Ein kritischer Kommentar zum Beitrag von Barbara Siemsen
[140:1] Der vorstehende Aufsatz
gehört in eine Reihe jüngerer Veröffentlichungen zur Wissenschaftsgeschichte
der Pädagogik, in denen insbesondere die Verstrickungen in die Ideologie des
Nationalsozialismus, bis in die Nähe zur Mittäterschaft, zum Thema gemacht
werden. Die Darlegungen Barbara
Siemsens dokumentieren die Schwierigkeiten, in die eine an
wissenschaftlich zuverlässiger Geschichtsschreibung orientierte
Berichterstattung dabei geraten kann; man kann sie auch dem zitierten Buch
D. Goldhagens und der daran angeschlossenen
methodologisch-historischen Diskussion entnehmen. Das Problem scheint u. a.
darin zu bestehen, die moralisch-politische Empörung durch methodische
Strenge und penible Abwägungen nicht vollständig zum Erliegen zu bringen,
andererseits aber auch darin, Empörung und moralische Mißbilligung nicht zum
naiven Leitfaden der Recherche nach Belastungsmaterial zu machen. Im hier zu
kommentierenden Text geht es auf weiten Strecken um den zweiten Fall. Eine
methodische Kritik ist deshalb vielleicht nicht überflüssig.
[140:2] 1.) Textsorten und Lesarten: Die Verfasserin geht
offenbar davon aus, daß es bei der Interpretation sprachlicher Quellen
gleichgültig sei, welcher Sorte sie zugehören. Petitionen oder Eingaben
an eine übergeordnete Behörde, zumal im Falle einer Zwangsbeurlaubung
und zu befürchtender weitergehender Maßnahmen, machen eine
taktische Diktion wahrscheinlich; man will für sich soviel
retten wie möglich – zumal unter absehbaren totalitären Bedingungen. Was
für Adolf Reichwein
verständnisvoll geltend gemacht wird, wird im Hinblick auf Erich Weniger
zum Vorwurf – hier wird die Vokabel
„taktisch“
eindeutig nicht beschreibend verwendet, sondern in der Diktion
moralischer Herabsetzung. Außerdem wird ein autobiographischer Text
(Reichwein) mit ganz anderen Textsorten (Weniger)
„verglichen“
. – Mit Textsorten stellen sich Fragen nach Lesarten
ein. Die Verfasserin favorisiert je nur eine einzige – ein
methodologisch zweifelhaftes Verfahren. Die
„Bürgschaft“
Ernst Kriecks
beispielsweise läßt mindestens zwei zu, nämlich die im Aufsatz
erläuterte und eine andere, die angesichts der betont lakonischen Kürze
auch eine deutliche Distanz zwischen Krieck und Weniger vermuten läßt.
„Petitionen“
,
„Eingaben“
,
„autobiographische Texte“
,
„Briefe“
,
„Bürgschaftserklärungen“
u. a. sollten also, in
wissenschaftlich-historiographischer Absicht, je mit Bezug auf die
Textsorte und ihre Funktion gelesen werden.
[140:3] 2.) Vokabularien:B. Siemsen bevorzugt, mit
Bezug auf Weniger und auf
seine Interpreten, ein herabsetzendes Vokabular. Ist das nötig, trägt es
zur Wahrheitsfindung bei, wenn doch schon die Quellentexte entlarvend
genug sind? (Überhaupt hätte man gern den Text der
„Petition“
vollständig gelesen.) Von einer
„Legende“
ist die Rede (wo ist sie dokumentiert)); der von |a 159|B. Schwenk in deutlich kritischer Absicht
verwendete, wenn auch sprachlich nicht glückliche Ausdruck
„peinsam“
wird ironisch umgedeutet; Weniger sei
„fast jedes Mittel recht“
(Belege dafür?); er habe
„Verrat an Kollegen“
begangen, sei
„berechnend“
gewesen, habe sich bei Freunden und Kollegen
„passender Couleur“
um Fürsprache bemüht, verhalte sich
„taktisch geschickt“
, habe sich
„Seilschaften verschafft“
usw. Dieses Vokabular entstammt zwar nicht der
Lingua Tertii Imperii, sondern eher der Mentalität des Schnüffelns
in Stasi-Akten. Schließlich wird Weniger noch angekreidet, daß er nach 1945 das Studium an
der PH Göttingen mit einem
Gelöbnis (
„eine Art Diensteid“
) beginnen ließ, ohne daß Funktion und historischer Ort solcher
Rituale – die uns heute freilich befremdlich vorkommen – überhaupt in
Erwägung gezogen werden. Aus der Summe solcher Bewertungen folgert die
Verfasserin dann auch noch eine
„eindeutige Gesinnung“
oder daß
„er sich den Ungeist der
NS-Ideologie zu eigen“
gemacht habe. – Es hat den Anschein, als hätte die Verfasserin
keine vergleichbaren Quellen (Eingaben zum Zwecke der Nicht-Entlassung
aus dem Arbeitsverhältnis) aus jenen Jahren gelesen.
