Bis 1995 wurde die
Schulmeisterkantate irrtümlich Telemann zugeschrieben, sie
stammt aber nachweislich aus der Hand Christoph Ludwig Fehres(Schulze,
1995). [Lisa-Katharina Heyhusen]
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Aspekte der Lehre – Bildungshistorische Belehrungen durch Kunst
[146:1] Die
«Lehre»
kommt nicht nur
in Schulen, Betrieben und Akademien vor. Auch diejenigen Kulturprodukte,
die wir
«Kunst»
nennen, inszenieren häufig eine
Lehrgestalt oder machen sich diese sogar kritisch zum Gegenstand. Einen
«Diskurs»
über die Lehre gibt es also nicht nur
in pädagogischen oder pädagogisch relevanten sprachlichen Texten. Nicht
selten tritt indessen der Fall ein, daß derartige ästhetische Objekte
nur illustrieren, was auch schon im Medium sprachlich vorgetragener
Argumente mitgeteilt wurde. Die nicht-sprachliche Gestalt fungiert dann
affirmativ; sie bekräftigt in Bild oder Musik eine vorgegebene Lehre, an
deren Verbreitung gelegen ist. Die politischen Plakate von Klaus Staeck sind von
dieser Art, die Werbefotografie, viele Holzschnitte aus der Anfangszeit
des Buchdrucks, Nationalhymnen haben häufig diesen Gestus, in vielen
Fällen auch die Kirchenmusik (z. B. der protestantische Choral, hier
allerdings mit dem Wort verbunden) oder die Fresken in mittelalterlichen
kirchlichen Bauten. In solchen Fällen werden außerästhetische praktische
(religiöse oder politische oder ökonomische) Behauptungen möglichst
unmißverständlich ins Bild oder in die Musik übertragen, sei es für ein
analphabetisches Publikum zur Information (wie in vielen Fresken des
Mittelalters), sei es an Bürger gerichtet, die man ideologisch für
verblendet hält und die deshalb der Aufklärung bedürfen, sei es als
Affirmation, als Bekräftigung von Einstellungen und Weltsichten, die man
erhalten möchte oder von denen man sich irgendwelche ökonomischen
Vorteile verspricht. Es wird für etwas geworben, über das man zumeist
auch ohne Bilder oder Musik verständig reden könnte. Bild oder Musik
sind nur bekräftigende Mittel der Überredung.
[146:2] Eine andere Art von Mitteilung und Lernaufforderung enthalten
solche Kulturprodukte, die ihre eigene Machart zum Gegenstand machen und
sich eher an ästhetisch Professionelle wenden als an ein breites und
anonymes Publikum. |a 172|Für die Musik ist etwa Bach ein Beispiel,
der in der
«Kunst der
Fuge»
der komponierenden Nachwelt noch einmal, in einer
Art Lehrgang, zeigen wollte, was eine rechte Beachtung der überlieferten
Lehre vom Kontrapunkt für künftige Komponisten bedeuten könnte. Oder der
«Ludus tonalis»
von Hindemith, der
«Mikrokosmos»
von Bartok, die sich zwar deutlich
an Bach erinnern, aber nun
mit dem Tonmaterial des 20. Jahrhunderts gleichsam neue
«Lehrsätze»
in Töne setzten. Ähnliches kann man in der Malerei
beobachten. Die Bilder Piero della
Francescas waren auch – nimmt man sein Lehrbuch
«De prospectiva pigendi»
(um
1460) hinzu – Lehrstücke für die Maler-Kollegen, im Hinblick auf die
«Theorie»
der perspektivischen Malerei. Für Dürer gilt das gleiche. Er und
auch Leonardo zeichneten
beispielsweise physiognomische Reihen, die so angeordnet waren, daß am
Anfang der Affe, am Ende die idealische Linie eines griechischen Profils
stand (vgl. Wünsche 1996). Dazwischen
– so die mitgeteilte
«Lehre»
– liegen die Variationen,
die dem Zeichner/Maler anempfohlen werden. Auch die Bilder Kandinskys fügen
sich diesem Mitteilungsgestus ein. Nur wird von ihm nicht mehr Perspektive
und Physiognomie gelehrt, sondern
«Punkt zu Linie und
Fläche»
, wie in der
«Kunst der
Fuge»
oder im
«Ludus
tonalis»
.
[146:3] Schließlich gibt es einen Typus von lehrhafter Mitteilung – er ist
allerdings in Bildern leichter aufzufinden als in der Musik –, in dem der
lehrhafte Gehalt nicht nur durch die Machart vermittelt, sondern selbst zum
Bildgegenstand wird, und zwar in kritischer Einstellung. Es
sind Bilder, in denen sowohl der Inhalt (oder Gehalt) einer Lehre zur
Darstellung gebracht wird, als auch das Verhältnis zum Thema wird, in dem
sich der Betrachter des Bildes zum Lehrgehalt befindet. Sie machen das
Kulturphänomen der
«Lehre»
zum problematischen Thema. Sie
erhoffen sich ein Publikum oder bringen eine Betrachtungsweise hervor, in
der
«Lehre»
,
«Machart»
und
«Rezeptionsweise»
aufeinander bezogen sind. In solchen
Fällen muß man nachvollziehen, was
«im»
Objekt,
«zwischen»
Objekt und Rezipient und
«im»
Rezipienten vor sich geht. Auf solche Objekte will ich mich im
folgenden vor allem konzentrieren und versuchen, auf deren Modernität
hinzuweisen, bzw. darauf, inwiefern sie zur Geschichte oder Vorgeschichte
eines modernen Begriffs von
«Lehre»
etwas beitragen.
[146:4] Was darf man sich von solchen Recherchen erhoffen? Bescheidenheit
empfiehlt sich. Kaum ist anzunehmen, daß etwa eine ikonologische
Historiographie der Lehre ganz anderes zum Vorschein bringen könnte
als das, was auch aus dem Überlieferungsbestand von Texten rekonstruiert
werden kann. Aber man darf mit Varianten rechnen, mit anders gerichteten
Aufmerksamkeiten, mit zeitlichen Verschiebungen. Verwendet man überdies
solche Materialien nicht nur als Illustrationen, sondern als
Quellen für die Historiographie, dann ist damit die Frage
gestellt, ob nicht schon durch die Besonderheit des Mediums, seine
charakteristische Sinnenzugänglichkeit, Gestus und Inhalt von Lehre die
Rezipienten nicht nur auf anderem Wege erreicht, sondern dieser Weg auch der
Lehrgestalt eine Qualität mindestens hinzufügt, die studierenswert ist.
Dieser Frage versuchen die folgenden Beschreibungen einiger Exempel sich
anzunähern. Dabei handelt es sich durchaus um Versuche, die sich noch keiner
strengeren theoretischen Perspektive verschreiben, abgesehen von den gerade
angedeuteten Fragen. Auch sind sie nicht systematisch angeordnet, sondern
fol|a 173|gen nur einer lockeren Chronologie.
Angesichts der Tatsache, daß solche Materialien erst neuerdings in der
bildungshistorischen und theoretischen Diskussion einige Aufmerksamkeit
finden, ist es vielleicht gerechtfertigt, in essayistischer Form zunächst es
bei Deskriptionen zu belassen und die theoretische Konturierung auf später
zu verschieben.
