Vorwort
-
1.[011:7] An keiner Universität der Bundesrepublik Deutschland gab es einen sozialpädagogischen Studiengang. Nur eine Handvoll Assistenten, über das ganze Bundesgebiet verteilt, befaßte sich mit den Fragen der Jugendhilfe. Ohne die Nötigung zur Handlungsorientierung, eigentlich nur im Hinblick auf die Ausbildungsaufgaben der damaligen Höheren Fachschulen für Sozialarbeit und/oder Sozialpädagogik und die Etablierung einer erziehungswissenschaftli|D2 8|chen Teildisziplin, wurden Diskussionen über den Begriff Sozialpädagogik geführt, in denen es darum ging, den Gegenstand»Jugendhilfe«als einen pädagogischen zu bestimmen.
-
2.[011:8] Empirische Forschung war nur erst ein Programm. Die Pädagogik als Wissenschaft befaßte sich im wesentlichen mit Textanalysen, seien diese Texte nun historischer oder aktuell-bildungspolitischer Natur. Da die Praxis des Bildungswesens noch unerschüttert in den Geleisen des dreigliedrigen Schulaufbaus verlief, Gesamtschulprojekte z.B. nur auf dem Papier bestanden – freilich gab es zwei bis drei Ausnahmen – fehlte auch von der Praxis her die Nötigung zu einer durchaus erfahrungswissenschaftlichen Orientierung der Pädagogik. Allerdings hatte die Rezeption empirischer Forschung der Nachbardisziplinen, besonders der Psychologie und Soziologie, soweit sie pädagogisch relevant war, schon begonnen. Schwerpunkte dieser Kooperation waren die Rollentheorie (vor allem in der Version ), die Ausleseproblematik im Bildungswesen, die Jugend- und Freizeit-Forschung (weitgehend bestimmt durch die Arbeiten und seiner Schüler).
-
3.[011:9] Von Sozialisation war noch kaum oder nur im Anschluß an die Rede. war unter Erziehungswissenschaftlern nur Fachleuten bekannt. In der Sozialpädagogik bewegte sich die Erörterung von Delinquenz-Problemen auf der Ebene individualgenetischer Fragestellungen. Dem entsprach beispielsweise eine Praxis der außerschulischen Jugendarbeit, die sich in ihren fortgeschrittenen Teilen soziologisch am Konzept der»Subkultur«und pädagogisch am Konzept der»Aufklärung«orientierte, dabei zwar Bezug nahm auf je besondere soziale Lagen, das Problem einer»proletarischen Jugendarbeit«aber nicht als Thema hatte.
-
4.[011:10] Das verweist auf den für die Geschichte der Pädagogik hier recht plausibel zu machenden Zusammenhang von pädagogischer Praxis und erziehungswissenschaftlichen Fragestellungen bzw. der entsprechenden Forschung. Die Studentenbewegung»schlummerte«noch; öffentlich sichtbar waren nur die vorbereitenden hochschulpolitischen Aktivitäten, als deren wichtigstes Dokument |D2 9|vielleicht die Denkschrift des»Hochschule in der Demokratie«(Berlin 1961) gelten kann; von gesellschaftlicher oder pädagogischer Praxis war noch wenig die Rede. In den Erziehungsheimen war es ruhig. In der Jugendarbeit klagten die Verbände über sinkendes Interesse der Teilnehmer; die Jugendfreizeitheime versuchten ihr Angebot»attraktiver«zu gestalten, um Jugendliche aus allen sozialen Schichten zu erreichten. Obdachlosensiedlungen waren ein Problem für Experten. Was aber taten jene, die später sich an der durch eine veränderte Praxis (»Randgruppenarbeit«,»Heimkampagnen«,»Antikapitalistische Jugendarbeit«) neu entflammten sozialpädagogischen Diskussionen beteiligten? – später einer der Initiatoren des politisch anspruchsvollen Gemeinwesenarbeits-Projektes»Märkisches Viertel«– arbeitete an einem Konzept, das sich als»Freizeiterziehung durch