Musikalische Figuren als Selbstbeschreibungen im späten Kindesalter [Textfassung a]
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Musikalische Figuren als Selbstbeschreibungen im späten Kindesalter

Zusammenfassung

[142:1] Der Beitrag erörtert Ergebnisse eines Forschungsprojektes, in dem Kinder ohne spezielle musikalische Vorbildung kleine Musikstücke improvisierten. Diese Musikstücke werden als
Selbstbeschreibungen
verstanden. Die musikalischen Äußerungen des Kindes als Rede über sich bzw. als Äußerung des
Ich
zu verstehen, machen sie damit allerdings nicht geradliniger Interpretation zugänglich, da sie nicht eindeutig sind. Trotzdem bergen die Musikstücke ich-relevante Äußerungen, die auch bildungstheoretisch erschlossen werden können. Das wird versucht durch die heuristische Annahme, daß das musikalische Material
Metaphern
enthält, die sich in mehreren Hinsichten – mimetische Resonanz, Stimmung, Leibgebundenheit, Interaktion – als selbstreflexive beschreiben lassen.
[142:2] Selbstbeschreibungen sollen solche Äußerungen heißen, deren Referenz das sich äußernde Individuum ist. Das muß nicht so verstanden werden, als dürften in einer solchen Äußerung keine Bezugnahmen auf andere vorkommen, als dürfte nicht auch von Außenwelt die Rede sein. Es soll aber so verstanden werden, daß derartige Bezugnahmen die Funktion (nicht die Intention!) haben, etwas über sich selbst mitzuteilen. Werden solche Selbstbeschreibungen in der Form von Sprache mitgeteilt, dann lassen sich die Selbstbeschreibungsgehalte in die Form von Sätzen bringen, in denen die erste Person Singular zugleich Subjekt und Objekt der Rede ist:
Ich rede jetzt über mich.
Die Objektseite solcher Redeform wird seit langem schon durch eine etwas künstliche Vokabel ins Sprachspiel gebracht: das Selbst. Ob es sich dabei um eine vielleicht problematische Verdinglichung eines Sachverhalts handelt, die nicht hinreichend gerechtfertigt werden kann, wollen wir hier nicht diskutieren. Jedenfalls hat die empirische Bildungs- und Kognitionsforschung relativ erfolgreich mit diesem Konstrukt operiert.
[142:3] Äußerungen von dieser Art sind ganz dicht an das gebunden, was wir
Bildung
nennen. Sie beziehen sich (mindestens) auf den Zustand, in dem sich das sich äußernde Individuum befindet. Was dann
außen
ist, als Wortfolge zum Beispiel, ist nun aber der selbst hervorgebrachte
Gegenstand
als Beschreibung seiner selbst. Das Individuum begegnet damit (der Möglichkeit nach) sich selbst als virtuellem Objekt. Solche
Selbstbegegnung
wird häufig unterstützt durch die dialogischen Beziehungen, in die das heranwachsende Individuum eingebunden ist. Das zehnjährige Kind beispielsweise sinkt am Familientisch auf dem Stuhl zusammen und sagt:
Ich bin sauer.
Gleichviel ob eine Antwort erfolgt (etwa:
Wie meinst du das?
), bleibt der gesprochene Satz das, was er ist: eine Entäußerung, mit Hegel gesprochen, die nun entweder verstanden oder wiederangeeignet werden kann. Tritt sie in den Vorgang solcher Wiederaneig|a 698|nung ein – was gelegentlich der Fall ist dann wird sie zu einem Movens der Selbstbildungsbewegung. Wir nennen das, was in solchen Situationen vorkommt,
Reflexion
.
[142:4] Was sich dieserart in sprachlichen Äußerungen zeigt – und das ist die wichtigste Hypothese unseres Beitrages –, das kann sich auch in nichtsprachlichen Äußerungen zeigen, in
ästhetischen Figurationen
, wie wir zusammenfassend sagen wollen.1
1Wir verwenden den Ausdruck
ästhetische Figuration
, um die Frage offen zu lassen bzw. das Mißverständnis zu vermeiden, als handele es sich bei den uns interessierenden Hervorbringungen von Kindern um
Bilder
oder
Musikstücke
in dem Sinne, in dem davon in der Kunst- und Musikwissenschaft die Rede ist.
So wie in der gesprochenen Sprache die selbstbezüglichen Äußerungen nur eine Teilmenge sind, so auch in den
Sprachen
ästhetischer Figurationen. Da aber an diesen die Tätigkeit des Leibes dichter beteiligt ist als beim Wort, sind die Übergänge zwischen selbst- und fremdbezüglichen Äußerungen fließender. Es handelt sich deshalb um Mitteilungen, die dem Interpreten mehr Aufmerksamkeit und Deutungsarbeit abverlangen als im Falle diskursiver Satzfolgen. Freilich gibt es pointierte und anscheinend eindeutige Fälle: Selbstporträts beispielsweise. Aber auch hier gibt es – wie übrigens bereits im sprachlich-autobiographischen Bericht – Umwege, indirekte Verweise: Das Kind lokalisiert sich etwa in der Familie, im Kreis von Tieren, in dinglichen Milieus; Maler porträtieren sich selbst mit Paletten, Staffeleien, Spiegeln, eigenen Angehörigen, Verkleidungen usw.; weniger häufig ist schon der gleichsam reine Blick auf sich selbst, wie bei Tintoretto, manchmal bei Rembrandt, bei Beckmann, bei Rainer. Reflexion im Bild aufzufinden, und zwar als Darstellung des einerseits darstellenden, andererseits dargestellten Ich, ist eine nicht ganz leichte Deutungsoperation. In den meisten Fällen wird die Deutung Umwege gehen müssen.
[142:5] Diese Problemstellung spitzt sich in musikalischen Äußerungen zu, und zwar so, daß die Spitze abzubrechen droht: Ein diskursiver Satz wie
Ich bin X, aber möchte Y sein
läßt sich vielleicht gerade noch ins Bild bringen, wenigstens als Frage. Läßt er sich auch in Töne bringen? Innerhalb der Musikgeschichte scheinen Beispiele dafür fast vollständig zu fehlen, jedenfalls dann, wenn man nicht die in Vokalmusik unterlegten sprachlichen Texte heranzieht oder andere sprachliche Bezeichnungen und Kommentare, die auf einen möglichen Selbstbezug verweisen. Das liegt, wie wir vermuten, in der Sache: Das Ich ist sich selbst, innerhalb unserer Kultur, zwar in Worten und Physiognomien gegeben, nicht aber in Tönen; es gibt eine nur schwer überschreitbare Schwelle zwischen den formalen Merkmalen musikalischen Materials und einer Semantik, die auf das
Ich
