[V88:1] Rawiel:Die Einführung und der Einbau der Methodenlehre
in den Lehrplan der Fach- bzw. Höheren Fachschulen für
Sozialarbeit/Sozialpädagogik ist mir aus den Jahren von 1945–1970 noch
deutlich in Erinnerung. Die Resonanz der Schulen war sehr unterschiedlich.
In Berlin-West und in mehreren anderen westdeutschen Großstädten sorgten u.
a. Experten aus den USA oder Großbritannien, meist delegiert von einem
privaten Wohlfahrtsverband ihres Landes, in enger Absprache mit der
jeweiligen Militärregierung für die Einführung der Methodenlehre, zugleich
mit der Tendenz, die der Sozialarbeit zugrundeliegenden demokratischen
Elemente zu fördern. Der Schwerpunkt in der Vermittlung der Methodenlehre
lag in den meisten Schulen im Casework und in der sozialen Gruppenarbeit,
die Gemeinwesenentwicklung und die Gemeinwesenarbeit kamen erst etwas später
hinzu. [V88:2] Die Ablehnung vieler
westdeutscher Schulen gegen die Methodenlehre basierte auf der Befürchtung,
daß die Methodenlehre zu stark mit Inhalten benachbarter Disziplinen
überfrachtet sei. Auch fehlte es den Schulen in den 50er Jahren an
entsprechender Literatur, die auf die deutsche Sozialarbeit anwendbar
gewesen wäre. Das Buch von Hertha Krauß1
1Krauß, Herta, geb. 1897 in Prag. 1919 Dr. rer. pol.
Jüngste Stadtdirektorin und Leiterin des Wohlfahrtsamtes der Stadt Köln
unter Bürgermeister Dr.
Adenauer; 1933 Emigration in die USA; Professorin für
Social Economy and Social Research
an einem College in Philadelphia, USA; ab 1946 mehrere Besuche in
Deutschland als
„Visiting Expert“
der
amerikanischen Militärregierung. Durch Vorträge und Beratungen und durch
die Veröffentlichung ihres Buches
„Case Work in USA“
nahm sie Einfluß auf
die Einführung der Sozialen Einzelfallhilfe in Deutschland.
,
„Casework in
USA“
, das bereits 1949 beim Wolfgang Metzner Verlag – Frankfurt/M. in deutscher
Übersetzung erschien, wurde von den Schulen, wegen seiner Nähe zur
Psychologie, Psychiatrie und Soziologie, abgelehnt. Dagegen wurden Rose Dworschak2
2Dworschak, Rose. Frau Dworschak war Direktorin der Ausbildung für Soziale Berufe
in Wien und gehörte zu den ersten in Europa, die sich für die Einführung
des Case Work wie auch für die Supervision in der Sozialausbildung
einsetzte und in zahlreichen Fortbildungen auch deutsche Fachkräfte
weitergebildet hat.
aus Wien und Marie Kamphuis3
3Kamphuis,
Marie (geb. 1907 in Zwolle/NL): Ausbildung zur
Sozialarbeiterin im Zentralinstitut für christliche
Sozialarbeit, Amsterdam (1932–1935); 1935–1937 Jugendarbeit
und Erwachsenenbildung; 1937–1945 stellvertretende Direktorin des Zentralinstituts für christliche Sozialarbeit,
Amsterdam; 1943–1970 Gründerin und Direktorin der Akademie für soziale und kulturelle Arbeit, Groningen;
1946/47 und 1954/55 Studium in den USA: New York School of Social Work, Columbia
University; Chicago School of
Social Service Administration, University of Chicago;
1950–1970 Vorträge und Fortbildung für SozialarbeiterInnen in
Deutschland.
