Klaus Mollenhauer
zur Festschrift aus Anlaß des 70. Geburtstages von Gunter Otto
[V81:5] Beständig erscheinen Festschriften – ein ziemlich unbestimmtes Genre.
Manchmal ist es anders: Aus Anlaß des 70. Geburtstages von Gunter Otto erschien ein Sammelband1
1Grünewald, D./Legler, W./Pazzini, K.-J. (Hg.): Ästhetische
Erfahrung. Perspektiven ästhetischer Rationalität. Eine Festschrift für
G. Otto zum 70. Geburtstag. Velber 1997 (Klammerausdrücke im Text
verweisen auf dieses Buch)
, dessen Texte die von G. Otto seit 1964 in immer weiter voranschreitenden Argumentationen zur Kunst als Prozeß im Unterricht2
2Otto, G./Otto, M.: Auslegen. Ästhetische Erziehung als
Praxis des Auslegens in Bildern und des Auslegens von Bildern. Velber
1987
vorgetragenen Grundprobleme einer modernisierten
Didaktik umschreiben. Diese Umschreibungen sind durchaus uneinheitlich und
gerade deshalb spannend zu lesen. Nur selten verlieren sie den gemeinsamen Fokus
aus dem Auge: eine eindrucksvolle Hommage (in Bekräftigungen und
Weiterführungen) an den Jubilar, der – was wohl immer noch selten ist – über gut
drei Jahrzehnte hinweg in seiner akademischen Tätigkeit ein beständig der
Selbstrevision unterzogenes Anregungspotential bereitstellte: Er öffnete, neben
anderen, die Kunstdidaktik auf die Aktualität moderner Kunstentwicklung hin; er
hielt immer auch den Kontakt zur allgemeinen Didaktik streng aufrecht; er
versuchte, dem Fach einen selbstsicheren Stand im Gefüge des Curriculums zu
sichern; er gehört darin zu den Begründern einer rationalen Kunstdidaktik in
Deutschland, die sich in der Auseinandersetzung mit der kulturellen Moderne
Schritt für Schritt genauer profiliert.
[V81:6] In dieser Absicht avancierte in den letzten Jahren der Begriff
ästhetische Rationalität zum Fluchtpunkt gleichsam für bildungstheoretische und
unterrichtswissenschaftliche Begründungen der kunstpädagogischen Tätigkeit. Das
ist eine Art Groß-Hypothese, die in der Festschrift nach vielen Seiten hin
erläutert und differenziert wird: philosophisch (z. B. Koch, Richter), kunsttheoretisch (z. B. von Criegern, Maset, Schubert), unterrichtswissenschaftlich (z.
B. Kirschner, Rumpf, Peters). Keine Frage also: die didaktische
oder bildungstheoretische Begründung des kunstunterrichtlichen Handelns ist ohne
Bezug auf den Vernunftgebrauch im Hinblick auf ästhetische Ereignisse nicht gut
möglich. Gunter Otto hat nie einen Zweifel daran gelassen, daß Irrationalitäts-Unterstellungen keine zuverlässigen Gründe für verantwortbares Unterrichtshandeln bereitstellen können. Andererseits, so scheint mir, hat er sich in den letzten Jahren immer deutlicher durch die Schwierigkeit irritieren lassen, die wir beim Übergang von vorbewußtem Wissen in Bewußtsein von diesem Wissen nicht übersehen können3
3Vgl. zu diesem Problem: A. Steffens: Die Möglichkeit Mensch.
In: Paragrana Bd. 6/1997, S. 43–64
. Ästhetische Erfahrung
ist der vielleicht exponierteste Fall eines solchen Übergangs. Gunter Otto hat für diesen Übergang ein Stichwort gegeben, das theoretisch und unterrichtspraktisch ins Schwarze trifft: das Percept4
4Otto/Otto, a. a. O., S.
50 ff.
.
[V81:7] Ich bin nicht sicher, ob Gunter
Otto mir zustimmen wird, wenn ich sage: Dies ist das Zentrum seines
didaktischen Argumentierens. Paul
Valéry schrieb:
Jede Sicht der Dinge, die nicht befremdet,
ist falsch. Wird etwas Wirkliches vertraut, so kann es nur an
Wirklichkeit verlieren.
Philosophische Besinnung heißt vom Vertrauten auf das Befremdende
zurückzukommen, im Befremdenden sich der Wirklichkeit stellen. Percepte liegen
auf der Grenzlinie zwischen Vertrautem und Befremdendem. Sie sind der
(vorbewußten) Wahrnehmung noch ganz nahe, rücken aber von dieser schon
versuchsweise ab dadurch, daß sie in verschiedenen Medien artikuliert werden: im
Wort, in visueller Darstellung, in Klängen, in Körperbewegungen usw. Man kann in
diesem Übergang von Wahrnehmung (Perception) zu Vernunftgebrauch sich ein
kleines Universum von Percepten vorstellen, die die vorbewußten
Wahrnehmungstatsachen an unsere Reflexionsmöglichkeiten heranführen. Dessen
Ausarbeitung, dessen Ordnungen stünden also zur Aufgabe. So jedenfalls verstehe
ich viele Beiträge der Festschrift, die diese Problemstellung in verschiedenen
Zugängen beschreiben: das assoziative Perceptmaterial des Unterrichts, dieses
als Beobachtungsdatum für den Didaktiker, dessen Einfädelung in den
Kunstdiskurs, die Perceptkomponenten in Kunstproduktion und Kunstkritik:
Hermeneutik als Prozeß im Unterricht. Welche Schwierigkeiten es dabei auszuloten
gilt, das wird in immer anderen Blick genommen: im Unterricht (Peters, S. 449 ff.), in der
Kunstgeschichtsschreibung (von Criegern, S. 155
ff., Schubert, S. 147 ff.,
Pazzini, S. 361 ff.), in der
musikalischen Hörerfahrung (Kaiser, S. 29
ff.).
[V81:8] Für Schleiermacher war die Divination, das Erraten des individuellen
Sinns, und zwar bezogen auf das Allgemeine, die Krönung, der letzte Schritt im
Durchgang durch die verschiedenen hermeneutischen Operationen. G. Otto, wenn ich recht verstehe,
kehrt die hermeneutische Bewegung um, und zwar ohne dabei irgendeinen Schritt
der notwendigen Operationen zu vergessen. Er beginnt mit der Divination
(Percept) und endet beim Konzept, im Werkverstehen, der Rekonstruktion der
Grammatik (wie Schleiermacher die
kulturelle Lokalisierung von Objekten des Verstehens nannte). Diese Umdrehung
der hermeneutischen Bewegung ist plausibel, denn: Didaktik ist nicht bloß der
unterrichtliche Anwendungsfall fachwissenschaftlicher Theorie. Vielleicht ließe
sich finden, daß der mehrdeutige Begriff Mimesis (z. B. Kirschmann, S. 180 ff.)5
5Vgl. dazu auch K.
Mollenhauer (u. a.): Grundfragen ästhetischer Bildung.
Theoretische und empirische Befunde zur ästhetischen Erfahrung von
Kindern. Weinheim/München 1996. Besonders S. 69 ff.,
Mimesis
oder die schwierige Vokabel Trajekt
(zwischen Objekt und Subjekt; vgl. Maset,
S. 463 ff.) einen
didaktisch lapidaren Sinn haben: die perzeptive und apperzeptive Tätigkeit der
Individuen, wenn sie ihre vorbewußten Wahrnehmungen, diese Wissensstände des
Leibes und der Alltagspragmatik, in Bewußtsein zu überführen suchen. Gunter Otto will ihnen dabei
helfen.