verweist. Die neuere Musiktheorie, besonders wo sie sich mit Semantik, Zeichentheorie, Kommunikationstheorie befaßt, also mit der Frage, was denn musikalische Figurationen
bedeuten
könnten, bekräftigt das, wenn wir recht sehen. Nun ließe sich daraus der Vorschlag folgern, man solle, um nicht voreilig musikalisches Geschehen und das linguistisch benennbare Ich zu konfundieren oder jenes unter dieses zu subsumieren, von einem
musikalischen Ich
sprechen; dann aber auch von einem bildnerischen, taktilen, olfaktorischen; man müßte die Reihe gar auch in die inneren Wahrnehmungen und Empfindungen hinein verlängern. Das wäre indessen höchstens taxono|a 699|misch befriedigend. Uns liegt es deshalb näher, das sprachlich gegebene Problem mit dem zu konfrontieren, was sich dazu im aisthetischen Feld ergeben könnte, und zwar dergestalt, daß sprachliche Äußerungen in der idealisierenden Form von
Ich bin X
,
Ich möchte Y sein
, im Medium von Tönen kommentiert werden.
[142:6] Es lassen sich also – und das ist unsere zweite, differentielle Hypothese – Äußerungen in Tönen als Mitteilungen interpretieren, die das
Ich
, das Bewußtsein von
sich
und deren Lokalisierung in anderen Kontexten zum (indirekten) Thema machen. Wir denken dabei allerdings nicht an den spontanen Schrei, das Wimmern des Säuglings, die trällernden Koloraturen beim Heimgang aus der Schule im Treppenhaus. Auch denken wir nicht an die identitätsstützenden, zumeist rezeptiven Verwendungen musikalischer Materialien der Medienangebote (das ist freilich ein wichtiges Thema, soll hier aber nicht behandelt werden). Wir denken vielmehr an das, was Kinder zwischen zehn und vierzehn Jahren musikalisch herstellen, und zwar als eigene Erfindungen. Das ist vielleicht einem pädagogisch-linguistischen Projekt vergleichbar, in dem die Auseinandersetzung des Kindes mit sich dadurch der Erörterung zugänglich gemacht wird, daß die vom Kinde hervorgebrachten Sprachmaterialien, dessen Sätze also, einer Deutung unterzogen werden und dabei nicht nur Sätze herangezogen werden, in denen
ich
als Subjekt oder
mich
als Objekt tatsächlich vorkommt, sondern auch andere Äußerungen, die als selbstbezüglich erst in einer den Kontext berücksichtigenden Interpretation aus der Beobachterperspektive erschlossen werden können.
[142:7] Die besondere Schwierigkeit, die musikalische Materialien immer noch bereiten, besteht darin, daß hier das Problem der
Ich
- oder
Selbstbildungs
-Aussage eine besondere Pointe hat, deren Spitze nun aber – um dem schon verwendeten Bild zu folgen – nicht abbricht, sondern sich bewährt, wie wir hoffen.
[142:8] In der phänomenologisch-pädagogischen Literatur, besonders aber in den Erörterungen Käte Meyer-Drawes, spielt der Begriff der
Responsivität
eine hervorragende Rolle. Meyer-Drawe zitiert in diesem begrifflichen Zusammenhang Lacan:
Was ich im Sprechen suche, ist die Antwort des anderen. Was mich als Subjekt konstituiert, ist meine Frage
(zit. nach Meyer-Drawe 1988, S. 249)
, und sie zitiert Merleau-Ponty: Unserer Leiblichkeit eigne eine Generalität,
die eine Koexistenz von vielen [oder sollte es
von vielem
heißen? K.M.] in ihrer Unterschiedlichkeit ermöglicht, in
unreflektierter Wahrnehmung
, aber immer am Rande der Reflexion
(S. 246)
. Meyer-Drawe erläutert das Problem am Beispiel autistischer Kinder. Die damit aufgeworfenen Fragen dürfen aber entschieden über diese besondere Klasse von
Auffälligkeiten
hinaus geltend gemacht werden.
Responsivität
ist, wie wir inzwischen wissen, nicht nur eine Kategorie philosophischer Spekulation, sondern eine biologisch gut begründete Charakteristik des Lebendigen überhaupt. Es ist derjenige Naturvorgang, schon im Verhältnis der Zellen eines Organismus zueinander, der am wenigsten zuverlässige Prognosen erlaubt, nach physikalischem Theoriemuster. Wenn aber die Prognostik unzuverlässig wird – z.B. bei der Vorhersage von Bildungsverläufen –, dann wird die Konzentration der Aufmerksamkeit auf
responsive
Vorgänge dringlich. Cramer nennt diesen Vorgang nicht
responsiv
– dieser Ausdruck erinnert vielleicht noch zu stark an das Medium der Rede –, sondern verwendet den Ausdruck
Resonanz
(Cramer 1995; aber auch schon Meyer-|a 700|Drawe 1993). Das ist nun eine Vokabel, die uns sehr zustatten kommt, da sie dem Bereich des Akustischen entnommen ist. Wie man sieht, tragen schon die Termini, die wir verwenden, eine je eigentümliche Metaphorik mit sich, deuten semantische Richtungen und damit wohl auch theoretische Fluchtpunkte an. Freilich kann man sagen, daß jeder in Bildung begriffene Mensch, also (hoffentlich) auch die Autoren dieses Beitrags, sich
responsiv
verhalten. Zu sagen, sie verhielten sich
resonant
, ist zwar mit der ersten Vokabel verträglich, fügt ihr aber noch eine weitere Bedeutungskomponente hinzu: Das Mittönen folgt zwar gelegentlich, aber nicht immer der Logik des Fragens und Antwortens.
[142:9] War uns also schon der Ausdruck
Responsivität
willkommen, so ist es, bei unserem Vorhaben, der der
Resonanz
noch mehr. Unser Problem besteht also nun darin zu zeigen, daß in den resonanten Produkten von Kindern sich etwas zeigt, das – in den Worten Merleau-Pontys – zwar zunächst unreflektierte musikalische Tätigkeit sein mag,
aber immer am Rande der Reflexion
. Wie kann das sein? Hier ist – für die Analyse – der Terminus
Metapher
hilfreich.
[142:10] Wenn wir über uns selbst reden, dann gibt es in der diskursiven Sprache eigentümliche Schwellen, die schwer zu überwinden sind. Sie haben etwas – oder vielleicht sogar Entscheidendes – zu tun mit der Schamschwelle (vgl. dazu Schleiermacher, Simmel).
Authentische
Mitteilungen über uns selbst sind heikel. Wir bevorzugen deshalb verallgemeinernde Reden in diskursiver Sprache, auch wohl Erzählungen und Anekdoten, oder Mitteilungen nach dem Muster:
Es ist wie ...
,
Es war, als ob ...
. Die Kontingenz des Subjekts schafft sich darin ihren Freiraum. Die musikalische Darstellung ich-relevanter Sachverhalte und Selbstverhältnisse genießt in solchen Fällen indessen ein besonderes Privileg. Da sie nicht direkt das Ich in das musikalische Material einführen kann (wie das
