„Über die Schwierigkeit, von Leuten zu erzählen, die nicht recht wissen, wer sie sind“ [Textfassung a]
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Über die Schwierigkeit, von Leuten zu erzählen, die nicht recht wissen, wer sie sind

Einige bildungstheoretische Motive in Romanen von Thomas Mann1
1Den Anstoß zu diesem Versuch verdanke ich der Lektüre eines 1959 von Herwig Blankertz geschriebenen und 1981 wiederveröffentlichten Aufsatzes über Thomas Manns
Zauberberg
und der Einladung Frank Achtenhagens zu einem Kolloquium, das im Herbst 1997 zur Erinnerung an H. Blankertz stattfand. Nach Erscheinen der beiden gleich zu zitierenden Arbeiten von D. Lenzen und H.-E. Tenorth in dieser Zeitschrift 43 (1997), S. 949–984, habe ich den Vortragstext ein wenig erweitert, um den Anschluß an die dort vorgetragenen Argumentationen wenigstens anzudeuten.

[150:2] Zwei kürzlich erschienenen Aufsätzen zur Problematik des Bildungsbegriffs (Lenzen 1997; Tenorth 1997) kann man die Aufforderung zu genauer Rechenschaftslegung bei dessen Verwendung entnehmen. Besonders die
unübersehbare Heteronomie von Betrachtungsweisen
, deren Herkunft also aus verschiedenartigem Argumentationsinteresse, und die damit verbundenen Begründungsregeln mache das notwendig – etwa im Falle der
Klassiker-Exegese
, in
geschichtsphilosophischen
Verwendungen, auch als
Platzhalter für das Unsagbare
oder als
Grundbegriff der Erziehungswissenschaft
. Dabei ist, wenn ich recht verstanden habe, die Differenz
zwischen theoretisch und empirisch begründeter und anderer Redeweise
(Tenorth 1997, S. 971)
die wichtigste Unterscheidung. Zu welcher Redeweise aber gehört ein Essay, der
bildungstheoretische Motive
in erzählender Literatur zu entdecken sucht? Gilt hier wirklich unumwunden, daß
der Duktus der Rede ... eher nah bei der Rhetorik, bei Plausibilitätsüberlegungen und dem gesunden Menschenverstand als bei Argumentationsformen strikter Theoriebildung
(ebd., S. 978)
liegt? Jedenfalls gibt es, im Hinblick auf diese Behauptung, Erläuterungsbedarf. Dazu soll der folgende Text einiges beitragen.
[150:3] Dementsprechend soll der Argumentationsort skizziert werden, dem ich den Text zuweisen möchte. Er nimmt eine Frage auf, die Herwig Blankertz einmal in verallgemeinernder Behauptung, ein anderes Mal als Interpretation eines Romans von Thomas Mann vorgetragen hat.
Das Ganze der Pädagogik, die Erziehung
– so heißt es in der verallgemeinernden Behauptung, die übrigens Tenorth nicht nur auf
Bildung
bezieht, sondern auch
jenseits der Wissenschaften plaziert
findet
(Tenorth 1997, S. 977)
enthält einen szientistisch nicht einholbaren Sinn
(Blankertz 1982, S. 307)
. Die Aufgabe wissenschaftlicher Argumentationsgenauigkeit wird indessen hier nicht, wie Tenorth argwöhnt, preisgegeben. Sie wird vielmehr bekräftigt, wenngleich durch einen |a 488|skeptischen Hinweis, nämlich daß der
Sinn
von Vokabularien und Problemstellungen nicht identisch ist mit den Resultaten wissenschaftlicher Prozeduren. Ein munterer Szientismus, der etwa die Differenz von Genese und Geltung sich nicht mehr zum Thema macht, also für unerheblich hält, woher denn die Themen und Fragen stammen, die uns wissenschaftlich beschäftigen, würde den Umkreis dessen, was uns argumentationszugänglich scheint, ohne Not einschränken. So als hätte Blankertz es geahnt, schrieb er 1959 schon eine Interpretationsskizze des
Zauberbergs
von Thomas Mann, in der eine erzählte Lehr-Lern-Geschichte gedeutet wird mit der Frage, ob diese etwas mitzuteilen vermag, das den Kreis der szientistisch eingespielten Problemstellungen erweitert. Wenn ich im folgenden also Ähnliches versuche, wenngleich mit anders gerichteter Aufmerksamkeit, dann unter dem Gesichtspunkt, daß die erzählende Literatur, in herausgehobenen und bemerkenswerten Fällen, nicht nur illustriert, was ohnehin bekannt ist, nicht nur narrativ ausbreitet, was man im szientistischen Wissensstand in kürzeren Formulierungen zur Hand hat, sondern darüber hinausgehende oder intern subtiler differenzierende Vorkommnisse fingiert, in denen gleichsam heuristische Hypothesen eingehüllt sind. Es handelt sich also um Textsorten, die am Rande der Wissenschaft operieren. Das ist kein Einwand gegen sie, denn auch das Spiel mit der Grenzziehung zwischen wissenschaftlicher und
anderer Redeweise
darf noch dem Geschäft der Wissenschaft zugerechnet werden. Das gilt besonders für Thomas Mann, der seine Romanproduktion in sonst seltener Häufigkeit dadurch begleitet, unterstützt und vorangetrieben hat, daß er die jeweiligen Stände der Forschung zur Kenntnis nahm; und es gilt insonderheit für jene Romane, in denen
bildungstheoretische Motive
zur Darstellung kommen.
[150:4] Es gilt nun also, die Ermahnungen von Lenzen und Tenorth aufnehmend, genauer zu sagen, was aus dem schwer überblickbaren semantischen Feld des Ausdrucks
Bildung
in Rede stehen soll, und zwar
geltungsdifferent
, wie
Tenorth
sagt. Das ist schon deshalb nützlich, weil so auch einige der von Lenzen konstatierten
Paradoxien
(Lenzen 1997, S. 956f.)
entfallen, denn es gibt ja keine intellektuelle Vorschrift, nach der verschiedene Verwendungen eines sprachlichen Ausdrucks beständig zusammengedacht werden müßten. Wenn ich also von Bildungsmotiven in der Prosa Thomas Manns spreche, dann geht es um solche, die Bildung als Prozeß und nicht als Resultat betreffen, als unabgeschlossen, als zieloffen, indeterminiert – also als
ein auf Dauer gestellter Prozeß
(ebd., S. 957)
. Mit dieser Stilisierung der Aufmerksamkeit ist zweierlei gewonnen: Der angebliche Widersinn (
Paradox
) im Reden über Bildung kann, als ein nur rhetorisch erzeugter Widersinn in der Verwendung dieser diffusen Vokabel, bereinigt werden; und es kann, nach solcher Bereinigung, die Aufmerksamkeit ganz sich den empirischen Fragen nach einigen Komponenten des
Prozesses
zuwenden. Daß jede Lebensäußerung nicht nur ein Dokument vorangegangener Prozesse ist, sondern nun auch als
determiniert
, als quasi
abgeschlossen
, als
Resultat
also
(ebd.)
o.ä. ins Auge gefaßt werden kann, das bringt zwar einige Schwierigkeiten mit sich, aber nur dann, wenn man partout beides in einem sprachlichen Ausdruck zusammenfügen will (kein besonders rationales Verfahren im Umgang mit wissenschaftlichen Termini). Im übrigen ist die empirische Bildungsforschung, auch besonders die historische, ziemlich erfolgreich gewesen mit der Konzentration der Aufmerksamkeit auf Bildung als
Resultat
. Wäre |a 489|dies mein Thema, dann wäre (z.B.) Theodor Fontane statt Thomas Mann die ergiebigere literarische Quelle gewesen. Nun also zur Sache2
2Das erzählerische Werk Thomas Manns ist in zahlreichen Studien Gegenstand pädagogischen Interesses geworden, auch hinsichtlich seiner Bildungsvorstellungen. Dies hier zu diskutieren, wäre indessen der Form und dem beschränkten Umfang meines Versuchs unangemessen. Eine gründliche Dokumentation enthält die Monographie von L. Fertig (1993), in der die vielfältigen Berührungen Thomas Manns mit den pädagogischen Diskursen zur Sprache gebracht werden, weit über meine demgegenüber sehr eingeschränkte Fragestellung hinaus.