Kultivierung der Geselligkeit mit politischen Themen«bezeichnen läßt. – Mitverfasser von»Gefesselte Jugend«(1971) – studierte lateinische Literatur; – inzwischen mit kritischen Beiträgen zum»Verwahrlosungs-Problem«hervorgetreten – hatte gerade eine Doktorarbeit über beendet; – später Apologet des Schüler-Ladens»« – arbeitete an einer methodischen Untersuchung, die sich durchaus im Rahmen empirisch-analytischer Konzeptionen hielt ohne einen Hauch von Marxismus; das von herausgegebene»«, das 1965 mit der ersten Nummer begann, brauchte mehrere Jahre, bis es sich bildungspolitisch und sozialpädagogisch relevanten Fragen zuwandte; in den ersten Nummern war es ein durchaus literarisches Magazin, zwar engagiert, aber der Akademiker befaßte sich im Grunde nur mit sich selbst. Das sind nur wenige und willkürlich herausgegriffene Beispiele. Seither hat die gesellschaftliche Praxis – auch im sozialpädagogischen Bereich – sich gravierend verändert:»Fürsorgezöglinge«bringen ihre Stigmatisierung selbst zur Sprache – und die Stigma-Theorie sowie der»labeling approach«des Interaktionismus gewinnen an Verbreitung; Sozialarbeiter und»Obdachlose«solidarisieren sich im Kampf gegen kommunale Administrationen – und die wissenschaftliche Literatur zu diesem Problem nimmt zu; Kinderläden entstehen – und die wissenschaftliche Diskussion über Kindergärten und Vorschul|D2 10|erziehung gewinnt eine neue Ebene; Jugendbildungsstätten entdecken Hauptschüler und Lehrlinge als spezifische Adressatengruppen – und die theoretische Diskussion einer»antikapitalistischen Jugendarbeit«hat ihren Gegenstand, die Geschichte wird neu durchforscht, Unterdrücktes aus den zwanziger Jahren kommt wieder zum Vorschein, für die Wissenschaft ergeben sich neue Perspektiven; politisch orientierte Projekte von Gemeinwesenarbeit entstehen – und in der theoretischen Diskussion taucht das»Lebenswelt-Konzept«und mit ihm verbundene Erörterungen angemessener Forschungsstrategien auf. Ein Seismograph dieser Entwicklung ist – wenngleich vornehmlich für den Bereich der außerschulischen Jugendbildung – die Zeitschrift»«.
-
5.[011:11] Das Grundproblem der Sozialpädagogik, das in dieser Entwicklung und in der Auseinandersetzung zwischen Praxis und Wissenschaft sich allmählich herausstellte, betrifft ihren Ort innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft: Kann das System der Jugendhilfe-Institutionen und die in ihnen geschehende Praxis als eine Funktion der Klassenauseinandersetzungen im Kapitalismus erklärt werden, oder – mit weniger kämpferischen Akzent –: Ist eine Erklärung im Rahmen politisch-ökonomischer Analyse möglich? Diese Frage wurde explizit und ausführlich zum erstenmal in dem von einem Autoren-Kollektiv verfaßten Buch»Gefesselte Jugend«(Frankfurt 1971) nicht nur aufgeworfen, sondern auch positiv beantwortet. Ob diese Antwort wissenschaftlich befriedigen kann, ist eine andere Frage. Fraglos indessen ist, daß diese Problemstellung für eine Theorie der Jugendhilfe nicht nur sinnvoll, sondern inzwischen unverzichtbar geworden ist. Die Veröffentlichung selbst kam nicht»aus heiterem Himmel«, sondern war selbst schon eine Folge der praktischen Auseinandersetzung in der Heimerziehung und der politischen Entschiedenheit relevanter Gruppen von Sozialpädagogen und Sozialarbeitern. Das erste Kapitel meines Buches ( ) müßte heute also anders geschrieben werden; das aber hätte Konsequenzen für alle anderen Teile.
