Zwei Tage sind vergangen [Textfassung a]
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[V06:1] ... dass ich Freude bringe wo der Kummer wohnt
[V06:3] Zwei Tage sind vergangen; du warst einmal wieder so recht draußen in der freien Gotteswelt, zusammen mit den liebsten Menschen. Und nun kehrst du heim, so reich, so voll reiner, großer Freude! Als du in den Zug steigst, bist du eigentlich noch ganz in der anderen Welt – sie war so voll Schönheit. – Zu gern sinnst du noch einmal über das Vergangene nach.
[V06:4] Doch, plötzlich bist du wach. Dir gegenüber sitzen Mann und Frau mit ihren drei Kindern. Wie dir das kleine Mädchen später erzählt, kommen sie
vom Russen
. Ihr Hab und Gut, ein paar Bündel, liegt im Gepäcknetz. Die beiden größeren Kinder, ein Junge von 8 und ein Mädchen von 5 Jahren, hocken müde auf der Bank und schauen scheu um sich. Sie müssen wohl schon lange unterwegs sein. Tränen haben auf den verstaubten Gesichtchen ihre Bahnen gezogen, die kleinen schmutzigen Hände haben darin herumgewischt. – Einen kleinen Jungen von einem Jahr hat die Mutter im Wagen vor sich stehen. Welche Müdigkeit, Gleichgültigkeit und Trostlosigkeit spricht aus den beiden großen Menschen. Du kannst kaum begreifen, daß ein Menschenantlitz so ausschauen kann; was müssen sie gelitten haben.
[V06:5] Der kleine Junge sucht die Hand seiner Mutter zu erhaschen; er möchte wohl spielen; und – wie wundersam ist es anzusehen, als auf einmal ein liebes Lächeln über ihr Gesicht huscht. Und beim Spiel verschwindet langsam das Trübe, eine stille Freude wächst auf, ergreift den Vater und zieht die beiden anderen Kinder herbei. –
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[V06:6] Da schaust du so über die anderen Menschen im Zug – du schreckst zusammen: wie sie so kalt, so verachtend zu der Familie blicken! Sehen sie denn nicht die wohltuende Freude, die dort aufblüht, müssen sie sich denn nicht mit freuen?
[V06:7] Jetzt weißt du’s: sie sitzen dort, satt, in sauberen Kleidern und fühlen deswegen eine unüberwindbare Kluft zwischen sich und den verstaubten, wandernden Menschen. Ach, ihr Armen, denkt ihr wirklich so? Meint ihr, das wäre unterscheidend – und ihr wißt nicht, daß wahre Freude viel reicher macht, als all der äußerliche Tand? –
[V06:8] Die harten Blicke empören dich immer mehr – irgendetwas Liebes mußt du jetzt den Flüchtlingen antun, irgendetwas, um die Hartherzigkeit ein wenig auszugleichen. Du überlegst: nichts hast du bei dir, womit du den Kindern eine Freude machen könntest. Da schaust du zum Fenster heraus, gerade wird der Himmel ein wenig frei und das Sonnenlicht bricht hervor; und da weißt du, wo du Freude finden kannst! Du nimmst dir die beiden größeren Kinder – schaust mit ihnen zum Fenster heraus! Und da habt ihr dann miteinander solche Freude an der schönen Welt, überall seht ihr schon heimlich den Frühling kommen. Sie erzählen von ihrem Zuhause und du erzählst ihnen hier von diesem Land. –
[V06:9] Als du später aussteigst, schaut dir die Mutter in die Augen – es war ein verstehen, ein dankbares Wissen um die Freude. –
[V06:10] Ihr, die ihr um die Freude wißt, habt acht auf sie! Laßt sie euch durch die Zeit nicht rauben, sondern laßt sie wachsen – in das Leben um euch hineinwachsen.