.
[150:5] Welche Dimensionen von Bildung macht Thomas Mann bzw. machen seine Erzähler geltend, und was wird darüber auch durch die Art des Erzählens mitgeteilt? Thomas Mann hat das Problem in einem leicht übersehenen knappen Satz notiert, und zwar im ersten Roman der Josephs-Tetralogie:
Wir geben uns keiner Täuschung hin
, so heißt es dort, nach einem Bericht über vielfältige Namensverwechslungen und über die Dominanz kollektiver Zugehörigkeitsmuster zum Nachteil individueller Konturen,
über die Schwierigkeit, von Leuten zu erzählen, die nicht recht wissen, wer sie sind
(J., S. 128)
. Dieser Satz, mit dem der Erzähler sich in den Gang der Handlung einmischt, so scheint mir, ist der Schlüssel für das, was man das bildungstheoretische Interesse Thomas Manns nennen könnte. Daß er in den Josephs-Romanen steht, gibt einen zusätzlichen Hinweis: Dort nämlich rückt der Erzähler die Frage nach der Bildung des Menschen in die Kontexte der Geschichte der Gattung, der kulturellen Formationen, der ethnischen Herkünfte, und zwar unter der Perspektive, wie ein mit den anscheinenden Selbstverständlichkeiten von kompetenten Handlungssubjekten, deren Individualität und Freiheit ausgerüsteter Erzähler des 20. Jahrhunderts von Leuten erzählen kann, denen solche Kategorien fremd sind. Diese Schwierigkeit hat (mindestens) Ähnlichkeit mit unserer gegenwärtigen Kulturlage – falls man nicht sogar sagen will, daß darin bereits Fragen enthalten sind, die uns erst seit der Lektüre von M. Foucault, M. Merleau-Ponty, K. Meyer-Drawe oder den
Skeptikern
unseres Fachs vertraut wurden. Derartige Fragen will ich skizzieren und weiß schon jetzt, daß ich mich daran überheben werde: gut 3000 Seiten Prosa-Texte; drei exponiertere in problematischer Bildung begriffene Personen, nämlich Hans Castorp (im
Zauberberg
), Joseph (in
Joseph und seine Brüder
) und Adrian Leverkühn (in
Doktor Faustus
); ein Gewimmel von Lehrern, von denen jeder andere didaktische Probleme aufwirft, nämlich (mindestens) Jaakob und Eliezer, auch der Mythos, selbst der Pharao Echnaton oder der Gefängnisdirektor in den Josephs-Romanen; Settembrini, Naphta, Mijnheer Peeperkorn, Hofrat Behrens, aber auch die Moribunden und das Milieu im
Zauberberg
; der Musiklehrer Kretschmar, wohl auch der Teufel, jedenfalls aber die überlieferten Bestände musikalischer Kompositionen und deren Urheber im
Doktor Faustus
; das alles in dichtesten Beschreibungen, ein Bildungspanorama, das an Nuancen kaum zu wünschen übrigläßt. Dies alles wären die Randbedingungen und Ausdifferenzierungen der Thematik, die im Sujet enthalten ist. – Es wird aber in einer besonderen Weise erzählt. Der Erzähler konstruiert ausdrücklich sein Verhältnis zu uns und nötigt den Leser in eine Metaperspektive hinein, die die Gehalte des Sujets noch einmal bricht. Unversehens werden wir selbst zu jemandem, der, durch die Weise des Erzählens, auf den Weg seiner Bildung gerät. Die Geschichten gehen zudem allesamt kaum glücklich aus.
Resultate
der Bildung gehören offenbar, in diesem Panorama, |a 490|zum Fragilsten. Das zeigt sich auch in den Novellen oder Erzählungen, an Aschenbach etwa (in
Tod in Venedig
), an Tonio Kröger, früh schon in
Der kleine Herr Friedemann
, auch am Meisterstück
Die vertauschten Köpfe
– all dies endet unerfreulich; Moses hat einen Sprachfehler, müht sich verzweifelt mit den Gesetzestafeln und muß die Brüchigkeit der seinem Volk von ihm anerzogenen Bildungsgestalt, das Resultat der Bildungsbewegung also, erleben; und
Die Betrogene
endet, nach euphorischen Selbsterfahrungen im Alter, in tödlicher Krankheit, in Mißdeutung der körperlich-seelischen Symptome.
[150:6] Die Aufmerksamkeit des Erzählers gilt also weniger dem Resultat der Bildung als den Vorgängen, die zwar dorthin, aber auch in ganz anderes hineinführen können. Was geschieht auf dem Weg, auf dem Menschen zu ermitteln suchen,
wer sie sind
(diese Frage verbindet übrigens Fontane mit Mann)? Daß dies ein Motiv ist, das auch bildungstheoretisch Interesse verdient, wird wohl kaum bestritten werden, auch wenn es mit dieser Formel noch allzu diffus angedeutet sein mag. Weniger diffus ist aber die Konzentration des Erzählers darauf, wie nun die erzählten Protagonisten, bei dem Versuch, Antworten auf diese Frage auszumitteln, sich verhalten. Offenbar sind, so die Meinung des Erzählers, genaueste Beschreibungen erforderlich, die zeigen, wie überhaupt
Bildung
als Prozeß in Bewegung kommt. Wenn Tenorth schreibt, daß
in sozialisationstheoretischen Analysen ... das Subjekt als Konstrukteur seiner eigenen Welt
erscheine, als
Akteur ..., der sich selbst und seine Welt letztlich reflexiv gestaltet, ohne daß man ihn als autark fingiert
(Tenorth 1997, S. 981)
, dann darf man die Texte Thomas Manns als Hinweise auf das lesen, was nun der empirischen Bildungsforschung unter dem Gesichtspunkt der Prozeß-Analyse aufgegeben wäre.

1. Der Körper

[150:7] Am Ende des
Zauberbergs
heißt es:
Lebewohl, Hans Castorp, des Lebens treuherziges Sorgenkind! Deine Geschichte ist aus ... Wir haben sie erzählt um ihretwillen, nicht deinethalben, denn du warst simpel
, aber
wir verleugnen nicht die pädagogische Neigung, die wir in ihrem Verlaufe für dich gefaßt
(Z. Bd. II, S. 509 f.)
. Ausdrücklich also erlaubt uns der Erzähler, zwischen dem individuellen Fall und den allgemeinen Themen der
Geschichte
, um derentwillen der Fall erzählt wurde, zu unterscheiden. Etwas hölzern und damit freilich weit hinter der Prosa Thomas Manns zurückbleibend, möchte ich sagen: Wir werden aufgefordert, die für unsere kulturelle Formation geltend gemachten Dimensionen der Bildung des Menschen ins Auge zu fassen. Um das tun zu können, muß man sich in eine exzentrische Position hineinbegeben, sei diese nun im Erzähler oder in der Erzählung lokalisiert. Das Lungensanatorium in Davos ist solch ein exzentrischer Ort, von dem schon zu Beginn des Romans Hans Castorps Vetter, der dort seinem Tode entgegenwartet, sagt:
Man ändert hier seine Begriffe
(Z. Bd. I, S. 10)
. (Diese Änderung der Begriffe wird übrigens durch einen höchst subtilen Kunstgriff der Darstellung symbolisiert, den der rasche Leser nicht bemerkt. Wer die Lektüre von Landkarten liebt, der greift vielleicht, bei genauen topographischen Passagen in der erzählenden Literatur, gern zu Städtekarten oder Meßtischblättern und, wenn es geht, auch zu seiner eigenen Ortserinne|a 491|rung. Im vorliegenden Fall wird er dann finden, daß die Wegebeschreibungen im
Zauberberg
zwar exakt, aber spiegelverkehrt sind; das war auch schon Herwig Blankertz aufgefallen.)
