Was ist Erziehung – und wann kommt sie an ihr Ende?
[145:1] Einige Schlagworte beherrschen derzeit das Feld publizistischer
Auseinandersetzungen über das, was wir
“Erziehung”
nennen. Die einen proklamieren das
“Ende der Erziehung”
,
teils billigend, teils beklommen. Andererseits aber wird ein Zuwenig an
Erziehung beklagt, insbesondere im Hinblick auf einen vermeintlichen
Wertverlust, der durch Erziehung auszugleichen sei – so als wären Eltern und
Lehrer schuld an dem, was in unserer Zivilisation, häufig mit Recht, als
beklagenswert beschrieben wird. Da hinein mischen sich, aus der Geschichte
des pädagogischen Denkens gut bekannt, mal Ohnmachts-, mal
Allmachtphantasien. Daß Erziehung gegen die herrschenden Trends der
Zeitläufe nichts vermag, das ist die eine Meinung. Die andere hingegen
versucht ihr aufzubürden, die Mängel wettzumachen, so, als könnte nun ein
spezieller Berufsstand ins Reine bringen, was durch Politik, Ökonomie und
Sozialstruktur ins Schlechte gebracht wurde. Aber weder sind die, die sich
am Geschäft der Erziehung beteiligen, ohnmächtig, noch sind sie allmächtig.
Sie können zwar dem Weg der Geschichte keine breiten, die Infrastrukturen in
Form bringenden Straßen bauen, aber sie können, im Bild gesprochen, kleine
Pfade schlagen und sie begehbar machen, auch wenn ungewiß sein sollte, wo
sie ankommen. In dieser Lage werden Pädagoginnen und Pädagogen leicht zu
Sündenböcken stilisiert.
[145:2] Ich will nun im folgenden nichts anderes tun, als den Versuch zu
unternehmen, den Ausdruck
“Erziehung”
begrifflich zu
erläutern, zunächst sehr akademisch, dann aber mit Bezug auf einige aktuelle
Problemstellungen. Ich beginne mit einem Definitionsversuch (1), nehme dann Bezug auf die sogenannte Wertedebatte
(2), skizziere Schwierigkeiten, die manch einer
heute mit
“liberaler”
Erziehung hat (3) und bringe abschließend gegenwärtige Probleme des
Generationsverhältnisses zur Sprache (4).
1.Ein Definitionsversuch
[145:3] Es gibt gelegentlich Stimmen, die der Meinung Ausdruck geben,
“Erziehung”
sei ein derart unbestimmter Begriff, daß
sich mit ihm zuverlässig nicht operieren ließe, schon gar nicht im Interesse
an einer wissenschaftlich gestützten Argumentation. Ich teile diese Meinung
nicht, wenngleich ich zugeben muß, daß häufig, wenn das Wort
“Erziehung”
verwendet wird, ein deutlicher Begriff von
der Sache fehlt. Aber so ist es oft mit Vokabeln, die doppelt verortet sind,
in der Alltragsrede und im wissenschaftlichen Diskurs. Ich will deshalb versuchen, in
solche Undeutlichkeiten hinein etwas Durchsicht zu bringen.
[145:4] Zunächst ist gar nicht zu bestreiten, daß die Bedeutung dieses
Ausdrucks unserer Sprache historische Veränderungen erfahren hat und also
nicht zu allen Zeiten gleichbedeutend war. Schon an den Verschiedenheiten
der Rede über die je gemeinten Sachverhalte in den verschiedenen Sprachen
heute zeigt sich das Problem. Jede Kultur umschreibt den interessierenden
Sachverhalt mit den je eigenen Vokabularien. Es gibt also den Sachverhalt,
und es gibt das Vokabular. Wer heute etwa vom
“Ende der
Erziehung”
spricht, meint damit vielleicht nur das Ende einer
Redeweise, die ihm nicht mehr passend genug scheint. Ob es sich auch um das
“Ende”
des Sachverhalts handelt, ist damit noch nicht
entschieden. Ich möchte versuchen, Vokabel und Sachverhalt so deutlich
aufeinander zu beziehen, daß Irritationen vermeidbar werden,
“Erziehung”
also weiterhin als Terminus
verwendet werden kann.
[145:5] Um den Sachverhalt, den wir mit dem Wort
“Erziehung”
ins Auge zu fassen versuchen, zu definieren, scheint es
mir nützlich zu sein, ihn nach wenigstens zwei Seiten hin abzugrenzen. Das
Wort ist offenbar nicht gleichbedeutend mit dem Wort
“Dressur”
– wenngleich frühere Jahrhunderte die
“Zucht”
, als im Wort Erziehung etymologisch enthalten, damit
bedenkenloser assoziierten. Im Vorgang der Erziehung mag es einige Akte
geben, die der Dressur mindestens verwandt sind. Das Ganze der über viele
Jahre und Entwicklungsstufen sich hinziehenden Tätigkeit wird man aber kaum
“Dressur”
nennen können. Schon die Rolle der Sprache
als eines distanzierenden Symbolsystems verbietet eine solche
Gleichsetzung.
