»Individualität und Autonomie« [Textfassung a]
|a [73]|

»Individualität und Autonomie«

Eine kleine Anmerkung zum Kommentar von Petra Reinhartz

[139:1] Es sollte in unserem Fach öfter vorkommen, daß die von dem einen vorgetragenen Argumentationen von dem/der anderen nicht nur kritisch aufs Korn genommen, sondern so kommentiert werden, daß aus den diagnostizierten Fehlern und Mängeln ein Produktivitätsgewinn sich ergibt. Das ist nun in Petra Reinhartz’ Diskussionsbeitrag der Fall. Die Lücken meiner Argumentation sind von ihr ziemlich treffend entdeckt worden: besonders deren philosophische Mängel; die vernachlässigte Unterscheidung von
»Individualität«
und
»Individuum«
; die gewiß in dieser Frage nicht mehr ganz rechtfertigungsfähige Zitierung von Humboldt; die entstandenen Widersprüche zu früheren Veröffentlichungen von mir; die vielleicht allzu rasch bekundete
»Resignation«
; die offengebliebene Frage, wie theoretische Skepsis und praktisch-pädagogisches Handeln sich zueinander verhalten.
[139:2] Das alles sind Monita, für die es keine Rechtfertigung, höchstens eine Entschuldigung gibt: Mein Artikel ist der Text des Vortrages, den ich aus Anlaß meiner Emeritierung hielt. Und da wurde dann freilich auf 45 Minuten zusammengedrängt, was eigentlich ausführlicher Argumentationen bedurft hätte. Insofern exponierte ich – zugegebenermaßen mit der Absicht, die Zuhörer zu verblüffen – eine Frage, die ich habe und zu der ich die Antwort (noch?) nicht weiß. Die Kritik von Petra Reinhartz enthält nun aber die Aufforderung, das Rechtfertigungs- oder Korrekturbedürftige aufzugreifen. Ich versuche das in wenigen Stichworten:
  1. 1.
    [139:3] Die Schwierigkeit der Terminologie kann ich nicht bereinigen, jedenfalls nicht in einem kurzen Text. Wie die Ausdrücke
    »Ich«
    ,
    »Selbst«
    ,
    »Individuum«
    ,
    »Individualität«
    ,
    »Subjekt«
    , auch dann wohl noch
    »I«
    und
    »Me«
    und
    »Autonomie«
    und manches mehr zueinander sich verhalten, derartiges begrifflich klar und empirisch gehaltvoll zu sagen, fällt heute schwerer als noch vor 10 oder 20 Jahren. Das gilt besonders dann, wenn man sich nicht mit diesem oder jenem begrifflichen Angebot zufrieden geben mag, sondern auch die Erfahrungszugänglichkeit im Auge behalten möchte – etwa das, was psychologisch das
    »Selbst«
    genannt wird, als mögliches Objekt der Selbstbeobachtung. Ist dieses Selbst wirklich das, was
    »das
    Ich
    über
    sich
    «
    sagt? Und wie könnte es beobachtet werden, sofern man nicht in puristischer Einstellung sich damit abfindet, daß das Selbst nichts sei als das, was das Individuum über sich sagt?
  2. 2.
    [139:4] In dieser Schwierigkeit ist mir P. Reinhartz’ Erwähnung des autobiographischen Textes von Thomas Bernhard sehr willkommen. Er ist, nach meinem Verständnis, ein Grundtext unseres Jahrhunderts zur Theorie der Bildung. Er zeigt, wie mir scheint, ein geradezu verzweifeltes Bemühen, sich selbst auf den Grund zu kommen. Thomas Bernhard wählt eine pointierte Erzählerperspektive und spricht von sich in der dritten |a 74|Person, also als Erzähler, der, von außen, auf sich selber (?) blickt. Was wäre anders, wenn der Text in der ersten Person Singular geschrieben wäre? Oder das von P. Reinhartz auch zur Klärung (hilfreich) herangezogene Beispiel des
    »Darstellenden Spiels«
    im Rahmen von Theaterpädagogik: Was kommt dort zur Darstellung – die Individualität der Spieler oder deren Einfügung in typische Konstellationen, in Gesten und Interaktionen, die mitteilbar bleiben und insofern schon allgemeiner sind als
    »Ich«
    ,
    »Individuum«
    ,
    »Selbst«
    o.ä., sofern man sich, bei diesen Ausdrücken, nicht schon damit zufrieden gibt, daß jeder in solchen Ausdrücken von
    »sich selbst«
    zu reden beansprucht.
  3. 3.
    [139:5] Eine weitere
    »Belehrung durch Kunst«
    wurde mir neulich – für einen Erziehungswissenschaftler viel zu spät – durch die Lektüre der
    »Josephs-Romane«
    Thomas Manns zuteil. Da heißt es schon ziemlich früh, im ersten Buch und in der ironischen Distanz eines Erzählers des 20. Jahrhunderts zu Vorgängen, deren überlieferte Quellen zwar auch das
    »Ich«
    enthalten, im übrigen aber keine individualisierenden Differenzierungen einführen und auch mit ihrer eigenen Genealogie beständig durcheinanderkommen:
    »Wie kann man Geschichten erzählen von Leuten, die nicht wissen, wer sie sind?«
    Diese Frage ist nicht nur auf Jakob und Joseph bezogen, ca. 1350 Jahre vor Christi Geburt, sondern auch auf Hans Castorp im
    »Zauberberg«
    oder Adrian Leverkühn im
    »Doktor Faustus«
    . Daß es sich dabei um eine Frage handelt, deren Beantwortung im Ungewissen bleibt, zeichnet sie, nach meiner Auffassung, als eine bildungstheoretisch fundamentale aus. Das ist vielleicht vergleichbar der von P. Reinhartz zitierten Äußerung, daß Erzählungen
    »eher durch den Konjunktiv als durch den Indikativ geprägt«
    seien. Keine empirische Beobachtung nämlich ist zuverlässig im Konjunktiv mitteilbar. Der Konjunktiv operiert mit Fiktionen.
    »Mythen«
    allerdings werden im Indikativ vorgetragen, sie sind kollektiv festgestellte
    »Bedürfnisartikulationen«
    , an denen, im Fall der antiken Tragödien,
    »Individualität«
    und
    »Autonomie«
    nur scheitern können. Thomas Mann behauptet nun in seinen Romanen, daß dies auch für die Gegenwart des im Ableben begriffenen
    »bürgerlichen«
    Habitus gilt, und ich folge ihm darin. Aber vielleicht ist die Diagnose falsch?
  4. 4.
    [139:6]
    »Erziehungswissenschaft in ästhetischer Intention stünde somit vor der Aufgabe, eine spezifische Hermeneutik individueller Bedürfnisartikulation zu entwickeln«
    . Dem kann ich cum grano salis zustimmen, wenngleich ich die Vokabel
    »Bedürfnis«
    in diesem Zusammenhang nur ungern verwenden würde. Bedürfnisse artikuliert jeder, der über einen (individuellen) Organismus und über Artikulationsmedien verfügt. Das sagt uns schon die Biologie. Die Ausdrücke
    »Individualität«
    und
    »Autonomie«
    bringen da keinen Erkenntnisgewinn (es sei denn im Rahmen historiographischer Rekonstruktionen von Epochen, die diese Ausdrücke für ihr Selbstverständnis benötigten). Aber sie bringen einen Motivationsgewinn denjenigen, die sich für deren
    »handlungsrelevante Aspekte«
    interessieren. Diese
    »Fiktionen«
    sind gleichsam ein Movens, das engagiertes pädagogisches Handeln (derzeit) immer wieder in Gang bringt und, in der mythologischen Erinnerung durch Albert Camus, den
    »Sisyphos«
    nicht ruhen läßt. Wenn also P. Reinhartz dies meint, dann stimme ich zu.
  5. 5.
    [139:7] Im übrigen scheint auch mir, daß die ästhetische Dimension der Bildung die damit angesprochene Problemkonstellation, die
    »Möglichkeitsspielräume für Individualität und Autonomie«
    an die Erfahrung wenigstens heranführt. Aber gerade dieses |a 75|Feld ist durch Fiktionen strukturiert. Diese sind – und nun möchte ich P. Reinhartz doch heftig widersprechen – der Möglichkeit nach durchaus
    »kontrafaktisch«
    . Das ist, wenn ich recht sehe, überhaupt kein
    »obskurer Status«
    , sofern man gelten läßt, daß das
    »Faktische«
    aus den pragmatisch-historisch eingespielten Texten und Kontexten unserer Alltagswelt besteht. Das
    »Individuum«
    kann ich als
    »kontraideelle Konkretion«
    , wie Reinhartz formuliert, gelten lassen. Aber
    »Individualität«
    , und besonders
    »Autonomie«
    ? Diese beiden sind doch eher ideelle Konstrukte, die sich dem Empirisch-Faktischen entgegenstellen.
  6. 6.
    [139:8] Wenn ich in Schwierigkeiten mit Begriffen und Argumentationen komme, die auch mich selbst (als Person) betreffen könnten, dann behelfe ich mich häufig mit einer schlichten Frage: Treffen Begriff oder Argument auch auf mich zu? Die Antworten sind dann natürlich egologische Aussagen, mit allen Erkenntnisschwierigkeiten, die sich mit diesen verbinden. Bezogen auf
    »Autonomie«
    etwa könnte ich sagen: Ich erlebe/erfahre mich in der Regel als heteronom, bis hin zu meinen Bedürfnissen, die am Körper hängen; gelegentlich streift mich ein Hauch von Autonomie, und das ist zumeist in Situationen dichter ästhetischer Erfahrung der Fall. Solchen Situationen eignet eine eigentümliche Exterritorialität, sowohl der raum-zeitlichen als auch der psychischen Lokalisierung. Es sind fiktive Lebensmomente, zwar
    »unwirklich«
    , aber für mein Lebensgefühl dennoch folgenreich, ein paradoxes Gefühl, wie H. v. Hofmannsthal schrieb,
    »sicher zu schweben im Sturze des Daseins«
    . Dieses Paradox, diese Metapher verleugnet weder die (fiktive) Autonomie noch das (wirkliche) Dasein.