aus Groningen oft zu Vorträgen und Seminaren über
Methodenlehre von mehreren Schulen eingeladen. [V88:3] Mit der Anhebung der Ausbildung zur Höheren Fachschule
fand die Methodenlehre besonders im nordwestdeutschen Ausbildungsbereich
verstärkt Aufnahme im Curriculum der Schulen. Auch das Angebot an
entsprechenden Praktikanten stellen hatte sich in der öffentlichen und
freien Wohlfahrtspflege vermehrt. [V88:4] |a 185|In der Praxis waren es vorwiegend die jüngeren und
mittleren Jahrgänge, die, aus unterschiedlichen Arbeitsfeldern kommend, an
Fort- und Weiterbildungslehrgängen für Methodenlehre teilnahmen. Sie sahen
in der Anwendung der Methoden die Chance, effektiver, zielorientierter,
kontrollierter und somit professioneller zu arbeiten. Sie zeigten u. a. Mut
zur Projektarbeit, einzeln oder in kleinen Gruppen, die von Arbeitgebern der
öffentlichen oder freien Wohlfahrtspflege finanziell und meistens auch durch
Supervision unterstützt wurde. [V88:5] Mit
der Anwendung der Methodenlehre in der Praxis ging eine Aufwertung der
beruflichen Sozialarbeit einher, die Klienten fühlten sich persönlicher
angesprochen und in den Hilfeprozeß einbezogen. Sie wurden zu intensiver
Mitarbeit aufgefordert, ihnen wurde Raum zur eigenen Entscheidung
eingeräumt, und der Weg zur Selbsthilfe wurde so weit wie irgend möglich
freigelegt. Die ausübenden Fachkräfte konnten effizienter arbeiten, die
völlig vernachlässigte Öffentlichkeitsarbeit und auch die politischen
Inhalte der Sozialen Arbeit fanden stärkere Beachtung. [V88:6] Der oft bemängelte stärkere Zeitaufwand durch die
Anwendung der Methodenlehre wurde vielfach durch die partnerschaftliche
Zusammenarbeit zwischen Sozialarbeiter/in und Klient/in wieder ausgeglichen.
[V88:7] Daß auch die Methodenlehre einem
immer schneller werdenden Struktur- und technischen Wandel unterliegt, der
wesentliche Veränderungen für die Ausbildung und Praxis fordert, ändert
nichts an der Tatsache, daß die Methodenlehre einen wesentlichen Beitrag zur
Förderung der Profession geleistet hat. Die Gruppenarbeit spielt auch heute
noch in Deutschland und in den angelsächsischen Ländern eine anerkannt
wertvolle Hilfe in der Entwicklung der individuellen, kreativen Kräfte und
der Gemeinschaftsfähigkeit.
[V88:8] Otto:Heinrich
Schiller hat ja sehr vehement geschildert, wie alles gelaufen ist
und was sie alles gemacht haben. Die Frage ist aber: was haben denn die
normalen Praktiker getan? Haben die die Einzelfall- und Gruppenarbeit in
ihrer Praxis der fürsorglichen Arbeit angewendet? Das ist mir immer ein
stilles Geheimnis geblieben. In der Jugendarbeit war es, zumindestens
teilweise etwas anders, nicht zuletzt, weil die dort angewendeten Methoden
einen stärkeren Bezugskontext zur Tagesarbeit hatten.
[V88:9] Schiller:Ich denke, daß wir mit den Namen Dworschak und Kamphuis etwas sehr
Gravierendes angesprochen haben, nämlich zwei Interpretationen von social case work, die sehr kontrovers diskutiert
wurden. Ich weiß noch, daß Frau von Caemmerer
„hochging“
, wenn case
work nur als vertiefte Einzelfallhilfe dargestellt wurde, weil
sie der festen Überzeugung war, daß gerade auch Kurzkontakte zum
sozialarbeiterischen Alltag der Einzelbetreuung gehören. Für eine gründliche
Erläuterung fehlt uns hier die Zeit; wir müßten sonst von den
Arbeitsbedingungen sprechen, den Fallzahlen und der Tatsache, daß case work in Amerika in privaten Einrichtungen
entwickelt wurde und damit auf ein Klientel der Mittelschicht zugeschnitten
war. Es paßte also nicht so einfach zur üblichen Tätigkeit der Fürsorgerin,
wie wir damals sagten. Es war im Vergleich dazu sehr viel einfacher,
social group work
umzusetzen.
|a 186|
[V88:10] Engelke:Weshalb haben Sie, Herr Müller, in den 50er Jahren die in den USA
sehr weit verbreitete Gruppenpsychotherapie, die ja oft mit der social action verbunden war, nicht aufgegriffen?