-
6.[011:12] In den gleichen Jahren – als Zeichen nenne ich hier das Er|D2 11|scheinen der deutschen Ausgabe von»Stigma«(Frankfurt 1967) und des von / herausgegebenen Sammelbandes»Kriminalsoziologie«(Frankfurt 1968) – gewinnt ein Thema an Bedeutung, das, so könnte es scheinen, in eine der politisch-ökonomischen Fragestellung entgegengesetzte Richtung weist: der aus der interaktionistischen und phänomenologischen Forschungstradition (, , , u.a.) stammende»labeling approach«. Individuen, die im Rahmen von Institutionen der Jugendhilfe und der Strafrechtspflege zu»Klienten«,»Patienten«,»Probanden«oder»Insassen«werden, werden hier betrachtet unter dem Gesichtspunkt der Prozeduren, denen man sie unterwirft. Es wird also nicht nach einem Merkmal dieser Individuen gefragt, sondern nach der sozialen Beziehung zwischen Institutionen und Individuum, und zwar so, daß die Hypothese unterstellt wird, die»Etikettierung«(labeling) bestimmter Personen und Personengruppen als»abweichend«,»verwahrlost«,»kriminell«usw. und die damit verbundenen administrativen und exekutiven Prozeduren schreiben diesen Personen ein soziales und negativ bewertetes Merkmal zu, was sie allererst in Konflikte und Krisen nötige, aus denen es dann in der Regel nur den Ausweg der Unterwerfung unter die dominanten Normen gebe, allerdings nicht ohne Beschädigung der eigenen Identität. Unter dem Titel»Wie wird man kriminell«hat diese Fragestellung plausibel geschildert (in: Kritische Justiz, Jg. 1971, Heft 4). Das seit 1969 erscheinende» Kriminologische Journal«ist zur wichtigsten Plattform für diese Erörterungen geworden und hat in seinem Buch»Definition und Macht«(München 1974) den ganzen Umkreis der damit für die Jugendhilfe aufgeworfenen Probleme kritisch erörtert. Auch diese Diskussion, deren theoretisches Fundament die Bestimmung der Struktur menschlicher Interaktion ist, steht in Beziehung zur Praxis. Organisierte Entweichungen aus Fürsorgeerziehungsheimen, Heimkampagnen, Einrichtung von Jugendwohnkollektiven in den Jahren 1969 bis 1972 durch Initiative oder Mitwirkung der»Zöglinge«selbst, sind ein ausdrücklicher Versuch gewesen, sich selbst neu zu definieren und die Fesseln der institutionellen Zuschreibung abzustreifen. Die Erfahrung dieser Praxis von»Selbstorganisation«hat |D2 12|für den aufmerksamen Wissenschaftler sein Bild des»Verwahrlosten«radikal ändern müssen. Der»labeling approach«bot die Möglichkeit einer theoretischen Erfassung dieser Erfahrung: Jugendhilfe konnte nun auch – ihrem eigenen Anspruch zuwiderlaufend – als eine Agentur der Entfremdung erscheinen.
Einleitung
-
1.[011:22b] Die Idee einer allgemeinen Volkserziehung bewirkte, daß die ganze Breite der heranwachsenden Generation in ihrer gesamten Lebenswirklichkeit ein Gegenstand des pädagogischen Interesses und der pädagogischen Bemühung wurde.
-
2.[011:22c] Die Anfänge der industriellen Entwicklung, die Kenntnis der sozialen Bewegung Frankreichs und die Sorge angesichts des»Pauperismus«mobilisierten die pädagogischen Kräfte, diesen Entwicklungen zu begegnen, die befürchtete soziale Katastrophe zu verhindern und die neuen Lebenssituationen des Menschen in Stadt und Industrie zu bewältigen; der sozialpädagogische Begriff der»Gefährdung«hat hier seinen Ursprung.
-
3.[011:22d] Die Jugendverwahrlosung wurde erst jetzt als ein pädagogisches Problem im engerem Sinne betrachtet, als nämlich offensichtlich wurde, daß die mit diesem Begriff gemeinten Erscheinungen eine Funktion der sozialen und Erziehungssituation des Menschen sind.
A. Probleme
1. Einige Aspekte des Verhältnisses von Sozialpädagogik und Gesellschaft
2.Generation
2.Generation
-
1.