Ich
im Satz, die Physiognomie im Bild), ist sie notwendig auf Umwege verwiesen – die jedoch authentischer sein können als die Darstellungen in anderen Medien: Die
Sprache
der Musik kann, in solcher Hinsicht, nur metaphorisch sein. Was also heißt
metaphorisch
?
[142:11] Schon die Vorstellung, eine musikalische Figuration könnte eine Metapher sein für Außermusikalisches, ist manchen Puristen der Musiktheorie eine Zumutung. Andererseits versuchte Dahlhaus in seinen musikhermeneutischen Studien immer wieder zu erläutern, daß Musik in einem historisch-kommentierenden Kontext steht, der – wenngleich darin auf individuelle Meinungen, auf Empfindungen, auf Analogien, auf
Lebensweltliches
Bezug genommen wird – dennoch dem Bedeutungsfeld von Musik zugehört. Befaßt man sich nun mit musikalischen Produkten von Kindern, sollte man diese zweite Position nicht in den Wind schlagen. In der Sicht dieser Position werden nun
Metaphern
bedeutungsvoll: Metaphern haben die logische Struktur des
Als ob
; sie haben zwei Glieder, die sich wechselseitig kommentieren.
Du bist ein Esel
heißt: Ich sehe Dich, als seiest Du ein Esel, und ich sehe den Esel, als seiest Du es. Metaphern dieser Art sind aufklärend; durch ihre semantische Kollision gewinnen sie einen Eigensinn, der den Adressaten auf eine selbstreflexive Bewegung hinleitet: Bin ich wirklich so, wie die Metapher sagen will?
[142:12] Gibt es derartige Metaphern in der Musik? Es gibt sie nicht. Immer fehlt das zweite Glied. Erst die kommentierende Literatur, von Schumann über Schönbergs Kommentare zu den Symphonien Mahlers bis zu den Erläuterungen der Kompositionen Luigi Nonos, bringt die zweite Komponente der Metapher ins |a 701|Spiel. Zur Metapher wird also Musik erst durch den Kommentar. Aber was heißt
Kommentar
? Hat nicht, wer eine Tonfolge erfindet, einen Kommentar schon im Kopf oder im Ohr? Ist es vielleicht so, daß – in den Augenblicken der musikalischen Hervorbringung – zwar eine Empfindung sich anbahnen kann von der Art
Das bin ich
oder
Das könnte ich sein
; nun aber, im musikalischen Material, kann sie im Ungewissen bleiben; oder auch anders: Die ungewisse Wort-Frage wird im musikalischen Material kommentiert und damit der Gewißheit zugeführt? Auf jeden Fall aber ist sie als Frage anwesend. Darf man sich also einen Begriff von Metaphern machen, deren eine Komponente eine Leerstelle ist? Dann hätten wir, die Pädagogen, diese Leerstelle zu suchen. Wir könnten diese intellektuelle Suchbewegung sowohl als alltägliche Herausforderung von Erziehungshandlungen begreifen als auch als Aufforderung für wissenschaftliche Bemühungen. Die Ontogenese des Kindseins wimmelt geradezu von ästhetischen Konstruktionen, die,
am Ende der Reflexion
, jeweils nur die eine Hälfte der Metapher zur Darstellung bringen.
[142:13] In dieser Frage nun kommt uns wiederum Merleau-Ponty oder H. Schmitz zu Hilfe. Er rehabilitiert die alte Vokabel
Empfindung
und führt ihr Bedeutungsfeld gegen die intellektualistischen, zergliedernden psychologischen Theorien ins Feld. Was mit
Empfindung
zur Sprache gebracht werde, sei keine Ungenauigkeit der Beschreibung, sondern treffe im Gegenteil die Charakteristik
primordialer
Ereignisse ziemlich genau: nämlich das Nebeneinander, das Gleichzeitige des (analytisch) Verschiedenen, in der Erfahrung von Empfindungen, aber koexistierend. Folgt man diesem Gedankengang, dann ist die Empfindung von Musik ein Gemischtes (
gemischte Empfindungen
waren schon der klassizistischen Ästhetik ein unerwünschtes Vorkommnis) und hat gerade darin ihre besondere, auch bildungstheoretisch besondere Charakteristik.
Gemischtes
setzt Verschiedenes in ein Verhältnis. Die metaphorische
Kollision
wäre demnach ein elementares Bildungsereignis.
[142:14] Das soll nun an vier Improvisationen gezeigt werden. An jedem der vier Stücke wollen wir ein anderes Moment von bildungsrelevanter Reflexivität im Status der Resonanz hervorheben, und zwar:
  1. 1.
    [142:15] Mimetische Resonanz. Wir unterscheiden drei Sorten musikalischer Mimesis: die Nachahmung von gleichsam gegenständlichen, motivischen Details eines Vorbildes; die Nachahmung eines, ohne die Details besonders zu beachten, Gesamtgestus oder Stils; und einen dritten mimetischen Modus, bei dem, durch das Vorbild stimuliert, die Mimesis in eine eigene Bewegungs- oder Kompositionsfigur übergeht. Für den zweiten Modus von Mimesis geben wir ein Beispiel.
  2. 2.
    [142:16] Stimmungswechsel. Es gehört zur Eigentümlichkeit musikalischer Kompositionen oder Produkte, daß in ihnen in raschem Wechsel verschiedenartige Empfindungen aufeinander folgen oder kontrastiert werden können. Das ist in pragmatischen Alltagskontexten kaum möglich. Kinder, die sonst sich dem Strom von Stimmungen unterworfen fühlen, können im Medium der Musik offenbar die Vervielfältigung von Perspektiven ertragen und sogar selbst hervorbringen. Dazu wählen wir unser zweites Beispiel.
  3. 3.
    [142:17] Das dritte Beispiel macht die Leibgebundenheit der musikalischen Produktion zum Thema. Zwar ist diese Thematik naturgemäß in Musik immer enthalten, hier aber noch in einer besonders sinnfälligen Darstellung.
  4. |a 702|
  5. 4.
    [142:18] Das letzte Beispiel betrifft musikalische Interaktion. Improvisieren zwei (oder mehr) Kinder eine musikalische
    Szene
    , dann haben sie es nicht mehr nur mit
    sich selbst
    und ihrem eigenen Bezug zum tönenden Vorgang zu tun, sondern auch mit derartigen Bezugnahmen von anderen. Das ist ein ziemlich komplexer Fall metapherngeleiteter Reflexion, in dem alle Erfahrungen mit der Deutung der ersten drei Beispiele zusammenfließen könnten. Wir beschränken uns indessen hier auf die Hervorhebung dessen, was die Interaktionsstruktur dem anderen noch hinzufügt.