Warum wurde immer nur von Gruppenpädagogik gesprochen und nicht von
Gruppentherapie?
[V88:11] C. W.
Müller:Zunächst einmal hatten wir eine institutionelle
Scheu, uns allzusehr mit dem Begriff der Therapie zu beschäftigen, das hat
objektive Gründe. Das war das eine. Für mich selber war es so, daß ich
deutlich merkte, etwa bei den Gesprächen mit Robert Winter an der Columbia-Universität, daß damals die
Gruppentherapie im wesentlichen in der Arbeit mit Vietnamveteranen und
Koreaveteranen verwendet wurde, die unter Kriegsschockerlebnissen litten.
Und das war nun wirklich nicht mein Ding.
[V88:12] S.
Müller:Zu Hans-Uwe Ottos Frage willl ich noch ergänzen: Ich hab’ in meinem Bericht nur aus der
Perspektive des Geprägten gesprochen. Case work spielte für mich in den
Jahren 1965 bis 1969 eine sehr starke Rolle. Marie Kamphuis’ Einzelfallhilfe wurde vorwiegend
von Sozialarbeitern, die das zwar auch nicht gelernt, aber gelesen hatten
und von einer Psychologin dargestellt. In der Praxis ist es im wesentlichen
als Begründungsfigur einer weitgehend unveränderten Praxis im
administrativen Bereich verwendet worden. Das hab’ ich auch immer wieder
erlebt, wenn mir gesagt wurde, ...
„anders ist es nicht
geworden, doch wir können die bisherige Praxis jetzt anders
erklären“
. Es ist ein wesentlicher Punkt gewesen, daß es in Bezug auf die
vielen administrativen Bearbeitungen von Fällen als Figur, als Redefigur,
zur Begründung von unveränderter Praxis herangezogen worden ist.
[V88:13] Hey:Als Betroffener habe ich Anfang der 60er Jahre
auf dem flachen Land erlebt, was passiert ist. Die Methodenlehre hatte da
noch nichts bewirkt. In der Praxis der Sozialarbeit und der Fürsorgerinnen
hatte sich noch nichts verändert. Nachdem meine Mutter gestorben war, ist
eine Fürsorgerin zu uns ins Haus gekommen und hat nachgesehen, ob mein Vater
die Handtücher ordentlich aufstapelt. Danach ist entschieden worden, ob die
Kinder beim Vater bleiben durften. Erst viel später habe ich gemerkt, daß
ich genau diesen Beruf auch gelernt hatte und war etwas irritiert.
[V88:14] Und zum Verhältnis von
Gruppenpädagogik und Gruppenpsychotherapie: Die Gruppendynamik, ausgehend
von Lewin, ist ja zuerst von
Pädagogen adaptiert worden. Die Psychotherapeuten haben sich dann aber
relativ schnell drangehängt und die Konzepte der Gruppendynamik übernommen.
Ich habe ja bei Anneliese
Heigl-Evers, die eine der maßgeblichen Begründerinnen dieser
psychotherapeutischen Richtung in Deutschland war und auch entsprechend viel
dazu publiziert hat, Gruppenpsychotherapie gelernt. Es wurde also versucht,
für die Gruppenpsychotherapie Sozialarbeiter zu gewinnen, allerdings unter
dem Label Sozialtherapie. Im Suchtbereich ist das heute institutionalisierte
Praxis. Auf diesem Wege bin ich an professionelle Arbeitsweisen herangeführt
worden. Das habe ich an der Fach|a 187|hochschule Anfang
der 70er Jahre so nicht gelernt. Da habe ich eine gute Praxis, aber nichts
über dazugehörige Theorie gelernt, jedenfalls nicht über eine Theorie, die
sozialarbeiterisches Handeln begründen könnte.
