch wieder relativiert. Wie verhalten sich also die Lehrpläne zu den kulturellen Milieus, in denen die nachwachsende Generation wird leben müssen? Lehrplan-Analyse ist also immer auch zu einem guten Stück Diagnose der Gegenwart.
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–[135:44] Jede Pädagogik operiert mit Normalitätsentwürfen, sei es verborgen, sei es explizit. Wenn nun – wie gegenwärtig zu beobachten – die Ungleich|a 34|verteilung materieller Güter und Lebenschancen nicht mehr durch einen Mythos gerechtfertigt werden kann; wenn die strukturelle„Individualisierung“Lebensrisiken birgt, die„abweichende“Bildungsverläufe wahrscheinlicher machen; wenn die Pluralisierung von Identitätsentwürfen und kulturellen Zugehörigkeiten dauerhaft einen neuen Typus innergesellschaftlicher Verständigung erforderlich macht; wenn die überlieferten Formen primärer Sozialisation, vor allem die Familie, labil zu werden beginnen und solche Milieus„Normalität“nicht mehr fraglos verbürgen – wenn Derartiges eintritt, dann wird die Balance zwischen der Aufrechterhaltung von (notwendigen) Vorstellungen von Normalität in den Verhältnissen und im Verhalten zum Gegenstand einer Dauerreflexion. Sie wird beispielsweise im System der Jugendhilfe praktisch zum Thema gemacht und findet in den„Jugendberichten“der Bundesregierung – inzwischen sind es, seit 36 Jahren, neun geworden – eine immer genauer werdende Dokumentierung. Der Pädagogik wächst aus solchen Konstellationen die Aufgabe zu, in sorgfältigen Beschreibungen von Lern- und Bildungsmilieus, von Situationen und biographischen Verläufen, von anthropologisch ermittelbaren Grenzen und Risiken das Normalitäts-Spiel der Kultur im Umgang der Generationen miteinander zuverlässig zu kommentieren und aufzuklären.
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–[135:45] Schließlich dringt von den Rändern her eine Thematik in die Pädagogik ein, die früher (fast) nur als Schulfach von sich reden machte: die ästhetische Bildung. Daß nicht nur Wort und Zahl, sondern auch Bild und Ton elementare Medien der Bildung sind, ist zwar keine Neuigkeit. Die kulturelle Allgegenwart – so scheint es – der Stimulierungen, Formierungen, Stilisierungen, Symbolisierungen von„Sinnlichkeit“hat gegenwärtig indessen zur Folge, daß die„Aisthesis“-Dimension der Bildung – hatte es geahnt – zu einem fundamentalen Thema avanciert. Ob es sich dabei nicht doch um einen Nebenweg, gar um einen jener oben angedeuteten Fluchtwege handelt, wird sich zeigen. Vorerst jedenfalls können wir ziemlich sicher sein, daß damit nicht nur eine wesentliche Komponente unserer Kultur, sondern auch elementare Ereignisse im Bildungsweg der jungen Generation zur Sprache kommen, von den ganz frühen Verhältnissen des Säuglings bis zur Auseinandersetzung mit Kunst, den Medien, der optischen und akustischen Charakteristik unserer Zivilisation. Für die pädagogische Forschung ein weites, gerade erst beschrittenes Feld.