[150:8] Diese Änderung der Begriffe nimmt ihren Anfang beim Körper, und zwar nicht erst in der Krankheit. Kaum in Davos angekommen, bemerkt Hans Castorp, daß sein Herz hier
auf eigene Hand
schlage und er keinen Namen für das zugehörige Gefühl habe. Viele Monate später – und nun schon im Widerspruch gegen den als Lehrer inszenierten Settembrini – ist der so eingeleitete Prozeß fortgeschritten:
Eins aber bereitete ihm Genugtuung, wenn er lag (in der Liegekur) und auf sein Herz, sein körperliches Herz achtete, das rasch und vernehmlich in der Stille pochte ... Es pochte hartnäckig und vordringlich, sein Herz ... doch nahm Hans Castorp neuerdings weniger Anstoß daran als in den ersten Tagen. Man konnte jetzt nicht mehr sagen, daß es auf eigene Hand, grundlos und ohne Zusammenhang mit der Seele klopfte ... eine rechtfertigende Gemütsbewegung ließ sich der exaltierten Körpertätigkeit zwanglos unterlegen
(Z. Bd. I, S. 187)
.
[150:9] Der trockene Bericht, den ihm sein Vetter gibt von den in einem höher gelegenen Sanatorium winters Gestorbenen –
Die müssen im Winter ihre Leichen per Bobschlitten herunterbefördern
– ist ebenso eine Variante der Körperthematik wie die selbstauferlegten Besuche bei den Sterbenden, den
Moribunden
, oder die wochenlangen medizinisch-biologischen Literaturstudien,
Forschungen
überschrieben:
Was war das Leben? Man wußte es nicht. Es war sich seiner bewußt, unzweifelhaft, sobald es Leben war, aber es wußte nicht, was es sei
(Z., S. 366)
. Oder er hört eine Art von Husten aus dem Zimmer eines Kranken in fortgeschrittenem Stadium, die er nie zuvor gehört hatte,
ein Husten ganz ohne Lust und Liebe, der nicht in richtigen Stößen geschah, sondern nur wie ein schauerlich kraftloses Wühlen im Brei organischer Auflösung klang
, als ob man förmlich in den Hustenden
hineinsähe
(Z. Bd. I, S. 17, 18)
.
[150:10] In zwei Szenen wird das Körper-Thema erzählerisch zur Pointe gesteigert. Zwischen physiologischem Sachverhalt und
Empfindungen
,
Gefühl
werden medizinische, objektivierende Meßinstrumente eingeschoben: Die eine Szene ist das Fiebermessen – übrigens ein vermutlich genau kalkulierter Fall der Identität von Erzählzeit und erzählter Zeit, ungefähr in der Mitte des Romans –, die andere betrifft die Prozedur der Röntgenaufnahme. Hofrat Behrens, der medizinische Chef des Sanatoriums, eröffnet, nachdem Hans Castorp und sein Vetter Joachim das Untersuchungszimmer betreten haben, die Handlung:
Hallo!
sagte er.
Da sind ja unsere Dioskuren! Castorp und Pollux ... Bitte Wehelaute zu unterdrücken! Warten Sie nur, gleich werden wir Sie alle beide durchschaut haben. Ich glaube, Sie haben Angst, Castorp, uns Ihr Inneres zu eröffnen, Seien Sie ruhig, es geht ganz ästhetisch zu
(Z. Bd. I, S. 287)
– ein feiner Doppelsinn, den hier zu erläutern gewiß zu plump wäre. Später dann, vor dem Bildschirm, auf dem das
Innere
Joachims erscheint:
Sehen Sie sein Herz?
fragte der Hofrat, indem er ... auf das pulsierende Gehänge wies ... Großer Gott, es war das Herz, Joachims ... Herz, was Castorp sah!
Ich sehe dein Herz
, sagte er mit gepreßter Stimme ... Aber der Hofrat gebot ihnen, zu schweigen und keine Empfindsamkeiten zu tauschen.
(Z. Bd. I, S. 291)
Eine ähnliche Verblüffung stellt sich für Hans Castorp ein, als er seine Hand im Röntgenbild sieht, das bloße Skelett:
Das spätere Geschäft der Verwesung sah er vorweggenommen |a 492|durch die Kraft des Lichtes, das Fleisch, worin er wandelte, zersetzt, vertilgt, zu nichtigem Nebel gelöst, und darin das kleinlich gedrechselte Skelett seiner rechten Hand ... Dazu machte er ein Gesicht, wie er es zu machen pflegte, wenn er Musik hörte – ziemlich dumm, schläfrig und fromm, den Kopf halb offenen Mundes gegen die Schultern geneigt
(Z. Bd. I, S. 292)
.
[150:11] Der mühevolle und umständliche Weg der Erfahrung des eigenen Körpers und überhaupt das Problem der Leiblichkeit führt im
Zauberberg
nicht zum glücklichen Ende, weder für Hans Castorp noch für den Erzähler, sondern in den Totentanz hinein. Die letzten Seiten des Romans gehören zur dichtesten Prosa deutscher Sprache über den ersten Weltkrieg, ein radikaler Text, 1924, der keine Zweifel an der offenen Frage der Bildung läßt. Hans Castorp ist kein Bildungsheld, sein Ende die Banalität des Schrecklichen. Bildung als Resultat also wird in Zweifel gezogen. Statt dessen rückt der Erzähler in den Vordergrund der Aufmerksamkeit – und das ist sicher eine wichtige Komponente dessen, was Thomas Mann meinte, als er den
Zauberberg
eine
Parodie
auf den deutschen Bildungsroman nannte – das lebenslang nie erledigte Problem, wie sich Sprache zu den Empfindungen des eigenen Körpers und zu den diesen repräsentierenden naturwissenschaftlich-diagnostischen Materialien verhält. Dies aber ist eine empirische Elementarfrage, wenn der Terminus
Selbstbewußtsein
der Bildungstheorie zugerechnet wird. In der Erzählung einer indischen Legende, in
Die vertauschten Köpfe
, hat Thomas Mann die Problemstellung einerseits ins Mythische entrückt, andererseits aber auch das theoretische Problem des Verhältnisses von Körper und Geist erzählerisch pointiert und es, weil aporetisch, mit der Selbstverbrennung der Protagonisten enden lassen.

2. Individualität

[150:12] Das Körper-Thema steht im
Zauberberg
zwar in einem der Brennpunkte dieses elliptischen Werks. Es zieht sich aber auch durch die Josephs-Romane und den
Doktor Faustus
, freilich in anderen Varianten. Migräne und Syphilis sind die ständigen Begleiter Adrian Leverkühns, und sein kompositorisches Hauptproblem besteht in der Frage, wie sich formale Strenge zugleich mit den expressiven, der Körper-Sphäre entstammenden Gehalten verbinden lasse. Und auch Josephs Bildungswende geschieht im
Brunnen
, in den seine Brüder ihn geworfen und in dem er, in schmerzhafter Besinnung auf seinen geschundenen Körper, einen Grund seiner selbst zu finden sucht. Derartiges wäre ausführlich zu erläutern, zumal es den nächsten Bildungsschritt, mein nächstes Stichwort begründen könnte: Individualität.
