Der Leib – Bildungshistorische Beobachtungen an ästhetischen Objekten [Textfassung a]
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Der Leib – Bildungshistorische Beobachtungen an ästhetischen Objekten

[148:1] Vom Leib ist schon gelegentlich, in pädagogischen Zusammenhängen, die Rede. Wie denn auch nicht? Mit dem Leib beginnt und endet alles, was wir über die Bildung des Menschen zu sagen wissen. Bilder und Musikstücke – und nur von solchen Quellen für die Geschichte der Bildung soll hier die Rede sein – inszenieren uns als Leibwesen. Gesten, und seien es nur solche der Hände, zeigen uns im Spiegel der Bilder, wie wir sind oder wie wir sein könnten. Selbst die Musik, oder vielleicht sie vor allem – weil das Ohr, wie man sagt, dichter an der Seele liegt als das Auge – konfrontiert uns mit dem, was wir, körperhaft, empfinden, und mit dem, was wir denken. Die Schwangerschaft Mariae (im Bilde der Monterchi-Madonna del Parto Piero della Francescas) läßt sich ebensowenig bestreiten wie die Wirklichkeit der Fabrikhalle in Genua (in
La Fabbrica
Luigi Nonos). Daß beides uns in der Selbsterfahrung dessen, was wir leiblich sind, betrifft, kann zwar in sprachlichen Texten geleugnet oder distanziert werden. Im Bild oder in der Musik aber wird uns, oder wenigstens mir, einiges abverlangt. Die Musik Nonos verstehe ich nur, wenn ich die zudringlich akustische Erfahrung einer Werkhalle habe oder mindestens sie mir vorstellen kann. Die Intensität der Handgeste in einem Bild Piero della Francescas verstehe ich erst dann richtig, wenn ich sie nachvollziehe. Stimmt das? Was verstehe ich in solchen Fällen? Man könnte antworten: Auf jeden Fall verstehe ich mich! Aber wem, außer mir, könnte daran gelegen sein? Diese Frage ist nicht uninteressant, wenn es um Pädagogik geht, nicht also um persönliche Idiosynkrasien, Vorlieben, Neigungen, sondern um verallgemeinerungsfähige Bestände des Wissens oder Für-wahr-Haltens, denn allemal gehen wir, die
erziehende Generation
, von diesen aus, notwendigerweise. Man muß also suchen nach dem, was über individuelle Varianzen hinweg Vorschläge zu allgemeineren Problemstellungen enthält. Im Hinblick auf Leiberfahrungen darf man wohl annehmen, daß die nicht-sprachlichen Künste einiges beizutragen haben – was die herausragenden sprachlichen Berichte Rabelais’, Grimmelshausens, Ph. Moritz’, Kafkas, Th. Manns, Bassanis oder Calvinos gar nicht schmälern soll; nur ist das hier nicht mein Thema. Da jede Art von Leibthematik (auch!) auf deren Sinnenzugänglichkeit angewiesen ist, darf nicht nur das Reden über, sondern auch die Darstellung von solchen Verhältnissen in die pädagogischen Diskurse Eingang finden.
[148:2] Einige der gegenwärtigen Auffassungen der Stellung unseres Leibes oder Körpers in Bildungsprozessen gehen dahin, daß die Leibkomponente unserer Bildung
primordial
sei, d. h. allen anderen Ordnungen vorausliege. In dem Bildungsroman
Der Zauberberg
hat Thomas Mann 1924 das Problem mit einer bis dahin, poetisch-prosaisch, seltenen Eindringlichkeit beschrieben. Konfrontiert mit dem Siechtum von |a 57|Tuberkulose-Erkrankung in einem Sanatorium in Davos bedenkt der
Held
des Romans, der junge Hans Castorp, in vielen Gesprächen und daran sich anschließenden Selbstreflexionen, das Verhältnis von Körper und Geist, besonders aber die Frage, ob das, was im Körper
auf eigene Hand, grundlos und ohne Zusammenhang mit der Seele
, geschieht, dem Bewußtsein etwas schlechthin Fremdes sei oder ob es einen Weg gebe, in derartigen Körperempfindungen – dem unvermutet stark auf tretenden Schlag des Herzens, der tuberkulösen Zersetzung der Lungen – eine mentale Korrespondenz, einen Lebenssinn zu finden. In dieser Lage stellen die Künste sich als hilfreiche Brücken dar: zunächst das Roman-Kunstwerk selbst, dann aber auch Musik und Bild. Diese beiden fungieren als eine Zwischenwelt zwischen Körper und Geist – die Musik, wie der aufklärerische Gesprächspartner meint, als
politisch verdächtig
, als das
halb Artikulierte, das Zweifelhafte, das Unverantwortliche, das Indifferente
, dem Wort gegenüber jedenfalls minderen Ranges; und ein in Öl gemaltes Porträt, dessen Darstellung der Haut zwischen den analytisch-medizinischen, den in diesem Fall dermatologischen Befunden, und den sinn- oder bedeutungsvollen Empfindungen des Betrachters vermittelt.
[148:3] Thomas Manns Roman erläutert nicht nur gelegentlich dieses Problem der ästhetischen Vermittlung von
Körper und Geist
; es ist das Grundthema dieses Sprachkunstwerks, und zwar als ein fundamentales Problem der Theorie der Bildung des Menschen. Das Thema hat seinen (neuzeitlichen) Anfang in der frühen Renaissance – von anderen Zeiten und Kulturen soll hier nicht die Rede sein – und zieht sich bis in die Gegenwart hin, von der pädagogischen Theorie indessen nur selten aufgegriffen1
1Eine der wichtigsten Ausnahmen sind die Arbeiten von K. Meyer-Drawe, besonders
Leiblichkeit und Sozialität
(1984) und
Menschen im Spiegel ihrer Maschinen
(1996). Im Hinblick auf die Renaissance skizzierte Ruhloff (in Fischer/Ruhloff 1993) das theoretische Problem, welches hier in meinem Text hinter der historischen Oberflächenbeschreibung verborgen bleibt, vor allem in Anschluß an Nicolaus von Cues. Übrigens hat auch zu diesem Problem, der notwendig inkommensurablen Komponente unserer leiblichen Existenz, Thomas Mann eine poetisch-historische Erzählpassage beigesteuert: In
Joseph und seine Brüder
philosophiert Joseph, auf dem Weg nach Ägypten, darüber, daß man, neben den kollektiven Beziehungen zum Stamm, dessen mythischer Erinnerung und Gott, annehmen dürfe, jedes
Ich
sei ein Mittelpunkt (
Die Welt hat viele Mitten, eine für jedes Wesen, und für jedes liegt sie in eigenem Kreise
), und zwar deshalb, weil die Singularität des je eigenen Leibes unhintergehbar sei.
. Mit dieser Hypothese möchte ich nun ein wenig spielen, um in Erfahrung zu bringen, was es mit diesem
Leib
auf sich hat und was Bilder und Musikwerke dazu beitragen könnten. Die Motette Dufays, zur Einweihung des Florentiner Doms 1436 komponiert, und ihr historisches Umfeld ist dafür ein schöner Anknüpfungspunkt, von dem aus ich dann allmählich zur Gegenwart hin fortschreiten kann.