-
1.
3.Gesundheit, Gefährdung, Verwahrlosung
-
1.[011:89a] Gefährdung durch physische Mängel.
-
2.[011:89b] Entwicklungsbedingte Gefährdung (Phasenübergänge, Trotzalter, Pubertät).
-
3.[011:89c] Gefährdungen durch besondere soziale Leistungsanforderungen, auf die aber nicht verzichtet werden kann (Schuleintritt, Prüfungen, Berufswahl, Berufswechsel etc.).
- |D2 54|
-
4.[011:89d] Gefährdung durch die individuellen Bedingungen des Heranwachsens (sozialer Status, elterlicher Erziehungsstil, familiäre Situation, Wohnverhältnisse, Schul- und Arbeitssituation).
-
5.[011:89e] Gefährdung durch Faktoren der»Öffentlichkeit«(Freizeitsituation, Film, Fernsehen, Reklame,»Schmutz- und Schund«, Reizüberflutung etc.).
-
6.[011:89f] Gefährdung durch die Struktur der gegenwärtigen Gesellschaft (Verhaltenszwänge, Anonymität, Verfrühung, Überforderung, Diskrepanz zwischen primären und sekundären Gruppen, Verhaltensunsicherheit der Erwachsenen, Spezialisierung etc.).
Literaturhinweise
Zu
»Gesundheit, Gefährdung, Verwahrlosung«:
B. Sozialpädagogische Aspekte des Heranwachsens
1. Grundbedürfnisse
-
1.[011:127b] das Bedürfnis, von den Eltern akzeptiert und gewollt zu sein;
-
2.[011:127c] das Bedürfnis, von den Eltern beachtet zu werden;»dazu gehört sprechen und spielen, loben und ermahnen, Interesse für alles von seiten der Eltern, was das Kind tut und zeigen will«
-
3.[011:127d] das Bedürfnis nach Identifikation;»es handelt sich ... um jene Integration von Werten und Forderungen der Außenwelt, die nur über die Liebesbindung zu Mutter und Vater gelingt«
-
4.[011:127e] das»Bedürfnis nach dem Einbezogensein in echte, konfliktfreie Gemeinschaft, deren Aufgabe es ist, Schutz zu bieten«
-
5.[011:127f] das Bedürfnis nach adäquatem Unterricht;
-
6.[011:127g] das Bedürfnis, akzeptiert und einbezogen zu sein in die Gemeinschaft der Gleichaltrigen und
-
7.[011:127h] das»Bedürfnis nach einer sinnvollen, seinen Kräften, Fähigkeiten und Interessen entsprechenden allmählichen Einschaltung in die Aufgaben des Erwachsenenlebens«
-
1.[011:138] die primären Bedürfnisse,
-
2.[011:139] die fundamentalen Erfahrungen,
-
3.[011:140] die kategorialen Qualitäten.
2. Anpassung
3. Umlernen
-
1.[011:178b] Das Heranwachsen in der Gesellschaft geschieht heute nicht |D2 82|mehr wie in konzentrischen Kreisen, sondern wie in sich überschneidenden Kreisen, die wohl immer noch ein Stück gemeinsam haben, deren Mittelpunkte aber weit auseinanderliegen können.
-
2.[011:178c] primären« und»sekundären«Gruppen innerhalb der Gesellschaft verlangen nicht nur je besondere Fertigkeiten und Verhaltensweisen, sondern auch je besondere Wertungen, Gesittungen und Gesinnungen.
-
3.[011:178d] Infolgedessen entsprechen auch die sozialen Rollen, die der einzelne zu spielen und in sich zu vereinigen hat, nicht bruchlos einander, sondern stellen an ihn bisweilen widersprechende Anforderungen.
-
4.[011:178e] Da in alledem die Identität der Person gewahrt werden soll, erfordert es die moderne Form sozialen Daseins, daß diese Identität sich gerade im Verschiedenen und Disparaten zur Geltung bringt, ohne sich in ihm zu verlieren.