[140:4] 3.) Ungenauigkeiten: Beim Lesen des Artikels kann sich
gelegentlich der Eindruck einstellen, als hätte die Verfasserin es nicht
auf Weniger abgesehen,
sondern auf jene, die sein Lebenswerk kommentiert haben. Richtig ist
sicher, daß seine
„Schülerinnen“
und
„Schüler“
wenig getan haben, um diese höchst ärgerliche Phase in
der Biographie Wenigers
und deren Zusammenhang mit seiner wissenschaftlichen Tätigkeit
aufzuklären. Dabei aber schleichen sich Ungenauigkeiten ein, die in
einer wissenschaftshistorischen Untersuchung besser vermieden werden
sollten. Wer, beispielsweise, hat Weniger
„zum Mann des Widerstandes hochstilisiert“
? Obwohl diese
Behauptung schon am Eingang des Textes vorgetragen wird, gibt es in der
Folge nicht den mindesten Hinweis (eine solche Behauptung wäre in der Tag abwegig, auch angesichts der Tatsache, daß Weniger sich zeitweise – in Paris gegen
Ende des Krieges – in einem Milieu aufgehalten hat, in dem
Widerständiges mit mehr oder weniger leisen Tönen zu hören war).
Inwiefern aber die Darstellungsweise Schwenks
„verschleiernd“
sein soll, mit Hilfe
welcher methodischen Operation man
„zwischen den Zeilen
lesen“
kann, das bleibt unerfindlich. Die Autorin hat aber auch
recht: E. Weniger war, in
deutlichem Unterschied zu A.
Reichwein, wirklich kein
„Mann des
Widerstandes“
. Seine Zugehörigkeit zur geisteswissenschaftlichen
Pädagogik und seine Verwendung der dort damals (beispielsweise)
beliebten Vokabeln
„Deutsche Bewegung“
und
„Volksordnung“
ist indessen auch kein hinreichender
Indikator für das Gegenteil; auch Wenigers Inanspruchnahme von Leuten,
„die zu kennen er für vorteilhaft
hält“
, ist es nicht (in einem Text, der einen offensichtlichen
taktischen Zweck verfolgt), ebensowenig wie die erwähnte räumliche
Nachbarschaft zu Hans
Grimm.
[140:5] Es geht hier nicht darum, irgend etwas zu beschönigen oder zu
verschleiern. Es geht nur darum, daß auch in solchen Fällen die Empörung
die methodische Sorgfalt nicht überwältigen sollte, vor allem auch im
Hinblick auf die Berücksichtigung von Kontexten. Zu diesen gehört auch
Wenigers Tätigkeit
nach dem Zweiten Weltkrieg. Obwohl durch jüdische und kommunistische
Freunde meiner Eltern über das Ausmaß der Barbarei schon aufgeklärt,
erfuhr ich (1948 bis 1950) durch Weniger in seinen regelmäßigen|a 160|
„Politischen Kolloquien“
, was Widerstand im
„Dritten Reich“
wirklich war und daß die kritische
Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus der erste Schritt der
Lehrerbildung sein müsse. Weniger hatte also gelernt. Aber auch dies rechtfertigt
keine Wissenschaftsgeschichtsschreibung am Leitfaden
individualisierender Moral. Die Berufung auf Goldhagen jedenfalls ist in dieser Hinsicht nur
eine geborgte Autorität, keine argumentative Rechtfertigung. Das
Taktieren in den Jahren 1933/34, bis hin zu
„Kollaborations“
-Angeboten, ist politisch-moralisch höchst
befremdlich; es gehört aber einem Situationstypus zu, dessen Auftreten
unter totalitären Bedingungen wahrscheinlich wird, und zwar in
Biographien, die sich sonst gravierend unterscheiden. Auch ich hätte mir
einen akademischen Lehrer gewünscht, der, wie Adolf Reichwein, von Beginn an sich
als nicht korrumpierbar zeigte. Aber das entlastet nicht von
methodischer Sorgfalt im Umgang mit den anderen.