1. Der bewegte und
ausdrucksvolle
Leib: Dufay und Donatello

[148:4] Manetti und Tinctoris, zeitgenössische Kommentatoren (vgl. Zak 1987, Tinctoris 1961), bewunderten die
sinnliche Schönheit
, die
Süßigkeit
an der Musik Dufays. Dieser Eindruck ergab sich für sie u. a. durch die Einfügung von Terzen und Sexten nicht nur in die Komposition überhaupt, sondern durch deren vermehrte Ver|a 58|wendung, sowohl in der melodischen Faktur der Einzelstimmen als auch – und das ist für die neuartige Empfindung wichtiger – in den harmonischen Fortschreibungen. Offenbar wurde in dieser kompositorischen Neuerung ein besonderes Verhältnis des Menschen zu seiner Körperlichkeit geltend gemacht. Die große Lust, die Manetti an der Musik Dufays genoß, war eine Art von Emanzipation: Die Musik zeigte, daß Bezugnahmen auf Mythisches, Kosmisches, pythagoräische Proportionslehren, kurz: Lehrmeinungen über den Wahrheitsgehalt von Selbstempfindung vielleicht nicht das letzte Wort haben, jedenfalls aber in den Hintergrund treten dürfen. In den Vordergrund rückt statt dessen die Empfindung, eine uns ganz ursprünglich erscheinende Körperlust, besonders durch Terz und Sexte erzeugt, eine Art von Gefühl, von Stimmigkeit und Wohlklang, bei gleichzeitig größerer
Rauhigkeit
(wie man in der Psychoakustik sagt) durch Erzeugung von Spannungen, anders als sie die anderen Konsonanzen von Oktave, Quinte und Quart hervorrufen; solche neuen Hörempfindungen und die Lust daran konnte offenbar den (gebildeten) Hörern durch keine akademische oder scholastische Lehrmeinung ausgeredet werden.
[148:5] Diese musikalische Erfindung des 15. Jahrhunderts können wir (gerade noch?) nachvollziehen. Unsere Folklore-Musik,
Rock und Pop
, die Soli oder Begleitfiguren von Gitarren usw., all dies
lebt
von jener Empfindung, auch wenn inzwischen, seit Beginn unseres Jahrhunderts, der musikalischen Avantgarde diese alten Klangvorlieben sentimental, nostalgisch oder kitschig vorkommen mögen und die dadurch erregte Empfindung zur Konvention geworden ist. Man muß sich diesen Sprung in der Musikgeschichte ganz deutlich machen. Deshalb ist ein Vergleich nützlich zwischen den musikalischen Schlußformeln (um hier nur diese als pars pro toto zu nehmen) der alten Musik und der von Dufay angedeuteten
musica nova
(nicht zu verwechseln mit der
Ars nova
des 14. Jahrhunderts) (Abb. 1 und 2). Das musikgeschichtlich Neue zeigt sich im letzten Akkordwechsel der beiden Stücke. Bei Machaut fließt der Satz durch Sekundrückung (von e nach f) in den Schlußakkord; bei Dufay hingegen wird der Schlußklang aus der Quinte gleichsam angesprungen – die uns heute vertraut gewordene Dominant-Tonika-Spannung ist im Entstehen begriffen.
[148:6] Man
spürt
, vielleicht schon beim vorstehenden Hören, auch ohne genauere musikhistorische Information, daß hier ein Bruch liegt, ein Schritt gemacht wird in eine andere Welt von Leiberfahrungen hinein. Aber was ist
Spüren
? Die mit diesem Wort angedeuteten Phänomene sind einer objektivierenden Beschreibung eigentümlich unzugänglich. Nur von mir selbst kann ich zuverlässig sagen, daß ich dies oder jenes spüre. Andere kann ich allenfalls fragen, ob es ihnen ähnlich ergeht. Spüren kann ich nur Vorgänge im eigenen Leib, keine Lehrmeinungen. Insofern sind Kunstwerke besonders privilegiert. Sie bringen etwas zur Sprache hin, das in den lingualen Diskursen – die poetischen ausgenommen – keinen Ort hat. Nur im mimetischen Nachvollzug, gleichsam als Resonanz im Organismus der Rezipienten, erschließt sich das, was Kunst über den Leib zu
sagen
hat.
Die Kunst bringt das, was an mir nicht beobachtet werden kann, wohl aber sich zeigt, in Formen vor die|a 59|
Hier ist eine Notation der Schlußformel von Guillaume de Machauts „Agnus Dei“ aus der „Messe de Nostre Dame“ (1360) zu sehen.
Abb. 1. G. de Machaut, Agnus Dei, Schlußformel
Hier ist eine Notation der Schlußformel von Guillaume Dufays „Nuper rosarum flores“ (1436) zu sehen.
Abb. 2. G. Dufay, Nuper rosarum flores, Schlußformel
Aufmerksamkeit, deren Eigentümlichkeit weniger ein gerades Formulierenwollen, als ein indirektes Sich-zeigen-Lassen ist
(Pothast 1988, S. 99)
. Damit wird eine Hürde für hermeneutische Bemühungen sichtbar, wenn daran gelegen ist, bildungstheoretisch relevante Erfahrungen mit Musik und Bild zur Sprache zu bringen: Bringe ich die Erfahrung mit dem ästhetischen Objekt in die Form einer lehrbaren Meinung, die auch ohne Mimesis mitteilbar ist, dann verfehle ich das
Eigentümliche
jener Resonanz; versuche ich indessen, gerade jenes auszusagen, dann gerate ich leicht – wenn ich nicht über poetische Fähigkeit verfüge – in kitschig-sentimentale Selbstexploration oder erbauliches Gerede hinein. In beiden Fällen wäre die hermeneutische Aufgabe verfehlt. Wie also läßt sich dennoch aussagen, was oder wie
gespürt
, welches Leibverhältnis in Kunstwerken mit dieser Thematik inszeniert wird? Versuchen wir es mit einem Blick auf die bildende Kunst aus der gleichen Zeit, in der die zuvor erwähnten musikalischen Kompositionen entstanden!
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[148:7] 1433, drei Jahre vor der Florentiner Domweihe und Dufays Komposition, bekam der Bildhauer Donatello den Auftrag, eine Kanzel für die Sänger und Musiker herzustellen, für den gleichen Dom. Ungefähr 1438 war sie fertig (Abb. 3).
Hier sind zwei schwarz-weiße Fotografien von Details der Sängerkanzel des Doms in Florenz (1438) von Donatello zu sehen.
Abb. 3. Donatello, Sängerkanzel (Detail)
[148:9] Mir scheint, daß dies ein erstaunliches Werk ist, vergleichbar der Motette Dufays. So etwas hatte man bis dahin kaum gesehen. Und wie genau diese Reliefs im Zeitenbruch, am Beginn eines neuen Bildungs-Habitus lokalisiert sind, zeigt die Heftigkeit der zeitgenössischen Kritik (für dies und das Folgende vgl. Poeschke 1980). Einerseits als herausragender Neuerer gefeiert – schon die vielen Aufträge nicht nur aus |a 61|Florenz, sondern auch für Rom, Padua, Pisa, Neapel, Venedig, Siena zeigen das –, wurde er andererseits nachdrücklich kritisiert. Ein Mitglied der Familie Manetti – nicht der gleiche, der von der Musik Dufays so begeistert war – meinte, daß Donatello das
Quadro
, d.h. die architektonische Ordnung, das Regelhafte von Maßverhältnissen, mißachte und ihm deshalb im Vergleich zu anderen Künstlern nur ein geringer Rang gebühre. Zu diesen anderen gehörte beispielsweise Luca della Robbia, ebenfalls ein Florentiner Bildhauer, der, wie Donatello, auch den Auftrag für eine (im Dom gegenüberliegende) Sängerkanzel erhielt. Der Vergleich zwischen beiden ist lehrreich (Abb. 4).
Hier ist eine schwarz-weiße Fotografie der Sängerkanzel (Cantoria) (1431-1438) von Luca della Robbia zu sehen.
Hier ist eine schwarz-weiße Fotografie der Sängerkanzel (Cantoria) (1433-1438) von Donatello zu sehen ist.
Abb. 4. L.della Robbia, Sängerkanzel
Donatello, Sängerkanzel
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[148:11] Sowohl an den Schlußformeln der beiden Motetten von Machaut und Dufay als auch an den beiden Steinmetzarbeiten de la Robbias und Donatellos läßt sich eine Differenz erkennen, wenngleich thematisch anders akzentuiert. Die Musik geht den Weg einer Differenzierung der auditiven Empfänglichkeit, gleichsam auf das Innere der Person gerichtet. Die Skulptur – oder allgemeiner gesprochen: die bildende Kunst – bringt eine andere Thematik der Leiblichkeit zur Sprache, nämlich die Behauptung des Körpers und seiner Bewegtheit gegen die kulturell vorgegebenen Rahmungen. Robbia baut seine Figuren noch ganz in das tektonische Gerüst der überdeutlichen Säulen ein; die Musikanten haben, gleichsam als Haltepunkte für die Leibgebärden, Instrumente oder (in den Seitenteilen) Notenblätter; heftigere Bewegung spielt sich gleichsam nur unterhalb solcher Ordnung ab.
[148:12] Donatello komponiert anders. Die Säulen sind schmal. Sie ordnen nicht die Körperbewegungen, sondern tragen nur die Balustrade. Dazwischen und dahinter wird ein wildes Spiel entfaltet. Die Bewegungen beziehen sich aufeinander nicht mehr nach Maßgabe äußerer Ordnung, sondern nach den Regeln von Zeit und Tanz. Mir kommt es vor wie eine Steinmetz-Illustration der erwähnten Motette Dufays, so als hätte Donatello diese Musik gehört: Das Regelwerk, das nun in Szene gesetzt wird, imitiert nicht mehr überindividuelle Maß-Verhältnisse, sondern sucht diese in der Leibhaftigkeit, in deren beobachtbarer Bewegtheit auf und sprengt damit die traditionellen Rahmungen. Das hat Ähnlichkeit mit dem ungefähr gleichzeitigen Ende der Isorhythmie als strenger Architekturregel für Kompositionen. So wie die Musik Dufays damit beginnt, uns mit den Empfindungsmöglichkeiten des Ohres bekannt zu machen, führt uns Donatello die Selbständigkeit des bewegten Körpers und der damit verbundenen bewegenden Erfahrung vor Augen.2