1. Mimetische Resonanz

[142:19] Der einer Beschreibung am ehesten zugängliche Fall ist gegeben, wenn das Kind auf einen musikalischen Außenreiz reagiert, wenn seine Improvisation angeregt ist durch ein uns bekanntes Vorbild, sein Werk mit dem anderen Werk verglichen und auf Ähnlichkeiten hin befragt werden kann. Einen solchen Fall haben wir inszeniert, indem wir Kindern die ersten Takte von Schuberts Klaviersonate B-Dur, D. 960 vorspielten und sie aufforderten, ein dazu passendes Stück zu spielen.
Notenbeispiel 1: Schubert
Notenbeispiel 2: Kindliche Bezugnahme
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[142:28] Der Ausschnitt der Schubert-Sonate enthält einen starken Aufforderungscharakter: Der schwebenden Melodik in der rechten Hand, die die Andeutung einer Choralgeste enthält, wird von der linken Hand mit ihren Achtelbewegungen und Vorhaltsakkorden gleichsam widersprochen. Zusätzlich irritiert der unterhalb des offenen, dominantischen Schlusses erklingende akkordfremde Triller den Hörer dieser Takte.
[142:29] Die auffällige Zweiteiligkeit der kindlichen Schubert-Variation scheint die komplexe Gestalt des Vorbildes aufzuteilen, zwei verschiedene Aspekte nacheinander zu bearbeiten und währenddessen eine Antwort zu finden auf den durch den Triller zusätzlich irritierten dominantischen Schluß des gehörten Ausschnittes. Im ersten Teil ihres kleinen Stückes nimmt die Spielerin auf den schwebenden Gestus Bezug, jedoch nicht nur durch Verwendung melodisch-schwebender Umspielungen, sondern den Gestus verstärkend mit akzentloser, rhythmischer sowie harmonischer Unentschiedenheit: Jedesmal, wenn sie eine scharfe Dissonanz – sei es zufällig, sei es geplant –
getroffen
hat, verharrt sie einen Moment, als erschiene ihr die dadurch erzeugte Klangwirkung besonders passend zu der Vorstellung einer dem Schubert-Stück eigenen Gestik (das Anfangsmotiv beginnt mit c, verharrt in der Leittonspannung, auf h; die zweite Phrase endet in einem Tritonussprung, in der dritten schließlich wird das zunächst klare G-Dur durch Anschlagen des Halbtonschrittes gis sofort wieder zurückgenommen). Der zweite Teil hingegen widmet sich den Begleitfiguren des Klavierstückes. Mit einem deutlichen Bezug zu den rhythmisch strukturierten Achtelfiguren, die sowohl bei Schubert als auch in der Variation den tonikalen und dominantischen Grundton umspielen (b und f im Vorbild, c und g in der Improvisation), formt die Spielerin ein Gegengewicht zu der anfänglich verstärkten Charakteristik der Schubert-Sonate und endet konsequenterweise mit Erreichen des von ihr gewählten Grundtones c.
[142:30] Redet denn das Kind hier über sich? Auf Umwegen, ja. Es veräußert sein Angemutetsein von dem gehörten Klavierstück, und es erzählt dabei, wie ihm geschah, als es sich in die Schubert-Takte hineinbegab, und wie daraus ein Hören und aus dem Hören ein Spielen wurde. Daß uns hier der Begriff der
Erzählung
in den Sinn kommt, ist keine beliebige Assoziation, sondern gründet sich auf die wahrgenommene geschlossene Form der musikalischen Erfindung.2
2Der Begriff der musikalischen Form kann hier leicht mißverstanden werden. Er wird von uns zwar in Anlehnung an die musikanalytisch übliche Verwendung benutzt; es werden deshalb aber nicht die gleichen Kriterien für die Beschreibung der kindlichen Produkte geltend gemacht wie für die Beschreibung gelungener musikalischer Kunstwerke. Syntaktische Operationen wie
Wiederholung
,
Variation
,
Kontrastierung
z.B. können sich auf einzelne Töne oder kurze Motive (bei Kindern), aber auch auf achttaktige Themen oder ganze Sonatenexpositionen (in Kunstwerken) beziehen. In allen Fällen können sie für die Beschreibung musikalischer Formbildung nützlich sein, ohne daß damit ein Qualitätsurteil gefällt würde; vgl. Anm. 1.
Die Zweiteiligkeit, der mehrmalige Spannungsaufbau und die musikalisch sinnvolle Lösung der Spannung rechtfertigen die Annahme, daß das Kind nicht nur vage Eindrücke wiedergibt, sondern aus diesen Eindrücken ein für sich stehendes Tongebilde geschaffen hat. Solches aber kann nur in Distanz zu sich selbst wie zu dem Gehörten geschehen, als ausformulierter Kommentar zum Schubert hörenden Ich, das unvermittelt dann sich selbst vernimmt.
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2. Stimmungswechsel