4. Konflikte
Literaturhinweise
C. Aspekte der sozialpädagogischen Tätigkeit
1. Fürsorge, Planung, Diagnose
2. Schutz
-
1.[011:238] Der aktuelle Schutz der heranwachsenden Generation vor den konkreten Schädigungen hervorrufenden Erscheinungen der modernen Gesellschaft und
-
2.[011:239] der prinzipielle Schutz vor dem ganzen Ernst und Zwang des Erwachsenendaseins, das als ein in bestimmter Weise vergesellschaftetes Dasein immer schon eine Reduktion dessen ist, was als menschenwürdig denkbar wäre. Diesem reduzierten Dasein gegenüber erscheint das Kind als der Inbegriff der besseren, d. h. menschenwürdigeren Möglichkeiten.
3. Pflege
4. Beratung
5. Institutionen
-
1.[011:278b] Das Rettungsprinzip;»Retten heißt, die Gefährdeten und Verwahrlosten auf den rechten Weg zu bringen, den der Wille Gottes anzeigt ... Rettung wendet keine Gewalt an. Sie baut auf Freiheit und Freiwilligkeit ... Allein die Macht des liebenden Geistes soll die Kinder und Jugendlichen an das Heim fesseln.«(Fr. Trost in: Handbuch der Heimerziehung, S. 405)
-
2.[011:278c] Das Prinzip der Ertüchtigung; es entspringe»dem gesellschaftlichen Lebenswillen. Gesellschaftliche Zuordnung und Brauchbarkeit gelten als Voraussetzungen der bürgerlichen Existenz. Untüchtige gefährden sich und die Gesellschaft ... Im Ertüchtigungsprinzip wird die eigenständige Tüchtigkeit zum grundlegenden und entscheidenden Faktor, auf den die anderen Erziehungsfaktoren bezogen sind.«(A. a. O., S. 406)
-
3.[011:278d] Das Heilungsprinzip; es»entstammt dem Urbedürfnis des Menschen, gesund zu sein«
-
4.[011:278e] Das Bewahrungsprinzip;»Bewahrende Heime wirken wie die gesunden Familien. Auch die Familie bewahrt wagend. Sie sorgt in um|D2 123|fassender Weise für ihre Glieder, sie überwacht fast unbewußt ihre Entwicklung, sie gewahrt jede Veränderung, sie wehrt der Gefährdung, aber sie gibt auch Impulse für die Aufnahme erziehender Beziehungen und Zustimmung zu einem Leben außerhalb des Hauses.«(a. a. O., S. 409)
-
1.[011:280] Jedes Heim versucht, eine möglichst komplexe Erziehungswirklichkeit zu schaffen, und hat daher eine Tendenz auf Familienähnlichkeit. Diese der Erziehungsabsicht innewohnende Tendenz wird leicht von außerpädagogischen Zweckmäßigkeiten (finanzieller, ideologischer, psychologischer Natur) verstellt. Nicht die Vorbildlichkeit der Familie, sondern die Vielseitigkeit der pädagogischen Aufgabe rechtfertigt diese Tendenz.
-
2.[011:281] Was an den Prinzipien nicht erkennbar wird, ist die spezifische Bildungschance, die dem Heim innewohnt. Ein Heim ist keine Familie. Zu beklagen ist dieser Sachverhalt nur, wo es sich darum handelt, nicht vorhandene Familien für die Kinder zu ersetzen. Deshalb muß das Heim als eine zwischen Familie und Gesellschaft vermittelnde, familienferne pädagogische Institution angesprochen werden. Im Unterschied zur Familie nämlich sind hier in pädagogisch gesicherter Freiheit des Heranwachsens gesellschaftliche Erfahrungen möglich, die innerhalb der Familie noch ausgeschlossen bleiben.