[V88:15] Thiersch:Ich schlage vor, eine Zäsur zu machen. Ich würde
gerne eine Frage stellen, die mir in Bezug auf die bisherige Diskussion der
Epochen wichtig ist. Es wurde gesagt, man solle die Biographie und die
Fachentwicklung in unterschiedlichen Aspekten miteinander verbinden. Ich
finde, es ist sehr auffällig, daß von der frühen Zeit in einer ganz anderen
Weise mit konkreten Erfahrungen und konkreten Dingen, sozusagen mit der Nase
in der Wirklichkeit, berichtet wird, und daß es, je näher es an die
Gegenwart kommt, umso abgehobener, abstrakter oder auch fachlicher wird. Das
bringt mich jetzt auf eine Frage, die vielleicht für die Tagung zentral ist:
Könnte es sein, daß es mit der weitliegenden Erinnerung besser geht, als mit
den nahen Erinnerungen? Ich habe bereits gesagt, daß ich gewisse Bremsen
habe, mich zu erinnern, weil ich sozusagen noch dicht dran bin. [V88:16] Es könnte aber auch sein, daß das wirklich
Generationenunterschiede sind, also wenn ich jetzt erzählen würde, wie ich
in die Sozialpädagogik hereingekommen bin, wäre das nicht in der Art, wie
Ihr das erzählt habt, ich bin vielleicht doch weniger verwickelt; ich bin
mir da aber nicht sicher. Ich denke, es wäre spannend, die Frage nach der
Art der Darstellung auf die späteren Dimensionen noch einmal zu werfen und
zu gucken, ob die Motivationen ähnlich sozusagen lebensweltlich da
herausgewachsen sind. [V88:17] Ein drittes
ist: Es könnte auch sein, daß die Anfänge besonders erzählgeeignet sind und
daß nach 1972 alles etwas unübersichtlich wird und sich dann in Vernetzung,
in Form von unterschiedlichen Aspekten so verliert, daß es schwierig ist,
das konkret zu machen.
[V88:18] Schiller:Ganz kurz nur dazu: Natürlich darf man nicht
vergessen, daß der 8. Mai 1945 was ganz anderes war als irgendjemand von den
nachfolgenden Generationen erlebt hat.
[V88:19] Rawiel:Es gibt Situationen, die sind in ihren
Auswirkungen für die Später-Geborenen nicht vorstellbar und nicht
nachvollziehbar, weil sie in ihrer Einmaligkeit nicht wirklich nacherlebt
werden können.
[V88:20] Schiller:Natürlich, das war sehr viel bedeutungsvoller.
Außerdem hatten wir das große Glück mitzuhelfen, etwas Neues aufzubauen und
neue Wege zu gehen, ganz anders als nachkommende Generationen. Ich weiß, daß
gerade auch Käthe Rawiel dies so erfahren durfte.
Ich selber habe z. B. mit Anfang zwanzig mithelfen dürfen, einen neuen
Jugendverband in Berlin aufzubauen, Bezirksjugendring und Landesjugendring
zu organisieren. Wenig später, noch nicht dreißig, habe ich die Gelegenheit
erhalten, meine damals neuen Erkenntnisse aus Amerika an eine ältere
Generation weiterzuvermitteln und zusammen mit Frau von
Caemmerer ein neues Curriculum zu erstellen und umzusetzen. – Wir
haben gestalten dürfen! – Dieses Mitgestalten war schon etwas anderes, als
sich in vorgegebene Strukturen einpassen zu müssen, und darum kann man wohl
auch über eine solche Zeit lebendiger berichten.