2Diese beiden Bemerkungen könnten mißverstanden werden, und zwar so, als solle gesagt sein, daß nun ein neues
Schema
(Piaget) an die Stelle eines älteren trete. Das aber wäre nur zur Hälfte richtig. Der Denkweise Piagets möchte ich nur insoweit folgen, als mit der
Terz
Dufays und der das
Quadro
sprengenden Körperbewegung der Figuren Donatellos eine Plattform für die Auffassung von Leiblichkeit gewonnen ist, die – ähnlich wie vordem – nun ihrerseits, wenngleich neue, prognostische Sätze über die Form der Leiblichkeit in Onto- und Phylogenese möglich macht, etwa so, wie Foucault (1976), historisch erinnernd, über die Disziplinierung des Körpers schrieb. Das aber betrifft das Historisch-Faktische, nicht das Problematisch-Mögliche. Die andere Hälfte der Bedeutung von
Terz
und
Quadro
-Sprengung betrifft den Sachverhalt, daß damit ein nicht-prognostizierbarer Möglichkeitshorizont in der Leiberfahrung eröffnet und (im Prinzip) zugelassen wird. Das ist eine starke Herausforderung für eine Bildungstheorie, die sich an kognitiven Normalitätserwartungen, an theologischen oder säkularpolitischen Ordnungen orientiert. Die durch Musik und Tanz ermöglichten Bildungsimpulse sind von nun an wenigstens denkbar als eine Art von Kontrapunkt zu dem, was historisch-faktisch der Fall ist. Die Geschichte des Tanzes (vom Wiener Walzer bis zur Tanz-Choreographie der Gegenwart) zeigt das ebenso deutlich wie die Geschichte der immer differenzierter werdenden Intervall-Verhältnisse im musikalischen Material.
Äußerlich beobachtbare Bewegung ist aber nur ein Modus von Körpererfahrung. Die Konzentration auf die über das Ohr hervorgerufenen Empfindungen war ein anderer. Einen dritten Modus führt uns Donatello in einer seiner letzten Skulpturen vor (Abb. 5).
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Hier ist eine schwarz-weiße Fotografie der Skulptur „Santa Maria Maddalena penitente“ (1453-1455) von Donatello zu sehen. Die Figur ist frontal von Kopf bis etwa zur Hüfte gezeigt.
Hier ist eine schwarz-weiße Fotografie der Skulptur „Santa Maria Maddalena penitente“ (1453-1455) von Donatello zu sehen. Die Figur ist von ihrer rechten Seite gezeigt.
Abb. 5. Donatello, Maddalena
[148:14] Die Ausdrücke Körper und Leib legen nahe, daß dabei nur das der äußeren Beobachtung Zugängliche gemeint sein könnte. Mit dem knappen Hinweis auf die Bedeutung einer Formulierung wie
ich spüre mich
wurde aber schon gesagt, daß Leibphänomene – im Unterschied zum Ausdruck
Körper
, den wir als physisches Ding verstehen – anders situiert sind als die Objekte äußerer Beobachtung. Schon die Musik wies darauf hin, daß ich ja, wenn ich sie höre, mich nicht nur der äußeren Schallquelle gegenüber finde, sondern Ereignisse innerhalb meines Organismus sich in Gang setzen, mich also mit mir selbst
begegnen
lassen. Ähnlich die Körperbewegung auf Donatellos Sängerkanzel: wir vollziehen beim Anblick dieser Bewegungen (und so hat es der Künstler vermutlich auch gemeint) die rahmensprengenden und raumgreifenden Bewegungen innerlich nach. Es gibt also offenbar irgendeine Korrespondenz oder Resonanz zwischen der äußeren und inneren Komponente des Leibes. Die Kunstgeschichtsschreibung hat das nicht besonders hervorgehoben; bildungstheoretisch aber ist diese
Resonanz
von besonderer Bedeutung. An der
Maddalena
Donatellos wird nichts mehr
geschönt
oder auf Formeln gebracht, die vom Leid des Leibes ablenken könnten, und zwar ohne noch einer äußeren Rahmung konfrontiert werden zu müssen. Das
Außen
der Skulptur, mithin auch des Körpers, so scheint mir, verweist tatsächlich auf das
Innerhalb
des Leibes; die
Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt
, wie Peter Handke schrieb, allerdings nicht mit Bezug auf dieses Objekt. Handkes Sprachformel trifft das theoretische Problem, das hier vorliegt, recht genau. Wir nennen es gemeinhin
Ausdruck
und meinen damit, daß ein Vorgang oder ein Zustand der Innenwelt eines Individuums derart an den Oberflächen des Leibes sich äußert, daß man vom einen auf das andere schließen kann, und zwar in zwei Richtungen: Die ganze Oberfläche der Skulptur signalisiert so etwas wie
Trauer
, und zwar durch die physiognomischen Zeichen, die das Innere im Äußeren erkennen lassen; diese Verstehens-Operation aber gelingt nur, weil die Zeichen auch in der betrachtenden Person die korrespondierenden Empfindungen möglich machen – jedenfalls innerhalb eines Kulturkreises mit halbwegs kontinuierlichen Bedeutungen physiognomischer Charakteristiken.
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Hier ist eine schwarz-weiße Abbildung des Gemäldes „La vecchia“ (1506) von Giorgione zu sehen
Abb. 6. Giorgione, La vecchia
[148:16] Ungefähr 40 Jahre später, nach der Maddalena Donatellos, malte Giorgione ein Bild, das auf das gleiche Problem Bezug nimmt (Abb. 6). Dieses Bild spitzt die Leibthematik als das Verhältnis von Außen und Innen noch weiter zu. Es findet einen Gestus, von dem man meinen kann, daß er kaum überbietbar ist. Die alte Frau zeigt auf sich selbst und blickt uns an.
Col Tempo
steht auf dem Zettel, den sie in der Hand hält,
mit der Zeit
. Mit der Zeit ist sie alt geworden, mit der Zeit werden auch wir es werden, mit der Zeit werden wir begreifen. Die Vorstellung der Leibhaftigkeit unserer Existenz ist hier also nicht nur auf einen Zustand hin ausgelegt, als Empfindung von
Süßigkeit
, als Bewegung, als Leidensgeste (wie in den vorhergehenden Beispielen), sondern als eine Veränderung in der Zeit. Da das Bild nur einen Moment festhalten kann, ist der Maler auf ikonographische Hilfen angewiesen, um den Zeitsinn,
col tempo
, zu verdeutlichen: die Handgeste, der Blick, der Zettel. Das Bild ist wie ein Diskurs über das Verhältnis, in das wir uns zu unserem Körper setzen, wenngleich mit den Mitteln nicht-sprachlicher symbolischer Präsentation dargestellt. Ich denke, das ist dem Thema angemessen. Diese Dichte der leibhaften Selbstreflexion kann kein sprachlich-diskursiver Text erreichen. Während sonst häufig Bilder die Texte nur veranschaulichend illustrieren, ist es hier umgekehrt: Mein sprachlicher Kommentar kann nur Hinweise auf die Welt der Wörter und ihre Kontaktstellen zum Bild hin enthalten; die innere Bewegung, die sich im Nachvollzug der selbstreflexiven Körpergebärde der Frau präsentiert, ist
authentisch
– um einen gar nicht glücklichen, aber modisch-gebräuchlichen Terminus zu verwenden; die sprachliche Rede darüber ist aus Theorien geborgt, z. B. die, daß die Leibhaftigkeit unserer Existenz zu den Grundsachverhalten der Bildung gehöre.
[148:17] Es liegt deshalb wohl in der Natur der Sache, daß derartige Leibprobleme erst sehr spät in den pädagogischen und anthropologischen Theorien auftauchten. Die Domäne des Leibes sind am ehesten die
ästhetischen Darstellungen der Welt
und weniger die diskursiven. Diese Unterscheidung gilt allerdings nur dann, wenn wir den ästhetischen Darstellungen auch noch narrative Berichtsformen (Salimbene oder Grimmelshausen, Bassani), Poetisch-Metaphorisches (Rabelais oder Hölderlin |a 65|oder Calvani), Essayartiges (Montaigne, Moritz, Starobinsky, Paz) hinzufügen, Darstellungsarten also, die sich den strengeren Formen argumentativer Erörterung nicht umstandslos fügen. Über unseren Leib zu reden, fällt uns nicht ganz leicht, wenn wir den Anspruch aufrechterhalten, für andere verständig und nicht nur idiosynkratisch zu reden. Derart hohen Erwartungen werden Künstler und Poeten eher gerecht als Philosophen und Wissenschaftler. Aber eben deshalb ist die diskursive Form der Rede gehalten, jenen anderen
Diskurs
zur Kenntnis zu nehmen, der in
präsentativen Symbolen
(Langer 1979)
bildungstheoretischen Denken aufgegeben sind. Und nun müßte deshalb eine intensive Auseinandersetzung mit niederländischen Porträts, vor allem mit Frans Hals und Rembrandt, diesen Kontrapunkten zu Descartes und Comenius, folgen. Das wäre aber sicherlich zuviel. Gerade diesem Thema schadet Geschwätzigkeit am meisten. Ich mache deshalb einen großen Sprung, und zwar nun wieder zur Musik hin.

