Theorien zum Erziehungsprozeß [Textfassung A3]
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Vorwort

[047:1] Ein Text wie der folgende setzt sich notwendigerweise einer Reihe von Einwänden aus, deren Berechtigung nicht von der Hand zu weisen ist. Eine
»Allgemeine Pädagogik«
, eine
»Einführung in die Erziehungswissenschaft«
, eine
»Einführung in die Pädagogik«
– oder wie immer zugleich einführende und resümierende Veröffentlichungen sonst heißen mögen – geben vor, einen Standpunkt einzunehmen, von dem aus sowohl Zusammenfassung wie auch Beurteilung der Verzweigungen einer wissenschaftlichen Disziplin möglich ist. Auch ein Titel wie
»Theorien zum Erziehungsprozeß«
ist von dieser Anmaßung nicht frei. Allerdings – und das kann sowohl Entschuldigung wie auch Gegenstand von Kritik sein – verzichte ich darauf, einen Überblick über die methodologische und paradigmatische Diskussion in der Erziehungswissenschaft zu geben; desgleichen habe ich gar nicht erst versucht, die Vielzahl pädagogischer Forschungsrichtungen und Objektbereiche darzustellen, ihre Ergebnisse mitzuteilen, Gewißheiten von Ungewißheiten zu sondern, kurz: den Erkenntnisstand der Erziehungswissenschaft auszubreiten. Das überstiege mit Sicherheit meine Möglichkeiten und die Chancen, die einem Buch von 200 Seiten offenstehen. Zudem sind dieser Aufgabe ohnehin die anderen Bände dieser Reihe zugewendet.
[047:2] Demgegenüber verfolge ich in diesem Buch eine gewisse Einseitigkeit: Ich unternehme den Versuch, für die Erziehungswissenschaft das interaktionistische Paradigma zu entfalten und so viele pädagogische Probleme wie möglich in dieses Paradigma zu integrieren. Ich stelle deshalb auch keine
»Theorie«
der Erziehung dar, sondern eine Vielzahl von
»Theorien«
mit unterschiedlich gesichertem Status, die aber alle zweierlei gemeinsam haben: sie erlauben eine genaue Beschreibung der Erziehungsvorgänge als interpersonelle Ereignisse und sie erlauben, die je besondere Gestalt dieser Ereignisse auf den Kontext ihrer gesellschaftlichen Genese zu beziehen. Diese Kriterien für die Auswahl der Gegenstände meiner Erörterungen halte ich aus aktuellem Anlaß für wichtig: Den Befürwortern
»gesamtgesellschaftlicher Analysen«
des Erziehungsgeschehens ist entgegenzuhalten, daß Erziehung es immer mit der Gestaltung interpersoneller Beziehungen zu tun hat, in denen der
»Educandus«
– ich wähle diesen Ausdruck nicht, weil ich ihn ety|A3 8|mologisch für besonders treffend halte, sondern nur in Ermangelung eines besseren, der den allgemeinen Status des schwächeren Parts im Erziehungsprozeß bezeichnen könnte – als Subjekt von Kommunikationen unterstellt wird; die Befürworter einer pädagogischen Verhaltenstheorie, die nur noch an den individuellen Variablen interessiert sind, gilt es indessen daran zu erinnern, daß jede scheinbar noch so individuelle Ausprägung eines Merkmals im Kontext seiner Soziogenese zu erklären ist, die zugleich eine Reflexion auf ihre historische Formbestimmtheit erzwingt.
[047:3] Ich verwende in dieser Arbeit drei Ansätze: einen, den ich
»kommunikationstheoretisch«
nenne und in dem es darum geht, die Tatsache der in aller Erziehung notwendigen normativen Unterstellung zu klären (1. Kapitel); einen zweiten, in dem es um die Struktur pädagogischer Beziehungen als Interaktionen geht (die Abschnitte
»Interaktion«
und
»Situation«
im 2. Kapitel); einen dritten, in dem die Frage nach der historisch-gesellschaftlichen Formbestimmtheit pädagogischer Interaktionen gestellt wird (der Abschnitt
»Institution«
des 2. Kapitels und das 3. Kapitel). Als theoretische
»Paten«
dieser Ansätze gelten mir Karl-Otto Apel, George Herbert Mead und Karl Marx.