|a 188|
[V88:21] Mollenhauer:Ich finde die Frage, die Hans Thiersch aufgeworfen hat, sehr
interessant, weil es uns in verschiedener Weise betrifft. Also ich fühle
mich auch als Bestandteil einer Entwicklung innerhalb unserer eigenen
Kultur, in der ja seit einigen Jahrzehnten die Lebensselbstbeschreibung eine
zunehmende Rolle spielt. Ein Niederschlag davon ist der große Boom der
sogenannten Biographieforschung in unserem Fach. Ich lese Autobiographien
seit vielen Jahren schon mit einer ganz besonderen Aufmerksamkeit, gerade
kürzlich habe ich Günter
Kunerts
‚Erwachsenenspiele‘
gelesen oder erzählende Literatur, die
ähnlich verfährt bis zurück zu Fontane. Ich glaube, da entsteht eine nicht genau kontrollierte
Aufmerksamkeit und Interesse am Erzählen, die unser kulturelles Milieu uns
nahegebracht hat. Jetzt merkt man aber auch die Schwierigkeiten, die man
selber hat. Man ist nicht Günter
Kunert, man ist nicht Thomas Mann, man ist nicht Günter de Bruyn, und da mögen die Hemmungen
entstehen, die bei dem einen größer sind und bei dem anderen leicht
überwunden werden. Es gehört zu unserem Habitus, und das war ja auch unsere
Aufgabe, Geschichten zu erzählen oder Erfahrungen mitzuteilen. Wenn an mich
die Aufgabe gegangen wäre, ich soll erzählen, was mir in den letzten zehn
Jahren widerfahren ist, wäre ich dem Auftrag genauso nachgekommen. Und hätte
auch in der ersten Person Singular geredet.
[V88:22] C. W.
Müller:Ich will da direkt anschließen. Ich finde das
Gesagte insofern faszinierend, weil das letzte Projekt, das ich bisher
gemacht habe unter meinen vielen Projekten in der Praxis, die Gründung eines
Erzählcafés im Berliner Wedding war. Das mache ich zwar nicht selbst,
sondern eine Erwachsenenpädagogin von der Freien Universität. Alle 14 Tage erzählen, nach
gründlicher Vorbereitung, Berlinerinnen und Berliner ihre Lebensgeschichte
öffentlich. Das wird vorher angekündigt und wird bekanntgegeben, was die
Themen sind. Es sind dann jeweils zwischen 40 und 180 Personen. Es gibt
Kaffee und Tee, richtige Caféatmosphäre. Wir haben im Augenblick 250
erzählte Lebensgeschichten auf Band. Mir ist aufgefallen, daß es in der Tat
in der Erzählung eine Spiralbewegung gibt. Wenn wir das erste Mal zu
Menschen nach Hause gehen und sie bitten, ihre Geschichte zu erzählen,
vertrauen wir nicht auf Spontaneität. Wir wollen ja keine Sozialforschung
damit betreiben – das ist etwas ganz anderes. Es vergehen 14 Tage, und in
diesen 14 Tagen, davon bin ich überzeugt, denken die Eingeladenen jeden Tag
an ihr Leben und verändern das und interpretieren es, und wenn sie dann im
Erzählcafé öffentlich erzählen, dann ist das etwas anderes geworden.
Insofern ist das nicht narrativ im Sinne von Schütze, es ist etwas anderes, es ist ein neues
Kunstprodukt geworden für sie. Aber ein Kunstprodukt, in das auch ein
späteres Verständnis dessen, was sie erlebt haben, eingeflossen ist. Und von
daher denke ich, daß dies leichter geht im Hinblick auf länger
zurückliegende Ereignisse. Wir werden ja auch häufiger gebeten, über länger
zurückliegende Ereignisse zu berichten. Keiner fragt uns danach, wie ist es
eigentlich im Jahr 1987 gewesen, oder so. Also ich denke mir, daß Klaus Mollenhauer recht hat, wenn wir gebeten
würden, zu erzählen, was eigentlich seit dem 9. November 1989 in Berlin
passiert ist.
|a 189|
[V88:23] S.
Müller:Meine ältere Vergangenheit halte ich für
abgeschlossen. Die Irrwege und die Suchbewegungen werden verziehen. Sie sind
Teil eines abgeschlossenen Prozesses. Die jüngere Vergangenheit ist noch
Vorläufer der Gegenwart. Wer sichert mir eigentlich zu, wenn ich gestehe,
daß ich gestern auf den falschen Dampfer gesetzt habe, daß das, was ich
heute sage, nur noch unter dem Vorbehalt des gestrigen Irrtums diskutiert
wird? Das heißt, es ist gefährlicher. Es ist gefährlicher, das jüngere noch
zu diskutieren. Ich berichte auch lieber von alten Irrwegen der
Vergangenheit; das ist verbucht. Und wir lachen drüber, alle. Man lacht
darüber; bei neueren Irrtümern ist das gefährlich, und ein bißchen auch
spekulativ.