2. Der Leib als Medium der Selbstreflexion: Beethoven und Nono

[148:18] Über viele Zwischenstufen hinweg, in denen die bei Dufay empfundene
Süßigkeit
, der
Wohlklang
weiter entfaltet, auch neue rhythmische Akzentuierungen vor Ohren geführt wurden, eine Art
Psychodynamik
sich entfaltete (davon wird später noch die Rede sein), ereignete sich in den späten Streichquartetten Beethovens Erstaunliches. Ich wähle den dritten Satz aus dem 1824/25 komponierten Stück op. 132, 1825 uraufgeführt. Der Satz hat den Titel
Canzona. Danksagung eines Genesenen an die Gottheit, in lydischer Tonart
. Zur Vorbereitung auf das Hören mögen einige Hinweise nützlich sein:
Der Dankgesang gilt als das merkwürdigste Stück Musik, das Beethoven je geschrieben hat
(Schmid 1994, S. 337)
. Beethovens Freund Johann Wölfmayer
soll bei der ersten Probe des Quartetts geweint haben wie ein Kind
(ebd. S. 337)
. Dabei ist es eine Komposition, die sich ziemlich streng an Traditionen hält; so hat der Komponist sich z. B. an Palestrina, einem römischen Kollegen des 16. Jahrhunderts, orientiert, hat den Kirchenchoral – wenn man so sagen darf –
nachgeahmt
, hat sich auch für eine unmoderne Tonart, die lydische, entschieden, von der es in der Renaissance geheißen haben soll (Zarlino. zit. nach Schmid 1994), sie sei nicht nur die älteste Tonart der griechischen Antike, sondern besonders hilfreich
als Heilmittel gegen Ermattungen von Geist und Körper
gewesen
(Schmid 1994, S. 336)
; schließlich hatte Beethoven auch, in einem Nachdruck von 1802, Bachs Motette
Singet dem Herrn ein neues Lied
studiert, in der eine ähnliche Passage auftaucht.
[148:19] Also: Einerseits offenbar einer langen Tradition verpflichtet, war diese Musik für viele etwas markant Neues. Vielleicht sind die Tränen des Freundes ein Hinweis. Übrigens war Beethoven, als er diese Komposition niederschrieb, bereits vollständig taub (Abb. 7).
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Hier ist eine Notation der Motette „Heiliger Dangesang eines Genesenen an die Gottheit, in der lydischen Tonart“ (1824/1825) von Ludwig van Beethoven zu sehen.
Abb. 7. L. van Beethoven, Streichquartett
Opus 132, dritter Satz
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[148:23] Wie könnte man beschreiben, was hier vorgeht? Musikanalytisch ließe sich gewiß manches sagen über den kunstvollen Bau des Stückes, die Kontrastierung der Teile, die Variationen und Transpositionen des Themas nach Tempo und Tonhöhe etwa, die Umkehrungen, die Fugati und vieles mehr. Uns soll hier aber die bildungstheoretische Frage interessieren, was derartige Musik mit unserer eigenen Leiberfahrung zu tun hat. Und da ist das Vokabular dürftig. Ich versuche es dennoch:
[148:24] Auffallend ist die fast überstarke Dehnung der Zeit. Die ersten 30 Takte sind als eine strömende Dauer komponiert, und zwar so, daß von den vier Taktschlägen je die ersten beiden wie ein langsames Einatmen, die letzten beiden wie ein Ausatmen sind. Die extreme Langsamkeit kommt mir vor wie eine Aufforderung, nicht nur nach außen, sondern auch nach innen zu hören. Das Spüren der Töne wird gleichsam umgewendet zu einem Spüren meiner selbst. Mir scheint, daß das eine sehr moderne, nämlich selbstreflexive Bewegung ist. Auf der Biennale in Venedig 1995 zeigte der amerikanische Film- und Video-Künstler Bill Viola einen ca. 15minütigen Film, eine Begegnung/Begrüßung dreier Frauen, angelehnt an ein Sacra Conversazione von Pontormo, in dem, ohne jeden Ton, nur das zeitlich gedehnte Spiel der Hände und der Physiognomien zu sehen war. Der Film wurde so langsam abgespielt, daß die Verlängerung der Zeit ungefähr das 20 -fache des alltäglich-normalen Ablaufs ausmachte. Das ist eine entschiedene Gegenbewegung, ein künstlerischer Gegenentwurf zu einem anderen, der in unserer Kultur ebenso ästhetisch präsent ist: die Verkürzung der Zeit. Violas Film ist die Umkehrung. Nicht mehr wird, wie schon im Stummfilm der 20er Jahre, ganz pointiert aber in den gegenwärtigen Video-Clips, im Werbefilm, aber auch im Kino, ebenso in der Zeitdynamik von Rock oder Techno, beschleunigt und verflüchtigt, in alltäglich unnachahmliche Geschwindigkeiten hineingezogen, sondern das Gegenteil dazu formuliert: eine ebenso unnachahmliche Langsamkeit.
[148:25] Beethovens
Canzona
findet eine frühe Formel dafür: Nach der langen Phase, in der wir zur Selbstreflexion im Medium des Hörens, auf unsere eigenen inneren Empfindungen, auf die Wahrnehmung von uns selbst verwiesen werden, folgt wie eine vorübergehende Entlastung eine Phase mit (gleichsam) Alltagstempo. Dieses Zwischenstück, ab Takt 32, ist überschrieben mit
Andante, Neue Kraft fühlend
. Hier kommt auch der Körper wieder in Bewegung, während er, sein Hören vordem, in den choralhaften Partien nur das überbrückende Medium zwischen innen und außen war. Selbstreflexion hält niemand gerne und lange aus. Dafür gibt es viele Ausreden (
Ich kenne es schon
,
langweilig
,
immer dasselbe
,
keine Aktion
etc.). Aber man kann doch vielleicht hören und sagen: Hier, in Beethovens Musik oder im Film Violas, werden wir darauf hingeführt oder wird uns vorgeführt, daß Selbstreflexion, als eine, wie mir scheint, notwendige Bedingung eines modernen pädagogischen Habitus, nicht nur im Wort, sondern bereits in der präverbalen sinnlichen Erfahrung ihr Medium hat.
[148:26] Was hier im Hinblick auf den
Leib
zum Thema wird, ist freilich nur eine Komponente des Problemfeldes. Anders würden wir durch Musik belehrt werden können, |a 68|wenn wir etwa Bewegungsformen, das heftig oder gebändigt Expressive, Leidenschaft oder
Außer-Rand-und-Band-Geraten
studieren würden. Auch in dieser Hinsicht zeigen sich Veränderungen, Wandlungen, Metamorphosen oder Transformationen, die die Entstehung eines modernen Körpergefühls umkreisen und konturieren. Die rhythmische Dynamik der Madrigale des 16. Jahrhunderts wären hier zu nennen, die höchst disziplinierte Bewegung in den Fugen Bachs oder Scarlattis, der Ausdruck von Leidenschaften, Affekten in der Vorklassik usw. bis hin zur Rockmusik oder dem derzeit verbreiteten
Techno
. Man könnte sich die Frage stellen, wie denn je das Verhältnis zwischen spontanen Körperimpulsen und ihrer Ordnung zur Darstellung kam, denkt man etwa an Tanzformen und deren musikalische Repräsentanten (Jitterbug oder Boogie-Woogie) oder – ca. 150 Jahre früher – an den wahrhaft revolutionären Übergang vom Menuett zum Wiener Walzer. Das Form-Ideal des höfischen Menuetts, ein Ritual von Kollektiven, wurde im Walzer liquidiert, in dem nun nur noch die erotische Beziehung zwischen zwei Körpern, ein
privater
Vorgang also, zum Thema wurde.
[148:27] Wiederum anderes würden wir erfahren, wenn wir uns Aufführungspraktiken von Musik, oder in sozialgeschichtlicher Einstellung Entstehung und Veränderung eines Konzert- oder Hörpublikums klarzumachen versuchen (vgl. Dietrich 1997): Was geschieht mit dem Leibe dieses Publikums – ein Begriff übrigens, der erst im 18. Jahrhundert auftaucht –, wenn es einer Motette lauscht; wenn es einer Tafelmusik zuhört; wenn es Musik unmittelbar in Tanz überführen kann; wenn es
Hausmusik
betreibt; wenn es, zum bloßen Hören verdammt, im Konzertsaal sitzt; wenn es, einsam im privaten Raum, für sich nur die Schallplatte hört, sei es in der Einstellung von Aufmerksamkeit, sei es als Hintergrund-Klangereignis; wenn es, im Strudel der musikalischen Bewegungsimpulse einer
Disco
, sich den damit induzierten Leibimpulsen überläßt oder konfrontiert?
[148:28] Derartige Fragen und Vorgänge verdienen eine genaue Beschreibung und Analyse. Das wäre, wie mir scheint, nicht unwichtig in einer historischen Situation, in der die Auseinandersetzung mit der Leiblichkeit unserer Existenz (vgl. Schmitz 1966) zu den Grundfragen der Bildung zu gehören scheint. In diesem weiten Feld möchte ich mich indessen auf diejenige Problemlinie beschränken, die mit Dufay und Donatello, mit Giorgione begonnen und – in einem großen Sprung – mit Beethovens Streichquartett fortgesetzt wurde: das Thema der im Verhältnis zum eigenen Leib gesetzten Selbstreflexion. Ich habe dafür noch ein musikalisches und zwei bildnerische Beispiele.
[148:29] Luigi Nono komponierte 1980 ein Streichquartett mit dem Titel
Fragmente, Stille – An Diotima
. Schon der Titel enthält wichtige Anspielungen, die für einen Komponisten unserer Zeit vorweg erläutert werden sollen:
An Diotima
nimmt Bezug auf die Poesie Hölderlins. Deshalb sei ein kleiner Ausflug in das Gelände sprachlicher Metaphern gestattet. Der erste Gesang von
Menons Klagen um Diotima
, 1800 geschrieben, lautet so:
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[148:30]
Täglich geh' ich heraus und such’ ein Anderes immerø