[150:13] Nicht lange, nachdem Joseph, aus dem Brunnen befreit, als Sklave zu einem Kaufmannszug auf dem Wege nach Ägypten gehört, äußert er, nebenhin bei einem Gespräch während der Arbeit:
Die Welt hat viele Mitten, eine für jedes Wesen, und um ein jedes liegt sie in eigenem Kreise. Du stehst nur eine halbe Elle von mir, aber ein Weltkreis liegt um dich her, deren Mitte nicht ich bin, sondern du bist’s. Ich aber bin die Mitte von meinem
(J., S. 665)
. Im Verlauf des Romans wird verschiedentlich auf diese für die anderen befremdliche Meinung Bezug genommen, und es wird kein Zweifel gelassen, daß die erwähnte Mitte |a 493|vorzüglich durch die Körpergrenze des Individuums bestimmt ist. (Hier und an anderen Stellen der Erzählungen fällt übrigens eine eigentümliche Nähe zu Nicolaus Cusanus auf.) Dem Unverständnis des Gesprächspartners kommt Joseph entgegen, indem er erläutert, es gebe nun freilich, angesichts der offensichtlichen Vielzahl von Mitten, eine Sphäre der
Verschränkungen
. Zu diesen gehört nicht nur das
Öl, mit dem ich mich salben durfte
(nach den drei Tagen im Brunnen), die Körperseite also, sondern auch die Verschränkung durch Institutionen und gemeinsame Erzählungen. Die
schönen Gespräche
, Unterhaltungen im Clan, die in möglichst gleichbleibenden Redewendungen die mythischen Vorgeschichten immer wieder in Erinnerung bringen, verschränken die Individuen zum Kollektiv. Über Individualität hingegen kann man nur in egologischen Sätzen reden, die Wahrheitsansprüche bleiben opak; über Kollektive aber kann man in verallgemeinerndem Vokabular reden. Josephs alter Lehrer Eliezer kennt nur dieses Vokabular:
[150:14] Joseph hörte seinen Erzählungen
mit einem Ergötzen zu, das durch keinerlei Befremden über die grammatische Form beeinträchtigt wurde, in der Eliezer es zum besten gab, und dem jede Anstoßnahme fernblieb daran, daß des Alten Ich sich nicht als ganz fest umzirkt erwies, sondern gleichsam nach hinten offenstand, ins Frühere, außer seiner eigenen Individualität Gelegene überfloß und sich Erlebnisstoff einverleibte, dessen Erinnerungs- und Wiedererzeugungsform eigentlich und bei Sonnenlicht betrachtet die dritte Person statt der ersten hätte sein müssen. Was aber auch heißt denn hier
eigentlich
, und ist etwa des Menschen Ich überhaupt ein handfest in sich geschlossen und streng in seine zeitlich-fleischlichen Grenzen abgedichtetes Ding? Gehören nicht viele der Elemente, aus denen es sich aufbaut, der Welt vor und außer ihm an, und ist die Aufstellung, daß jemand kein anderer sei und sonst niemand, nicht nur eine Ordnungs- und Bequemlichkeitsannahme, welche geflissentlich alle Übergänge außer acht läßt, die das Einzelbewußtsein mit dem allgemeinen verbinden? Der Gedanke der Individualität steht zuletzt in derselben Begriffsreihe wie derjenige der Einheit und Ganzheit, der Gesamtheit, des Alls, und die Unterscheidung zwischen Geist überhaupt und individuellem Geist besaß bei weitem nicht immer solche Gewalt über die Gemüter wie in dem Heute, das wir verlassen haben, um von einem anderen zu erzählen, dessen Ausdrucksweise ein getreues Bild seiner Einsicht gab, wenn es für die Idee der
Persönlichkeit
und
Individualität
nur dermaßen sachliche Bezeichnungen kannte wie
Religion
oder
Bekenntnis
(J., S. 122f.)
.
[150:15] Diese Entgegensetzung des Individuellen, zur Seite des Körpers und zur Seite des sozialen Kollektivs hin, in den Josephs-Romanen als Opposition von Mythos bzw. Ritus (dies dann vor allem auch in Josephs Konfrontation mit den Stilisierungen der ägyptischen Kultur) und Individuum, Ich, Subjektivität beschrieben, zieht sich durch den
Zauberberg
als räumliche Metapher hindurch: dort das norddeutsche
Flachland
und eine bürgerliche Oberschicht, deren rigider Konventionalismus jede Bildebewegung in streng institutionalisierten Grenzen hält; hier die dünne Luft in Davos; sie ist
ohne Inhalt und sagt der Seele nichts
– einer der schönsten Sätze des Romans, weil er sinnliche Empfindung und problematische Frage in größter Knappheit zusammenzieht –, und provoziert deshalb die Selbstkonturierung des Individuums als Bewußtsein von sich selbst.
[150:16] Im
Doktor Faustus
taucht das Problem nicht nur als erzählte Geschichte, sondern als Selbstreflexion des Komponisten Adrian Leverkühn auf, als Problem künstlerischer Produktivität. Hier nun wird die musikalische Komposition zur Metapher für das Verhältnis des Individuums zum Allgemeinen. Er sagt, im Gespräch mit seinem Biographen Serenus Zeitblom:
|a 494|
[150:17]
Freiheit ist ... ein anderes Wort für Subjektivität, und eines Tages hält die es nicht mehr mit sich aus, irgendwann verzweifelt sie an der Möglichkeit, von sich aus schöpferisch zu sein, und sucht Schutz und Sicherheit beim Objektiven.
Zeitblom wendet ein:
Aber in Wirklichkeit ist sie doch dann nicht Freiheit mehr, so wenig, wie die aus der Revolution geborene Diktatur noch Freiheit ist.
Bist du dessen sicher?
fragt Leverkühn.
Übrigens ist das ein politisches Lied. In der Kunst jedenfalls verschränken das Subjektive und Objektive sich bis zur Ununterscheidbarkeit ... Die heute zerstörten musikalischen Konventionen waren nicht allezeit gar so objektiv, so äußerlich auferlegt. Sie waren Verfestigungen lebendiger Erfahrungen und erfüllten als solche lange eine Aufgabe von vitaler Wichtigkeit: die Aufgabe der Organisation. Organisation ist alles. Ohne sie gibt es überhaupt nichts, am wenigsten Kunst
(D.F., S. 258f.)
.
[150:18] Das klingt inzwischen ziemlich abgedroschen, wie Dutzendware aus unseren Lehrbüchern. Aber von Leverkühn, er ist hier ungefähr 24 Jahre alt, darf man nicht erwarten, daß seine Prosa sich schon auf dem Niveau seines Urhebers bewegt, zumal das Problem in der von ihm nun in Angriff genommenen musikalischen Kompositionstechnik sich zu entfalten beginnt. Es besteht darin, den strengen Satz, und zwar nach den Regeln der Zwölfton- oder Reihentechnik, mit den subtilsten Expressionen individueller Empfindungsmöglichkeit zu verknüpfen. Das sei, so meint der Biograph, Leverkühn in seinem letzten Werk, einem Oratorium mit dem Titel
Doktor Fausti Weheklag
, gelungen, in dem
aus tiefster Heillosigkeit, wenn auch als leiseste Frage nur, die Hoffnung keimte ... Hört nur den Schluß ...: Eine Instrumentengruppe nach der anderen tritt zurück, und was übrig bleibt ..., ist das hohe g eines Cello ... in pianissimo-Fermate langsam vergehend ... Aber der nachschwingend im Schweigen hängende Ton, der nicht mehr ist, dem nur die Seele noch nachlauscht und der Ausklang der Trauer war, ist es nicht mehr, wandelt den Sinn, steht als ein Licht in der Nacht
(D.F., S. 665)
. Das war für Th. W. Adorno denn doch zuviel Optimismus.
Ich fand
, schrieb er, diese
höchst belasteten Seiten zu positiv, zu ungebrochen theologisch. Ihnen schien abzugehen, was in der entscheidenden Passage gefordert war, die Gewalt bestimmter Negation als der einzig erlaubten Chiffre des Anderen
(Adorno 1965, S. 26f.)
. Ich verstehe diesen Satz nicht, nehme aber seine Gestimmtheit wahr: Der in der musikalischen Metapher von Leverkühns Biographen vorgeschlagenen und für möglich gehaltenen Versöhnung des Subjekts sowohl mit seiner inneren Natur als auch mit dem Vorschein einer möglichen Sozietät, durch das Mittel der
Organisation
des Materials, mochte Adorno, sich vielleicht nicht genau erinnernd an das, was er längere Zeit vordem über die Musik Schuberts geschrieben hatte, nicht folgen.
