Ein Märchen
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[V07:1] Es stand einmal in einem Land, das viele Wälder, Flüsse und
Seen hatte, irgendwo ein kleines helles Häuschen in einem Garten mit vielen
Blumen und über und über blühenden Bäumen. Eine dichte Dornenhecke schloß diesen
Garten von aller Welt ab, so hoch, daß kein Mensch hinüberschauen konnte, und so
dicht, daß wohl auch niemand hindurchzudringen vermochte. In dem Häuschen lebten
ein Mann und ein Weib mit ihrem Sohn, einem blonden Knaben, der Augen hatte, so
blau wie der Himmel, und einen Mund, der nur lachen konnte. Die Blumen und
Blüten und Gräser und Vögel waren seine Spielgefährten, und die drei Menschen
waren sehr glücklich.
[V07:2] Eines Tages aber geschah es, als der Knabe im Grase lag und träumte,
daß er in den Zweigen des Baumes, der die schönsten Blüten trug, einen
wunderschönen Vogel erblickte, dessen silbernes Gefieder sich prächtig von dem
Blau des Himmels abhob. Wo kommst Du her? – fragte der Knabe verwundert, und der
Vogel wies auf die ziehenden Wolken. Und dann begann er zu erzählen: von blauen
Bergen und von weiten Wäldern, von ragenden Felsen und von brausenden Meeren,
von wandernden Flüssen und von klaren, tiefen Seen. Da wurde des Knaben Herz so
weit und so voller Sehnsucht, daß er meinte, es müsse ihm in der Brust
zerspringen. Doch als er aufsprang und den Vogel fassen wollte, schwang er sich
hoch hinauf in die Luft, und der Knabe vermochte nichts, als ihm nachzusehen,
bis er sich, ein kleiner, silberner Punkt, in dem unendlichen Blau des Himmels
verlor.
[V07:3] Nun geschah es, daß seine Eltern, die er immer zärtlich geliebt, beide
an einem Tage mit gefalteten Händen und einem leisen, guten Lächeln
einschliefen, um nie mehr zu erwachen. In der folgenden Nacht brach ein
schreckliches Unwetter los. Ein Blitz schlug in das Haus, daß es in Asche sank,
und der Sturm fuhr mit solcher Gewalt daher, daß die Bäume wie Hölzchen
geknickt, die Hecke aber arg zerrissen und zerzaust wurde. Und als die Sonne
wiederkam, da saß der Knabe inmitten der Trümmer und weinte bitterlich. Da
gewahrte er plötzlich den silbernen Vogel in den Zweigen des nun umgebrochenen
Baumes sitzen und hörte ihn sprechen: Du weinst, weil du deine Heimat verloren
hast? Glaub mir: kein mensch hat eine Heimat, der sie nicht gesucht hat. Eure
Heimat ist nicht dort, wo ihr geboren seid. Du kennst die Sehnsucht: all euer
Sehnen ist Heimweh. Mach dich auf und suche deine Heimat!
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[V07:4] Und der Knabe gehorchte. Er sah, daß es Vögel und Gräser und
Bäume und Blumen nicht nur in dem Garten seiner Kindheit gab. Er begann den
stillen See zu lieben, an dessen Ufer er nun zuweilen ruhte, und den Wald, der
seine Wipfel in dem klaren Wasser widerspiegelte, und die Bäche, Wege und
Brücken. Und wie so seine Heimat weiter wurde, so wurde auch sein Herz größer
und seine Liebe.
[V07:5] Und dann kam doch die Sehnsucht wieder, und er sah Straßen, die in die
Ferne wiesen. Aber der Wald und der See hüteten eifersüchtig die Liebe des
Knaben, die ihnen ganz gehört hatte, und sie zogen ihn zurück in ihre Stille,
wenn seine Träume sich an den weiten Straßen verlieren wollten. Doch die
Sehnsucht brannte immer stärker, und eines Tages riß er sich los. Er lief auf
heißen, staubigen Straßen, und er lief auf Straßen, die der Regen blankwusch,
bis die Nächte hereinbrachen und seine Träume weiterspannen. Und in seinen
Träumen war es, als hätte er nun seine Heimat wiedergefunden. Doch dann kam der
Wind und fuhr durch seine Haare und sang ihm ein Lied von den Fernen, die weit,
weit hinter den Bergen sind. Und mit dem Lied von den grenzenlosen Weiten packte
ihn wiederum die Sehnsucht, und er schritt weiter aus und lief und lief, bis die
Straßen ein Ende hatten und vor ihm nur noch die Weite war: viel Sand und Himmel
– und dahinter das Meer. Und er lief weiter durch den Sand, bis das Land zu Ende
war und in einer steilen Wand in das Meer hinabstürzte. Und als er sah, wie in
der Ferne der Himmel mit dem Meer sich mischte, da breitete er seine Arme aus
und ließ sich fallen. Und dachte, er fiele in die endlose Ferne – –
[V07:6] Aber das Meer war grün und glasig. Die Wellen spielten mit ihm und
warfen ihn hin und her, der Sog trieb ihn fort und die Tiefe zog ihn hinunter zu
sich, mochte er sich auch verzweifelt wehren. Schließlich wurde es dunkel um
ihn.
[V07:7] Als er seine Augen wieder aufschlug, fand er sich am Strande
am Fuße einer hohen Kiefer. Das Meer hatte ihn nicht behalten. Es war Abend
geworden, und an dem tiefblauen Himmel, der wie eine glasklare Kuppel über ihm
stand, blinkten die Sterne auf. Und der Knabe schaute sie wie ein großes Wunder.
Er schaute in die Unendlichkeit, und er ahnte jene Kraft, die doch größer ist
als die Unendlichkeit, die jeden Stern in seiner Bahn hält, daß er sich nicht in
dem Unendlichen verliert. Und er fühlte, wie groß die Liebe sein mußte, die in
dieser Kraft war, daß all die Sterne für ihn da waren, gerade für ihn. Und da
gewahrte er wiederum über sich in den Zweigen der Kiefer den silbernen Vogel und
hörte seine Stimme: Weißt du nun, wo deine Heimat ist? – Ach, seufzte der Knabe,
wie soll ich dort jemals hinkommen? – Du mußt hier wie dort Heimat haben,
erwiderte der Vogel; such dir nur auch hier auf der Erde Sterne! – und dann
schwang er sich davon.
[V07:8] Der Knabe aber begann, die Sterne zu suchen – dort, wo das Leben der
Menschen am dichtesten und am lautesten war, und dort, wo noch nie eines
Menschen Fuß hingelangt war. Lange, lange blieb all sein Suchen vergeblich, und
es kamen Stunden, die ihn an allem verzweifeln ließen. Und dennoch wuchs alles
langsam und fast unmerklich jener Erfüllung entgegen. Aus dem Knaben aber wurde
ein Mann. Und dann, da alles reif dazu war, kam die Stunde, die seinem Suchen
die Erfüllung schenkte. Als die Sonne hinter Bäumen versank, da lag in seiner
Hand die Hand eines anderen Menschen, und als die Sterne zu leuchten begannen,
da sah er, daß auch die Augen dieses Menschen Sterne waren, so hell und so
rein.
[V07:9] Als aber der Morgen wiederkam, da kam mit ihm der Frühling und schenkte
den beiden sein Grün und seine schönsten Blumen.