1.Ein Tympanon aus dem 12. Jahrhundert
[146:5] Ich beginne mit einem Objekt, das die didaktische Skepsis späterer
Jahrhunderte noch nicht kannte. Es zeigt, auf den ersten Blick, eine
«herrschende Lehre»
. Solches Zeigen auf die wahre Lehre,
auf das
«Orthodoxe»
, war damals im 12. Jahrhundert nicht
überflüssig, hatte man sich doch gegen mancherlei Häresien zu wehren, nicht
nur gegen Reste heidnischer Naturreligionen besonders in der bäuerlichen
Bevölkerung – und das waren entschieden die meisten –, sondern auch gegen
andere Abweichler, wie z. B. die Katharer, deren brutale Verfolgung damals
in Südfrankreich begann, unter Anleitung des Dominikanerordens. Vor diesem Hintergrund – einige
Zigtausend von Ketzern wurden in der Folgezeit umgebracht – darf man das
Tympanon, das Relief über dem
Domportal von Autun (Burgund) lesen, eine herausragende
Steinmetzarbeit, vom Meister Gislebertus um 1136 fertiggestellt (Abb. 1).
[146:6] Man kann dieses Objekt auf vielerlei Weise lesen. Ich lese es
zunächst als eine monumentale Lehr-Geste, vom Zentrum her: Christus teilt die
Gerechtigkeit und die Wahrheit aus. Was am Ende zählt, ist nichts als das,
was vor dieser Lehre bestehen kann. Sie hat den Vorteil, nicht nur
irgendeine Meinung vorzutragen, sondern eine durch Offenbarung verbürgte
Wahrheit zu dokumentieren. Es wird in der Steinmetzarbeit deshalb nicht nur
die Wahrheit ausgeteilt, in der Spendegeste des Christus, sondern die Delinquenten werden gewogen
und gelegentlich zu leicht befunden; ihnen werden, auf der rechten Seite,
allerlei Schwierigkeiten angedroht, während auf der linken Seite denen, die
der Wahrheit der Lehre näher waren, Unterstützung und Aufhelfen zuteil wird.
Von unten her drängt sich manches Volk zusammen, vom Engel in offenbar
einesteils gelehrig Gewesene und andere gesondert.
[146:7] Das ist die Standard-Lesart, von der ich vermute, daß sie, von dem
klerikalen Auftraggeber erwartet, ihr Publikum erreichte. Ein Relief also,
ein Bild, das eine Lehre ohne Umschweife und genau im Sinne der Orthodoxie,
der rechten Lehre also, zur Darstellung brachte. Aber es ist eine
zweite Lesart möglich.
[146:8] Ungefähr vier Jahre, bevor Gislebertus sein Werk vollendete, starb Abälard. An ihm
zeigt sich, was damals, im Hinblick auf
«Lehre»
, an
Ambivalenzen, Mehrdeutigkeiten, nicht-orthodoxen Thesen und Argumentationen
gerade begann, um sich zu greifen. In den damals, im 12. Jahrhundert, sich
allmählich intellektualisierenden Stadt-Gesellschaften nahm Abälard eine – wie wir heute
sagen würden – pointiert liberale Position ein. Er schrieb:
«Ich greife meiner Gewohnheit nach beim Lehren nicht
auf die Tradition zurück, sondern auf |a 174|Abb. 1: Relief über dem Domportal von Autun (Meister
Gislebertus)|a 175|meine Geisteskraft»
(zit. nach Le Goff 1986, S. 43)
. Sein heftigster Gegenspieler, der später heiliggesprochene Bernhard, sah als
Mittel gegen die sogenannten Heiden nur Gewalt, propagierte einen
bewaffneten Kreuzzug. Abälard
hingegen plädierte, wenn schon für einen Kreuzzug, dann für einen nur
intellektuellen. Während Bernhard schrieb:
[146:9]
«Wir werden in der Sünde geboren, sind Sünder und
zeugen Sünder ... von der Zehenspitze bis zum oberen Zipfel unseres
Kopfes ist nichts Gesundes an uns»
,
[146:10] sagte Abälard:
[146:11]
«Sündigen heißt, unseren Schöpfer mißachten ... Wenn
wir so die Sünde rein negativ bestimmen, als Nichtverzicht auf
tadelnswerte Taten oder, im Gegenteil, Unterlassung von löblichen
Taten, wird deutlich, daß die Sünde keine Substanz ist, besteht sie
doch eher in einer Abwesenheit als in einem Dasein, genau wie die
Finsternis, die man als Abwesenheit von Licht, dort wo Licht sein
sollte, bestimmen könnte ... Die Reue des Herzens vertreibt dann die
Sünde ...»
(zit. nach Le Goff 1986, S. 52 f.)
.
[146:12] Das ist eine schwierige Problemkonstellation. Man könnte sagen,
mit Le Goff, daß nun so etwas
wie Psychologie in die kirchliche Lehre hineinkommt. Das aber ist sicher,
weil zu modernistisch gesprochen, zuviel gesagt. Was in die orthodoxe Lehre
hineinkommt, ist eher diese Frage: Wie kann das, was wir
«Geist»
nennen, im Körper repräsentiert sein, inwiefern könnte man
sagen, daß schon die Äußerungen des Körpers Geistiges zum Vorschein bringen
– übrigens eines der Hauptthemen, wenn nicht gar das wichtigste, in Th. Manns
«Zauberberg»
?
[146:13] Eben dies spielt sich in dem Lehrbild des Gislebertus ab. Ein theologischer Streit, der
bis in das 18. Jahrhundert hineinreichte, wird hier in einer Bildformel
geschlichtet, und zwar so, daß beide Lehren – die des Bernhard und die des Abälard –
«dialektisch»
(wie man sagen könnte) zusammengezogen werden. Im Vergleich mit anderen
Darstellungen des Jüngsten Gerichts fällt auf, daß hier auch die Verdammten
ihre Würde behalten. Die unübersehbare Qual derer, die sich, am unteren Band
des Reliefs, noch in der Situation der durch den Engel vorgenommenen
Sonderung befinden, ist keine Qual durch körperliche Beschädigung; es ist
eine Qual, die gleichsam von innen kommt und ihren Ausdruck in der
Körperbewegung findet, eher ein tiefer Kummer, den die Körperhaltungen
anzeigen, als eine Furcht vor körperlicher Pein (Abb.
2).
[146:14] Die Körperhaltungen lassen sich lesen wie eine Studie über
Zustände außerordentlicher Bedrückung, innerer Irritation des Menschen,
soweit sie sich in Leibgesten formulieren lassen.
[146:15] Über Gislebertus
ist biographisch wenig bekannt. Schon gar nicht weiß man, ob er von der
Differenz zwischen Bernhard
und Abälard Kenntnis hatte.
Von dem intellektuellen
«Klima»
jener Zeit, das eine
Generation vor ihm einsetzte, hat er aber offenbar Wesentliches aufnehmen
können: Am Hauptportal einer Kathedrale brachte er ein Lehrstück an, in dem
bildhaft mitgeteilt wird, wo die |a 176|Abb. 2: Relief über dem Domportal von Autun [Detail] (Meister
Gislebertus)|a 177|problematischen Grenzen zwischen Wahrheit und
Unwahrheit einer Lehre verlaufen. Dieses
«Lehrstück»
teilt zweierlei mit: die Doxa der christologischen, aber abstrakten
Wahrheit, und ihre Brechung durch die Leibhaftigkeit der menschlichen
Existenz.
2.
«Die Schule von Athen»
[146:16] Das nächste Beispiel ist demgegenüber viel versöhnlicher. Es
versucht auch nicht, wie Gislebertus, zu zeigen, wie es uns Menschen geht und welcher
Lehren wir dafür bedürfen, sondern es zeigt einen idealischen Kontext von
intellektuellen Geistesgrößen, die, jedenfalls im Bild, zu einem Diskurs
zusammenfinden und insgesamt das präsentieren, was als wahrheitsfähige Lehre
gelten könnte. Das Bild ist ein Fresko im Vatikan (Rom), heißt
«Die Schule von
Athen»
und wurde 1511 von Raffael gemalt (Abb. 3).