Habe längst sie befragt alle die Pfade des Lands;

Droben die kühlenden Höhn, die Schatten alle besuch’ ich,

Und die Quellen; hinauf irret der Geist und hinab,

Ruh’ erbittend; so flieht das getroffene Wild in die Wälder,

Wo es um Mittag sonst sicher im Dunkel geruht;

Aber nimmer erquickt sein grünes Lager das Herz ihm,

Jammernd und schlummerlos treibt es der Stachel umher.

Nicht die Wärme des Lichts, und nicht die Kühle der Nacht hilft,

Und in Wogen des Stroms taucht es die Wunden umsonst.

Und wie ihm vergebens die Erd’ ihr fröhliches Heilkraut

Reicht, und das gärende Blut keiner der Zephire stillt,

So, ihr Lieben! auch mir, so will es scheinen, und niemand

Kann von der Stirne mir nehmen den traurigen Traum?
[148:31] Die von Nono schon im Titel hergestellten Bezüge zur Dichtung Hölderlins haben eine
Werk
-Parallele in zweierlei: Die eigentümliche Melancholie in der Poesie Hölderlins rührt an dessen Stimmung, daß nun die Zeit der Götter endgültig vorbei sei, nur noch ein
trauriger Traum
bleibe übrig. Das ist der eine Ausgangspunkt Nonos. Nun nämlich bleibe uns nichts als die Erforschung dessen, was wir auch ohne Hilfe der Mythologie sein könnten.
[148:32] Der andere Bezug liegt darin, daß, wenn ich recht sehe, eine musikalische Erinnerung an das zuvor zitierte Streichquartett Beethovens ins Gehör kommt, denn es war ein Auftragswerk der Stadt Bonn zum 30. Beethovenfest 1980. Kritiker haben nach der Uraufführung 1980 gemeint, Nono verließe damit sein in
La fabbrica illuminata
noch dokumentiertes politisches Engagement und ziehe sich nun in eine quasi private Sphäre zurück. Das scheint mir ganz falsch zu sein. Vielmehr – so denke ich – versucht diese Musik auf den Hörgrund dessen zu gelangen, was bei Hölderlin als melancholische Reflexion zur Sprache kommt – auch Hölderlins Metaphern sind ganz dicht an Leiberfahrungen gebunden. Mir scheint – und man muß nicht erst auf die Körper-Selbsterfahrungs-Seminare der Gegenwart, auf die Thematisierung von
Sinnlichkeit
in Kindergärten und Schulen, auf die ökologischen Bewegungen und deren Bezugnahme auf Schwierigkeiten, die wir mit unserem Organismus haben, gar auf die Waldorfpädagogik, der die Leibfundierung unseres Weltverhältnisses von Beginn an wichtig ist, Bezug nehmen – mir scheint also, daß hier das, was sich auch sprachlich-umständlich erläutern ließe, auf musikalisch eindrucksvolle Formeln gebracht wird, zudem in Erinnerung an Hölderlin, der offenbar ahnte, daß unsere Kultur sich auf Sackgassen zubewegen könnte (Abb. 8).
|a 70|
Hier ist eine Notation des Musikwerkes „Fragmente, Stille – An Diotima“ (1980) von Luigi Nono zu sehen.
Abb. 8. L. Nono, Fragmente, Stille – An Diotima
[148:35] Wie von ferne her kommen die Töne der Streichinstrumente, hoch und schrill, oder auch wie an- und abgerissen; dann lange Pausen; kein harmonischer Klang wie noch bei Beethoven; jeder Ton, so scheint es, steht für sich. Die Partitur ist voll von verschieden gestuften piano-Bezeichnungen, auf kleinstem Raum, in kürzester Zeit. Zwar werden also dynamische Entwicklungen hörbar (durchsetzt von unerwartbaren Mezzoforte-Punkten hin und wieder), aber diese sind immer leise, noch leiser, kaum hörbar bis etwas weniger leise: nichts kommt auf uns zu, die Musik entzieht sich und fordert damit auf, ihr nachzugehen, in äußerster Konzentration, aber wie und wohin? Es gibt ja kein Ziel, kein Zentrum, keinen Vorschlag einer Gangart. Denn: die – durch horizontale Lesbarkeit – irgendwie noch angedeutete Unterstellung von Kontinuität (obwohl es keinen Sinn macht, eine Stimme zu verfolgen) wird immer wieder durch vertikale Brüche aufgehalten (der musiktheoretische Begriff der
Pause
paßt schon nicht mehr, weil auch er eine Strecke, auf der pausiert würde, voraussetzt). Die Anweisung
ca. 9–13 sec
, synonym mit
so lange wie möglich
, meint: Stille – dann erst weiterspielen, wenn es vielleicht gerade eben noch gelingen kann, den letzten Vor-Stille-Klang mit dem ersten Nach-Stille-Klang zu verknüpfen. Dazwischen aber bleibt der Hörer sich selbst überlassen. Die Intentionalität seines Bewußtseins kann gar nicht anders, als sich zu dezentrieren, in verschiedene Richtungen auszuschweifen, zugleich aber darf er die Illusion des
roten Fadens
nicht aufgeben, sonst verliert sich alles in Einzelklängen, chaotisch, ohne Zusammenhang.
|a 71|
[148:36] Darf man vermuten, daß diese Musik manch einem immer noch große Verstehensschwierigkeiten bereitet? Was kann man in solcher Lage tun? Man kann – wenn man nicht gerade im Fach Musikwissenschaft/Musikgeschichte kompetent sich auskennt – dem Verstehen durch wechselseitig mitgeteilte Einfälle aufhelfen.
[148:37] 1. Eine erste solcher Aufhilfen finde ich in der Geschichte der philosophischen Ästhetik. Es könnte beispielsweise der Fall eintreten, daß irgendwer diese Musik als
unschön
, als
nur dissonant
, ja geradezu als
häßlich
empfindet. 1853, also kurz nach dem Höhepunkt der für unsere Ohren immer noch wohlklingenden klassischen und romantischen Musik erschien von Karl Rosenkranz eine
Ästhetik des Häßlichen
(Rosenkranz 1990). Rosenkranz schwankte noch ein wenig im Bruch der ästhetischen Optionen: Einerseits bedeutete für ihn das Wort
ästhetisch
das Schöne, so wie es auch noch in der Alltagssprache verwendet wird; und er hatte dabei eine klassizistische Schönheit im Sinn;
das wahrhaft Schöne ist die glückliche Mitte zwischen dem Erhabenen und dem Gefälligen
(a.a.O., S. 148)
. Diese
glückliche Mitte
bewirke einen harmonischen Ausgleich der Leibfunktionen, dämpfe einerseits die extremen Leidenschaften, sorge andererseits dafür, daß sich nicht die Langeweile der
Gefälligkeit
einstelle. Wie also vermeidet die Kunst das einerseits Ungebändigt-Leidenschaftliche, andererseits das Langweilig-Gefällige? Dadurch, daß sie dem Häßlichen Raum gibt, damit das
Schöne
, die
Idee
um so deutlicher hervortrete. Das
Disharmonische
beispielsweise kann eben deshalb
wohl unser Interesse erregen, ohne schön zu sein
(a. a. O., S. 91)
; schön erscheint es erst
im Sinn der ästhetischen Harmonie, der Rückkehr aus dem Widerspruch in die Einheit
(a. a. O., S. 49)
.
[148:38]