[145:6] Ein anderer sprachlicher Ausdruck, der besonders in der deutschen
Sprache gelegentlich in Konkurrenz zu
“Erziehung”
tritt,
ist
“Bildung”
. Hier fällt die Abgrenzung etwas schwerer.
Wir können sagen:
“ich erziehe dich”
, aber auch:
“ich bilde dich”
. Beide Sätze scheinen, nach
herrschendem Sprachgebrauch, sinnvoll zu sein. Der zweite Satz enthält
indessen ein Problem. Seit Nicolaus
Cusanus im 15. Jahrhundert seine Skepsis vortrug, ist sie bis in
die Gegenwart nicht verstummt: Ist der Satz nicht anmaßend, enthält er nicht
eine Omnipotenzphantasie? Ist es nicht vielmehr so, wenn wir die Freiheit
des Menschen unterstellen, daß er sich allenfalls selbst bilden kann,
freilich durch andere darin angeregt, befördert oder auch behindert? Es
handelt sich demnach, im Prozeß der Bildung, um einen Vorgang, in dem das
Subjekt sich selbst, lernend und darin in der Regel von anderen unterstützt,
in eine Gestalt bringt und diese immer wieder verändert. Deshalb endet der
Bildungsvorgang des Menschen erst im Tode.
[145:7] Erziehung freilich endet wesentlich früher. Im Unterschied zur
Bildung meinen wir mit ihr von Anfang an und in der Regel ein
Sozialverhältnis, ein auf den anderen gerichtetes Handeln. Erziehung ist
zweckrational, kann gelingen oder mißlingen. Nun hat man lange Zeit diese
Art von Handlungen streng ausgelegt, so als sei Erziehung immer und überall
ein persönlich bestimmtes Einwirken auf die nachwachsende Generation. Die
Familie gab – und gibt häufig immer noch – das Muster dafür ab. Das ist
indessen eine Vorstellung, die revisionsbedürftig ist. Schon zum
Jahrhundertbeginn fing man an,
“intentionale”
von
“funktionaler”
Erziehung zu unterscheiden, d. h.
zwischen einer Erziehung, die in persönlichen Beziehungen Absichten
verfolgt, und einer anderen, die dadurch charakterisiert ist, daß sie
anonym, nicht über Personen, sondern über Verhältnisse ihre Wirkung ausübt;
seitdem ist es sinnvoll zu sagen, daß auch Milieus erziehen. Später dann
war, in Fortsetzung dieser Redeweise, von den
“geheimen
Miterziehern”
die Rede – das waren vor allem die
“Straße”
und die Medien. Schließlich wurde in der modischen Vokabel
“Sozialisation”
alles in einen Topf geworfen. Eltern,
Pädagogen, Institutionen werden zu sogenannten
“Sozialisationsagenten”
. Der erste Schritt brachte eine Erweiterung
der Problemstellung, der letzte ihre Vernebelung.
[145:8] Der erste Schritt ist eine Präzisierung dessen, was
“Erziehung”
bedeutet, und zwar belehrt durch den
Kulturvergleich. Es ist nämlich schwer einzusehen, daß ein individuell
ausgesprochener Appell – etwa: sei vorsichtig im Umgang mit Dingen und
Tieren – erzieherisch sein soll, hingegen die Berufung auf einen kollektiven
Mythos, der gleiches besagt, nicht. Wer
“erzieht”
in
solchem Fall: die erzählende Person oder die im Mythos mitgeteilte
Erzählung? Wir müssen wohl sagen: beide
“erziehen”
. Oder
wie steht es mit Fußgängerzonen und dem dort ausgebreiteten Warenmarkt, mit
Kinderspielplätzen oder der Schulbau-Architektur? Das Problem, das sich mit
der (definitorischen) Frage einstellt, ob solche Arrangements und deren
Wirkungen noch dem Erziehungsbegriff zugeschlagen werden sollen, sollte man
jedoch nicht wie eine Prinzipien-Entscheidung behandeln. Besser scheint mir,
zu |a 156|Siegfried
Neuenhausen, Papa arbeitet in Wolfsburg, Siebdruck,
1973/74|a 157|prüfen, welches die Vorteile oder Nachteile einer
eher engeren oder eher erweiterten Bestimmung des Begriffs sein könnten.
Würde man sich auf den engeren Begriff festlegen, nämlich nur noch personale
Interaktionen zwischen Erwachsenen und Unerwachsenen im Auge haben, dann
käme man vermutlich in Schwierigkeiten, wenn es darum ginge, eine
Untersuchung zur
“Erziehung in der Schule”
oder zur
“Familienerziehung”
durchzuführen und ein Buch darüber
zu schreiben. Es liefe (vermutlich) u. a. darauf hinaus, die persönlich
bestimmten Akte des Lehrpersonals in
“erzieherische”
und
“unterrichtliche”
zu unterscheiden und die anderen
Komponenten des Milieus nur als
“Randbedingungen”
gelten
zu lassen – eine Operation mit großen empirischen Risiken, wenn
“Wirkungen”
zuverlässig ermittelt werden sollen.