-
1.[011:289] Formelle und informelle Strukturen: Die von außen sichtbare oder an formulierten Regeln ablesbare institutionelle Struktur einer Gruppe (formelle) muß nicht identisch sein mit den wirklichen, vielleicht wechselnden Beziehungen, Wertungen und Strebungen (informelle Gruppe) ihrer Mitglieder. Diese informellen Gruppierungen sind aber erzieherisch von entscheidender Bedeutung, weil sie von den dynamischen Interaktionen der Gruppenmitglieder abhängen und sich unter Umständen gegen das formelle System (Klasse, Jugendgruppe, Heimgruppe, Betriebsgruppe) und seine besondere Art richten können, damit aber Quelle von Konflikten werden. Je autoritär-hierarchischer eine Gruppe formell strukturiert ist, umso weniger wird vermutlich der Gruppenleiter von der informellen Struktur erfahren, umso fragwürdiger wird seine Erziehungswirkung.
-
2.[011:290] Gruppenstile: Was in einer Gruppe pädagogisch geschieht, ist abhängig von der Art der Beziehung in ihr, von der Verteilung der Rollen, von der Rolle des Führers, kurz: von der Atmosphäre oder dem Stil. Zum Beispiel steigt bei stark autoritär gelenkten Gruppen unter den Mitgliedern die Aggression, besonders gegen Schwächere, nimmt das Wir-Gefühl ab, steigt die Unterwürfigkeit; dagegen nimmt bei kooperativ geführten Gruppen die Anpassungs- und Umstellungsfähigkeit zu, die Aggressivität ab, die Fähigkeit zu Objektivität und Distanz zu – um nur einige Merkmale zu nennen.»Das soziale Klima, in dem ein Kind lebt, ist für das Kind ebenso wichtig, wie die Luft, die es atmet.«(Lewin)
-
3.[011:291] Vorurteile: Die starken persönlichen Bindungen, die in einer Face-to-face-Gruppe herrschen, sind nicht schon an sich etwas Gutes. Die soziale, emotionale und Bewußtseinssicherheit, die sie vermitteln, werden durch ein relatives Sich-Abschließen nach außen erkauft: die»in-group«neigt dazu, eine gegen die»out-group«, die»Anderen«gerichtete Ideologie zu pflegen (Antisemitismus, Elite-Ideologien, Cliquenbildungen usw.). Dadurch wird verhindert oder erschwert, was eine wesentliche Aufgabe der Erziehung ist: das Vermeiden oder Abbauen von Vorurteilen.
-
4.[011:292] Die starke Binnenkonsolidierung der Face-to-face-Gruppen birgt eine weitere Gefahr: Sie befördert nicht nur das Entstehen von Vorurteilen, sondern erschwert auch die Aufnahme anderer |D2 127|Sozialbeziehungen. Die pädagogische Beschränkung auf die überschaubare Gruppe kann die Beschränktheit der sozialen Erfahrung und Beweglichkeit unterstützen. Wenn es auch letzten Endes nicht die Aufgabe der Erziehung ist, den Heranwachsenden den gesellschaftlichen Bedingungen anzupassen, so muß sie doch seine Anpassungsfähigkeit bilden, ihn für die differenzierten Erfahrungen mit der Gesellschaft offen halten.
-
5.[011:293] Jeder Mensch braucht eine Bezugsgruppe, auf die er sein Selbstbewußtsein und Selbstwertgefühl beziehen, auf die er es stützen kann. Die Bezugsgruppe muß nicht zusammenfallen mit der Gruppe, in welcher er die meiste Zeit seines Tages verbringt. Die aus der Diskrepanz entstehenden Konflikte bergen für die Erziehung des Einzelnen entscheidende Probleme. Jugendkriminalität, besonders Bandenbildung, findet in der Bezugsgruppentheorie eine unter anderen Erklärungen. Aber ebenso, wie mit ihrer Hilfe negative Erscheinungen erklärt werden können, können auch positive Entwicklungen gefördert werden, etwa durch Einflußnahme auf solche Bezugsgruppen und ihre allmähliche Umstrukturierung (vergleiche die Arbeit der nach dem ersten Weltkrieg in Berlin, die Bemühungen nordamerikanischer Sozialarbeit, die Erfahrungen mit jugendlichen Banden in europäischen Großstädten) oder durch die Neubildung von Bezugsgruppen in der offenen und halboffenen Jugendarbeit (Schutzaufsichtsgruppen, Gruppen in Freizeitheimen, in der offenen Industriejugendarbeit, der Arbeit der Sozialpfarrämter usw.).