[150:19] Man sollte hier aber unterscheiden zwischen dem interpretierenden Bericht Serenus Zeitbloms von einer Komposition Leverkühns und den Umständen des erzählten Lebenslaufs. Der Lebenslauf, auf die überlieferte und radikale Individualitätsvorstellung hin entworfen oder ausgelegt – Adrian Leverkühn beschränkt seine sozialen Kontakte, seine gesellschaftlichen Rücksichten, konventionellen Erwartungs-Erwartungen, Bindungen also an das Kulturell-Allgemeine auf ein Minimum –, endet, über viele kritische Situationen hinweg, in der Leere psychiatrischer Versorgung, während gleichzeitig, bei der Niederschrift des Berichts 1944, das entgegengesetzte Projekt faschistischer Barbarei ins kollektive Verderben führt. Die radikalisierte Individualitätsversion wird vom Teufel bekräftigt, in der Mitte des Romans, im XXV. Kapitel.
Wir
, sagt der Teufel in jenem Selbstgespräch Leverkühns,
liefern das Äußerste in dieser Richtung: Aufschwünge liefern wir und Erleuchtungen, Erfahrungen von Enthobenheit |a 495|und Entfesselung, von Freiheit, Sicherheit, Leichtigkeit, Macht- und Triumphgefühl
(D.F., S. 313)
. Es ist der Teufel, der dann noch, mit unübersehbaren Anleihen bei der Musiktheorie Adornos, eine scheinheilige Kompromißmöglichkeit im sich von der Tradition entschieden abwendenden musikalischen Werk andeutet. Wer auf Individualität setzt, so deute ich eine der vielen Botschaften dieses Romans, hat sich zwar der Barbarei entschlagen, läuft aber selbst ins Unglück, es sei denn, er bringt die damit verbundenen Erwartungen nur als
Vorbehalt
ins Spiel, wie Joseph.

3. Ästhetische Erfahrung

[150:20] Diese Differenz zwischen Lebenslauf und Kunstwerk hängt mit dem fiktiven Charakter ästhetischer Erfahrung untrennbar zusammen. So als hätte Thomas Mann den Einwand Adornos geahnt, läßt er Leverkühns Biographen – dessen Niederschrift fällt in das letzte Jahr des zweiten Weltkriegs – den
liebenden und angstvollen Verdacht eines Ästhetizismus
äußern; Leverkühns
Wort: das ablösende Gegenteil der bürgerlichen Kultur sei nicht Barbarei, sondern die Gemeinschaft
, sieht er, Zeitblom, der die Nazizeit bewußt durchlebt hat, dem
quälendsten Zweifel
überliefert. Dennoch hält auch Zeitblom an der wenigstens ästhetisch möglichen Versöhnung in fiktionaler Komposition fest. Er verknüpft dabei die Relation zwischen Individuum, Körper und Sozietät nun auch noch mit den Anfängen der Gattung:
Wir wissen alle, daß es das erste Anliegen, die früheste Errungenschaft der Tonkunst war, den Klang zu denaturieren ... und dem Chaos das Tonsystem abzugewinnen
(D.F., S. 507)
. Eine Erinnerung an diese frühe Situation sei der
Gleitklang, das Glissando
, das Leverkühn an bedeutsamen Stellen seiner Kompositionen einsetzt; es sei
ein barbarisches Rudiment aus vormusikalischen Tagen ... ein aus tief kulturellen Gründen mit größter Vorsicht zu behandelndes Mittel, dem ich immer eine anti-kulturelle, ja anti-humane Dämonie abzuhören geneigt war
(D.F., S. 507)
; aber dennoch, meint Zeitblom, stehe die
Dissonanz ... für den Ausdruck alles Hohen, Ernsten, Frommen, Geistigen ... während das Harmonische und Tonale der Welt der Hölle ... einer Welt der Banalität und des Gemeinplatzes, Vorbehalten ist
(D.F., S. 509)
. Das heißt nichts anderes – so jedenfalls ist die Meinung Leverkühns und seines Freundes Zeitblom –, als daß im ästhetischen Produkt nicht nur
Organisation
, auf dem Stand des kulturhistorisch Möglichen, nicht nur
Expression
des Individuellen, nicht nur die Bezugnahme auf gattungsgeschichtlich weit Zurückerinnertes, sondern dies auch noch als symbolisch verständliche Mitteilung für andere Mitglieder der Sozietät möglich ist, wenngleich nur in ein ästhetisch-fiktives Verhältnis gebracht.
[150:21] Darin zeigt sich eine enge Verwandtschaft mit den Josephs-Romanen. Joseph beginnt seine erzählte Bildungslaufbahn schon im Alter von 16 Jahren auf einem erstaunlichen Niveau ästhetischer Kunstfertigkeit, findet allenthalben Anerkennung für die Schönheit seiner Schrift und den Witz seiner Rede, für die phantasievollen Natur-, Kosmos- und Mythenkommentare. Auch Fremde schätzen das:
Du bist und bleibst ein Bursche zum Lachen
, sagt der Kaufmann, der ihn als Sklave gekauft hat
(J., S. 665)
. Aber wie eine Vorwegnahme des Ästhetizismus-Einwands im
Doktor Faustus
geht ihm bei der Einübung in die ritua|a 496|lisierten Formalien der ägyptischen Kultur, unmittelbar vor der Regierungszeit Echnatons, die Fragwürdigkeit entpersonalisierter, bloßer Stilexerzitien auf. Der Leser beginnt mit Joseph zu leiden an den nicht enden wollenden, quälenden Gesprächen, die der kulturell auferlegten Regel folgen, nichts zu berühren, das für persönliche Existenz oder mythisch-archaisches Nachforschen von Bedeutung sein könnte. Das ist für Joseph eine schwierige Lage, die sich nur artistisch meistern läßt:
Nicht mehr sichtbar dem Vaterauge (die inhaltlich-mythische Komponente), aber an seinem Orte sehr lebhaft vorhanden und bei sich selbst (die individuelle Körperkomponente), schaute und regte sich Joseph denn also in den ägyptischen Tag hinein
(J., S. 959)
. Das hat Folgen für den Erzähler: In meisterhaften dichten und höchst ausführlichen Beschreibungen wird der Kontrast vorgeführt zwischen der ästhetizistischen Praxis der Oberschicht als leeres, wenngleich artistisch bewundernswertes Ritual, und den Körper schindenden Praktiken des Feldbaus, der Fron-Dienste, schließlich der Selbstwahrnehmung eines, der aus anderer Kultur kommt.
[150:22] In dieser Lage aktiviert Joseph einen
Vorbehalt
, den er freilich dem von seinem Vater und dessen Vätern
aus sich selbst herausgedachten Gott
verdankt. Joseph fädelt sich in diese ästhetizistische Kultur ein, aber eben mit
Vorbehalt
. Und daß dieser
Vorbehalt
einer der ästhetischen Bildung ist, bekräftigt der Erzähler dadurch, daß auch er
vorbehaltlich des Vorbehalts
erzählt. Die ästhetische Komponente des Lebens, nimmt man diesen Ausdruck für Kunsterfahrung, bringt eben einen
Vorbehalt
hervor, der nach zwei Seiten hin geltend gemacht wird: zum schlechthin Individuellen des eigenen Körpers und seiner kruden Expressionen und zur erfahrungsdünnen, wenn nicht leeren, Artistik. Der von Joseph
aus sich herausgedachte Gott
, in den nur wenigen Jahrzehnten der Regierungszeit Echnatons, zunächst als Kreis, schließlich nur noch als ausdehnungsloser Punkt gedacht, ist nichts als die exzentrische Position, von der her auch die ästhetischen Hervorbringungen ihre Rechtfertigung erfahren, in Distanz zu den gesellschaftlich-kulturellen Routinen ebenso wie zu dem in den Körpern manifesten Individuellen. Insofern ist Kunst immer Kritik, distanziert abwägende Vergleichung, und eine dadurch ausgezeichnete Dimension der Bildung – so jedenfalls der Vorschlag des Erzählers.