Demgegenüber hätte der erweiterte Erziehungsbegriff freilich den Nachteil
größerer Komplexität, aber auch (vermutlich) den Vorteil besserer
Erklärungen: Wenn ich gelten lasse, daß nicht nur Personen, sondern auch
Milieus
“erziehen”
, dann habe ich ein pädagogisches
“Feld”
im Blick, in dem von Anfang an die personalen
Interaktionen relativiert und auf die anderen Komponenten der Einrichtung
bezogen wären; mein Thema wäre dann die erzieherische Funktion des
kulturellen Ortes
“Schule”
.
[145:9] Am Ende dieser thematischen Erweiterung des Erziehungsbegriffs und
der Theorie-Geschichte steht nun aber der Ausdruck
“Sozialisation”
. In diesem Terminus verschwimmt wieder alles;
beliebige Ursachen werden mit beliebigen Wirkungen verknüpft, verbunden nur
noch durch die (freilich wichtige) Frage, auf welchen Wegen ein
Neuankömmling in unserer Gesellschaft zum Mitglied wird. Für
“Neuankömmlinge”
haben wir viele Begriffe oder Namen:
Säugling, Edukand, Zögling, Kaspar Hauser, der Wilde aus dem Wald von Aveyron,
Immigrantenkinder, Asylsuchende, Verwaiste oder Verwahrloste usw.. Diese alle gilt es zu
“sozialisieren”
, so will
es der Ausdruck
“Sozialisation”
. Er bleibt gleichgültig
gegenüber der Frage, in welche gewollte oder ungewollte Richtung der Weg
führt; als Kriterium gilt ihm allerdings der Erfolg, die gesellschaftliche
Funktionalität des Endprodukts. Auch derart extreme Erweiterungen des
Erziehungsbegriffs sind nützlich und zeitgemäß. Sie heben ihn auch aus dem
weltanschaulichen Streit heraus; denn nun kann man sich, gleichsam wertfrei,
auf die Frage konzentrieren, was der Fall ist. Der Gewinn besteht darin, daß
wir nun sagen können, nicht nur Eltern, Lehrer und andere Pädagogen sind
Sozialisationsagenten, sondern auch die Lebensform einer Familie (unabhängig
von dem, was geredet wird), auch die Architektur von Schulbauten (unabhängig
von dem Wollen des Architekten), auch der Warenmarkt, das
Straßenkinder-Milieu, die Clique oder Gang, der jährliche Kirchenbesuch, die
Berufseinmündungsprüfungen, die Stellenanzeigen in den Zeitungen – alle
diese Instanzen sind beteiligt an der
“Sozialisation”
des
Nachwuchses. Diese Erweiterung des Erziehungsbegriffs zur
“Sozialisation”
hin ist zwar – ich sagte es schon – nützlich, macht
sie uns doch deutlich, wie pluralisiert das Feld ist, in dem wir uns
theoretisch-geordnet zu bewegen versuchen. Dennoch wird hier eine Schwelle
überschritten, an der ich festhalten möchte. Im Ausdruck
“Sozialisation”
wird die Verantwortlichkeit eingeklammert oder
suspendiert, die im Ausdruck
“Erziehung”
immer noch
mitgemeint ist. Wenn ich also einerseits dafür plädiere, den
Erziehungsbegriff auf Millieus hin zu erweitern, dann ist mir andererseits auch die Grenze zum
Sozialisationsbegriff hin wichtig. Zwar könnte man, mit Blick auf unsere
Gegenwart und etwas überspitzt, sagen, daß das Heranwachsen von Kindern und
Jugendlichen Stück für Stück den Personen aus der Hand genommen und auf
anonyme Instanzen unserer Gegenwartskultur verschoben wird. Aber immer noch
(!) bleibt ein guter Teil der Milieus, der
“Sozialisations-Agenturen”
und
“Instanzen”
in der
Reichweite persönlicher Verantwortung. Ob überhaupt und wie vier- oder
fünfjährige Kinder, die schon über Taschengeld verfügen, am Warenmarkt
teilnehmen sollen, diese Frage ist durch die Existenz von überbordenden
Spielzeugabteilungen in den Kaufhäusern nicht erledigt. Wie ein
Schulgebäude, außen und innen, beschaffen ist, kann vom Gestaltungswillen
der Gemeinde und des Lehrpersonals immer noch erreicht werden. Zwar haben
Familien im häufigsten Fall keinen Einfluß auf den Grundriß ihrer Wohnungen;
ob sie aber daraus ein erziehungsförderliches Milieu machen, liegt in der
Reichweite ihrer pädagogischen Verantwortlichkeit – freilich häufig in den
sehr engen Grenzen, die der Wohnungsbau vorgibt. Erziehung findet also dort
statt, wo die
“Sozialisationsinstanzen”
noch nicht derart
anonym geworden sind, daß es sinnlos wäre, persönliche, letzten Endes auf
Interaktionen rückbeziehbare Verantwortlichkeit geltend zu machen;
andererseits aber sind solche persönlichen Interaktionen nur Teil
eines Wirkungsfeldes, das nicht nur eine Fülle von Alltagshandlungen
umgreift, die häufig, jede für sich, gar nicht als
Erziehungs-Handlungen gemeint sind, sonder auch die materiellen und symbolischen Komponenten der Umwelt, die
noch in der verfügbaren Reichweite der Erwachsenen liegen.