Gemessen an solchem Anspruch konnte freilich vieles nur angedeutet werden. Es ist eben ein Versuch; ein Versuch überdies, der im Kontext mit einem konkreten Publikum seine Fragen ermittelte und im Hinblick auf dieses Publikum an der Frankfurter Universität auch niedergeschrieben wurde – teils im Widerspruch zu manchen Positionen, teils, wie ich hoffe, in Fortführung der stattgehabten Diskussionen. Insbesondere die Einleitung
»Pädagogik und Politik«
knüpft an diese Diskussionen an. Den Studenten und Mitarbeitern am Pädagogischen Seminar der Universität Frankfurt, die die Diskussion nicht abbrechen ließen und teils meine ausdrücklichen, teils nur imaginierten Gesprächspartner beim Abfassen des Manuskriptes waren, danke ich. Das gilt insbesondere für Micha Brumlik, Jens Franzen, Michael Honig, Hubertus Hüppauf, Gerda Kasakos, Wolfgang Keckeisen, Christian Marzahn, Michael Parmentier, Hartmut Titze und Hubert Wudtke.
[047:4] Klaus Mollenhauer
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Statt einer Einleitung: Pädagogik und Politik

[047:5] Das in diesem Buch angewandte Verfahren, die Anordnung der behandelten Probleme, ihre Reihenfolge und die damit nahegelegten Bedeutsamkeiten werden mir vermutlich von manchem den Vorwurf einbringen, es handele sich hier wiederum um ein unpolitisches oder
»politisch nicht hinreichend reflektiertes«
Unternehmen. Es erscheint deshalb angebracht, vorweg einige Bemerkungen zum Verhältnis von Pädagogik und Politik zu machen.
[047:6] Es ist sicher richtig und soll an dieser Stelle nicht neuerdings ausführlich begründet werden, daß Pädagogik – sowohl in ihrer praktischen wie in ihrer erziehungswissenschaftlichen Gestalt – innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft in der Regel in Form eines Systems affirmativer Handlungs- und Erkenntnisregeln aufgetreten ist. Sie hat sich keine theoretische Basis verschaffen können, von der her es möglich gewesen wäre, das bestehende bürgerliche System pädagogischer Distributionen – der Verteilung von Lebenschancen nach Maßgabe geltender und materiell fundierter Herrschaftsbeziehungen – so strikt zu analysieren, daß das Denken einer gesellschaftlichen Alternative notwendig zu ihrem Geschäft gehörte.
[047:7] Dieses Problem – oder dieser Vorwurf – läßt sich auf verschiedenen Ebenen erörtern:
  • [047:8] auf der Ebene des institutionell gegebenen Handlungszusammenhangs in Familien, Schulen, Freizeiteinrichtungen, Heimen etc., in denen die institutionell gesetzten Zwecke entweder akzeptiert oder nur auf gleicher Ebene gegen besser funktionable vertauscht wurden;
  • [047:9] auf der Ebene gegenständlicher Theorie, in der die gesellschaftlichen Bezüge nur als Randbedingungen eine Rolle spielen, nicht aber zum zentralen Forschungsinteresse der Erziehungswissenschaft wurden;
  • [047:10] auf der Ebene wissenschaftstheoretischer Begründung, wo es keine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Anspruch einer historisch-materialistischen Wissenschaftsauffassung gegeben hat.
[047:12] Diese Erörterung kann indessen auch hier nicht vorgenommen werden, und einzelne Probleme werden später noch eingehend behandelt werden. Vorweg aber seien wenigstens einige Merk|A3 10|male der wissenschaftlichen Situation auf der Ebene gegenständlicher Theorie genannt:
  1. 1.
    [047:13] Das Problem der sozialen Ungleichheit und seiner pädagogischen Folgen ist innerhalb der Erziehungstheorie nicht als eines ihrer Hauptprobleme thematisiert worden.