-
6.[011:294] Im Zusammenhang mit den Problemen der Bezugsgruppe steht ein Begriff, der innerhalb der Sozialpädagogik zunehmend an Bedeutung gewinnt: die jugendliche Subkultur (oder Teilkultur). Es hat sich gezeigt, daß zwar nicht die Jugend im Ganzen innerhalb unserer Gesellschaft sich als eine»Kultur in der Kultur«formiert, wie von der Jugendbewegung inspirierte Theorien etwa anzunehmen sind – daß aber innerhalb der jungen Generation sich Gesellungsformen herausbilden, die – mit mehr oder weniger tauglichen Mitteln – in bestimmten Verhaltensweisen sich den gesellschaftlichen Zwängen wenigstens vorübergehend zu entziehen trachten. |D2 128|Bemerkenswert ist, daß die beiden exponiertesten in den USA beschriebenen Formen solcher Subkulturen – die Bande und mittelständische College-Clique – sich gegen die beiden Haupttabus der bürgerlichen Gesellschaft richten: gegen das Eigentums-Tabu im einen und das Sexual-Tabu im anderen Fall. Auch bei uns hat man das Entstehen von Subkulturen zu bemerken gemeint, so z. B. bei den im Zusammenhang des Jugendtourismus auftretenden Gruppenbildung. Als Möglichkeit der Heranwachsenden – auch im Falle devianter Verhaltensweisen –, sich damit von ihrer sozialen Herkunft zu emanzipieren, sind sie durchaus sozialpädagogisch relevant, besonders, das durch sie eindringlich jene Stellen im Sozialisierungsprozeß markiert werden, die problematisch sind und auf gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge verweisen.
-
1.[011:297] Die Unausweichlichkeit der Arbeitsteilung auch im Felde der Erziehung, die eine Spezialisierung des Einzelnen auf jeweils spezifische Aspekte der Erziehungsaufgabe erfordert, und die ebenso unausweichliche, weil von der Erziehungsaufgabe her gebotene Zusammenfassung der zunächst geteilten Aspekte;
-
2.[011:298] die mit dem Erziehungsproblem in einer sich demokratisie|D2 129|renden Gesellschaft gestellte Forderung, in der Erziehungsorganisation, in ihren Institutionen, die hierarchisch-autoritären Formen der Kommunikation zu verlassen zugunsten von kooperativen Verfahren in der Zusammenarbeit der Erzieher;
-
3.[011:299] die Unsicherheit im Hinblick auf gültige Erziehungskonzeptionen und das damit zusammenhängende Bedürfnis nach Modellen von Lebens- und Erziehungsmöglichkeiten, die beispielgebende Wirkung haben können; die Einsicht in die erzieherische Fruchtbarkeit solcherart anschaulicher und praktischer Antworten einer kleinen Gruppe auf die Herausforderungen der gesellschaftlichen Lage.
Literaturhinweise
D. Bewertung und Kontrolle abweichender Verhaltens-Aporien bürgerlich-liberaler Pädagogik
I.
II.
In einem pädagogischen Text aus dem Jahre 1928, 1949 zum zweiten Mal und in der Folge in mehreren Auflagen wieder veröffentlicht, der innerhalb der Erziehungswissenschaft bis in die jüngste Zeit zu den entscheidenden, die sozialpädagogische Diskussion begründenden Texten gerechnet wurde, finden sich die folgenden Sätze:
-
1.[044:20] Das abweichende Individuum wird als dissozial, z.B.»verwahrlost«, klassifiziert und erleidet damit jene stigmatisierende Rollenzuschreibung.
-
2.[044:21] Es wird Prozeduren der Diagnose unterworfen, in denen solche Rollenzuschreibung institutionalisiert wird und zugleich einen Schein der Rechtfertigung erhält.