[146:17] Man sieht sofort den zeitlichen Abstand zu Gislebertus, die Unvergleichlichkeit der
Sujets, auch das offenbar völlig andere Publikum, das hier ins Auge gefaßt
wird. Waren es bei Gislebertus einerseits die kundigen Theologen, andererseits aber
auch die Volksmassen, die bei wichtigen Anlässen, besonders bei
Pilgerfahrten auf dem Weg nach Santiago de Compostela, in die Kathedrale
strömten, so waren es im Falle der
«Schule von Athen»
rundum
nur Intellektuelle – die höhere Geistlichkeit, Fürsten, wohlhabende
Kaufleute, Mitglieder von Akademien, besonders der florentinischen –, die
das Bild haben sehen können. Man sieht aber auch die
ikonographisch-kompositorische Nähe zum Tympanon, wenngleich, in diesem
Fall, durch die Zentralperspektive und die dadurch ermöglichten Tiefen und
Oppositionen dort weniger
«Narratives»
zur Geltung
kommt.
[146:18] Die im Tympanon von Autun, der
Steinmetzarbeit von Gislebertus, dargestellte
«Lehre»
richtete
sich an jedermann, jedenfalls an alle, die die Kirche durch das Portal
betreten. Die Lehre nimmt, in der Art ihrer Darstellung, die Mentalität des
Publikums auf und hält sich, in den Körpergesten, dicht an die
Alltagserfahrung. Das ist bei Raffael anders: sein Publikum ist eine äußerst schmale Schicht
von Intellektuellen. Inhalt der Lehre ist hier deshalb nicht das moralische
Leben im Alltag der Bevölkerung und der Ausblick auf Lohn oder Leid im
Jenseits, sondern der Zustand spekulativer Philosophie, Vermutungen über die
mögliche Wahrheit von Sätzen über Welt und Kosmos. Beide Bildwerke
realisieren, so denke ich, einen je anderen und deutlich unterschiedenen
Habitus von
«Lehre»
. Das zeigt sich ganz elementar in den
Körpergesten: diejenigen des Tympanons von Gislebertus kann jeder nachvollziehen.
Diejenigen des Raffael-Bildes
muß man studieren, um sie zu verstehen; die Lehre erschließt sich nur den
philologisch Kundigen; nur diese verstehen die Anspielungen, den Sinn der
Gesamtkomposition, die ikonographischen Beigaben der Figuren. Es ist ein
Bild, so als wäre es ein
«Bericht für eine Akademie»
, der
bildnerische Versuch einer Synthese zwischen den widerstreitenden Theore|a 178|Abb. 3: Die Schule von Athen, 1551 (Raffael)|a 179|men der Überlieferung, so wie es sich in Urbino,
Florenz oder Rom damals darstellen konnte.
[146:19] Das Bild bringt eine wahrhaftig kolossale Lehrgeste zur
Darstellung. Die kunsthistorischen Deutungen des Bildes füllen viele Bücher.
Ich will das hier nicht alles zusammentragen (vgl. Oberhuber 1983). Daß das Fresko ein lohnendes Objekt für
ikonographische Detailbeschreibungen ist, das läßt sich rasch erkennen:
«Schule von
Athen»
ist der Titel einer Fiktion; denn sie führt an
einem Ort zur gleichen Zeit zusammen, was historisch an verschiedenen Orten
und chronologisch über mehrere Jahrhunderte verteilt war. Um also die
«utopische»
Koinzidenz verständlich zu machen, ist
ikonographische Entschlüsselung offenbar wichtig, etwa: in der Mitte stehen
(gehen?) Platon
und Aristoteles,
sie teilen die beiden Seiten des Bildes; Platon trägt seinen Dialog
, Naturphilosophie also, kosmologisch interessiert;
Aristoteles hält seine
«Ethik»
in der Hand, die Probleme säkularen Handelns
also. Unterhalb der Treppenstufen läßt sich wohl Pythagoras (links) noch gerade dieser Alternative
zurechnen; Euklid hingegen, vorne rechts, hat mit dieser Alternative nichts
zu tun. Etwas versetzt von der Mitte, auf den Stufen zwischen Mittel- und
Vordergrund lümmelt sich indessen Diogenes, der Clochard unter den Philosophen, und blickt
ziemlich skeptisch auf das, was er geschrieben vorfindet.
[146:20] Die Bildkomposition versucht, das Auseinanderstrebende
zusammenzuhalten. Ein damals dafür akzeptiertes Kunstmittel war die
Zentralperspektive. Der Fluchtpunkt hätte ja auch eher an den Seiten liegen
können. Hier aber liegt er in der Mitte, etwa auf der Hüfthöhe von Platon und Aristoteles. Das bewirkt, daß die beiden
Handgesten der Philosophen knapp oberhalb des Fluchtpunktes ziemlich
bedeutungsvoll hervorgehoben werden: Platon zeigt nach oben, zum sogenannten
«Himmel
der Ideen»
hin; Aristoteles scheint den Höhenflug bremsen, auf den Boden der
Tatsachen verweisen zu wollen. Auffällig ist auch die Ikonographie der
beiden Physiognomien: Platon
ist nach Art des für antike Philosophen, auch für Propheten, gebräuchlichen
Stereotyps gemalt; Aristoteles hingegen trägt die damals in der Toskana modische
Haartracht (in der übrigens Raffael sich selbst, der rechts am Rande aus dem Bild
herausschaut, nicht gemalt hat). Repräsentiert also Aristoteles diejenige Lehre,
auf die man bauen kann und die deshalb zukunftsfähig ist? Kunsthistoriker
meinen, daß in der Regel die Bildlesebewegung, von der Komposition so
geleitet, zumeist von oben links nach unten rechts verläuft, und zwar
dergestalt, daß am Ende der Bewegung, also unten rechts, der Bezug zur
Realität, das bildsemantisch Bedeutungsvollste zur Darstellung kommt,
meistens. Aber dort findet sich die Geometrie, die zwar auf Reales Bezug
nimmt, aber in der Weise allgemeiner
Proportionen!Ehre.
[146:21] Man sieht jedenfalls: Raffael war ein großer Konstruierer, ein
«perfekter»
Kompositeur von Bildverhältnissen und ihrer Semantik,
ihrem Bedeutungsgehalt. Eine Jahrhunderte umfassende Konstellation von
philosophischen Lehrmeinungen wird als ein großer Diskurs ins Bild gesetzt,
und zwar – sowohl in der Gesamtkomposition als auch in den einzelnen Teilen
– als ein Dialoggeschehen. Das zeigt sich besonders pointiert in
der Lehr-Lern-Gruppe vorn rechts. Dieses ist die am ehesten
«pädagogische»
Stelle des Bildes; es wird nämlich nicht nur |a 180|eine Lehre dargestellt, sondern zugleich der
Vorgang des Lernens. Wie kann man
«Lernen»
als Aneignung einer
«Lehre»
ins Bild bringen? Raffael findet einen Weg, der –
wenn ich genug Material studiert haben sollte – zum ersten Mal und auf
Anhieb überzeugend eine moderne Form der Lehre ins Bild bringt. Von diesem
Detail können wir immer noch lernen, für unsere eigene Form der Lehre:
[146:22] Euklid ist
offensichtlich mit einem Problem der Geometrie beschäftigt. Seine
Aufmerksamkeit gilt nicht den Schülern, sondern einzig der Problemlösung.