[142:31] Das nächste Stück bietet uns keine Referenz außerhalb seiner selbst, es hat kein Vorbild, und es ist auch kein
Auftragswerk
, das seine Entstehung einer didaktischen Aufgabenstellung verdankt; es lenkt uns somit unmittelbar auf seine formalen und Ausdrucksqualitäten.
Notenbeispiel 3
[142:34] Der erste Eindruck vermittelt uns das Nebeneinander von drei musikalischen Ausdrucksgesten: Auf einen geheimnisvollen Anfang, der uns vor allem durch die metrische Stauung des Anfangsmotivs den Atem stocken läßt, folgt ein eher spröder, aber gefestigt-geradtaktiger Part, der mit großen Intervallsprüngen seine Kontur erst noch zu suchen scheint. Diese findet sich im dritten Teil: Die nun rhythmisierten Sprünge, dynamisch stark zurückgenommen, erzeugen den Eindruck zarten Hüpfens, das Geheimnis des Anfangs scheint hier vergessen, es blitzt nur im Schlußton – der Wirkung eines Fragezeichens vergleichbar – noch einmal auf. Aber ist dieses Nebeneinander von Verschiedenartigem alles?
[142:35] Entscheidend für eine Interpretation des Stückes ist der Anfang, die erste Fünftongruppe. Mit diesem ersten Motiv fügt sich der zwölfjährige Spieler eine Empfindung zu, mit der er im folgenden permanent zu tun hat; es enthält einen musikalischen Widerspruch, der zur Bearbeitung herausfordert.3
3Hier ließe sich die im theoretischen Teil des Textes beschriebene Metaphernbildung am musikalischen Material konkretisieren. Kollidieren in der sprachlichen Metapher verschiedene (Wort-)Bedeutungen, so sind es hier die widersprüchlichen Strebungen der Tonfiguration: Das Motiv fordert den Spieler zur musikalischen Kommentierung seiner eigenen Empfindung auf.
Die auftaktige Faktur strebt vorwärts, läßt Linearität erwarten, die großen Intervallsprünge aber (Quarten und Quinten) geben diese Linearität nicht her, sie setzen, ihrer Tendenz nach, nur Punkte, die Töne stehen für sich. Diese komplexe, in sich widersprüchliche Figur wird nun zu einer Seite hin verstärkt, indem sie, metrisch gedehnt, ihre auftaktige Zugkraft verliert. So entsteht die eigentümliche Spannung, die kaum lange zu ertragen ist und dann ja auch rasch in die Bodenständigkeit des zweiten Teils überführt wird. Hier nun begegnet uns das erste Motiv zum dritten Male wie|a 705|der, jetzt allerdings kontextualisiert im scheinbar konturlosen Hin und Her der Tonpunkte, seiner Spannung enthoben, gleichsam neutralisiert. In diesem Neutrum aber kann nun wieder Neues entstehen, und zwar jetzt als Kontrast zur Anfangsfigur, zum Atem raubenden Geheimnis: Beinahe tänzerisch wirbelt das Stück seinem Ende zu, ein Tanz, den sich der Junge im Durchgang durch verschiedene Zustände und in Auseinandersetzung mit den Widerständen des Tonmaterials erarbeitet hat. Daß er dabei vom direkten
Ich
-Sagen entlastet war, nicht, wie der Maler, der sich selber malt, immerzu in den Spiegel blicken mußte, nicht gesucht hat, was er dennoch fand, mag ihm die Arbeit erleichtert haben.

3. Leiblichkeit

[142:36] Wir haben eben behauptet, daß die Form der musikalischen Improvisation mit dem ersten Einfall und der damit erzeugten widersprüchlichen Empfindung etwas zu tun hat, und wir wollen jetzt noch darüber hinausgehend erläutern, wie die wahrgenommene Sinnhaftigkeit eines improvisierten Stückes entsteht im Wechselspiel von je neuen Impulsen zwischen Klang und leibgebundener Empfindung.4
4Wir beziehen uns hier auf die phänomenologische Tradition, in der mit
Leiblichkeit
nicht nur die körperlich-instrumentale Beteiligung am Geschehen, sondern immer schon eine anthropologische Doppelung gemeint ist: Dem Körper, den wir haben und den wir einsetzen können, um eine geplante Bewegung auszuführen, steht der Leib, der wir sind, mit seiner nicht-beherrschbaren Impulsivität gegenüber (vgl. Plessner 1980; Meyer-Drawe 1988; Seewald 1992)
Damit ist eine grundlegende Frage angesprochen, die die Unterscheidung zwischen kompositorischem Kalkül und improvisatorischer Spontaneität beinhaltet und wegen ihrer Fundamentalität an einer kurzen, einfachen Figur, einem kleinen Ausschnitt aus einer längeren Improvisation besprochen werden kann.
Notenbeispiel 4
[142:39] Man hört eine kleine, dreiteilige Melodie, gespielt in gleichmäßigen Vierteln. Das Kind verfügt über mindestens zwei syntaktische Kategorien, die der Wiederholung und die der Variation. Den auffallendsten Teil dieser Tonfolge stellt der Schluß, die Variation, dar. Er sprengt sowohl harmonisch als auch melodisch, durch die Erweiterung des Ambitus zur übermäßigen None sowie die Sprünge und Richtungswechsel, den Rahmen des bis hierher Erwarteten; er schließt durch Beibehaltung des Metrums und den wiederholten Beginn auf c aber auch an das Vorige an. Was war der Anlaß zu dieser Schlußfigur?
[142:40] Mit diesem
Ausbruch
antwortet dieser Schluß auf eine Tendenz, die in den beiden Anfangsteilen bereits angelegt ist, und zwar durch das Anschlagen der Sexte a. Mit ihr nämlich ist die Melodie bereits über den möglichen Ruhepunkt, |a 706|die Quinte, und damit über die eingeschlagene Tonart C-Dur, hinausgegangen, wodurch nun in der Folge ein Ausfüllen dieses nur erst angedeuteten Klangraums nahegelegt wird.
[142:41] Das Kind reagiert also in dieser Schlußfigur auf einen vom Klang ausgehenden tonalen Impuls, es nimmt den erst selbst produzierten, dann aber von außen wieder herantretenden Klang auf und läßt von ihm zu einer Antwort sich bewegen. Hervorhebenswert erscheint uns nun, daß diesem Impuls nicht einfach
irgendwie
nachgegeben wird, sondern daß das Kind die Empfindung sogleich in eine musikalisch-syntaktisch sinnvolle Form transformiert, vor allem durch die Beibehaltung des gleichmäßigen Schlages.
[142:42] Wenn man diese, uns so ganz und gar selbstverständliche Gleichmäßigkeit der Tonfolge nun einmal in ihrer Entstehung beobachtet, so kann man sehen, daß die vollzogenen Körperbewegungen ganz andere sind als die, die wir hörend wahrnehmen. Die sichtbaren Bewegungen des am Xylophon stehenden Kindes nämlich sind mal schneller, mal langsamer, abgehackt, von Momenten des Stillstands durchzogen, kurz: alles andere als gleichmäßig. Mit seinem Eigenbewegungssinn nimmt das Kind diese ausgeführten Bewegungen aber in jedem Moment der Ausführung auch wahr, es könnte sonst seine Bewegungen nicht kontrollieren und gezielt einsetzen, so daß es während des Spielens vor der Aufgabe steht, zwischen den Empfindungen des Bewegungssinns und den davon verschiedenen des Ohres zu vermitteln.
[142:43] Die Resonanz kann daher nicht Verschmelzung, ganzheitliches Eins-Sein von Klang und Körper bedeuten, wie nicht nur Musiktherapeuten uns zuweilen glauben machen wollen und wie es Herder noch vorschwebte, der übrigens den metaphorischen Gebrauch der Konsonanz bevorzugte; vielmehr kann gerade aus dem Widerstreit der verschiedenen Leibsensationen heraus – und wir haben hier nur erst zwei benannt – die Aufforderung zur Vermittlung, und damit musikalische Form, entstehen. Gerade hier vermuten wir einen möglichen Übergang von der Resonanz zur Reflexion. Musikalische Formgebung und leibliche Responsivität sind also auf ganz elementarer Ebene schon gegenseitig aufeinander verwiesen. Weder kann die Syntax nur aus der Leiblichkeit allein entstehen, d.h. ohne die kognitiven Vorstellungen von Wiederholung und Variation, die der Erinnerung und der Antizipation bedürfen, noch entfalten sich diese unabhängig von den leiblichen Impulsen, vom Angesprochensein des Leibes durch den Klang.