Auf krankhafte Weise, wenn ein Zeitalter physisch und moralisch verderbt ist, für die Erfassung des wahrhaften, aber einfachen Schönen der Kraft entbehrt und noch in der Kunst das Pikante der frivolen Korruption genießen will, werden dann Kunstwerke hervorgebracht. Ein solches Zeitalter liebt die gemischten Empfindungen, die einen Widerspruch zum Inhalt haben. Um die abgestumpften Nerven aufzukitzeln, wird das Unerhörteste, Disparateste und Widrigste zusammengebracht. Die Zerrissenheit der Geister weidet sich an dem Häßlichen, weil es für sie gleichsam das Ideal ihrer negativen Zustände wird.
(a. a. O., S. 48)
[148:39] Entspricht die Musik Nonos dem, was hier skizziert ist? Ist sie nur
häßlich
? Man könnte so etwas nur behaupten, wenn man an der von Rosenkranz noch festgehaltenen klassizistischen Idee von Schönheit hängt und damit ein Bild des eigenen Leibes favorisiert, in dem die Leidenschaften (z. B.) gebremst und also, letztendlich, die Affekte nur gerade eben noch zum Vorschein, aber nicht zur unverstellten Darstellung kommen dürfen. Nun ist aber gerade diese Vorstellung vom
Ästhetischen
durch die Entwicklung der Künste in der Moderne fraglich geworden.
Schön
oder
häßlich
sind keine relevanten Bezugsvokabeln mehr. Nicht mehr, ob die von ihm komponierten Klänge schön oder häßlich seien, interessierte Nono, sondern
ob es stimmt
.
|a 72|
[148:40] Die Frage,
ob es stimmt
, führt nicht nur auf eine Spur ästhetisch interessierter Theorie, sondern auch auf ein anderes Bild von der leibhaftigen Verfaßtheit des Menschen hin. Nono inszeniert in dieser Musik einen anderen Entwurf des Menschen als Hörer. Nun, in dieser Musik, werden die Alternativen von schön und häßlich, Harmonie und Disharmonie, Wohlklang und Geräusch, Takt und Chaos völlig irrelevant. Statt dessen tritt in den Vordergrund die Alternative von Klang und Stille.
Stille
, d. h. Pausen, gab es freilich schon vordem (vgl. Seidel 1993); sie standen aber (fast) immer im Dienste des Fortschreitens einer musikalisch-leibhaften Bewegung, als auf ein Ziel hin gerichtet, das (mindestens und vor allem) durch die rhythmische Gliederung der musikalischen Abläufe, auch durch die Orientierung auf einen irgendwie harmonischen Schluß hin, sich Geltung verschaffte und das Ganze schließlich doch ordnete.
Musik, die Stille darstellte, war systemwidrig
(Seidel 1993, S. 246)
. Die
Ordnung
, die Nono unserer Leib-Hör-Erfahrung präsentiert, ist eine andere.
Die Stille, die Nonos Quartett trägt
, heißt es in der Musikwissenschaft,
annulliert den Hörer nicht. Im Gegenteil: sie macht ihn in einer besonderen Weise rege
(Seidel 1993, S. 256)
. Ich möchte ergänzen: Diese Musik bringt uns, als Hörer, hervor als jemand, der sein Hörorgan als Erkenntnisinstrument einzusehen beginnt, und zwar in einer vordem nicht gekannten Weise, nämlich: als Organ der Selbsterkenntnis, beim Chaos beginnend, bei vereinzelt scheinenden Klangfragmenten, die aus einem
Meer
(Seidel)
von leeren Zwischenräumen, aus
Stille
herausragen.
[148:41] 2. Das hat Ähnlichkeit mit dem, was Friedrich Cramer als das Prinzip des Lebendigen beschreibt: Die biologische Lebendigkeits-Charakteristik bestehe darin, daß sie wie eine
Gratwanderung
sei;
die Schritte bilden kein Kontinuum wie die Pendelbewegung einer Uhr, vielmehr ist jeder Schritt ein Kippen, ein
Wagnis
, potentiell ein Chaos-Ordnungs-Übergang
(Cramer 1995, S. 44)
. Man darf also durchaus sagen, daß das Streichquartett Nonos eine biologische Leibcharakteristik zur musikalischen
Sprache
bringt, die uns erst in der Gegenwart recht zum Bewußtsein kommt. Was als biologischer Lehrsatz über die
Prozeß
-Eigentümlichkeit des Lebendigen, seine Irreversibilität, seinen
Übergangs
-Charakter sagbar ist, mit den dazu nötigen naturwissenschaftlichen Begründungen/Erklärungen, das kann uns also offenbar in der Musik auch als sinnlich darstellbare, als kulturell induzierte Leiberfahrung vermittelt werden. Deren Pointe ist: leibhafte Selbstreflexion, hier allerdings nur auf die auditive Komponente unseres Leibes bezogen! Die Musik Nonos konfrontiert uns mit dieser Möglichkeit leiblicher Selbsterfahrung und damit auch mit der Möglichkeit, solche Erfahrung in das Bild zu integrieren, das wir von uns selbst haben.
[148:42] Derartiges ist der
Pädagogik
nicht so fern, wie es scheinen könnte. Das
moderne
pädagogische Denken operiert, darin dem naturwissenschaftlichen ähnlich, mit zwei konkurrierenden Entwürfen: der physikalischen Konstruktion entspricht der (offenbar notwendige) Entwurf von reproduzierbaren Bildungsverläufen, von Wiederholbarkeit, von Stetigkeit in der Dauer der Ereignisabfolgen; auch die Leiber|a 73|fahrungen müssen, nach diesem Konstrukt, in die Zeitreihen zuverlässig eingefügt werden; das Erziehungs- und Bildungssystem und die ihm zugeordneten Praktiken – von der Reinlichkeitsdressur im frühen Kindesalter bis zu den Examina in der Adoleszenz oder dem frühen Erwachsenenalter – sollen prognostisch zuverlässig sein; und das können sie nur dann sein, wenn die Prognostiker auf relativ zuverlässige Daten zurückgreifen können, die durch Kausalitätsannahmen gestützte Prognosen erlauben.
[148:43] Demgegenüber gibt es einen anderen Entwurf, der dem biologischen Konstrukt lebendiger Bewegung näher liegt: Jeder neugeborene Säugling ist einer Mannigfaltigkeit von inneren Impulsen und äußeren Reizen ausgesetzt, in deren Gewirr er schließlich selbst seine
Gratwanderung
beginnen müsse; auch später dann solle
Spontaneität
erhalten bleiben, dürfe nie der Moment der Zukunft
aufgeopfert
werden (Schleiermacher),
Bedürfnisse
und deren Befriedigung sollten den Fortgang des Aufwachsens regulieren; die Schulen sollten sich den – dann freilich schwer kalkulierbaren – Erfahrungsfeldern der Lebenswelt öffnen. Das ist eine schwierige Alternative, die sich vorerst nur durch Dogmatismus nach dieser oder jener Seite hin eindeutig entscheiden läßt.
[148:44] Das Streichquartett Nonos zeigt auf den ambivalenten Leibgrund dieser Alternative.
[148:45] Nachdem also die Musik der Neuzeit jahrhundertelang dem Duktus des geordneten Fortschreitens folgte, setzt Nono
eine Musik ins Werk, deren Prinzip die Stille ist
(Seidel 1993, S. 248)
, aus der die zunächst chaotisch scheinenden Klänge in kleinsten Schritten hervortreten und zu ersten Ordnungsgestalten sich figurieren. Auch ohne meinen geschwätzigen Kommentar kann dem aufmerksam diese Tonkunst nachvollziehenden Hörer zum Bewußtsein kommen, was die Rede vom
primordialen
Status unseres Leibes (Merleau-Ponty 1966) besagen soll.