    »Ungleichheit«
    wurde von ihr immer eher als ein Thema der Soziologie betrachtet.
  2. 2.
    [047:14]
    »Arbeit«
    wurde innerhalb der Erziehungstheorie nur zum Gegenstand, sofern sie sich den Bildungsinstitutionen als Teil des Curriculums eingliedern ließ, also in Berufsschulen, in der Polytechnischen Bildung, der Arbeitslehre; allenfalls noch in der Form eines formalisierten Arbeitsbegriffs, an dem nur noch die Lernschritte interessieren, die im Verlauf eines Arbeitsvorganges aufeinander folgen. Aber Arbeit als gesellschaftlich-konkretes Phänomen, als Produktion einer Gesellschaft in bestimmten historischen Lagen, lag am Rande des erziehungstheoretischen Interesses.
  3. 3.
    [047:15] Mit den Fragen der Produktion hängen die Fragen nach der Verwertung derjenigen Qualifikationen zusammen, die in den Bildungsinstitutionen erworben werden oder erworben werden sollen. Statt diese konkrete durch Institutionen und Sanktionen erzwungene Verknüpfung von Erziehung und Gesellschaft in ihre Forschungsinteressen aufzunehmen, orientierte sich die Erziehungstheorie eher an abstrakten Lern- und Bildungszielen. Die Frage nach dem gesellschaftlichen
    »Nutzen«
    von Erziehung und Ausbildung blieb den Ökonomen vorbehalten; der Erziehungstheorie schien dies ein marginales Thema zu sein.
  4. 4.
    [047:16] Die dominierende Rolle, die im bürgerlichen Denken die Kategorie
    »Individualität«
    spielt, hat in der Pädagogik dazu geführt, daß Prozesse der
    »Kollektivität«
    eher abgewertet und abgewehrt wurden. Solidarität und gemeinschaftliches Handeln wurden keine das Forschungsinteresse leitende Begriffe; sie wurden zudem frühzeitig suspekt dadurch, daß sie in der sozialistischen Pädagogik der zwanziger Jahre nachdrücklich unter dem Gesichtspunkt einer klassenspezifisch orientierten Erziehungstheorie hervorgehoben wurden und diese Theorie außerdem streckenweise in ihren pädagogischen Sätzen den Charakter der alten normativen Weltanschauungspädagogik hatte – was freilich nicht für ihre gesellschaftstheoretischen Begründungen, sondern nur für die Form ihrer pädagogisch-normativen Deduktion gilt.
  5. |A3 11|
  6. 5.
    [047:17] Der geisteswissenschaftlichen Pädagogik erschien Gesellschaft vornehmlich in Begriffen von
    »Kultur«
    , d. h. von ideologischen Systemen, deren Substrat und Genese zu vernachlässigen erlaubt schien. Kultur erschien damit allzu leicht schon als Gesellschaft und nicht als deren ideologisches Derivat. Infolgedessen tauchte auch gesellschaftlich-politisches Handeln nicht als ein Thema auf, das zu behandeln für die Erziehungstheorie unabdingbar wäre.
[047:18] Defizite dieser Art haben einen doppelten Effekt gehabt. Einerseits haben sich Soziologie, Politikwissenschaft und Ökonomie der vernachlässigten Themen zum Teil angenommen. Pädagogik erscheint dort – besonders im Rahmen soziologischer Forschung – als ein System von praktischen und theoretischen Regeln, das selbst dem von der Pädagogik als
»Kultur«
zusammengefaßten Komplex zugehört und also – sofern dieser Komplex als System bürgerlich-ideologischer Institutionen bestimmt werden kann – einer ideologiekritischen Analyse unterzogen werden muß: d. h.
»Pädagogik«
muß demjenigen Substrat konfrontiert werden, dem sie ihre Maximen verdankt (Ökonomie, Herrschaft, Ungleichheit). Die Themen, an denen dieses Interesse augenfällig geworden ist, sind
»politische Bildung«
,
»Bildungsbarrieren«
und
»Sozialisation«
.