4. Interaktion

[142:44] Wir haben bisher, auf der Suche nach dem zweiten Glied der Metapher, Einzelaspekte der musikalischen Tätigkeit auf das Individuum hin beschrieben. Der nicht nur abendländische, sondern wohl musikanthropologisch viel häufigere Fall aber ist der des musikalischen Miteinanders. Wenn wir uns also jetzt noch einem zweistimmigen Stück zuwenden, wird die Sache einerseits komplizierter, weil nun alle Momente, die das Individuum betreffen, verdoppelt werden und außerdem das
Zwischen
, die Beziehung der Stimmen, der Personen, der Instrumente, thematisiert werden muß; andererseits aber lassen sich im Fall der musikalischen Interaktion Sprachähnlichkeiten eher als sonst geltend machen, |a 707|so daß für das Nachdenken einige Werkzeuge schon bereitliegen. In dem gewählten Beispielstück ist das Spiel von zwei Mädchen auf Trommel und Xylophon dokumentiert. 5
5Das Notat gibt nur einen Ausschnitt der längeren Gesamtimprovisation wieder.
Notenbeispiel 5
[142:47] Der Eindruck, daß die beiden Kinder sich gegenseitig zuhören, Raum geben und aufeinander Bezug nehmen, läßt sich durch das Notat schnell bestätigen. Den interaktionistischen Sinn dieses Stückes versteht man jedoch erst, wenn man von den spielenden Personen einen Augenblick sich entfernt und damit auch von dem vertrauten Vokabular des Beziehungsaspektes zwischenmenschlicher Interaktion.
[142:48] Es ist ein sparsames Stück, das mit ganz wenig Material auskommt, in dem die Pausen fast wichtiger zu sein scheinen als die erklingenden Töne, keine Spur von Geschwätzigkeit. Es entwickelt sich in diesen wenigen Takten eine quasi-kontrapunktische Eigenständigkeit der Einzelstimmen, jedoch nicht durch kontrastierendes Gegeneinanderstellen von Verschiedenem, sondern durch Imitation und minimale Variation der je anderen Stimme. Indem sie sich einander ähnlich machen, und zwar besonders zu Beginn, wo abwechselnd die eine als ein Echo der anderen fungiert, konturiert doch im Laufe des Spiels jede die spezifischen Möglichkeiten ihres Instruments, jedoch so, daß die Möglichkeiten des sinnvollen Miteinanders niemals gefährdet sind. Dies wird besonders deutlich zu Beginn der zweiten Zeile (Takt 6), wo die Trommel die ausholende melodische Linie des Xylophons unterstützt, zugleich aber einen neuen rhythmischen Vorschlag macht, indem sie die Idee der Auftaktigkeit ins Spiel bringt. Dies wird wiederum von der Oberstimme aufgegriffen, und daraus ergibt sich für beide die Möglichkeit der abschließend ausgeführten Punktierung, denn die innehaltende Pause vor dem gespielten Auftakt enthält eben diese Punktierung. So spielen beide jeweils mit eigener wie mit der Fremdperspektive, begegnen sich im Lichte der je anderen.
[142:49] So wie wir bei den Beispielen gefragt haben, ob denn das Kind im musikalischen Spiel über sich rede, ob es
etwas
von sich zur Darstellung bringe oder |a 708|kommentiere, so müssen wir uns jetzt fragen, ob denn unsere Beschreibungen des tönenden Geschehens uns dieser Frage überhaupt näher gebracht haben. Über den Inhalt, das Material der Bildungsbewegung, die zu beschreiben wir uns bemüht haben, ist im Medium der Töne offenbar nur auf Umwegen etwas zu erfahren. Wir müssen uns eingestehen, daß die musikalischen Selbstäußerungen sich dagegen sperren, in eine diskursive Sprache im Sinne bildungstheoretischer Annahmen überführt zu werden. Sie enthalten keine zuverlässige Mitteilung an uns, worüber das Kind spricht, aber doch wenigstens darüber, wie es spricht. Daß wir dennoch behaupten, es spreche über sich, es kommentiere sein
Ich
, es bringe einen Entwurf seiner selbst hervor, und zwar nach der Logik der metaphorischen Rede, ist einer ästhetischen Tradition der Moderne geschuldet, von der gleich noch die Rede sein soll.
[142:50] Indessen waren aber auch die angesprochenen Thematiken – Mimesis, Stimmungswechsel, Leib und Interaktion – nicht willkürlich, sondern vielmehr so gewählt, daß jedenfalls Ansätze zur Überwindung jener Kluft möglich schienen. Es sind solche Themen, die am ehesten anschlußfähig an das musikalische Material sind, weil sie aufgreifen, was Musik
von sich aus sagt
, spekulative Assoziation in erträgliche Grenzen weisen und doch über die reine Beschreibung hinauszugehen erlauben. Was also, so muß man sich selbstkritisch fragen, ist durch die Interpretationen gewonnen, worüber wissen wir nun mehr?