- |D2 142|
-
3.[044:22] Es wird einem Sozialisationssystem, z.B. dem Erziehungsheim, zugewiesen, wodurch der Makel noch einmal verstärkt und er gleichsam öffentlich diskriminiert wird. Zudem reproduziert das Erziehungsheim zu einem sehr beträchtlichen Teil gerade jene Sozialisationsbedingungen von Ärmlichkeit, Zwang und Restriktion, die in dem Herkunftsmilieu die Entstehung von Dissozialität begünstigt haben und Anlaß für die soziale Stigmatisierung gewesen sind.
Die pädagogische Orientierung am Individualitätskonzept hat eine Form der Institutionalisierung in der Behandlung dissozialer Kinder und Jugendlicher hervorgebracht, die auf den ersten Blick das genaue Gegenteil jenes Konzeptes zu sein scheint: die Kasernierung der abweichenden Individuen zum Zwecke ihrer allmählichen Integration. Die Anstaltsgründungen, die sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts besonders unter der Trägerschaft der Kirchen häuften, entwickelten dort, wo sie pädagogisch begründet wurden – z.B. bei einigen Vertretern des württembergischen Pietismus, bei und – eine Grundvorstellung, die heute noch, wenn auch nicht theoretisch ungebrochen, aber doch in der Praxis der Heimerziehung gilt. Diese Vorstellung enthält folgende Annahmen: Der Zögling ist, wie das bürgerliche Individuum auch seiner Möglichkeit nach imstande, seine Individualität derart auszubilden, daß er an der freien Wechselwirkung der Individuen in der bürgerlichen Gesellschaft teilnehmen kann. Seine deprivierte Lage, seine Verhaltensstörungen oder Defizite müssen daher rühren, daß entweder in seiner hereditären Ausstattung oder in seinem Milieu jene Mängel ihren Grund haben. Da kein Zweifel besteht, daß auch der Verwahrloste die bürgerliche Orientierung wird übernehmen können, wenn nur die entgegenstehenden Einflüsse suspendiert |D2 144|werden, muß man ihn also isolieren und die Merkmale des Erziehungsfeldes so arrangieren, daß die schädlichen Bestandteile seiner Natur keine Chance haben. Die Institutionen, die auf dieser Basis entstanden sind, können als totale Institutionen bezeichnet werden – ich schließe mich darin den Analysen in seinem Buch
-
1.[044:26] alle Aspekte des Lebens am gleichen Ort und unter einer einzigen Autorität vereinigen,
-
2.[044:27] alle oder doch nahezu alle Aktivitäten nur in einer definierten Gruppe von Gleichbehandelten möglich sind und
-
3.[044:28] alle Phasen des Tages in einem nahezu lückenlosen Plan geregelt sind.
Das Das Scheitern am Arbeitsplatz – in der Sprache der Erziehungsfürsorge häufig als
III
E. Anhang: Übersicht über die sozialpädagogischen Einrichtungen
1. Einrichtungen der begleitenden halboffenen Kinderpflege und -erziehung
2. Außerschulische Jugendbildung (Jugendpflege, Jugendarbeit)
3. Heimerziehung
4. Offene Maßnahmen zur Vorbeugung und Bekämpfung von Jugendverwahrlosung und Jugendkriminalität
5. Jugendstrafvollzug
6. Beratungsstellen
7. Die Träger der sozialpädagogischen Einrichtungen
Nachwort zu einem historischen Dokument
-
1.[011:352b] Sozialpädagogik hat die Strukturen der Gesellschaft zu vergegenwärtigen, die sie notwendig macht.
-
2.[011:352c] Die besonderen Anforderungen an das Mündigwerden von Menschen in einer Gesellschaft müssen erkannt, hemmende Faktoren müssen identifiziert werden.
-
3.[011:352d] Die besonderen Aspekte sozialpädagogischer Tätigkeit müssen – auch im Kontrast zur Schule – herausgearbeitet werden.
-
4.[011:352e] Es müsse die Tatsache berücksichtigt werden, daß diese Tätigkeiten in unterschiedlichen Institutionen mit eigenem Profil, besonderen Möglichkeiten, aber auch eng gezogenen Grenzen, stattfinden.