[145:10] Meine Definition von Erziehung könnte demnach die folgende Form
haben: Erziehung ist der Inbegriff aller Handlungen und deren Produkte, die
den Zweck haben, den Nachwuchs mit den (letzten Endes zu rechtfertigenden)
Lebensformen der Kultur in ihren Grundlinien vertraut zu machen.
2.Werte
[145:11] Eine solche Perspektive ist für viele immer noch und mit gutem
Grund unbefriedigend. Es ist der gleichsam kalte Blick der Wissenschaft von
außen. Wer in den praktischen Vorgang
“Erziehung”
involviert ist, hat Sorgen, die entschieden darüber hinausgehen. Seine
Perspektive ist nicht die des Beobachters, sondern die des Beteiligten. Das
zeigt sich besonders dann, wenn es um Bewertungen geht. Kein
Erziehungsakt ist denkbar, in dem nicht der Lern- oder Bildebewegung des
jungen Menschen eine Richtung, unterschieden nach gut und böse, wenigstens
nahegelegt wird. Wer erzieht, tut dies nicht als instinktives Verhalten. Er
handelt, und das heißt, daß er oder sie im Hinblick auf ein
Ziel tätig ist, selbst dann, wenn das Ziel dem Bewußtsein nicht beständig
präsent sein mag, oder wenn ungewiß bleibt, ob die Handlung tatsächlich
geeignet ist, das Ziel empirisch zuverlässig zu erreichen. Die
Erziehungshandlungen nämlich gewinnen ihre Form in der Regel nicht durch
einen bewußten zweckrationalen Entschluß (
“Ich schmuse jetzt
nach dem Wickeln mit dem Säugling noch ein wenig, damit er im
Verhältnis zu mir eine elementare Lebenszuversicht entwickeln kann und
später dann Frustrationen besser erträgt”
; oder
“Ich
entwerfe jetzt die Dachschrägen und die Eingangshalle der Schule so,
damit die Schülerinnen und und Schüler sich heimisch fühlen und ihre Lernmotivation
steigt”
). Sie gewinnen ihre Form durch den Anschluß an einen
“Habitus”
, innerhalb dessen das Zweck-Mittel-Kalkül nur
den geringsten Raum einnimmt. Die Absicht, die wir darin verfolgen, besteht
darin, innerhalb eines Wertkonsenses zu handeln, der weniger die einzelnen
und zweckentsprechenden Handlungsschritte artikuliert, sondern eine
Gesamtform oder Gestalt der Situation möglich macht, in der wir
dann handeln.
[145:12] Nun hat sich gerade an dieser Frage das entzündet, was seit
einiger Zeit
“Wertedebatte”
heißt. Dabei werden häufig
Appelle an Pädagogen vorgetragen, die sich individualisierend lesen lassen.
Eltern sollten die
“Werte”
ihren Kindern gegenüber
deutlicher akzentuieren, Lehrer und Lehrerinnen sollten in den Kontexten des
Unterrichts derartiges unmißverständlich zur Darstellung bringen, die
Bildungspolitik solle dafür sorgen, daß derartiges befördert wird. Es
scheint mir völlig richtig zu sein, darauf hinzuweisen, daß Erziehung immer,
absichtlich oder unabsichtlich, einer Wertorientierung folgt. Falsch aber
scheint mir eine Meinung zu sein, die darauf hinausläuft, daß die je
individuellen Pädagoginnen und Pädagogen die dafür vorwiegend
verantwortliche Instanz seien. Dieser Meinung kann man nur sein, wenn man
den folgenschweren Fehler begeht, die Wertverwirklichungen einzelnen und |a 158|je nur persönlich zu verantwortenden
Erziehungshandlungen aufzubürden. Es gibt deshalb in der gegenwärtigen
Wertedebatte kaum etwas Dümmeres, als Eltern, Erzieherinnen und Erziehern
oder Lehrpersonen für den angeblichen Verfall der Werte vorwiegend
verantwortlich zu machen. Ich will damit nicht sagen, daß diese alle von der
Verantwortung entlastet wären; ich will nur sagen, daß solche
Schuldzuweisungen in die Irre gehen. Aus diesem Anlaß oder Grund sagte ich,
daß die Optionen für Werte weniger in den je individuellen Handlungen
aufgespürt werden müssen, sondern in einer als wertvoll beurteilten Form des
gemeinsamen Lebens, in einem Zustand von Kollektiven also.