Zum Schluß: Einige weiterführende theoretische Andeutungen

[142:51] Musikalische Formgebung, die Erfindung syntaktisch sinnvoller Einheiten sind uns ein Anzeichen für die Aneignung und Distanzierung der durch Töne entstehenden Empfindungen, seien sie nun durch fremde Stücke oder durch selbst hervorgebrachte Töne und Motive entstanden. Der Vorgang der Aneignung und Distanzierung fordert zur Auseinandersetzung mit den in der Leiblichkeit begründeten Widersprüchen vielleicht mehr, jedenfalls anders auf, als das in anderen der Bildung des Subjekts zuträglichen Kontexten der Fall ist. Daß es schwerfällt oder gar unmöglich ist, diese Empfindungen beim Namen zu nennen und sie damit für den bildungstheoretischen Diskurs handhabbarer zu machen, sehen wir weniger als einen Nachteil denn als eine dauerhafte Herausforderung an, musikalischen Produkten von Kindern ihren Eigensinn zu lassen und dafür passende Worte zu suchen. Denn die Behauptung, daß es sich bei diesen Empfindungen – und dasselbe gilt für die beschriebene Form von Interaktion – um nur musikalische Phänomene handelt, die sich der Kollision mit anderen Erfahrungszusammenhängen schlechterdings verweigern, würde nicht nur die Verwendung von Begriffen wie
Empfindung
,
Interaktion
, auch schon
Spannungsaufbau
oder
Leitton
verbieten, sie wäre auch historisch abenteuerlich.6
6Die heute in der historischen Musikwissenschaft vielfach betriebene rein werkimmanente Analyse könnte die Annahme nahelegen, die Selbstbezüglichkeit musikalischer Objekte liege in der
Natur der Sache
. Darüber darf aber die Tatsache nicht vergessen werden, daß die strenge Formalästhetik nur einen Teil musikhistorischer Erscheinungen trifft, nämlich die europäische Kunstmusik der letzten 200 Jahre, die zudem von erweiternden Erklärungsansätzen immer begleitet war und ist.
|a 709|
[142:52] Auch wer also mit Aufmerksamkeit dem Ton-Geschehen folgt und dessen Notationen studiert, auch dem bleibt vermutlich die eigentümliche Sprödigkeit nicht verborgen, die das Material dem bildungstheoretischen Zugang entgegenstellt. Unsere Erkenntnis-Routinen sind derart vom diskursiven Satz dominiert, jedenfalls aber an ihm entwickelt, daß die Wahl anderer Sprachen uns vor ziemlich elementare Schwierigkeiten stellt. Hätten wir als Basismaterial keine musikalischen Äußerungen verwendet, sondern solche, die wir in Gesprächen mit Kindern erhoben haben, dann würde manch eine Barriere vermutlich verschwinden: Wir würden sofort verstehen, wenn in einer Interpretation von Vokabularien, von Grammatik und Syntax, von der Semantik von Objektbezügen die Rede ist – oder wenn man von einer Textpassage sagen würde: hier spricht das Kind über sich. Demgegenüber sind Feststellungen wie
Dies ist ein Tritonus
,
hier setzt sich der Grundtonbezug durch
,
jetzt wird variiert
,
hier vergrößert sich der Ambitus
schon vom beschreibenden Vokabular her schwierig, ein Vokabular, das ja in einem weiteren methodischen Schritt auf das bezogen werden müßte, was wir Selbstbeschreibung nennen. Das sind methodisch nicht leicht zu lösende Aufgaben7
7Ein heikles methodisches Problem, das im Vorstehenden nicht zum Thema gemacht wurde, ergibt sich aus den Könnens-Beständen unserer Kinder-Stichprobe: Allesamt ungeübt im Spiel auf den Instrumenten, haben sie Figuren entstehen lassen, die häufig zufällig, also von einem Mangel an technischer Beherrschung des Instruments abhängig sind. Solche
Partikel
sind natürlich kaum als gestalterische Intentionen interpretierbar. Überhaupt scheint uns die intentionale Komponente der ästhetischen Tätigkeit von Kindern eine schwierige Frage zu sein, die genauerer Prüfung bedarf.
, und wir befinden uns damit durchaus noch im Stadium einer unabgeschlossenen
Selbstalphabetisierung
.
[142:53] Nun ließe sich einwenden, daß der Aufwand die Mühe nicht lohnt. Ein solcher Einwand könnte von der Musiktheorie her vorgetragen werden, etwa mit dem Argument, musikalisches Material als Selbstbeschreibung zu interpretieren, führe notwendig in theoretisch haltloses Spekulieren oder Assoziieren hinein. Einwände wären aber auch von seiten der Bildungstheorie denkbar, nämlich: Ist das, was wir über die sprachlichen Äußerungen von Kindern, aus ihren Zeichnungen und Malereien, aus Beobachtungen ihres sozialen Verhaltens erfahren können, nicht vollständig hinreichend; was könnte die Analyse musikalisch-metaphorischer Äußerungen darüber hinaus erbringen? Auf beide Fragen vermögen wir keine überzeugende Antwort zu geben. Unsere Vermutungen sind indessen so stark, daß wir ihnen, bis zum Erweis ihrer Vergeblichkeit, noch einige Zeit lang folgen werden. Wir haben dafür u.a. einen Grund, der in eher abstrakten theoretisch-begrifflichen Erwägungen liegt. Eingangs wurde auf die drei Vokabeln
Reflexion
,
Responsivität
und
Resonanz
hingewiesen. Wir denken nun, daß man sie in einer Reihe anordnen kann, nicht im Sinne einer Genese, sondern im Sinne wechselseitiger Bezüglichkeit oder gar Fundierung:
Resonanz
wäre dann das Ensemble der organismisch zentrierten Vorgänge;
Responsivität
wäre das tatsächliche oder phantasierte Antworten auf die Grundempfindung des Mitklingens;
Reflexion
wäre der Versuch, beides im Bewußtsein zu repräsentieren. Jeder dieser drei Begriffe ist nur sinnvoll, wenn er so gedacht wird, daß er aus zwei verschiedenen Gliedern besteht: die benachbarten Zellen bzw. die Wahrnehmungskontakte; das zum Gegenüber werdende Andere; die Konfrontation von
Ich
und
Selbst
. In jeder dieser drei Zusammenfü|a 710|gungen erscheint immer das eine im Lichte des anderen. Das ist der Grund dafür, daß uns für unsere Überlegungen die Metaphern-Theorie Paul Ricoeurs wichtig ist: Obwohl ganz auf die sprachliche Metapher konzentriert, ermittelt Ricoeur ein begriffslogisches Verhältnis, das sich auch für andere Medien geltend machen läßt und das vor allem seine für den Bildungsvorgang produktive Funktion freilegt. Die Musik ist dafür der vielleicht extreme Probefall.
[142:54] Es gibt noch ein anderes Motiv, an der theoretischen Aufklärung der Bildungsrelevanz metaphorisch geäußerter Selbstreflexion interessiert zu sein. Es ist dem
genius loci
geschuldet: Dietrich Benner hat das Verhältnis der sozialen Praxen zueinander als
nicht-hierarchisch
postuliert. Man kann die Verhältnislogik, die darin geltend gemacht wird, auch in das Innere des Subjekts hineinverlegen, da die verschiedenen Praxen ja zugleich auch Dimensionen der Selbstauslegung und Selbstbestimmung des Individuums sind. Was Benner als kulturpolitische Regulierung
nicht-hierarchischer
und
nicht-affirmativer
Beziehungen zwischen den Praxen und insbesondere zwischen der pädagogischen und den anderen anmahnt, und zwar in der Tradition von Aufklärung und klassischer Bildungstheorie, das wiederholt sich gleichsam in der Bildungsbewegung des Subjekts. Man hat gelegentlich gemeint, daß es irreführend sei, die ästhetische Erfahrung u.a. als
idiosynkratisch
zu benennen und diese den pragmatischen Handlungserwartungen strikt entgegenzusetzen, mindestens aber von diesen zu distanzieren (Otto 1994). Wenn man indessen jene Interiorisierung der Praxen-Pluralität Benners gelten läßt, dann verliert die
Idiosynkrasie
-Behauptung ihr Befremdliches; sie hat dann die Funktion geltend zu machen, daß die reflexive Metapher im Umgang mit sich selbst nicht den (vielleicht) hierarchisch angeordneten anderen Bildungs- oder Ausbildungserwartungen geopfert werden solle – in der Theorie etwa schon dadurch, daß man sie nicht zum bildungstheoretischen Thema macht, oder dadurch, daß man sie den institutionalisierten Curricula als nachgeordnet unterwirft. Wie die verschiedenen Praxen, so sollten wir auch die verschiedenen Komponenten von Bildungsvorgängen nicht-hierarchisch denken. Das ist nicht – wie manch einer argwöhnen könnte – eine
postmoderne
Caprice, auch kein konservativer Rückzug in irgendeine Variante von sentimentaler
Innerlichkeit
, sondern gehört zum emanzipatorischen Erbe unserer kulturellen Formation, jedenfalls seit Friedrich Schlegel. Insofern ist den meisterhaften musiktheoretischen Analysen Adornos (1973) nichts hinzuzufügen.
[142:55] Damit ist ein letzter Vorbehalt angesprochen. Metaphorische Exemplifizierungen (Goodman) von
Ich-Selbst
-Verhältnissen sind ein Konstrukt der Moderne. Sie bringen im Medium ästhetischer Äußerungen das Verhältnis des Individuums zu seiner gesellschaftlich-kulturellen Lokalisierung, zu seiner historischen Lage also, zur Sprache, seine Besonderheit, sein Unverwechselbares. Derartige Fragen lagen weder L. B. Alberti (für Malerei und Architektur) noch Tinctoris (für die Musik) im 15. Jahrhundert im Sinn. Sie sind eine Problemstellung der zweiten (um 1800) oder dritten (um 1925)
Klassik
. Für die Musik hatte das Hegel ziemlich überzeugend vorgezeichnet.
Ihr Inhalt ist das an sich selbst Subjektive
(Hegel 1984, Bd. II, S. 262)
,
die Töne klingen nur in der tiefsten Seele nach, die in ihrer ideellen Subjektivität ergriffen und in Bewegung gebracht wird
, eine
gegenstandslose Innerlichkeit
, in der sich
eine Selbstproduktion und Objektivität der Seele
zeige,
ein Ausdruck, der in der Mitte |a 711|steht zwischen der bewußtlosen Versenkung und der Rückkehr in sich zu innerlich bestimmten Gedanken
(S. 273)
, ein
abstraktes Sichselbstvernehmen
(S. 274)
. Diese
gegenstandslose Innerlichkeit
(S. 262)
ist, so verstehen wir Hegel, der äußerste Gegenpol innerhalb dessen, was als Arbeit und Herrschaft, als Herr und Knecht von ihm beschrieben wurde. Die Musiktheorie Adornos hat hier ihren Grund, aber zeigt damit auch ihre Historizität: Das Interesse an musikalischen Figurationen als Metaphern für Selbstbeschreibungen findet seine Rechtfertigung in der Treue zu einer historischen Überlieferung, vielleicht einer Fiktion, aber einer produktiven: daß das
bürgerliche
Subjekt mehr ist als die Summe seiner Sozialisationen.