[047:19] Die Skepsis gegenüber der bürgerlichen Pädagogik hat aber andererseits zu einer noch weitergehenden Reaktion geführt: der Entwertung einer Theorie, die sich die intersubjektiven Prozesse, die pädagogisches Handeln im Detail ausmachen, zu ihrem Gegenstand macht. Das Mißtrauen gegenüber dem konservativen Charakter der Pädagogik veranlaßte besonders Autoren, die sich der
»linken«
Bewegung zurechnen, Erziehungsvorgänge nur noch in politischen bzw. ökonomischen Begriffen zu fassen oder sie gar nicht mehr zum Thema zu machen, vielmehr die Analyse von Bedingungen der Erziehung und deren Folgen im Kapitalverwertungsprozeß an die Stelle von Erziehungstheorie zu setzen. Auf der theoretischen Ebene wird damit die Differenz von Politik und Pädagogik (bzw. von politischer Ökonomie und Erziehungswissenschaft), auf der praktischen Ebene die zwischen politischem und pädagogischem Handeln vernichtet. Das wäre kein Verlust, wenn als eindeutig geklärt gelten könnte, daß es sich bei der Behauptung dieser Trennung um einen ideologischen Satz und bei der Praxis dieser Trennung um die Institutionalisierung eines ideologischen In|A3 12|teresses handelt. Genau dies wird von mir energisch bestritten. Zwar ist zutreffend, daß die Trennung von Politik und Pädagogik häufig oder gar in der Regel die Funktion gehabt hat, politische Fragestellungen dem Erziehungsdenken fernzuhalten, um es dadurch den Herrschaftsinteressen dienstbar zu erhalten; zwar ist ebenso richtig, daß jene Trennung ihre Genese in der Geschichte bürgerlicher Ideologien hat; Fragen nach Funktion und Genese aber liegen auf einer anderen Ebene als die Fragen der Geltung.
[047:20] Da es sich hierbei um ein für alle Theorien im Erziehungsfeld fundamentales Problem handelt, müssen seine Aspekte mindestens skizziert werden, weil sonst Mißverständnisse unvermeidlich sind und Kontroversen entlang einer falsch bestimmten Konfliktlinie entstehen. Ich versuche deshalb, das Verhältnis von Politik und Pädagogik (was als Sammelname für Praxis und Theorie der Erziehung gelten soll) in einigen Thesen bzw. Hypothesen zu bestimmen:
[047:21] 1. Es ist die Annahme sinnvoll, daß jeder Erziehungsvorgang in den Merkmalen seines Vollzuges politische Implikationen enthält. Der Erwachsene bleibt auch als Erziehender ein Erwachsener in einem bestimmten gesellschaftlich-politischen Kontext. Er gibt seine Berufsrolle nicht auf, wenn er Vater ist; er gibt seine Rolle als Interessenvertreter nicht auf, wenn er Lehrer ist; er gibt seine Abhängigkeit von einem Anstellungsträger nicht auf, wenn er Heimerzieher ist; er gibt seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, zu einer Klasse, seine ökonomischen, seine Macht- und Prestige-Interessen nicht auf, wenn er erzieht: Kurz: die Tatsache, daß er in einem durch Herrschaft strukturierten gesellschaftlichen Kontext lebt, kann er zwar verleugnen, er kann sie aber nicht abschaffen; jedenfalls nicht im Vollzug seines pädagogischen Handelns. Unter diesem Aspekt erscheint also der gesellschaftliche Kontext als die
»Basis«
der Erziehung, seine politischen Komponenten gehören somit auch zu den Basis-Komponenten des Erziehungsvorgangs. Erziehung ist nicht ein politisches Exterritorium, in dem die Tatsache von Herrschaft und ihrer ökonomischen Bedingungen suspendiert wäre. In diesem Sinne können die materiellen Spielräume, die durch den sozialen Ort eines bestimmten Erziehungsfeldes gegeben sind, nicht lediglich als Randbedingungen in die erziehungswissenschaftliche Analyse eingebracht werden, sie gehören zu ihren konstitutiven Komponenten.