[145:13] Derartige Fragestellungen wurden schon vor ca. 20 Jahren in
Verwirrung gebracht, als unter dem irreführenden Motto
“Mut
zur Erziehung”
besonders den Schulen die sogenannten sekundären
Tugenden, die
“Normen”
als für Erziehung und Unterricht
vordringlich zur Verwirklichung empfohlen wurden. In der
sozialphilosophischen Diskussion wird indessen zwischen Norm und Wert wohl
unterschieden. Normen im täglichen Handeln sind
“Maximen”
, in denen das situativ Sinnvolle auf das kategorisch Geltende
bezogen wird, und zwar so, daß eine Norm nur dann akzeptiert werden muß,
wenn sichergestellt oder wahrscheinlich ist, daß sie der Verwirklichung des
(höherrangigen) Wertes dient. Man kann das auch so formulieren:
“Normen”
folgen je aktuellen Nützlichkeitserwägungen;
“Werte”
hingegen sind auf historische Dauer hin
entworfene Orientierungen, die das Selbstverständnis ganzer Gesellschaften
betreffen. Am Beispiel gesprochen:
“Pünktlichkeit”
oder
“Respekt vor dem Eigentum”
sind Normen; ihre
Legitimität erhalten sie aber letzten Endes nur durch den Wert, dem sie
dienlich sein sollen. Man sieht dann rasch, daß eine Pädagogik, die
bedenkenlos auf Normen setzt, weil einige von diesen uns aktuell als zu
wenig durchgesetzt erscheinen, ziemlich kurzatmig wäre. Ich
jedenfalls mochte doch nie Kinder erziehen oder Schülerinnen und Schüler so
unterrichten, daß ich sie zwar an die Normen gewöhnte, ihnen die kritische
Distanz zu den Werten aber vorenthielt.
[145:14] Insofern also sind Werte und Normen ein höchst sinnvoller
Gegenstand eines aufklärenden Unterrichts. Da aber alles Unterrichten – und
hier erinnere ich an meine
“Definition”
von Erziehung –
unweigerlich innerhalb von Milieus vollzogen wird, die nolens volens
“erziehen”
, betrifft die Wertedebatte nicht nur einen
Gegenstand innerhalb eines Sekundarstufen-Curriculums, sondern unseren
“gesamtpädagogischen”
Habitus. Anekdotisch gefragt: Wie
geht man mit unpünktlichen Schülerinnen und Schülern um? Erst in der Art und
Weise des Umgangs mit Normen zeigt sich, ob man sich an den übergeordneten
Werten orientiert oder ob man die aktuelle Nützlichkeitsnorm als letzte
Legitimationsinstanz gelten läßt. Lassen wir diese zweite Variante zu, dann
kommt das einer partiellen Entmündigung des professionellen pädagogischen
Personals gleich. Sollte unsereins nämlich vornehmlich darauf verpflichtet
werden, die gewiß gelegentlich oder gar häufig zu beobachtenden
Norm-Verletzungen von jungen Menschen nur strikt zu ahnden, dann würde,
neben den unterrichtlich vielleicht differenzierenden und aufklärenden
Diskursen mit Namen
“Werte und Normen”
, ein
Erziehungsmilieu etabliert, das den Namen
“repressiv”
zu
Recht verdient. Gibt es (also) pädagogische Umwelten, Milieus,
Handlungsstile, die die in unserer Gesellschaft immer noch geltenden (nicht
unbedingt
“herrschenden”
) Werte der, französich gesprochen,
“Liberté”
,
“Egalité”
und
“Fraternité”
als Grundorientierung, freilich mit
einigen historischen Modifikationen, aufrechterhalten und die (partikularen)
Normen in ein rechtes Verhältnis zu diesen setzen?
3.
“Liberale”
Erziehung
[145:15] Seit den 20er Jahren durchzieht die pädagogischen Diskussionen
eine Fragestellung, die es mit den Normen und Werten der Erziehung
fundamental zu tun hat. Das war damals eine Außenseiterposition, verbunden
(etwa) mit den Namen Siegfried
Bernfeld, Georg
Reichwein, Anna
Freud, auch hier und damit mit den Gründern von
Landerziehungsheimen, auch mit dem Franzosen Freinet, mit Montessori und anderen. Gegen Ende der 60er Jahre
wurde das alles einerseits neu aufgemischt, andererseits auf den Punkt
gebracht, das heißt, einer Entscheidungsfrage zugeführt: Wie muß das
pädagogische Milieu beschaffen sein, damit die wesentlichen Werte einer
demokratischen und friedfertigen Kultur in Geltung bleiben, und zwar schon
in den ersten Anfängen des Erziehungsprozesses? Das Konzept solcher Milieus
war der praktische Versuch einer Antwort auf die Frage Adornos, ob und in welcher Weise eine
“Erziehung nach Auschwitz”
möglich sei.
“Auschwitz”
ist, in erziehungspragmatischer Sicht, das Symbol für die
Liquidation nicht nur von empirischen Menschen, sondern auch von Werten, bei
Aufrechterhaltung alltäglicher Handlungsnormen. Das war der argumentative
Kern dessen, was den Namen
“Emanzipationspädagogik”
trug
– abgesehen von kurzfristigen und zumeist auch dümmlichen Phantasien von
“Klassenkampf”
auf der einen und von
Laissez-Faire-Attitüden auf der anderen Seite möglicher Extreme.