Allerdings legt er die Tafel und verwendet er den Zirkel so, daß alle vier
Schüler ihm ohne Schwierigkeit zuschauen können. Sie alle zeigen, jeder für
sich, eine individuelle Lernbewegung, eine Verschiedenheit in der
Aufmerksamkeitsrichtung. Eine Frage bahnt sich an, vielleicht ein Dialog
oder Disput. In Blick- und Handgesten ist das ganz deutlich. Zur Lehre
gehört offenbar beides: die genaueste Beobachtung und die diskursive
Erwägung, ob es denn stimmt, was der Meister vorträgt. Man hat von dem
Schüler rechts oben gesagt (Oberhuber
1983), ihm gehe, im Unterschied zu den anderen, die ganze
Wahrheit der vorgeführten Lehre/Erkenntnis auf. Man muß das nicht so sehen.
Es könnte auch Autoritätsgläubigkeit oder -hörigkeit sein, die die Zweifel
der anderen eher abwehren möchte; man sieht nicht, ob ihm nicht gerade das
Falsche aufgeht. Mir scheint der Schüler unten links, mit
Konzentration auf die Tafel schauend, in seiner Körperhaltung aber
skeptische Vorsicht andeutend, der Lehre am nächsten zu sein. Diese beiden
sind die Antipoden in dieser von Euklid-Raffael
inszenierten Lehr-Situation. Sie sind auch diejenigen mit der deutlichsten
Konzentration auf die Sache. Daß die demonstrierte Lehre faszinierend ist,
sieht man ihnen an; daß sie indessen der Erörterung bedarf, zeigt sich an
den beiden anderen. Überdies wird uns, wenn ich recht sehe, noch
eine weitere Belehrung zuteil: So dialogisch-lebhaft die Szene dargestellt
ist, enthält sie doch, im Vergleich zu den anderen Personengruppen, auch
mindestens eine Andeutung von Unbequemlichkeit; eine Lehre vermag zwar
gelegentlich zu
«begeistern»
, auf durchweg bequeme Weise
aber stellt die Bildung sich nicht ein.
[146:23] Ist es ein Zufall der Komposition, daß es in der Diagonale, also
zur platonischen Seite hin, eine Entsprechung (links) gibt? Dort erkennt
man, in gelb-grünem Gewand, Sokrates. Mich irritiert diese Szene: Aus der
Literatur nämlich ist mir Sokrates u. a. dadurch vertraut, daß er in geduldigem Nachfragen
den Dialog in Gang bringt und hält –
«mäeutisch»
,
hebammenartig, wie es heißt –, die Lehre also im Gespräch sich entwickelt.
Hat Raffael die platonischen
Dialoge mit dem Exponenten Sokrates vielleicht doch nicht so gründlich studiert? Sokrates nämlich, auf diesem
Bild, doziert nur, während die
«Schüler»
verschiedenen
Alters der intellektuellen Beweisführung nur lauschen. Ein bemerkenswerter
Kontrast zu Euklid; offenbar
zwei verschiedene Formen der Lehre, in merkwürdiger Umkehrung, wenn man die
vorgeschlagene Lesart von links oben nach rechts unten gelten läßt: Die uns
moderner erscheinende Lehrsituation der Disputation, der kritischen
Erörterung einer vorgetragenen Hypothese, wird nicht von dem uns als Meister
des dialogischen Gesprächs bekannt gemachten Sokrates vorgestellt, sondern von dem
Mathematiker und Geometer Euklid. Ich kenne die Absichten nicht, die Raffael mit dieser Darstellung der |a 181|Sokrates-Gruppe einerseits, der Szene um Euklid herum andererseits verfolgte. Aber ich
erkenne jetzt deutlicher das Kompositionsprinzip des Bildes: Es ist
offensichtlich kein Historienbild, kein
«narratives»
Bild, das einen chronologischen Ablauf schildert, sondern eins, das eine
Typologie von Lernsituationen vorführt, auf dem Stande des Nachdenkens um
das Jahr 1500 herum. Daß Raffael die am ehesten
«moderne»
Auffassung
von Lehre an bedeutsamer Stelle des Bildes besonders hervorhob, hängt
vielleicht damit zusammen, daß das Verhältnis von Begriff/Idee und Erfahrung
ihm in den Proportionenlehren des Euklid am deutlichsten exponiert schien – und daß er, als Maler,
an der Perspektive interessiert war (die Komposition wimmelt gleichsam von
euklidischen Anspielungen).
3.Holbein und Chardin
[146:24] Die Moderne, deren
«Lehr»
-Darstellung mit der
«Schule von
Athen»
beginnt, verfügt indessen und in ihrem Fortgang
nicht nur über diese, sondern über viele weitere Lehrgesten. Jedenfalls
zeigt uns das die Kunstgeschichte, und zwar deutlicher, als die zumeist auf
Vereinheitlichung erpichten pädagogischen Schriftsteller nahelegen. Ein bei
Raffael freilich schon
angedeuteter, aber stärker pointierter Lehrtypus tritt uns mit Holbeins Bild
«Die Gesandten»
vor Augen. Auch hier waren die Adressaten Intellektuelle, aber doch eher in
der Mitte zwischen Philosophie und Kaufmannschaft (Abb.
4).
[146:25] Dargestellt sind zwei Diplomaten. Zwischen ihnen befindet sich das
Instrumentarium einer Lehre, das gegenüber nationalen Differenzen
gleichgültig ist. Alle diese Instrumente dienen der zuverlässigen Erfahrung
dessen, was der Fall ist. Im Vergleich zu diesen Werkzeugen einer
grundlegenden Empirie verblassen die philosophischen Streitgespräche über
die
«rechte»
Lehre. Man wird – so der Vorschlag des
Bildes – sehen, was sich letzten Endes bewährt. Astronomische Instrumente,
besonders Chronometer, eine tragbare Sonnenuhr, ein Rechenbuch für
Kaufleute, Weltkugel, auch die Musik fehlt nicht, mit der Laute und
beigelegtem Notenbuch, als Hinweis auf prüfenswerte Korrelationen zwischen
Kosmos und musikalischen Verhältnissen, aber eher vielleicht noch als
Symbolisierung der
«musica practica»
, des
Ohres als Erkenntnisorgan. Alles ist der genauesten Prüfung bedürftig – als
Grundlage für Diplomatie und des Verhältnisses der Völker zueinander. Ein
durch und durch humanistisches Bild, das die überlieferte Vorstellung der
«artes liberales»
in die
«moderne»
Mentalität von reformatorischer Lehre einzufädeln versucht.
Darin unterscheidet es sich deutlich von Raffael, dem die naturwissenschaftliche
Version von Erfahrung weniger wichtig war, und von Gislebertus, der noch einem Alltagssinn von
Erfahrung vertraute, die ihr Zentrum nicht in intellektuellen Operationen
hatte – wie bei Raffael oder
Holbein –, sondern im
alltäglichen Selbsterfahren der Menschen als
«Leib»
-Wesen. Auch Holbein
war also, wie Raffael, ein
Intellektueller. Nur profilierte er die Lehre erfahrungswissenschaftlich und
nicht als die Differenz von |a 182|Abb. 4: Bildnis der französischen Gesandten Jean de Dinteville und Georges de Selve, 1533
(Hans Holbein der
Jüngere)|a 183|Sichtweisen unter Philosophen, deren je spekulative
Gehalte, zumal der in der Komposition aufrechterhaltene theologische Bezug,
nicht ganz leicht auf erfahrungswissenschaftliche Stützen bezogen werden
können. 100 Jahre später spitzte sich das Problem im Streitgespräch zwischen
Galilei und dem
Kardinalskollegium zu. Was sollte als lehrwürdige Wahrheit gelten: die
Auslegung der angeblich Wahrheit verbürgenden Schriften der Überlieferung
oder die jenige Wahrheit, deren Behauptungen sich auf sinnliche Erfahrung zwar
nicht gründen, aber stützen?