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[047:22] 2. Es ist die Annahme sinnvoll, daß kein Erziehungsvorgang durch Rekurs auf seine politischen Komponenten oder Implikationen vollständig und zureichend erklärt werden kann. Unterstellt man jedoch, daß die entgegengesetzte Annahme sinnvoll ist, daß also durchaus Erziehungsvorgänge zureichend in politischen Begriffen beschrieben und erklärt werden können, dann würde diese totale Subsumtion pädagogischer Phänomene unter die Kategorien der Herrschaft und der Ökonomie einen Handlungstypus im Erziehungsfeld nahelegen, der nur noch partiell rational werden könnte: Legitimes Handeln im Erziehungsfeld wäre dann nämlich nur solches, das sich auf die politischen Basisbedingungen der Erziehung richtet; innerhalb des Erziehungsfeldes wären nur noch – nach funktionalistischem Muster – Wiederholungen und damit Bekräftigungen der politischen Bedingungen möglich. Das ist das Dilemma der
»pädagogischen Linken«
: Durch ihre politische Theorie zu der dichotomischen Unterscheidung von
»systemstabilisierenden«
und
»systemsprengenden«
Handlungen genötigt, verfügt sie über keinen kategorialen Rahmen, der
»systemsprengendes Handeln«
als unmittelbares Erziehungshandeln zu fassen vermag. Zur Deduktion aus der politischen Theorie genötigt, strukturiert sich das pädagogische Handlungsfeld allzu leicht im Sinne einer normativen Indoktrination oder es verliert überhaupt an Relevanz zugunsten einer Kritik, die erst
»oberhalb«
der pädagogischen Institutionen ansetzt: bei den Verwertungsproblemen des Kapitalismus. Dem politischen Handlungsbedürfnis oder Handlungsdruck wird die theoretische Stringenz und die Rationalität der Handlungsvollzüge aufgeopfert. Indessen: dies ist – wie sich in mancher Erziehungspraxis der letzten Jahre gezeigt hat – eine mögliche, nicht aber eine notwendige Folge des politischen Verständnisses von Erziehung. Gerade der Handlungskonsequenzen wegen muß alles daran gelegen sein, Erziehungswissenschaft nicht zur Bildungssoziologie oder zu einem Anwendungsfall politischer Ökonomie schrumpfen zu lassen. Sie würde sonst ihren Gegenstand verlieren und damit auch den pädagogischen Handlungszusammenhang sich selbst überlassen. Das zwingt aber zu einer positiven Formulierung der Annahme, daß kein Erziehungsvorgang durch Rekurs auf seine politischen Komponenten oder Implikationen vollständig erklärt werden kann: Es ist die Annahme sinnvoll, daß neben den politischen Basisbedingungen eine zweite Gruppe von Basisbedingungen des Erziehungshandelns gedacht werden muß. In |A3 14|einer Auseinandersetzung mit der marxistischen Erziehungstheorie und besonders im Anschluß an Kanitz und Bernfeld drückt Friedhelm Nyssen das so aus:
[047:23]
»Die Ohnmacht von Kindern gegenüber Erwachsenen ist, das behaupte ich, ein kapitalismusunabhängiges Phänomen, eine, mit Bernfeld gesprochen, Konstante aller Erziehung. [047:24] Und genau damit ist, wenn wir den Grundgedanken von Kanitz, daß kindliche Lernarbeit als Moment des gesamtgesellschaftlichen Arbeitsprozesses betrachtet werden muß, akzeptieren, der Punkt bezeichnet, wo in eben jenem Arbeitsprozeß ein Moment sich geltend macht, das aus den politisch-ökonomisch bestimmbaren Ablaufgesetzen dieses Arbeitsprozesses sich nicht ableiten läßt. Das aber bedeutet, daß gerade diese Ablaufgesetze nicht nur nach ihren gesellschaftlichen Determinanten sich bestimmen, sondern auch durch das Grundproblem aller Erziehung, das aus dem Generationenproblem, aus dem Gegensatz von kindlicher Ohnmacht und Allmacht der Erwachsenen entsteht, bestimmt werden. Gewiß: dieses Generationenproblem erscheint in sehr verschiedener Weise je nach Gesellschaftsformation – jedoch der mehr oder weniger umfangreiche