[145:16] Es ist also vernünftig zu fragen, ob die seit den 60er Jahren
vermehrt aufgetretenen
“liberalen”
Erziehungsmilieus in
irgendeine Kontinuität zu den gegenwärtig beklagten Werteverlusten gebracht
werden können, und zwar in empirischer Argumentation, nicht in der Form von
Meinungsbildern, die (z. B.) in der FAZ von Redakteuren und Leserbriefen in Szene
gesetzt werden.
“Empirische Argumentation”
nenne ich
beispielsweise die Beantwortung der Frage, in welchen pädagogischen Milieus
Jugendliche heranwachsen, die zu Gewalttätigkeiten neigen.
[145:17] Ich nenne solche pädagogischen Milieus, z. B. die damals
gegründeten antiautoritären Kinderläden,
“liberal”
deshalb, weil sie die Frage nach den Werten – allen voran die der westlichen
Demokratien – höher stellten als die Frage nach den Normen, den
“sekundären Tugenden”
. Tut man das, dann kommt alles
darauf an, daß die Form des Lebens, in Familie, Kindergarten und
Schule, den Werten folgt; Normen des alltäglich einzelnen Handelns indessen
sind von Fall zu Fall suspendierbar. Der im Grundgesetz der BRD formulierte
Wert der Sozialbindung des Privateigentums – also, bezogen auf Kinder, das
Teilen-Können von Eigentum – wird dann wichtiger als das Haben. Die
Orientierung am Eigentums-Wert wird, in einem solchen Milieu, zu
situationsspezifisch flexibel geltend gemachten Normen des konkreten
Handelns führen. Das gerät dann leicht in Konkurrenz zum fraglos
geltenden Eigentums-Wert, ohne dessen Sozialbindung. Wenn nun, in dieser
Hinsicht, Wettbewerb und Haben-Wollen um sich greifen, vom Steuerbetrug bis
zur Kleinkriminalität des Warenhaus-Diebstahls, dann haben wir es weniger
mit den Verantwortlichkeiten pädagogischer Einrichtungen und dessen Personal
zu tun, sondern vielmehr mit einem Werte-Dilemma unserer Kultur. All
diejenigen, die sich professionell oder als sonstwie verantwortliche
Erwachsene an Erziehung beteiligen, dürfte man höchstens aufbürden, dieses
Dilemma vorzuführen, und das heißt: den Kindern eine kritische Akzeptanz des
Wertes zu zeigen.
[145:18] Wenn also
“Erziehung”
nicht nur in persönlichen
und dann zumeist intentionalen Akten der Ermahnung oder Verhaltenskorrektur,
des häufigsten in verbalen Interaktionen, geschieht, sondern in der
Präsentation richtigen Lebens, dann steht in solchen Fragen die ganze
Gesellschaft in der Pflicht, nicht nur ein einzelner Berufsstand. Das gilt
auch für andere Werte, z. B. den, Konflikte zwischen verschiedenen
Interessen oder Impulsen verträglich auszutragen und nicht zu Mitteln der
Gewalt zu greifen. Derartiges wurde vor ca. 25 Jahren versucht, und zwar in
jenen schon zitierten
“antiautoritären Kinderläden”
, auch
im Bereich der neuen
“Kindertagesstätten-|a 159|Pädagogik”
bis hin in die Kontexte der Schulen und,
zurückwirkend, in die Familien hinein.
[145:19] Und nun liest man, seit gut drei Jahren, in den Feuilletons der
überregionalen Zeitungen, daß die Pädagogik, vor allem jene liberale, die
die Orientierung an Werten für wichtiger hielt als die Einhaltung von
Handlungsnormen, eine historische Ursache sein solle für das, war wir heute beklagen: die (angebliche) Zunahme von Gewalttätigkeit,
die Gleichgültigkeit gegenüber Leistungserwartungen, das Sichbreitmachen
egoistischer Motivationen ohne Rücksicht auf andere, die Neigung zu
unkontrolliertem Drogengebrauch. Wie schräg und unaufgeklärt solche Rhetorik
ist, zeigt sich auch daran, daß – häufig im selben Texte – hämisch vermerkt
wird, daß viele der sogenannten
“68er”
, die damals
freilich nicht Kinder, sondern junge Eltern waren, heute in
angepaßt-erfolgreichen Positionen arbeiten. Die Autoren solcher
Geschichtskonstruktion – und es sind nicht etwa nur Journalisten, sondern
auch angesehene Professoren der Pädagogik und Sozialwissenschaft – bedienen
sich dabei keiner empirischen Argumentation; sie konstatieren nur, daß das,
was ihnen damals schon mißfiel, schuld sei an dem, was sie heute
beklagenswert finden.