[150:23] Dieses Problem wird in den Josephs-Romanen für eine frühe Epoche unserer Kultur erzählt. Im
Doktor Faustus
wird es, am Beispiel der musikalischen Komposition, präzisiert. Im
Zauberberg
wird es vorbereitet. Der Lehrer Settembrini – obwohl erpicht gerade auf die ästhetisch-rhetorischen Komponenten der Rede, welche letzten Endes, so meint er, allein die Güte des Arguments verbürgen könnten – mißtraut der Kunst, zumal der musikalischen. Sie sei
politisch verdächtig
, unzuverlässig, provoziere schwer kalkulierbare Wirkungen, da sie den spontanen Impulsen des Organismus allzu nahe sei. Einige Zeit später sieht indessen Hans Castorp die Sache schon anders an: Ein von Hofrat Behrens gemaltes Frauenporträt ist ihm Anlaß für eine gründliche Reflexion der Frage, wie sich die veräußerten Bildzeichen zum Innen-Raum der Person verhalten. Und auf den letzten Seiten des Romans trällert Hans Castorp, mitten im Grauen der Schlacht, ein Schubert-Lied.
[150:24] Die bildende Wirkung ästhetischer Erfahrung stellt sich nur in der Distanz ein, im
melancholischen Unglauben
gegenüber jedem Fortschritts-Optimismus – so jedenfalls war Thomas Manns Einstellung in den
Betrachtungen ei|a 497|nes Unpolitischen
, in denen er seine spätbürgerliche, skeptische, ironische ästhetische
Theorie
polemisch gegen den Bruder Heinrich geltend zu machen versucht.
Das zwanzigste Jahrhundert
, eine Verallgemeinerung des
Zivilisationsliteraten
Heinrich Mann und eine knapp gefaßte Charakterisierung der Gegenposition,
schwärmt für
den Menschen
ganz im dix-huitième-Geschmack, es sei nicht pessimistisch, nicht skeptisch, nicht zynisch und nicht – dies sogar am allerwenigsten – ironisch
, es habe den politischen
Geist im Dienste der Wünschbarkeit
;
und die Kunst hat Propaganda zu treiben für Reformen sozialer und politischer Natur. Weigert sie sich, so ist ihr das Urteil gesprochen. Es lautet kritisch: Ästhetizismus; es lautet polemisch: Schmarotzertum
(B., S. XXVIIIf.)
.
Mögest Du und mögen die Deinen mich einen Schmarotzer nennen
, heißt es in einem Brief an Heinrich vom 3. Januar 1918,
die Wahrheit, meine Wahrheit ist, daß ich keiner bin
(BR., S. 113)
. Man sieht, daß der in den siebziger Jahren in der Kunstdidaktik beliebt gewesene Vorwurf eines unpolitischen Ästhetizismus eine würdige Vorgeschichte hat. Thomas Mann blieb bei seiner Position, jedenfalls in der Rolle des Erzählers. In einem Fragment, das den Josephs-Romanen zugehört, wird berichtet, daß Joseph als Knabe die Informationen über einen seiner Vorfahren, Henoch, dazu verwendet, sich ein gleichsam zweites Ich zu fingieren. Der Erzähler theoretisiert ein wenig, wie häufig, und beschreibt, verallgemeinernd, die wichtigsten Merkmale dieses jugendlichen Symbolspiels:
[150:25]
Die Vorzüge dieser Belustigung sind mannigfach: nicht nur, daß keinerlei äußere Vorkehrung dazu erforderlich ist, unterliegt die rein innere Mummerei und Auswechselung des Bewußtseins auch nicht der geringsten Störung durch die sachlichen Ansprüche des Tages und Lebens; sie kann unter allen Umständen fortgesetzt werden und gewährt ... das Gefühl still triumphierender Unabhängigkeit vom Wirklichen
(E., S. 755)
.
[150:26] Es folgt aber ein Einwand: Bei Älteren
ist solche Kinderei überständig zu nennen. Sie besitzt unter diesen Umständen die Unschuld und Heiterkeit nicht, die ihr sonst zukommt
, denn:
Das Spiel wird Ernst, ohne darum aufzuhören, Spiel zu sein, und das ist die Mischung, die ans Herz greift
(ebd.)
. Allerdings lassen sich mit ihr keine Erwartungen an gesellschaftlich nützliche Handlungen verknüpfen, keine politischen
Wünschbarkeiten
. In jeweils großen zeitlichen Abständen geschrieben, bleiben die Protagonisten – Tonio Kröger, Hans Castorp, Joseph, Adrian Leverkühn – mit ihren ästhetischen Erfahrungen am Rande der Sozietät, aber sie verfügen über ein mentales Reservoir an Motiven, die fingierte Autonomie nicht aufzugeben.

4. Motive in der Erzählweise

[150:27] 1. Nehmen wir an, ein Erzähler neige erkenntnistheoretisch der Position zu, die heute
Konstruktivismus
heißt. Nehmen wir ferner an, daß er damit die Frage, was
Realität
sei, nicht schon für erledigt hält. Nehmen wir schließlich an, daß ihm nun, weil er ja eine Geschichte erzählen will, diese, in konstruktivistischer Einstellung, in den Plural hineingerät. Und nehmen wir endlich auch noch an, daß er dabei an Leser denkt, denen Ähnliches andeutungsweise auch schon durch den Kopf ging. Erzähler, die derartige Zweifel gegen das Erzählen von |a 498|Geschichten hegen, die angeblich die Realität bedeuten, haben ihre Schwierigkeiten in den letzten zwei Jahrhunderten auf je verschiedene Weise zur Geltung gebracht, von Lawrence Sterne bis zu Nathalie Sarraute.
[150:28] Es entsteht so eine Erzählweise, in der die Wahrheitsfrage gleichsam eingeklammert wird und nun der Leser hervorgebracht werden muß als jemand, der auf Vorläufiges mit dem gleichen Ernst sich konzentrieren kann wie auf angeblich Endgültiges. Der Erzähler läßt deshalb – in jener schon zitierten Passage – den Joseph sagen, daß es in Wahrheitsfragen so viele
Mitten
gibt wie Individuen. Der Erzähler, der sich diese Auffassung Josephs zu eigen macht, muß nun daraus eine Konsequenz für die Art seiner Erzählung ziehen. Er fordert also seine Leser auf, sich selbst zu bilden, und zwar so, daß sie die erzählte Geschichte nicht für bare Münze nehmen; mindestens muß er zeigen, daß es zwei Seiten der Medaille gibt.
[150:29] Interaktionstheoretisch nennen wir das
Perspektivenwechsel
, bei Thomas Mann heißt es
Verschränkungen
. Erzähltechnisch werden nun nicht nur die je verschiedenen Perspektiven der erzählten Personen miteinander verschränkt, sondern – das ist in dieser Frage entscheidend – verschiedene Blickweisen auf das erzählte Geschehen, meta-narrativ könnte man das nennen, wenn man derartige Vokabularien liebt. Im
Zauberberg
ist es noch die einfache Konfrontation der Perspektiven der Handlungsteilnehmer – für sich genommen schon verschieden genug – mit der Perspektive des Erzählers. In den Josephs-Romanen wird es erheblich komplizierter: Dort gibt es die nicht auslotbare
Geschichte, die sich selbst erzählt
, die Perspektive der philologisch zugänglichen Schriftzeugnisse, die der handelnden Personen, besonders auch in ihrer ethnischen Verschiedenheit, und schließlich noch die des kritischen Erzählers aus dem 20. Jahrhundert. Das alles wird im
Doktor Faustus
wieder gleichsam vereinfacht, dabei aber auch auf die aktuellen Probleme des erzählten Gegenstandes und des lesenden Adressaten der Erzählung konzentriert: Der Lebenslauf eines Künstlers, Adrian Leverkühn, im ersten Drittel des Jahrhunderts, die biographisch konturierte Erzählweise des am europäischen Humanismus orientierten Berichterstatters Zeitblom und die mit den Geschichtsereignissen um 1944 beständig in den Strom der Erzählung einfließenden barbarisch-deutschen Geschichtsereignisse, an die der Nachkriegsleser sich selbst erinnert, notgedrungen: eine
Verschränkung
von drei Perspektiven, deren Zusammenhalt dem Leser quälend, aber auch befreiend abverlangt wird, sofern einer aufrichtigen Erinnerung eine befreiende Wirkung zugesprochen werden kann. Aus solcher Differenz der Perspektiven ergibt sich vielleicht der Vorschein eines humanen Weges, aber kaum in schon zuverlässiges Gelände.