3. Der Leib als das dem Bewußtsein
Fremde
: Goya

[148:46] Mit den vorgestellten Musikstücken habe ich, wie gesagt, aus dem breiten Panorama der Körper- oder Leibthematik nur einen kleinen Ausschnitt gewählt. Er scheint mir aber auf die wichtigste Entwicklungslinie zu verweisen, darauf nämlich, wie wir, im Umgang mit dem eigenen Organismus, eine Sensibilität zum Thema machen, die schon in der Leibkonstitution eine der Bedingungen für ein reflexives Weltverhältnis hervorbringt, und zwar dadurch, daß wir im Akt der sinnlichen Wahrnehmung die Körpervorgänge uns
wahr
-nehmend vor das Bewußtsein führen. Dies nun ist, nach der Meinung Hegels, vorzüglich im Medium der Musik möglich. Anders als das Bild, das uns immer und notwendig mit einer im Raum verteilten und distanzierten Welt von Objekten konfrontiert, begegnen wir in der Musik unmittelbar den Empfindungen unseres Leibes, der Sphäre
subjektiver Innerlichkeit
, und zwar deshalb, weil hier nur die Zeit den Rahmen und den Verlauf bestimmt, Zeit des Erklingens und Zeit des Empfindens identisch sind
(Hegel 1984, Bd. II, S. 272)
. Deshalb |a 74|sei die
eigentümliche Gewalt der Musik ... eine elementare Macht
(a.a.O., S. 276)
, unser Dasein durch sie
in das Werk hineingehoben und selber in Tätigkeit gesetzt
. Wenn das so ist, dann bringt die Musik offenbar eine Bildungsbewegung zur Sprache, die auch in tiefe Schichten des Leibes und des
Gemüts
hineinreicht.
[148:47] Auf den Leib bezogene Selbsterfahrung hat es demnach unweigerlich auch mit den Nacht- und Schattenseiten zu tun. Hegel hat das Thema eröffnet, als Argumentation der philosophischen Ästhetik. Als vor Augen gestellter Sachverhalt begegnen wir ihm allerdings schon eine Generation früher und in leichter Korrektur seiner Unterscheidungen zwischen Bild und Musik. Der zuvor schon mit seiner
Ästhetik des Häßlichen
zitierte Karl Rosenkranz meinte – darin ganz Aufklärer –, manche Kunstwerke der Romantik trieben ihre Sympathie mit dem
Häßlichen
so weit,
daß die Verrücktheit, der Traum, die Narrheit als die eigentliche Wahrheit der Welt angesehen
werde
(Rosenkranz 1990, S. 420)
, das sei eine
ästhetische Pathologie
(S. 419)
. Vom Traum also ist dort die Rede, und ich denke, man darf sagen, daß auch der Traum, darin der Musik Nonos ähnlich, uns auf das
Leib-Apriori
hinführt. Im Traum sind wir ja nicht den Realien der Außenwelt unmittelbar konfrontiert, sondern mit deren Nachhall im Inneren unseres physisch-psychischen Systems. Der Philosoph Schelling hatte das zu Beginn des 19. Jahrhunderts erläutert, und später hat Sigmund Freud versucht, dies der wissenschaftlichen Diskussion zugänglich zu machen. Aber ganz unabhängig davon, wie man dieses merkwürdige Phänomen erklären mag: es reicht tief in die Geschichte der Menschheit zurück (schon in der Antike gab es Traumbücher) und gewinnt seine Faszination u. a. aus der Tatsache, daß im Traum unser Körper sich
zu Wort (oder Bild) meldet
. Wenigstens im Traum dämmert es uns, daß die rationalen Welt-Konstrukte, denen wir im Zustand der Wachheit folgen, eine Schattenseite haben.
[148:48] Gut 100 Jahre, bevor Freud seine
Traumdeutung
publizierte, und ca. eine Generation vor den philosophischen Spekulationen Schellings über das
Unbewußte
stellte der Spanier Francisco Goya eine Serie von Zeichnungen und Radierungen her, die sich auf diese Thematik beziehen, und dies gleichsam auf dem Höhepunkt der rationalistischen Aufklärung in Europa (vgl. Hofmann 1980).
Der Traum der Vernunft erzeugt Ungeheuer
(
El sueno de la razon produce monstruos
)
ist der Titel der im letzten Jahrzehnt vielleicht am häufigsten zitierten Zeichnung Goyas aus der von ihm 1799 veröffentlichten Sammlung
Caprichos
(Abb. 9).
[148:49] Die Bilderserie, aus der diese beiden Stücke stammen, ist einzigartig. Alle darin versammelten Graphiken haben nur ein einziges Thema, in zahllose Facetten aufgegliedert: die Vergeblichkeit, die Gesellschaft humanisieren zu wollen einzig im Vertrauen auf die Kräfte des Verstandes und auf technische Beherrschbarkeit der Umstände. Auf dem Höhepunkt der Aufklärung wird hier eine radikale Kritik vorgetragen, die an Heftigkeit damals nicht ihresgleichen hatte: verblödete Porträts, mechanisierte Leiber, Geschundene, Gefolterte, Maskierte, Lieblosigkeit und Gewalt, all dies ist hier in langen Bildserien dargestellt – die Schattenseite des Fortschritts: In all diesen Bildern geht es immer wieder nur um eins: um die von Verstand, Herrschaft, Ge|a 75|
Hier sind eine schwarz-weiße Abbildung einer Vorstudie zu Francisco de Goyas „El sueño de la razón produce monstruos“ (1796-1797) zu sehen.
Abb. 9. F. Goya, II sueno de la razon produce monstruos
Hier sind eine schwarz-weiße Abbildung von Francisco de Goyas Aquatinta „El sueño de la razón produce monstruos“ (1797-1799) zu sehen.
Abb. 9. F. Goya, II sueno de la razon produce monstruos
walt, Fanatismus zerstörte Integrität des menschlichen Leibes. Man könnte es so formulieren: Die Bilder zeigen, wie die verdrängten oder geleugneten irrationalen Komponenten unseres Organismus mit zerstörerischer Kraft zurückkehren und nun die klassizistischen Oberflächen zerbrechen lassen. Sich auf die Leibhaftigkeit der Existenz zu besinnen heißt also, mit dem in eine Auseinandersetzung einzutreten, was der Leib an Unkalkulierbarem produziert. Der Leib, den Goya malt, ist nicht der Leib der anderen, sondern immer auch unser Leib.
[148:50] Das Thema war freilich damals nicht in Mode; das kam erst 100 Jahre später. Aber es gab doch einige, die es ahnten. Ungefähr gleichzeitig mit der Veröffentlichung der
Caprichos
schrieb Schiller, daß das Kunstwerk im
Bewußtlosen
wurzele und aus dem
Besonnenen
allein nicht bestehen könne (Brief an Goethe vom 27. März 1801 ). Man darf das über Kunst hinaus verallgemeinern und auf die Bildung jedes Kindes und Jugendlichen beziehen. Und 10 Jahre vordem findet man in Goethes
Torquato Tasso
eine Passage, die sich fast wie eine Anregung zu Goyas Bild liest:
|a 76|
[148:51]
Das häßliche, zweideutige Geflügel,

Das leidige Gefolg’ der alten Nacht,

Es schwärmt hervor und schwirrt mir um das Haupt.