[V88:24] Engelke:Zwei Aspekte will ich beisteuern. Der eine
Aspekt: In früheren Zeiten wurde mehr erzählt und mehr zugehört. Der zweite
Aspekt: Die berufliche Aufgabe von Psychotherapeuten ist es, jemanden zum
Erzählen zu bringen und dann zuzuhören. Das ist eine Kunst, die bei
Pädagogen nicht sehr weit verbreitet ist. Pädagogen sind wie Theologen
primär Prediger und weniger Zuhörer. Ich erlebe hier zum ersten Mal in einem
pädagogischen Setting eine Bereitschaft einander zuzuhören und andere
erzählen zu lassen, auch von ihren Irrtümern, ohne daß jemand mit Häme über
sie herfällt und sagt
„Ätsch, das haben wir ja schon immer
gewußt.“
[V88:25] Meusel:Ich will noch mal auf den bisherigen Verlauf
dieser Methodenhinterfragung zurückkommen. Mich wundert, daß case work bisher in der Runde der
Berichterstatter und auch in der Diskussion relativ kurz weggekommen
ist.
[V88:26] C. W.
Müller:Mich hat der einzelne Fall und die Bemühung, im
einzelnen Fall zu intervenieren, damals nicht interessiert. Die Einzelhilfe
macht gesellschaftliches Unheil zum individuellen Verschulden. Das ist ein
bißchen grob und holzschnitthaft, aber ich stehe auch dazu. Ich weiß heute,
daß es zu einfach war. Ich bin selber erst zu dieser Methode gekommen in dem
Augenblick, als ich an der Universität in der Sprechstunde zunehmend von
Leuten besucht wurde, die mir sagten, ich sitze seit ’nem dreiviertel Jahr
an meiner Diplomarbeit, ich komm ’nicht weiter. Da hab’ ich angefangen zu überlegen, wie kann ich den
Leuten helfen. Ich hab’ gemerkt, daß in der Tat Schreibblockaden und
Schreibschwierigkeiten ein spezielles Phänomen unserer Studierenden waren
und sind und habe angefangen, mich einzuarbeiten in case work. Ich habe seitdem zwei amerikanische Bücher
übersetzt, die mir ausgesprochen gut gefallen haben. ...
„Beratung im Gespräch“
und
„Beratung als Prozeß.“
Und erst sehr spät habe ich mich mit diesen Dingen beschäftigt. Was
mich wiederum zu der Überzeugung gebracht hat, daß die Beschäftigung mit
Methoden auch eine Frage ist, die zusammenhängt mit der persönlichen
Situation, in der diejenigen, die sie anwenden, sich befinden.
[V88:27] Homfeldt:Ich hatte gestern bei der Tagungseröffnung ja
gesagt, möglicherweise können wir die drei Phasen oder die drei Abfolgen
Aufbruch, Umbruch, Konsolidierung, nach anderthalb Tagen auch wegschmeißen.
Ich freue mich, daß wir doch mal das Wie vor dem biographischen Hintergrund
ansprechen. Es zeigt sich, daß das, was die Veranstalter versucht haben
vorab zu denken, daß das umgesetzt werden konnte. Wir sind von dem
ausgegangen, was Hans-Uwe
Otto gesagt hat, daß |a 190|nämlich
der Zugang der einzelnen
„Generationen“
unterschiedlich
ist: Wenn wir bei der dritten Gruppe davon ausgehen, daß sie sehr viel
analytischer herangehen sollte, dann natürlich, weil ihr Praxiserleben viel
unmittelbarer ist, und von dort paßt das Wort Verwissenschaftlichung. wir meinten, daß Darstellungen in der Perspektive des Erinnerns
vielleicht auch banal klingen würden, wenn man nur die jüngere
Vergangenheit, die Fast-Gegenwart, biographisch erinnern soll. Es lohnt
sich, wenn nicht mehr so viele Zeitzeugen da sind. Dann hören auch alle zu.
Die Generation des Aufbruchs oder Reeducation und die Generation des
Umbruchs oder der Politisierung sollten deshalb auch von der erinnernden,
erzählenden Vergegenwärtigung ausgehen.