[146:26] Es gibt, neben diesem Bekräftigungsgestus, auf dem Bild aber eine
Merkwürdigkeit: Über den geometrisch ornamentierten Marmorfußboden – man
kann ihn heute noch in der Abtei von Westminster, wo das Bild gemalt wurde,
in fast der gleichen Form sehen – zieht sich eine befremdliche Spur von
links unten diagonal in das Bild hinein. Ist das Bild vielleicht unvollendet
oder handelt es sich um eine Beschädigung? So genau wir auch hinschauen: dem
bloßen Augenschein bleiben die Malspuren – denn darum handelt es sich – in
ihrem Bild-Sinne verborgen. Sie bleiben fremd, sowohl im Sinne der formalen
Bildkomposition als auch im Sinne einer ikonographischen Deutung. Wie löst
sich das Rätsel?
[146:27] Das Bild war für einen privaten Auftraggeber gemalt worden, den
linken der beiden Gesandten (Jean de
Dinteville, 1504-1555), der es in seinem Schloß in Frankreich
aufhängte. Man darf annehmen, daß es relativ hoch hing; seiner Größe wegen
(ungefähr 2 x 2 Meter) vermute ich, daß die Unterkante des Bildes in der
Augenhöhe des Betrachters lag (so ist es auch heute in der Nationalgalerie in London
gehängt). Wer nun dem Bild sich nähert, mal nach rechts, mal nach links hin
seine Aufmerksamkeit richtet, kann, wenn er Glück hat oder der Zufall es
will, eine unerwartete Beobachtung machen: Schaut man von links unten auf
das Bild und besonders auf die längliche Diagonalfigur, dann sieht man, daß
es ein perspektivisch verzerrter Totenschädel ist.
[146:28] Die zunächst so zuverlässig scheinende erfahrungswissenschaftlich
orientierte Lehre, auch die Selbstsicherheit der beiden damals kaum 30 Jahre
alten Diplomaten, wird einer skeptischen Bildgeste konfrontiert. Dabei wird
die Skepsis, der Zweifel, das
«Gedenke des Todes»
, die
Eitelkeits- oder Vanitas-Kritik nicht plump allegorisch vorgetragen, sondern
als Irritation, als Verstehensbarriere. Der Betrachter wird zunächst im
ungewissen gelassen, was dieses merkwürdige Bildelement bedeuten könnte. Er
wird in eine gleichsam konjunktivische Form seines Nachdenkens
hineingezogen, und zwar durch die Anstrengung, die dem Blick abverlangt
wird: nur wer sich um Verstehen (des Bildes) intensiv bemüht, wird die
«Lehre»
, die hier dargestellt wird, recht begreifen: Sie
konfrontiert ihren positiven Gehalt (Erfahrungswissenschaft) mit dessen
möglicher Hinfälligkeit, ein frühes Dokument für die
«Dialektik der Aufklärung»
.
[146:29] Ein Rätselraten über die richtige Form der Lehre also. Man ahnt
schon, daß sich eine Art von Pluralität breitzumachen beginnt. Der
französische Maler Chardin
(1699–1779) hat im 18. Jahrhundert dazu eine höchst bescheidene, in ihrer
Bedeutung aber ebenso höchst wichtige Pointe angebracht. Er fragte – wenn
ich seine Bilder recht lese – nicht mehr danach, welche Lehre als
wahre zu vermitteln wäre, sondern vielmehr danach, welche Lehre sich für
den Heran|a 184|wachsenden ergibt, wenn er sich
ganz auf seine eigene Erfahrung konzentriert. An zwei Bildern will ich das
erläutern (vgl. dazu Parmentier
1993).
[146:30] Immer wieder hat Chardin Jünglinge gemalt, Knaben zumeist im Alter zwischen 12
und 14 Jahren, die, wie es bei allzu flüchtigem Blick scheint, nur mit sich
selbst beschäftigt sind. Aber sie sind nicht mit sich selbst, sondern mit
ihrer Beobachtung beschäftigt. Immer geht es um ein Objekt für die äußere
Wahrnehmung. Hier wird eine
«Lehre»
präsentiert, die dem
lernenden Individuum nicht vorgegeben wird, sondern die sich bei der
Aufmerksamkeit für mögliche Erfahrung einstellt. Ob es ein Vogel, eine
Seifenblase, ein Kartenspiel oder ein Kreisel ist – im Mittelpunkt dieser
«Lehr»
-Bilder Chardins steht immer die höchst konzentrierte Aufmerksamkeit für
ein Geschehen der äußeren Welt (Abb. 5 und 6).
[146:31] Auch die in Chardins Bildern dargestellte Lehre ist skeptisch, allerdings
nicht zur Seite der in Lehren formulierten Wahrheiten, sondern gleichsam
nach innen hin. Das zeigt sich an der Physiognomie der Personen: Die Gesten
gesammelter, konzentrierter Aufmerksamkeit enthalten immer auch ein Moment
von Distanz, ein Zögern, einen Vorbehalt – so als stünde die Frage im Bild,
ob überhaupt und was denn letzten Endes die
«Selbstbelehrung»
für die innere Bildung dieses Individuums bedeuten
könnte.
[146:32] Alle diese Lehrgesten oder Darstellungen dessen, was Lehre sei,
sind (mindestens) in einem modernen Begriff von Lehre zu versammeln: eine
moralisch rechtfertigungsfähige Ordnung unserer Welt (Gislebertus); eine
Vermittlung der überlieferten Deutungen (Raffael); eine
erfahrungswissenschaftliche Stützung dessen, was wir zu wissen vermeinen
(Holbein); ein Bezug des erfahrenen Wissens auf unsere innere
Bildung (Chardin).
«Lehre»
in
einem modernen Sinne enthält alle diese Komponenten. Ich plädiere dafür, sie
nicht hierarchisch anzuordnen, so als sei eine davon die wichtigste oder
fundamentale. Schon gar nicht scheint mir angemessen, sich heutzutage auf
nur einen dieser Lehrentwürfe festzulegen. Das wäre ein Rückfall in
vormodeme Traditionalität.
4.Eine musikalische Lehrgeste (Bach)
[146:33] Wie aber steht es mit der Musik? Hier scheint eine im
Medium liegende prinzipielle Barriere sich Geltung zu verschaffen. Ist
überhaupt eine Thematik wie die
«Lehre»
ein möglicher
Gegenstand für musikalische Komposition? Ist ein Vorgang wie das Lernen,
besonders aber dessen einer Ausgangspunkt, die Lehre, musikalisch überhaupt
darstellbar? In Opern, Operetten und Musicals, auch gelegentlich in
Kantaten, kommt das freilich bisweilen vor. Wenn in
«My fair Lady»
die Arie
«The rain in Spain rains mainly in the
plain»
ertönt, dann ist dort natürlich von einem
Sprachkursus die Rede. Oder wenn Telemann in der
«Schulmeisterkantate»
die
Schwierigkeiten der Lehre in Musik setzt, dann handelt es sich natürlich,
nach den der Musik unterlegten Texten, um eine musikalische
«Lehr-Inszenierung»
. Aber: Ist das Phänomen
«Lehre»
nur im Text präsentiert oder auch im musikalischen
Material?
|a 185|Abb. 5: House of Cards, 1735
(Chardin)|a 186|Abb. 6: Child with a Spinning
Top, 1738 (Chardin)|a 187|
[146:36] Mir scheint, daß hier eine Differenz erkennbar wird, die lehrreich
sein könnte: Maler haben die Möglichkeit, die ganze Breite der Kultur ins
Bild zu bringen, und sei es nur durch symbolisierende Bildzeichen wie die
Laute, den Globus, das Buch, den Kreisel. Musiker können das nicht. Durch
ihr Medium sind sie zur spezialistischen Professionalisierung verdammt. Zwar
können sie selbst als Lehrende in Erscheinung treten – wie seinerzeit Bach oder wie kürzlich wieder
die
«Rolling
Stones»
als Volksbildungs-Veranstalter aber können sie
auch den Sachverhalt
«Lehre»
in Töne setzen? Vielleicht
ginge das, im Prinzip. Aber es gibt kaum Beispiele.