Wohin, wohin beweg' ich meinen Schritt,

Dem Ekel zu entfliehn, der mich umsaust,

Dem Abgrund zu entgehn, der vor mir liegt

(Goethe, Tasso, 4. Akt, 1. Szene)
.
[148:52] Nun noch Goyas Bild ins einzelne gehend zu interpretieren – etwa die ikonographischen Kontexte der Körperhaltung, die angedeuteten Gesichter im Wirbel des Geflügels, biographische Verweise, formale Konstruktionselemente der Komposition usw. –, derartiges vorzuführen ist hier vielleicht entbehrlich. Aber einen Interpretationshinweis will ich noch geben.
Sueno
heißt im Spanischen sowohl Traum als auch Schlaf. Es macht aber einen Unterschied, ob die Vernunft schläft oder ob sie träumt. Die Übersetzung von
sueno
in
Traum
ist mir sympathischer. Würde die Vernunft hier
schlafen
, dann bliebe die Hoffnung, daß die Bedrohung durch das nicht Begreifliche endgültig gebannt werden könnte.
Träumt
aber die Vernunft, dann gehören die
Ungeheuer
ihr selber zu, ihrer Gebundenheit an den Organismus, dem
Leib-Apriori
, wie man in der phänomenologischen Philosophie sagt. Die Vernunft müßte dann akzeptieren, daß sie in ihrer eigenen Leibhaftigkeit schon ihren produktiven Widerspruch hätte. Wer mag, kann das
Dialektik
nennen.
[148:53] Daß sich im Leib
das Andere der Vernunft
melde, ist inzwischen fast zur Phrase geworden, die man kaum noch wiederholen mag. Weniger anspruchsvoll gesprochen aber läßt sich folgendes ausmachen: Innerhalb der europäischen Kultur der Neuzeit gibt es eine
poetische
Rede – in Texten, Bildern und Musik – über das
Leib-Apriori
der Bildung, die neben den intellektuellen Diskursen einherläuft und deren Geschichte in bildungstheoretischer Absicht erst noch geschrieben werden müßte. Mein Text beansprucht nur, ein Hinweis darauf zu sein, daß dies lohnend sein könnte. Ich habe die einzelnen ästhetischen Objekte weitgehend aus der historischen Struktur herausgelöst, innerhalb derer erst ihre tatsächliche Bedeutung zutage treten würde – ganz wenige Hinweise vielleicht ausgenommen.3
3Die hier vorgelegten Beschreibungsskizzen sind deshalb auch gegen zwei Einwände nicht hinreichend geschützt: Sie seien
ahistorisch
insofern, als im Detail ungeprüft blieb, ob die Dokumente tatsächlich, in ihrer Zeit, Indikatoren für jene kulturelle Funktion waren, hier als Aufmerksammachen für die Leibkomponente der Bildung behauptet, oder ob nicht vielmehr ein Thema gegenwärtiger bildungstheoretischer Diskussion in das historische Material nur hineinprojiziert wurde. Aber auch ein entgegengesetzter Einwand wäre plausibel: Ist nicht, was hier als Problem der europäischen Neuzeit behauptet wurde, ein weiträumigeres Charakteristikum der Gattung, jedenfalls soweit überhaupt ästhetische Produkte an der Bildung des Menschen beteiligt waren (vgl. zur Historiographie der Musik Dahlhaus 1977)? Diesen beiden Einwänden gegenüber bleibt meine Argumentation gleichsam in der Schwebe, macht indessen folgende Hypothese geltend: Die von mir behauptete und beschriebene Aufmerksamkeit auf die Leibhaftigkeit von Bildungsvorgängen seit dem 15. Jahrhundert löst die Inkorporierung der Bildung aus den kollektiv-rituellen Bindungen und thematisiert sie als Problem der Individuierung, bildungshistorisch ein anderes
Dispositiv
einleitend, auch wenn die kulturelle Rahmung durch die theologischen Vorgaben (so gewiß bei Dufay, Donatello, Giorgione) noch nicht offensiv in Frage gestellt wurde.
Es sollte nur das Thema angeschlagen werden; und dieses ist nicht nur der
Leib
, sondern auch die Frage, ob überhaupt nicht-sprachliche (ästhetische) historische Dokumente in |a 77|die Konturierung unserer Vorstellungen von Bildung einbezogen werden können, nicht nur als Illustrationen dessen, was wir ohnehin schon wissen, sondern als empirische Haltepunkte für das Nachdenken über Pädagogisches, wenn es sich historisch erinnern mag, als
Quelle
, wie man sagt.
Hier ist eine schwarz-weiße Abbildung des Aquatinta „Tristes presentimientos de lo que ha de acontecer“ (1814-1815) von Francisco de Goya zu sehen.
Abb. 10 F. Goya: Trübe Vorahnungen dessen, was sich ereignen wird (1810, Desastres da la Guerra)
|a 78|

Literatur

    [148:55] Cramer, Fr.: Gratwanderungen. Das Chaos der Künste und die Ordnung der Zeit. Frankfurt/M. 1995
    [148:56] Dahlhaus, C.: Grundlagen der Musikgeschichte. Köln 1977.
    [148:57] Dietrich, C.: Zur bildungstheoretischen Bedeutung musikalischer Autonomie. Diss. Göttingen 1996.
    [148:58] Fischer, W./Ruhloff, J.: Skepsis und Widerstreit. Neue Beiträge zur skeptisch-transzendentalkritischen Pädagogik. St. Augustin 1993.
    [148:59] Foucault, M.: Überwachen und Strafen. Frankfurt/M. 1976.
    [148:60] Hegel, G. W. Fr.: Ästhetik. Hrsg, von F. Bassenge. 2 Bände, Berlin und Weimar 1984.
    [148:61] Hofmann, W.: Goya. Das Zeitalter der Revolutionen 1789–1830. München 1980.
    [148:62] Langer, S.: Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst. Frankfurt/M. 1965.
    [148:63] Mann, Th.: Der Zauberberg. Diverse Angaben.
    [148:64] Merleau-Ponty, M.: Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin 1966.
    [148:65] Meyer-Drawe, K.: Leiblichkeit und Sozialität. Phänomenologische Beiträge zu einer pädagogischen Theorie der Inter-Subjektivität. München 1984.
    [148:66] Meyer-Drawe, K.: Menschen im Spiegel ihrer Maschinen. München 1996.
    [148:67] Poeschke, J.: Donatello. Figur und Quadro. München 1980.
    [148:68] Pothast, U.: Philosophisches Buch. Schrift unter der aus der Entfernung leitenden Frage, was es heißt, auf menschliche Weise lebendig zu sein. Frankfurt/M. 1988.
    [148:69] Rosenkranz, K.: Ästhetik des Häßlichen (1863). Leipzig 1990.
    [148:70] Schmid, M. H.: Streichquartett a-Moll, op. 132. In: Riethmüller u.a. (Hrsg.): Beethoven. Interpretationen seiner Werke, Bd. II. Laaber 1994.
    [148:71] Seidel, W.: Tönende Stille – Klänge aus der Stille. Über musikalische Leerstellen. In: S. Mauser (Hrsg.): Kunst verstehen. Musik verstehen. Laaber 1993.
    [148:72] Tinctoris, J.: The Art of Counterpoint (Liber de arte contrapuncti). Edited by A. Seay. American Institute of Musicology 1961.
    [148:73] Zak, S.: Der Quellenwert von Giannozzo Manettis Oratio über die Domweihe von Florenz 1436 für die Musikgeschichte. In: Musikforschung, Jg. 40/1987, S. 2–32.