Naturrest
, der aus der Grundtatsache, daß jede Gesellschaft sich mit Hilfe neuer Generationen reproduzieren muß, verbleibt auch in der noch so vergesellschafteten Mechanik der kapitalistischen Gesellschaft. Diese Gesellschaft kann zwar ihrer neuen Generation vorschreiben – aber auch das nur begrenzt –, wie und zu welchem Lohn sie lernen soll und damit die neue Generation im Kanitzschen Sinne ausbeuten, aber sie kann nicht aus Jung Alt machen. [047:25] Die Konsequenz daraus ist, daß Erziehung nicht vollständig den Verwertungsgesetzen des Kapitals – diese Gesetze sind es ja, die nach Marx die Mechanik der gesellschaftlichen Entwicklung im Kapitalismus ausmachen – subsumiert sein kann«
(Nyssen 1971, S. 24 f.)
.
[047:27] Da das Erziehungshandeln als Handeln überhaupt nicht beschrieben werden kann ohne diese Annahme, ist es jedoch unzureichend, nur von einem
»Rest«
zu s prechen: Ohne Berücksichtigung dieser Annahme ist nämlich von Erziehung gar nicht die Rede. Jeder aus dem politischen Theoriezusammenhang deduzierte Satz, der in pädagogischen Kontexten gelten soll, muß sich als legitim im Hinblick auf den Umgang mit einer heranwachsenden Generation als eines Umgangs mit abhängigen Unerwachsenen ausweisen. Jeder Satz oder jede Regel im Zusammenhang dieses Umgangs muß auf seine politischen Implikationen hin befragt werden. Beides zusammengenommen erst vermag pädagogische Legitimität zu konstituieren. Was das im einzelnen heißt, wird im Verlaufe dieses Buches noch zu zeigen sein.
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[047:28] 3. In den vorangegangenen Sätzen wurde unterstellt, was nun als dritte These zum Verhältnis von Politik und Pädagogik formuliert werden soll: Für alles Erziehungshandeln muß eine andere Struktur postuliert werden als für politisches Handeln. Der Unterschied entspricht der Differenz zwischen Diskurs und Aktion. Diskurs: das Problematisieren von Lebenszusammemhängen mit der Unterstellung, daß vernünftige Verständigung und Konsensus möglich sind. Aktion: das unmittelbar verändernde Eingreifen in Lebenswelten und deren institutionelle Bedingungen mit der Unterstellung, daß vernünftige (gerechte) Verständigung und Konsensus aufgrund bestehender Herrschaftsbeziehungen nicht mehr möglich sind. Politisches Handeln steht unter dem Druck praktischer Ziele; der politisch Handelnde trägt – als Erwachsener – das Risiko seines Handelns selbst; er hat es allenfalls anderen Erwachsenen gegenüber zu verantworten, die ihn zur Rede stellen können. Pädagogisches Handeln ist demgegenüber zu postulieren als ein Handeln mit
»gebrochener Intention«
; die Intentionen des Erziehenden müssen sich im Lichte der zu interpretierenden Intentionen des Educandus reflektieren. Der Herrschaftszusammenhang, den auch Erziehung immer schon enthält, kann wenigstens in einem seiner Aspekte tatsächlich aufgehoben werden: als Herrschaftsbeziehung zwischen dem mächtigen, über alle Mittel der Bedürfnisbefriedigung verfügenden Erwachsenen und dem zunächst ohnmächtigen Kinde; die Erziehung des Kindes ist abgeschlossen, wenn diese Differenz verschwunden ist. Diese Differenz kann nur verschwinden, wenn ihr Ziel – Verständigung und gemeinschaftliches Handeln unter Gleichen – im Erziehungshandeln selbst schon antizipiert wird, und zwar nicht nur als gedachtes, sondern als eines, dessen Merkmale in der Praxis des Erziehungshandelns real hervorgebracht werden. Oder anders formuliert: Im pädagogischen Handeln sollen die individuellen empirischen Bedingungen hervorgebracht werden, unter denen rationales politisches Handeln allererst möglich ist. Insofern ist pädagogisches kommunikatives Handeln.