Harald
Duwe, Platz an der Sonne, Lithografie, 1973
[145:21] Stellt man also fest, daß derartige Klagen und Schuldzuweisungen
empirisch unhaltbar sind – es gibt z. B. nicht den geringsten Hinweis
darauf, daß Kinder, die zwischen 1969 und 1975 in antiautoritären
Einrichtungen der Elementarerziehung betreut wurden, später diejenigen
Verhaltensmerkmale aufwiesen, die uns heute bedenklich erscheinen – stellt
man das also fest, dann wirft das ein Licht auf das, was wir heute
“Erziehung”
nennen können: obwohl Eltern, Erzieher und
Erzieherinnen in jener
“emanzipatorisch”
genannten Phase
den Kindern erlaubten, was sonst verboten war, Pünktlichkeit und adrette
Kleidung gering achteten, der Spontaneität der kindlichen Libido und den
Ausdrucksimpulsen großen Raum ließen, die situative Zufriedenheit höher
achteten als die Nützlichkeit für das spätere Leben – obwohl dies so war und
obwohl darin von einer engen und strengen Auslegung des Erziehungsbegriffs
auf normatives Handeln hin deutlich abgewichen wurde, sind die Kinder, wie
sich leicht studieren läßt, nicht verkommen. Warum nicht? Ich
versuche eine Antwort:
[145:22] Es war in diesen Milieus, wie schon gesagt, eine strikte und
anspruchsvolle Orientierung an Werten in Geltung. Sekundäre Tugenden kamen
nur ins Spiel, sofern sie sich vor solchen Werten rechtfertigen ließen. Die
wichtigsten waren Solidarität mit den physisch und ökonomisch Schwächeren,
Verläßlichkeit in den sozialen Beziehungen, Mündigkeit im Umgang mit
gesellschaftlichen Erwartungen, Argumentationskompetenz im Denken über
eigene und fremde Interessen. Es handelte sich um eine auf Werte hin
angelegte Lebensform. Für Erziehung also – das versuche ich daraus
zu lernen – kommt es weniger auf die einzelne Handlung an; welche Wirkung
diese erzeugt, läßt sich ohnehin – im Unterschied zum Unterrichten – nicht
zuverlässig prognostizieren. Die autobiographische Literatur gibt uns für
diese Einsicht reichhaltiges Material. Worauf es ankommt – und das sollten
wir nachdrücklich in unseren Begriff von Erziehung aufnehmen –, ist
folgendes: Erziehung in der Moderne bedeutet (mindestens) zweierlei: Sie
setzt, erstens, eine Reflexion der erziehenden Generation über die als
verbindlich verachteten Werte voraus, jedenfalls in modernen Gesellschaften, in denen die
Wertorientierung nicht mehr in den traditionalen Beständen ihren
zuverlässigen Halt hat. Sie erfordert, zweitens, eine Inszenierung des
Erziehungsfeldes, des Milieus, die ohne Pedanterie der Verwirklichung der
Werte Raum gibt, jedenfalls aber alles zu entkräften versucht, was
hinderlich ist. Eine Wertedebatte, die dies im Blick hat, ist also durchaus
sinnvoll. Sie betrifft allerdings jeden Erwachsenen in dieser
Gesellschaft.
[145:23] Die Orientierungsmarken der Schule wären also unter solchem Blick
zu bedenken.
“Leistungserwartung”
beispielsweise ist kein
Wert, sondern gehört eher dem Bereich sekundärer Tugenden zu; der Slogan,
daß sie
“sich (wieder) lohnen solle”
, macht das
unmißverständlich deutlich, denn sie ist das Instrument, um anderes zu
erreichen. Der Unterricht in Schulen ist zwar darauf verpflichtet,
vernünftigerweise, diese instrumentelle Kompetenz möglichst prägnant
auszubilden, denn an ihr hängt vieles von der Zukunft der Schülerinnen und
Schüler. Wenn aber von Erziehung die Rede sein soll, dann ist die
Wertfrage unumgänglich, z. B. die, für welche Werte denn die
Leistung lohnend sein soll.
4.Das Generationenverhältnis
[145:24] Was tue ich, wenn ich im Familienwohnzimmer die Reproduktion eines
Bildes von Piero della Frencesca oder Francis Bacon aufhänge, ein Klavichord aufstelle
oder auf meinem Schreibtisch einen Personal-Computer, eine Schreibmaschine
oder nur einen Behälter mit 20 Stiften, Kugelschreibern und Füllfederhaltern
lagere? Ich präsentiere meinen Kindern damit meine Art, als Erwachsener zu
leben. Wir, als erziehende Generation, sind indessen nicht nur, jedenfalls
in den frühen Jahren der Entwicklung unserer Kinder, signifikante,
bedeutsame Personen, in Zustimmung und Ablehnung. Wir werden zunehmend zum
Anlaß oder zum Modell für Verallgemeinerungen. Die Kinder bilden in sich
selbst, so beschreibt es die Theorie des symbolischen Interaktionismus, die
Vorstellung eines verallgemeinerten Anderen aus. So entstehen zwei
Konstrukte: Der Zusammenhang, der Text und Kontext von Bedeutungen, die ich
in den Verhältnissen zwischen Piero
della Francesca, dem Computer und meinem Füllfederhalter und
anderem konstruiere – und das akzeptierte oder verworfene Bild, das sich
meine Kinder davon machen und zur Konstruktion ihres eigenen Lebensentwurfs
umarbeiten. Da kann es dann passieren, daß die verinnerlichte Vorstellung
vom
“verallgemeinerten Anderen”
letzten Endes nicht mehr
an die zunächst signifikanten Personen sich anschließt, |a 160|sondern an Klassen-Stars, Cliquen-Chefs, abstrakte und anonyme
Computerpraktiken, an Idole des Marktes, an archaische Bilder alternativen
Lebens oder auch an die Konstruktionen des
“ehrbaren
Handwerks”
, von dem nichts in der Anschauung meines eigenen Lebens
repräsentiert war. Es kann also geschehen, daß der Sinn meiner
eigenen Lebensform in der nachwachsenden Generation verloren geht.
