Lasst uns unruhig sein [Textfassung a]
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Laßt uns unruhig sein

[V04:1] Der warme Wind ist wieder da. Er heult durch die Parks und Wälder, über Wiesen und Weiden. Er schmeichelt den Pflanzen und Tieren; er schmeichelt dem Leben, daß es sich auf sich selbst besinne. Wie berauscht und verzückt lauschen alle diesem verführerischen, sinnlichen Gesellen, und dann drängen sie sich hervor und atmen ihn ein und finden keinen Platz mehr in ihren alten Hüllen. Diese bleiben wie zerbrochene Formen zurück. Leicht, federleicht sind sie, der Wind spielt mit ihnen und verspottet sie. Schließlich läßt er sie liegen, müde des Spiels und auf der Suche nach Neuem, Lebendigem. Die jungen Keime vergessen schnell, wie gut die Hüllen sie vor der letzten Kälte bewahrt hatten, und den ausgelassenen Gesellen, den warmen Wind kümmern sie wenig. Sie fallen an den Rand des Lebens.
[V04:2] So liegt im ersten Aufblühen schon das Vergehen. Aber eigentlich ist es gar kein Vergehen, es ist nur ein Hinübergleiten in andere Formen, ein dauernder Wechsel.
[V04:3] Der Wind kommt auch zu uns. Er mahnt uns. Er mahnt uns daran, daß es kein Stehenbleiben gibt, wenn wir unser Leben leben wollen und nicht irgendeines der vielen. Vielleicht sagt er uns auch, daß wir den Winter vertan haben, daß wir einen Tag wie den anderen dahin gelebt haben, daß wir uns eingesperrt haben in |a [2]|unsere vier Wände, unmerklich fast, daß auch wir aus der Mittelmäßigkeit des Lebens nicht herausgekommen sind, die wir so verwünschen.
[V04:4] Und nun kommt er und ruft uns neu, in das Leben hinein, in die Schönheit, in Schmerz und Lust, in Leid und Freude. Das Lied, daß er uns singt, ist sehr verlockend. Es ist ausgelassen und auch sehr ernst. Es ist das Lied vom Wachsen und Blühen, vom Wandel, vom dauernden Neubeginne. Doch können wir ihm nur folgen, wenn wir wirklich neu beginnen, wenn wir das alte hinter uns lassen, die Dächer die wir uns – wir alle – gezimmert haben, fliehen. Manch einer mag sich schon mehr gebaut haben, als ein bloßes Dach. Vielleicht fühlt er sich wohl. Er wird nicht spüren, wie die Mauern um ihn herum wachsen.
[V04:5] Darum lehrt uns der Frühlingswind: laßt uns unruhig sein, unruhig über uns selbst. Und darum spricht uns auch der Frühling vom Leben, weil er diese eigenartige Gegensätzlichkeit in sich trägt: der Sturm nach außen, in die Welt, und der Sturm nach innen, der auf uns selbst gerichtet ist: das Sinnliche und das Geistige, die Auskehr und die Einkehr.