[150:30] 2. Verschränkungen der Perspektiven haben es begriffsnotwendig auch mit Zeitproblemen zu tun, nicht nur mit historischen Zeitspannen, sondern, noch elementarer, mit den Weisen des Zeiterlebens. In dieser Hinsicht unterscheidet der Erzähler des
Zauberbergs
zwei: die erlebte Dauer eines Augenblicks, wie eine Art von Stillstand der Zeit, unmeßbar – und ihr Fluß, gleichmäßig und mit diskreten Abständen chronometrisch zu messen. J. Piaget hatte diese Differenz als
psychologische
und
physikalische
Zeit beschrieben. Er war darin schon ziemlich nah an der gegenwärtig in der Naturwissenschaft diskutierten Differenz zwischen dem physikalischen Zeitbegriff I. Newtons und dem vornehmlich der biologi|a 499|schen Forschung entstammenden Zeitbegriff des
Lebendigen
(vgl. dazu Cramer 1996). Beide Zeitbegriffe geraten Hans Castorp, im
Zauberberg
, in- oder durcheinander: Beim Fiebermessen ist er einerseits der strengen Auflage unterworfen, genau sieben Minuten lang zu messen, andererseits aber kommen ihm innere Vorstellungen, phantasierte Geschehnisse in diese Zeitspanne hinein, die, nach einem Blick auf die Uhr, ihn erstaunen lassen, daß nun schon mehrere Minuten vergangen waren, wo er doch dachte, es sei nur ein Augenblick gewesen. Der Erzähler berichtet dies in überlegener Geste, als hätte er Piaget gelesen. Was für Hans Castorp eine neue Erfahrung ist, weiß er schon zuvor.
[150:31] Das hat Folgen für den Erzähler, etwa die, daß dem Leser zugemutet wird, die kunstreich vorgetragene Metaperspektive zu übernehmen und beispielsweise die häufigen Wechsel der erzählten Zeit nachzuvollziehen: Das über Josephs Schicksal entscheidende Gespräch zwischen Potiphar und Gattin verläuft in quälend-realistischer Langsamheit, während andererseits Jahre wie im Fluge vergehen, vom Erzähler ausdrücklich kommentiert als Problem des Erzählens; oder Hans Castorp verliert im Schneesturm alle Kontrolle über die zeitliche Dauer, läuft
im Kreise
und bemerkt, nach ziemlich verzweigten Wegen seiner Phantasie, daß kaum eine Viertelstunde vergangen war mit einer inneren Tätigkeit, reich angefüllt von scheinbar langandauernden Abenteuerlichkeiten. Der Erzähler bemerkt, das Erzählte wiederum kommentierend, daß in derartigen Lebensmomenten das
Unheimliche, Widerorganische und Lebensfeindliche
von
unbedingtem Ebenmaß und eiserner Regelmäßigkeit
(Z. Bd. II, S. 187)
deutlich würde. Der momentane Verlust solcher Regelmäßigkeit, der chronometrisch gedachten und institutionalisierten Zeit, sei nicht etwa zu beklagen, sondern habe zur Folge,
unseren Zeitsinn aufzufrischen ... und damit die Erneuerung unseres Lebensgefühls überhaupt zu erzielen
(Z. Bd. I, S. 138)
. Die Erzähltechnik, soll dies auch eine dem Leser zur balancierenden Lösung aufgegebene Problemstellung sein, müßte solche Reflexion als unausweichlich vorführen, und zwar so, daß weder die Newtonsche Chronometrie regelmäßig wiederholbarer Abläufe noch die im Chaosübergang erlebbare
evolutive
Suspendierung zyklischer Zeit dauerhaft die Überhand gewinnt. Das vielleicht wichtigste Erzählmittel dafür, immer wieder angewandt, ist die Verschachtelung verschiedener historischer Zeit-Distanzen und innerhalb dieser zahllose Momente innerer Dauer, am eindringlichsten vielleicht im
Doktor Faustus
. Dort kommentiert der erzählende Biograph die Technik ausdrücklich: 1944 macht er, während der Niederschrift, den Leser darauf aufmerksam, daß er nun von diesem Jahr berichte, nicht aber von dem, zu welchem seine Erzählung gerade fortgeschritten sei, nämlich 1912.
[150:32]
Ich weiß nicht, warum diese doppelte Zeitrechnung meine Aufmerksamkeit fesselt, und weshalb es mich drängt, auf sie hinzuweisen: die persönliche und die sachliche, die Zeit, in der der Erzähler sich fortbewegt, und die, in welcher das Erzählte sich abspielt. Es ist dies eine ganz eigentümliche Verschränkung der Zeitläufe, dazu bestimmt übrigens, sich noch mit einem Dritten zu verbinden: nämlich der Zeit, die eines Tages der Leser sich zur geneigten Rezeption des Mitgeteilten nehmen wird, so daß dieser es also mit einer dreifachen Zeitordnung zu tun hat: seiner eigenen, derjenigen des Chronisten und der historischen
(D.F., S. 342)
.
[150:33] Gerade
Doktor Faustus
, dieses ausdrücklich für die Deutschen geschriebene Buch, zieht, im ununterbrochenen Spiel mit Dia- und Synchronie, den Leser in |a 500|die Nötigung hinein, Leverkühns Biographie, die maschinenhaft ablaufende Barbarei von Nazizeit und Krieg und die evozierten Erinnerungen des Lesers auf eine evolutive
Bifurkation
zulaufen zu lassen. Der Roman schließt denn auch mit einem Bild (es ist ein Detail aus Michelangelos
Jüngstem Gericht
), das uns zu Kontemplation oder Meditation auffordert, zu einem nicht meßbaren Moment innerer Dauer, zur
Erneuerung unseres Lebensgefühls
.
[150:34] 3. Eines der Leitmotive in den Josephs-Romanen ist der schon erwähnte
Vorbehalt
, den Joseph hegt angesichts aller an ihn herangetragenen intellektuellen Erwartungen, Welterklärungen, Glaubensgewißheiten. Immer wieder hebt der Erzähler diese Eigentümlichkeit der intellektuellen Verfassung des Protagonisten hervor und macht sie sich schließlich selbst zu eigen, indem er erklärt, die Geschichte nur
vorbehaltlich des Vorbehalts
zu erzählen und im erzählenden
Wir
darin auch den Leser sich zum Komplizen macht. Dieser
Vorbehalt
ist der Grund dessen, was immer wieder als die Ironie in Thomas Manns Prosa hervorgehoben wurde, in Kontinuität mit der
romantischen Ironie
Friedrich Schlegels (vgl. z. B. Hass/Mohrlüder 1973). Er ist aber auch der Grund für die Äußerung des Autors, der
Zauberberg
sei die
Parodie
eines Bildungsromans, realistisches Erzählen von Bildungsverläufen ein Trug,
denn es ist auf die Dauer völlig unmöglich, das Leben zu erzählen, so, wie es sich einstmals selber erzählte. Wohin soll das führen?
(J., S. 1483)
.
Wohltätig und notwendig
sei deshalb die
Aussparung
, und der Erzähler warnt vor dem
Wahnsinn der Genauigkeit
(ebd.)
. Auf diese Weise, als versöhnender Kompromiß zwischen uneinholbarer
Realität
und anschauungsloser Abstraktion, entstehen die
schönen Gespräche
, entsteht die
schöne Geschichte
von Joseph und seinen Brüdern. Die Antwort auf die Frage, was wahr sei, wird zugunsten eines ästhetischen Kriteriums suspendiert; über den realistischen
Wahnsinn der Genauigkeit
kann man nur spotten. Aber auch den so entstehenden schönen Gesprächen und Geschichten gilt der ironische
Vorbehalt
– und man darf wohl unsere fachwissenschaftlichen Erzählungen und Theorien dazurechnen.
Schön ist Entschlossenheit. Aber das eigentlich fruchtbare, das produktive und also das künstlerische Prinzip nennen wir den Vorbehalt
.