[146:37] Würde ich nun hier, worauf ich im Falle der Maler verzichtet habe,
die Schriftzeugnisse von Komponisten zu Rate ziehen, dann würde ich mir
vielleicht eine kleine Brücke bauen können, z. B. mit Hilfe von Carl Philipp Emanuel
Bach, Sohn des Johann
Sebastian, Kapellmeister am Hofe Friedrich II. in Berlin und Potsdam, danach in
Hamburg tätig. 1753 veröffentlichte er ein Lehrbuch
«über die wahre Art Clavier zu
spielen»
, dazu 1762 einen zweiten Teil, also gerade zu der
Zeit, als Rousseaus
«Emile»
erschien und gewaltiges Aufsehen erregte. Die
Lehrgeste Rousseaus ist, in
Beziehung auf das Kindesalter, ganz dem Verhältnis des Lernenden zur äußeren
Natur entnommen, in Abstimmung auf die inneren Bildungsbewegungen des
Individuums, so wie Chardin
es in seinen Bildern gezeigt hatte. Bei dem Sohn Bachs und in bezug auf Musik ist das ganz
anders. Hier geht es um eine Lehre, der an philosophischem oder
mitmenschlichem Gebaren, so scheint es zunächst, nicht das mindeste liegt.
Die Lehre ist strikt orthodox, denn Bachs Absicht geht, wie er schreibt, direkt auf diejenigen aus,
«welche ihre Schüler bishero nicht nach den wahren
Grundsätzen der Kunst angeführet haben»
. Manch einer sei durch solche falsche Lehre
«verhudelt»
worden
(C. Ph. E. Bach 1753/1994,
Vorrede)
. Es geht hier also gar nicht um Lehre überhaupt, sondern nur um die
in der Musik, und dies noch einmal auf das Klavierspiel eingeschränkt.
Höchst professionell also, spezialisiert und – wie sich im weiteren Verlauf
des Textes zeigt – rein innermusikalisch: Obwohl viel von der Freiheit des
Spielers, vom Phantasieren, von eigenen Erfindungen beim Abspielen von
Kompositionsvorlagen die Rede ist (besonders im zweiten Teil, S. 325
ff.), ist die Lehre in ihrem Kern ein strenges
Regelwerk, durch Tradition verbürgt, auf das diatonische musikalische
Material und die Lehre von den Harmonien gegründet, zugleich aber diese
Tradition stark erweiternd, besonders im Hinblick auf Modulationsvielfalt.
An der (begriffslogischen) Stelle, an der bei Holbein das erfahrungswissenschaftliche
Instrumentarium, bei Chardin
die Aufmerksamkeit für äußeres Naturgeschehen steht, plaziert der
musikalische Lehr-Entwurf, in der Version C. Ph. E. Bachs, nur Musikalisches,
nichts von außerhalb der Musik. Das zeigt sich besonders deutlich in der
Verwendung des Wortes
«Nachahmung»
: Während es für die
bildende Kunst ein Dauerthema durch die ganze Neuzeit hindurch war, zu
fragen, ob denn Bildwerke die Natur oder sonst etwas außerhalb ihrer selbst
tatsächlich nachahmen oder gar nachahmen sollten, dadurch also die Frage,
was durch ein Bild gelehrt werden könne, von Beginn an höchst komplex auf
die Lebenswirklichkeit des Menschen bezogen wurde und wird, ist dies für
Bach überhaupt kein
interessantes Thema: Wenn er
«Nachahmung»
sagt, dann
meint er damit |a 188|nichts als die Nachahmung eines
musikalischen Vorbildes, eines Musters, einer Komposition. Ein höchst
asketischer Begriff von
«Lehre»
also.
[146:38] Das könnte nun so verstanden werden, als wäre diese Art der Lehre
den Erfahrungen, Stimmungen, Lernperspektiven, Befindlichkeiten des Subjekts
oder Individuums gegenüber völlig gleichgültig, etwa so, wie eine Lehre der
Mathematik nichts als die mathematischen Operationen vermittelt, ohne
geringste Rücksicht auf den Zustand des Subjekts. Die Stimmung etwa, in der
der Lernende sich befinden mag, tangiert nicht im geringsten die Gestalt der
Lehre, höchstens die pragmatischen (
«methodischen»
) Wege
der Vermittlung, ein bloßes Motivations-Problem. So aber ist es bei der
musikalischen Lehre (nach C. Ph. E.
Bach) nun doch nicht.
[146:39] Jede Musik, wenn sie ordentlich komponiert ist, hat
«Inhalte»
, und diese sind zunächst, rein
innermusikalisch, die
«Themen»
. Jedes Thema, überhaupt
jede musikalische Hervorbringung, enthält oder inszeniert aber einen Bezug
auf das, was das Individuum auch sonst ist. Bach verwendet dafür verschiedene Ausdrücke.
Mal sind es
«Affekte»
, mal
«Leidenschaften»
,
«Stimmungen»
oder
«Empfindungen»
. Auch sollen die
«Manieren»
Triller und dergleichen, ihre
«Anmuth»
nicht verlieren
(S. 61)
, immer soll die Musik
«schmackhaft»
wird, ist also
nicht gar so asketisch-innermusikalisch, wie es zunächst scheinen könnte.
Sie nimmt – wie die Physiognomie der Figuren in Chardins Bildern – Bezug auf die
Bildebewegungen, die die strenge Lehre und Aufmerksamkeit im Subjekt
erzeugt. Vielleicht ist der Ausdruck
«Gemüts-Stimmung»
hier passend, den Hegel
später in seinen Ästhetik-Vorlesungen verwendete.
[146:40] Die
«Lehre»
hat demnach zwei Brennpunkte, wie
in einer Ellipse; der eine ist die lehrfähige Gestalt der Sache, der andere
die Anteilnahme des Individuums. Zur Lehre gehört beides. Das soll nun, nach
dem hier eigentlich unpassenden Referat eines Lehrbuches, an einer
Komposition erläutert werden. C. Ph.
E. Bach nimmt an mehreren Stellen seines Werkes, aber in strikt
sachlicher Einstellung und Rhetorik, Bezug auf seinen
«seeligen Vater»
, dessen Kompositionen er, bescheiden, als
Musterbeispiele erwähnt. Daß er sich hier auf einem schmalen Grat befindet
zwischen Tradition und Neuerung, und daß diese Gratwanderung das moderne
Problem von Lehre enthält, zeigt sich in dem folgenden Zitat, das zwar nur
für Musiker gemeint war, indessen aber doch eine Verallgemeinerung
verträgt:
[146:41]
«Da also die Manieren nebst der
Art sie zu gebrauchen ein ansehnliches zum feinen Geschmacke
beytragen; so muß man weder zu veränderlich seyn, und den Augenblick
jede neue Manier, es mag sie Vorbringen wer nur will, ohne weitere
Untersuchung annehmen, noch auch zu viel Vorurtheil für sich und
seinen Geschmack besitzen, aus Eigensinn gar nichts fremdes annehmen
zu wollen. Freylich gehöret allezeit eine scharffe Prüfung vorher,
ehe man sich etwas fremdes zueignet, und es ist möglich, daß mit der
Zeit durch eingeführte unnatürliche Neuerungen der gute Geschmack
eben so rar werden kan, als die Wissenschaft. Indessen muß |a 189|man doch, ob schon nicht der erste, dennoch
auch nicht der letzte in der Nachfolge gewisser neuer Manieren seyn,
um nicht aus der Mode zu kommen. Man kehre sich nicht daran, wenn
sie anfangs nicht allezeit schmecken wollen. Das neue, so einnehmend
es zuweilen ist, so widerwärtig pflegt es uns manchmahl zu seyn.