Literatur

    [142:56] Adorno, Th. W.: Einleitung in die Musiksoziologie. In: Gesammelte Schriften, Bd. 14. Frankfurt a. M. 1973.
    [142:57] Benner, D.: Allgemeine Pädagogik. Weinheim/München 1987.
    [142:58] Cramer, F.: Gratwanderungen. Das Chaos der Künste und die Ordnung der Zeit. Frankfurt a. M. 1995.
    [142:59] Dahlhaus, C.: Klassische und romantische Musikästhetik. Laaber 1988.
    [142:60] Hegel, G. F. W.: Ästhetik. 2 Bde., hrsg. v. F. Bassenge. Berlin/Weimar 1984.
    [142:61] Merleau-Ponty, M.: Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin 1965.
    [142:62] Meyer-Drawe, K.: Unerwartete Antworten. Leibphänomenologische Anmerkungen zur Rationalität kindlicher Lebensformen. In: Acta paedopsychiatrica 51 (1988), S. 245–251.
    [142:63] Meyer-Drawe, K.:
    Die Welt betrachtet die Welt
    oder: Phänomenologische Notizen zum Verständnis von Kinderbildern. In: H.G. Herrlitz/Chr. Rittelmeyer (Hrsg.): Exakte Phantasie. Pädagogische Erkundungen bildender Wirkungen in Kunst und Kultur. Weinheim/München 1993, S. 93–104.
    [142:64] Mollenhauer, K.: Ästhetische Bildung zwischen Kritik und Selbstgewißheit. In: Zeitschrift für Pädagogik 36 (1990), S. 481–494.
    [142:65] Mollenhauer, K.: Grundfragen ästhetischer Bildung. Theoretische und empirische Befunde zur ästhetischen Erfahrung von Kindern. Unter Mitarbeit von C. Dietrich/H.-R. Müller/M. Parmentier. Weinheim/München 1996.
    [142:66] Otto, G.: Lernen und ästhetische Erfahrung. Argumente gegen Klaus Mollenhauers Abgrenzung von Schule und Ästhetik. In: L. Koch/W. Marotzki/H. Peukert (Hrsg.): Pädagogik und Ästhetik. Weinheim 1994, S. 145–159.
    [142:67] Plessner, H.: Anthropologie der Sinne (1970). In: Gesammelte Schriften Bd. III. Frankfurt a. M. 1980.
    [142:68] Ricoeur, P.: Die lebendige Metapher. München 1986.
    [142:69] Schleiermacher, F. D.: Vertraute Briefe über Lucinde. In: Sämtliche Werke, 3. Abtheilung, Bd. 1. Berlin 1846, S. 421–506.
    [142:70] Schmitz, H.: Der Leib im Spiegel der Kunst. Bonn ² 1987.
    [142:71] Seewald, J.: Leib und Symbol. Ein sinnverstehender Zugang zur kindlichen Entwicklung. München 1992.
    [142:72] Simmel, G.: Schriften zur Soziologie. Frankfurt a. M. 1983.

Abstract

[142:73] The authors discuss the results of a research project in the course of which children with no preparatory musical training were asked to improvise on short pieces of music. These compositions are interpreted as
self-descriptions
. To consider the musical expressions of a child as speech about him- or herself or, rather, as expressions of the
Self
, does not, however, make them accessible to straightforward interpretations since they are not unequivocal. Still, these pieces of music carry |a 712|expressions relevant to the Self which may also be approached from the pedagogical perspective. To achieve this, the authors apply the heuristic assumption that the musical material contains
metaphors
which may in many respects – i.e., mimetic resonance, mood, body control, interaction – be described as self-reflexive.