[150:35] Die Bildungsgeschichten, die Thomas Mann erzählt, sind deshalb, zur Seite der
Realität
hin, eine Vexation. Die vielen Versuche in der literaturwissenschaftlichen Diskussion, Figuren der Romane tatsächlichen Personen zuzurechnen, sind zwar für die historische Kontextualisierung nützlich, können aber auch das Interesse des Autors verfehlen. Der
Mummenschanz
, das Verstecken, Andeuten, Parodieren, Karikieren, das Schwebende im Verhältnis der Fiktion zur Realität, dies alles ist für die Erzählweise wesentlich und, nach Meinung des Erzählers, ein Merkmal für Bildung. Thomas Manns Bildungsromane erzählen deshalb keine Erfolgsgeschichten; sie erklären den Bankrott prognostisch-pädagogischer Theorien; sie enden im Desaster; die Konstruktion von linearen Bildungsfortschritten im Lebenslauf zum Gelungenen hin ist, letzten Endes, aufklärerische Eitelkeit. Ich weiß nicht, wie die Geschichte
Felix Krull
ausgegangen wäre, wäre sie nicht ein Fragment geblieben.
Zauberberg
und
Doktor Faustus
jedenfalls enden schlimm. Und auch, daß Joseph sich schließlich als Ökonomie-Experte den Ritualen einer totalitären Kultur einordnet, mag uns kaum erfreuen,
vorbehaltlich des Vorbehalts
.
|a 501|
[150:36] Was also erbringt meine Skizze für die akademische Theorie der Bildung? Schon die angedeutete Kontroverse mit dem Bruder zeigt, daß Thomas Mann nur einen Ausschnitt aus der Fülle der Probleme zur Darstellung bringt, die mit dem Ausdruck
Bildung
assoziiert werden. Über die Gründe für diese Einseitigkeit soll hier nicht spekuliert werden. Es ist indessen keine Herabsetzung der bildungstheoretischen Relevanz seines erzählerischen Werks, wenn man feststellt, daß in den Romanen und Erzählungen historisch befriedigende Beschreibungen der Lage des Bildungsdiskurses oder der Bildungseinrichtungen kaum vorkommen, die verstreuten direkten und indirekten Bezugnahmen auf F. Nietzsche oder auf den (deutschen) Humanismus der Reformationszeit, auch auf die überlieferungswürdigen Gehalte der jüdischen Kultur ausgenommen. Im übrigen wird ein moribundes Großbürgertum vorgeführt, mit vielen Partikeln aus dem Vorrat sogenannter
Bildungsgüter
, das schon bei Fontane in seiner unglaubwürdig werdenden Rolle ironisch beschrieben wird und zu dem sich die Protagonisten wie Fremdlinge verhalten. Keine Utopien mehr, keine Helden des Fortschritts; ob sie
affirmativ
oder
kritisch
gesonnen und tätig sind, wird zu einer uninteressanten Frage, den
Bildungs-Kanon
gibt es nur als Karikatur, die Schulen sind nichts als notwendige Übel, ein plausibles Curriculum taucht nirgendwo auf – es sei denn als hochstaplerische Inszenierung eines Lebenslaufs, in dem Fragment sich an Fragment reiht.
[150:37] Dieses Ab- und Aufräumen der bildungstheoretisch überlieferten Problembestände hat, bei aller Langatmigkeit der von Thomas Mann bevorzugten Prosa, einen den Blick konzentrierenden Effekt. Beim Aufräumen nämlich wird die Frage immer klarer und präziser bedenkbar, was innerhalb oder hinter den historisch-gesellschaftlichen Inszenierungen mit dem Individuum geschieht, ob überhaupt und wie es, im 20. Jahrhundert, wissen kann, wer es selbst ist. Thomas Mann behandelt diese Frage als empirische: Er erzählt, wie es Menschen damit ergangen ist oder ergehen könnte, und breitet weitläufig seine heuristischen Hypothesen aus. Man kann sie, als Fragen und bezogen auf die sechs von mir skizzierten Motive, so formulieren:
  1. 1.
    [150:38] Wie stellen Individuen, gleichviel welchen Alters, einen Kontakt zwischen ihren Körperempfindungen und dem in Sprache sich artikulierenden Bewußtsein von sich selbst her?
  2. 2.
    [150:39] Wie bewerkstelligt das Individuum die Balance zwischen seinem Individuell-Besonderen und den interaktiven
    Verschränkungen
    mit dem Allgemeinen der Sozietät?
  3. 3.
    [150:40] Welche Funktion kommt in diesen Prozessen der ästhetischen Erfahrung zu als einer exzentrischen Fiktion von Autonomie?
  4. 4.
    [150:41] Wie bemeistert das Individuum die Nötigung zur Verschränkung verschiedenartiger Perspektiven auf sich und die Welt?
  5. 5.
    [150:42] Welche Rolle spielen dabei die unterschiedlichen Formen der Zeitkonstrukte und des Zeiterlebens, besonders auch das Wechselspiel zwischen chaotisch-evolutiven und ordnend-stabilisierenden Momenten?
  6. 6.
    [150:43] Ist der
    Vorbehalt
    das Merkmal einer besonderen, vielleicht skeptischen, Existenzweise oder ist er eine allgemeine und notwendige Komponente von Bildungsbewegungen?
|a 502|
[150:44] Den verschiedenen Bildungstheorien sind solche Fragen vertraut, mehr oder weniger ausdrücklich, und zwar sowohl in begrifflichen als auch in empirischen Argumentationen. Die entsprechenden Nachweise würden zahllose Titel verzeichnen können. Bemerkenswert daran ist, daß Thomas Mann sie zur Sprache brachte, vor mehr als einem halben Jahrhundert, als die akademischen Bildungsargumentationen noch ganz andere Themen oder Motive favorisierten, und daß, darin manchem ähnlich, was gegenwärtig Aufmerksamkeit findet, allen normativen Komponenten der überlieferten Form der Rede von Bildung in ironischer Distanz begegnet wird. Schließlich auch enthalten die Texte eine methodische Empfehlung oder doch wenigstens einen Anlaß zum Bedenken: Wesentliche Komponenten dessen, was ein Bildungsvorgang genannt wird, sind in qualitativer Forschung und Erzählweise empirisch genauer zugänglich als in anderen Prozeduren der Bildungsforschung.

Literatur

    [150:45] Adorno, Th. W.: Notizen zur Literatur III. Frankfurt a. M. 1965.
    [150:46] Blankertz, H./Müller, W.: Zauberberg erneut bestiegen. Herausgegeben von W. Müller. Wetzlar 1981.
    [150:47] Blankertz, H.: Geschichte der Pädagogik. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Wetzlar 1982.
    [150:48] Cramer, Fr.: Symphonie des Lebendigen. Versuch einer allgemeinen Resonanztheorie. Frankfurt a.M. 1996.
    [150:49] Fertig, L.: Vor-Leben. Bekenntnis und Erziehung bei Thomas Mann. Darmstadt 1993.
    [150:50] Hass, H.-E./Mohrlüder, G.-A. (Hrsg.): Ironie als literarisches Phänomen. Köln 1973.
    [150:51] Lenzen, D.: Lösen die Begriffe Selbstorganisation, Autopoiesis und Emergenz den Bildungsbegriff ab? In: Zeitschrift für Pädagogik 43 (1997), S. 949967.
    [150:52] Mann, Th.: Betrachtungen eines Unpolitischen. Berlin 1918 (B.).
    [150:53] Mann, Th.: Der Zauberberg. 2 Bände (1924). Berlin/Darmstadt 1957 (Z.).
    [150:54] Mann, Th.: Joseph und seine Brüder. 2 Bände. Stockholm 1948 (J.).
    [150:55] Mann, Th.: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde. Frankfurt a.M. (1949) 1954 (D.F.).
    [150:56] Mann, Th.: Sämtliche Erzählungen. Frankfurt a.M. 1963 (E.).
    [150:57] Mann, Th./Mann, H.: Briefwechsel 19001949. Frankfurt a.M. 1968 (BR.).
    [150:58] Tenorth, H.-B.: „Bildung“ – Thematisierungsformen und Bedeutungen in der Erziehungswissenschaft. In: Zeitschrift für Pädagogik 43 (1997), S. 969984.