Dieser letzte Umstand ist oft ein Beweiß von der Güte einer Sache,
welche sich in der Folge länger erhält, als andre, die im Anfänge
allzusehr gefallen. Gemeiniglich werden diese letzteren so
strapaziert, daß sie bald zum Eckel werden»
(a. a. O., Erster Teil, S. 60 f.)
.
[146:42] Diese Sätze sind zwar ganz aus der Perspektive des Musikers
gesprochen. Sie enthalten indessen ein Lehr-Theorem, das weit über diesen
scheinbar engen Kreis hinausweist, nicht nur über Grenzen der Fächer,
sondern auch über die zeitliche Distanz von mehr als 200 Jahren. Man sollte
«nicht der letzte in der Nachfolge
gewisser neuer Manieren sein»
, auch
«wenn sie anfangs nicht allezeit schmecken wollen»
,
aber gerade dies, auch wenn es zunächst
«widerwärtig»
erscheinen mag, ist
«oft ein Beweiß von der Güte
einer Sache, welche sich in der Folge länger erhält, als andere, die im Anfänge allzusehr gefallen»
. Eine gute Lehre
sollte also auch den
«Geschmack»
des Neuen, Unvermuteten, präsentieren, sollte
Übergänge zeigen zwischen dem Bewährten und dem Riskanten.
[146:43] Ich vermute, Carl Philipp
Emanuel Bach hätte nichts einzuwenden gehabt, ein Stück seines
Vaters zu präsentieren, das, wie mir scheint, die hier
vorgeschlagene Lehrgestalt musterhaft vorführt. Es ist die
«Chromatische Fantasie»
(BWV 903, komponiert 1730), an die sich eine strenge Fuge anschließt. Das
«Chromatische»
, also Farbige, macht von allen zur Verfügung stehenden
Halbtonschritten üppig Gebrauch, aktiviert also das Empfindungs-Repertoire
unseres Organismus und gibt andererseits, in den immer wieder eingespielten
melodischen und harmonischen Gerüsten, einen Halt in der Tradition; ein
Lehrstück also; und so war es auch gemeint (Abb.
7).
[146:44] Das
«Chromatische»
entspricht – mit einer
riskanten Analogie gesprochen – der Physiognomie der Bilder Chardins, in den feinsten
Farbabstufungen der Haut, der Möbel, dem Hintergrund. Was geschieht, so
möchte man fragen, mit dem Individuum, wenn es sich mit tönenden
Präsentationen auseinandersetzt, die nicht mehr (1730!) dem traditional überlieferten Gestus der Lehrbarkeit folgen,
sondern fast einen Rausch von Selbstempfindungen erzeugen? Welche Art von
Lehre ist gemeint, wenn diesem chromatischen Strom gelegentlich, aber als
unüberhörbarer Gegenpart, kleine Melodieverläufe und deren Einfügung in die
gebräuchliche Harmonik beigegeben werden? Lehre und Lernende stehen vor
einer Art von Zerreißprobe: Läßt sich der überlieferungswürdige Gehalt der
Lehre einerseits und die Spontaneität des sich bildenden Individuums mit dem
Insgesamt seiner Antriebe und Stimmungen noch zusammenhalten? 80 Jahre
später wurde das Problem in der pädagogischen Literatur als das Verhältnis
zwischen Rezeptivität und Spontaneität diskutiert. Wußte das die
musikalische Theorie der Lehre nicht schon früher? Man kann jedenfalls dies
sagen: Der damals formulierte musikalische Begriff von
«Lehre»
gilt nicht nur für die professionelle Engführung des Themas,
nicht nur für Musiker, sondern führt ein |a 190|Abb. 7: Chromatische
Fantasie und Fuge, 1720, BWV 903 [Auszug] (Johann Sebastian
Bach)|a 191|Problem vor, dem eine allgemeinere
historisch-anthropologische Frage innewohnt: Wie kann das in Bildung
begriffene Individuum in die Form der Lehre einbezogen werden, und zwar so,
daß dabei das Überlieferungswürdige nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt
wird, zugleich aber der sich artikulierenden Individualität ein
größtmöglicher Raum zur Verfügung steht?
5.Radikale Lehr-Skepsis – Cage und Kabakov
[146:45] Derartige Vorstellungen von
«Lehre»
, sei es bei
Gislebertus, Raffael, Holbein, Chardin oder den Bachs, rechneten indessen immer noch mit einem mehr oder weniger zuverlässigen
traditionalen Bestand. Mit der
«Chromatischen
Fantasie»
deutet sich jedoch schon etwas anderes an, das erst
zwei Jahrhunderte später deutlich auf die Spitze getrieben wird und sich nun
eindrucksvoll zeigt. Die
«Lehre»
als ein sinnvoller
Zusammenhang von Behauptungen, Hypothesen, Methoden, der objektiv, als
Sachverhalt dargestellt werden kann, verschwindet. Sie verschwindet indessen
nur als Gegenstand, denn nun wird sie inszeniert als
Prozeß zwischen Objekt und Betrachter, als etwas, das erst im
Vorgang des Sehens oder Hörens hervorgebracht wird. Um diese vielleicht
nicht sogleich verständliche und akzeptable Behauptung zu erläutern, sollen,
aus der Fülle moderner Beispiele, nur zwei zitiert werden. Die im 18.
Jahrhundert begonnene Linie findet eine gegenwärtige Zuspitzung in einer
Komposition von John Cage
(Abb. 8).
[146:46] Die
«Lehre»
, die in diesem Stück präsentiert
wird – und ich denke, es ist eine exponiert didaktisch gemeinte Komposition
–, ist nicht im musikalischen Material vorformuliert, etwa so, daß wir
aufgefordert wären, uns die Proportionenlehre des Pythagoras anzueignen und Kenntnisse über
Oberton-Reihen zu erwerben. Diese Lehre folgt der von Chardin und Bach eingeleiteten Lern-Bewegung. Gegenwärtig
wird Derartiges gern als
«subjektiv»
bezeichnet, so als
bestünde das exponierte Problem in nichts anderem als darin, die eigene
Innerlichkeit zur Sprache zu bringen. Die Belehrung über
«Lehre»
, die wir der Komposition von Cage entnehmen können, ist aber die, daß wir
uns nun mit Hilfe des Instruments selbst belehren; nicht eine Person,
sondern das Cello ist der Lehrer. Das hat Ähnlichkeit mit Befunden der
Musikethnologie (Allgayer-Kaufmann 1996,
S. 67 ff.). In
Kulturen ohne musikalische Notationssysteme wird die musikalische Praxis
gelegentlich von den daran Beteiligten so interpretiert, daß die Lehre weder
von dem Notierten noch von identifizierbaren Urhebern noch auch von der
gemeinsamen musikalischen Praxis einer Band ausgehe, sondern vom Bau des
Instrumentes, der Flöte beispielsweise. Was der (musikalischen) Erfahrung
zugänglich ist, eröffnet das Instrument und sonst nichts. So verhält es sich
mit dem Cello in der Komposition John Cages. Die Lehre besteht in der Frage, welche
Lerngewißheiten sich einstellen könnten, wenn das Erfahrungsinteresse des
rezipierenden oder reproduzierenden Subjekts nicht auf Theorien,
Lehrmeinungen, Wissensbestände konzentriert ist, sondern auf das phänomenal
Gegebene; das einzelne Instrument ist ein Symbol dafür.
|a 192|Abb. 8:
«One⁸»
[Auszug] (John Cage)|a 193|
[146:50] In thematisch andere Richtung, im Grundproblem aber gleichsinnig,
weist ein ironisches Objekt von Ilja
Kabakov, eines russischen Künstlers, der vor allem sogenannte
«Environments»
produziert hat. Viele von
diesen sind inszenierte Lehr-Gesten: Klassenzimmer, Notenpulte von
Orchestern, Bibliotheken usw. Eine radikale Pointe solcher Demonstrationen
ist
«Der
Kubus»
von 1993 (Abb. 9).