[145:25] Das macht die Schwierigkeiten des Verhältnisses der Generationen
zueinander in der Gegenwart aus. Wir können uns nicht mehr auf fraglos
geltende Kontinuitäten verlassen. Schleiermacher hatte schon derartige
Schwierigkeiten geahnt, als er 1826 fragte:
“Was will denn eigentlich die erwachsene Generation
mit der jüngeren?”
und dies als die allererste (selbstkritische) Frage der Pädagogik
bestimmte. Denke ich, mit dieser Frage im Kopf, an mein Wohnzimmer und
meinen Schreibtisch, im Verhältnis zu der Art, in der meine vier Kinder ihre
Zimmer einrichteten, dann gerate ich argumentativ ins Gedränge (wer eine
Waldorfschule gründet und einen Architekten beauftragt, einen stilgerechten
Bau zu entwerfen, ist in vergleichbarer Lage), nämlich: Sollen wir
angesichts der kulturellen Pluralisierung von Entwicklungsverläufen,
Lebenslagen und Individualisierungs-Tendenzen uns als Pädagogen gleichsam
einklammern, uns als kulturelles Neutrum verstehen, das nur hier und da, im
Sinne einer Sozialtechnologie, Lernhilfen anbietet? Damit würden wir uns –
Schleiermacher hätte das
gewiß so gesehen – als ernsthafte Repräsentanten einer
überlieferungswürdigen Kultur verabschieden. Oder sollten wir, im Sinne des
von Schleiermacher gemeinten
vernünftig begründeten
“Wollens”
, auf der
Rechtfertigungsfähigkeit unserer Lebensform bestehen – sofern sie und ihre
Details tatsächlich zu rechtfertigen sein sollten? Sollen wir also
“Erziehung”
inszenieren als Integration des Nachwuchses
in das, was uns, mit Gründen, an unserer Kultur zukunftsfähig zu sein
scheint, oder sollen wir, weil solche Attitüden immer den Verdacht der
Naivität oder des Autoritarismus mit sich führen, Erziehung nur noch als
Lernhilfe interpretieren?
[145:26] Es gibt in der Tradition des pädagogischen Denkens eine
Behauptung, die folgenreich war.
“Der Mensch wird zum Menschen erst durch
Erziehung”
, hieß es vor gut 200 Jahren, und die Pädagogik hat sich diesen Satz,
trotz gelegentlich skeptischer Einwände, zu eigen gemacht. Als Metapher
umformuliert besagt dieser Satz, daß wir die junge Generation wie
Einwanderer behandeln sollten, wie Fremde, die der je herrschenden Kultur zu
akkommodieren wären. Demgegegenüber läßt sich eine andere Metapher für das Generationen-Verhältnis und
das, was das Wort Erziehung bedeutet, denken: Es käme, nach dieser anderen
Metapher, nicht darauf an, die Neuankömmlinge an die Standards,
Entwicklungsschritte und Lernwege, die wir bereithalten, zu akkommodieren,
sondern, so schrieb kürzlich Michael
Brumlik, ihnen
“die Welt wohnlich zu gestalten und (sie, die Neuankömmlinge) zum
Bleiben zu bewegen”
– Immigranten, die man als Freunde aufnimmt.
[145:27] Wann also kommt Erziehung an ihr Ende? Die Frage enthält
eine Komponente, die den Erziehungsweg der nachwachsenden
Generation betrifft, und eine andere, die ich
“kulturhistorisch”
nenne: Im Hinblick auf das Individuum endet die
Erziehung dort, wo die kulturelle Präsentation der Elterngeneration nichts
mehr zu bieten hat, was eine gezielte, nachdrücklich und organisierte
Unterstützung der Entwicklung rechtfertigen könnte. Das ist heute manchmal
schon im 15., manchmal erst im 25. Lebensjahr der Fall. Kulturhistorisch
hingegen, also im Hinblick auf die Abfolge kultureller Formationen, in deren
geschichtlichem Verlauf sich unsere moderne Vorstellung von
“Erziehung”
herausgebildet hat, würde das Projekt
“Erziehung”
dann enden, wenn der Fall einträte, daß wir keine
rechtfertigungsfähige Lebensform mehr als
“wohnliche”
anzubieten hätten, wir also als erziehende Personen völlig entbehrlich wären
und wir das Geschäft den
“Verhältnissen”
überlassen
könnten. Derartiges aber ist (noch!) nicht in Sicht.