[146:51] Ein Kubus, gleichbleibendes Weiß auf allen Seiten, zwei
gegenüberliegende Leitern, die Hoffnung machen, von oben den (Lehr-)Inhalt
in Augenschein nehmen zu können; oben aber zeigt sich: auch dort nur eine
weiße Fläche; was dem Betrachter bleibt, ist nur eine kaum zu entziffernde
Schrift auf einem kleinen Blatt Papier und – wenn er Glück hat – ein rascher
Blick auf einen zweiten Betrachter, der ähnlich ratlos ist wie er selbst.
Nicht nur verschwindet ein sinnvoller Inhalt der Lehre; auch die
Kommunikation, zwischen Zweien, droht sinnlos zu werden, denn was gäbe es
noch zu lehren, zu lernen, wenn die Sachverhalte zu opaken Rätseln werden,
die Instrumente zum
«Gestell»
sich abstraktifizieren, das
Personal nur noch als Andeutung einer Kommunikationsgeste auftritt?
[146:52] Was in der Kunst derart auf die Spitze getrieben wird, findet in
der Lehr-Lern-Forschung oder in den Entwürfen didaktischer Modelle keinen
rechten Ort. Den Didaktikern würde allenfalls in den Sinn kommen, die
ästhetischen Objekte John
Cages oder Ilya
Kabakovs zum Inhalt von Unterricht zu machen. Die radikale Ironie
dieser Objekte besteht indessen gerade darin, schon einen solchen Versuch,
gegenwärtig, als historischen Witz zu kennzeichnen, als absurdes
Unternehmen. Aber ob nun mehr oder weniger absurd: der pädagogische Alltag
nötigt nach wie vor dazu,
«Lehren»
zu vermitteln. Es wäre
– soweit sich das absehen läßt – verhängnisvoll, wollte die Pädagogik sich
die ironische Perspektive in gleichsam neuer Dogmatik zu eigen machen und
also daran arbeiten, die
«Lehre»
zum Verschwinden zu
bringen oder sie nur noch als Produkt von
«Selbsterfahrung»
gelten zu lassen. Das würde sogar der Strenge
widersprechen, der die ästhetischen Gestaltungen unterworfen werden. Die
kulturelle Funktion solcher Produkte besteht deshalb darin, daß sie – und je
näher sie der Gegenwart liegen, um so deutlicher – den
pädagogisch-didaktischen Vorstellungen einen exzentrischen Blick empfehlen,
in der Position des Beobachters dessen, was Pädagogen täglich zu tun
genötigt sind. Es sind Kommentare, deren kritische und produktive Funktion
der pädagogische Lehr-Diskurs sich nicht entgehen lassen sollte.
Innerpädagogisch jedenfalls, in strikter Beschränkung auf das, was in
unseren Texten steht, ist solche exzentrische Selbstbeobachtung kaum auf dem
Niveau von Prägnanz zu haben, das die Künste uns vorführen, und sei es in
absurd-ironischen Figurationen.
[146:53] Die Kunst stellt Fragen, aber keine historischen Prognosen. Ob in
dem Kubus oder – weniger
radikal – in den Instrumenten unseres Kulturgebrauchs, immerhin irgendwann
von Menschen gemacht, nicht doch Lehrenswertes verborgen ist, ist dadurch
nicht beantwortet. Mynheer Peeperkorn, im
«Zauberberg»
Thomas Manns eine Art
Gefühlsathlet, der nur in Anakoluthen sprechen kann, dies alles sehr dicht
(1924) an
Problemstellungen der Lehre orientiert, oben in Davos, Peeperkorn
also hätte vielleicht gesagt:
«Absolut, perfekt! – Aber das
ist nun doch – erlauben Sie mir, Schwätzerchen – Weltuntergang.
Lächerlich. Erledigt!»
|a 194|Abb. 9: Le Cube blanc (Ilya
Kabakov;
|a 195|
Literatur
[146:55] Abälard, P.: Gespräch eines
Philosophen, eines Juden und eines Christen, hrsg. und
übertragen von H.-W. Krautz. Darmstadt 1995
[146:56] Allgayer-Kaufmann, R.: Der
Kampf des Hundes mit dem Jaguar. Ein Beitrag zur Musikästhetik.
Eisenach 1996
[146:57] Bach, C. Ph. E.: Versuch
über die wahre Art das Clavier zu spielen. Faksimile-Reprint
der Ausgabe von 1753 und 1762. Hrsg. von W. Horn. Kassel
1994
[146:58] Le Goff, J.: Die
Intellektuellen im Mittelalter. Stuttgart 1986
[146:59] Herrlitz, H.-G./Rittelmeyer,
Chr. (Hrsg.): Exakte Phantasie. Pädagogische Erkundungen
bildender Wirkungen in Kunst und Kultur. Weinheim/München
1993
[146:60] Kabakov, I.: Installations
1983-1995. Editions du Centre Georges Pompidou. Paris
1995
[146:61] Mollenhauer, K./Wulf, Chr.
(Hrsg.): Aisthesis/Ästhetik. Zwischen Wahrnehmung und
Bewußtsein. Weinheim 1996
[146:62] Oberhuber, K.: Polarität und
Synthese in Raphaels
«Schule von Athen»
.
Stuttgart 1983
[146:63] Parmentier, M.: Sehen sehen.
Ein bildungstheoretischer Versuch über Chardins
«L’enfant au toton»
. In: Herrlitz/Rittelmeyer (Hrsg.), a. a. O.,
S. 105–121
[146:64] Schulze, Th.: Ikonologische
Betrachtungen zur pädagogischen Paargruppe. In: Herrlitz/Rittelmeyer
(Hrsg.), a. a. O., S. 147–171
[146:65] Wünsche, K.: Bildung,
Anthropologie, Karikatur. In: Mollenhauer/Wulf (Hrsg.), a. a. O., S.
15–41
Abbildungsverzeichnis
[146:66] Abb. 1 und 2 In: Grivot, Denis: Die Bildhauerarbeit desXII. Jahrhunderts
am Münster vonAutun. Colmar-Ingersheim: Editions S.A.E.P, [1976]: S. [25] und S. [50/51]
[146:67] Abb. 3 In: Oberhuber, Konrad: Polarität und Synthese in Raphaels «Schule von
Athen». Stuttgart: Urachhaus, 1983: S. 40/41
[146:68] Abb. 4 In: Die Deutsche
Malerei: Von Dürer bis Holbein. Genf: Editions d’Art A. Skira,
1966: S.
167
[146:69] Abb. 5 und 6 In: Roland Michel, Marianne: Chardin. Paris: Editions Hazan, 1994:
Umschlagbild (