[047:29] Eine solche Unterscheidung hat ihre Gefahren. Sie ist überhaupt nur vertretbar unter der Bedingung der ersten These. Pädagogisches Handeln verfällt in Illusion, wenn es über die politischen Grenzen hinwegsieht, die die historisch-konkreten kommunikativen Spielräume beschränken und in der Gestalt materieller Bedingungen und ihrer psychischen Folgen Kommunikation immer wieder verzerren.
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[047:30] Die hier vorgenommene Unterscheidung kann aber auch grundsätzlich irreführend sein. Sie gilt ja nur unter der Bedingung eines Begriffs von
»Politik«
, der als viel zu beschränkt erscheinen mag: Politik als kollektive Vertretung von Interessen in den Formen des auf Veränderung zielenden Kampfes. Die auf diese Weise konstruierte Alternative zwischen pädagogischem und politischem Handeln täuscht darüber hinweg, daß die Unterscheidung mit Hilfe eines Kriteriums vorgenommen wurde, das auch auf jede der beiden Seiten sinnvoll angewendet werden kann: die Grade der Differenziertheit der in einer Handlung aktualisierten kognitiven Struktur. Offenbar ist das, was im Vorstehenden als Pädagogik bezeichnet wurde, seiner Aufgabe nach darauf angewiesen, auf einem Maximum einer Differenziertheit zu bestehen, oder genauer: darauf zu bestehen, daß die entsprechenden Handlungszusammenhänge imstande sind, ein Maximum differenzierter kognitiver Strukturen hervorzubringen. Freilich wäre das gleiche für politische Handlungszusammenhänge zu postulieren. Unsere Unterscheidung liefe also auf das Postulat hinaus, daß pädagogisches Handeln nur als Praxis der Aufklärung in dem strikt kognitiven Sinne dieses Wortes und als Bildung der für solche Praxis unerläßlichen Bedingungen im Individuum selbst legitimiert werden kann. Wie weit das auch für andere Handlungszusammenhänge gilt, braucht dann hier nicht weiter erörtert zu werden. Vermutlich ist auch ein Begriff von Politik denkbar, der dem gleichen Postulat folgt. Ob dieser Begriff aber historisch sinnvoll wäre, ist eine andere Frage.
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1. Kapitel
Erziehung als kommunikatives Handeln

Zur Struktur des pädagogischen Feldes

[047:31] Alles Erziehungshandeln hat – wie menschliches Handeln überhaupt – eine Vorstellung von den Bedingungen des Handelns zur notwendigen Voraussetzung. Insofern, als das Handeln einem Ziel folgt und dieses Ziel auf bestimmten Wegen erreicht werden soll, enthält es eine gedachte Vorwegnahme (Antizipation) möglicher und erwarteter Situationen. In dieser Antizipation spielen also nicht nur Intentionen eine Rolle, sondern auch vermutete Komponenten der Situationen, Vorstellungen über die Regelmäßigkeit von Abläufen und Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen, Intentionen von anderen,
»Bilder«
, die der Handelnde sich von sich selbst und den anderen an den Situationen beteiligten Handelnden macht, usw. Kurz: Die Situation, in der gehandelt wird, ist in der Vorstellung des Handelnden, seiner Antizipation der Handlungsabläufe, immer in irgendeiner Weise strukturiert. Anders würde
»Handeln«
gar nicht zustandekommen.
»Handeln«
ist demnach ein komplexerer Begriff als
»Verhalten«
oder
»Lernen«
,
»Reaktion«
,
»Response«
. Die Antizipationen, die für ein Individuum als notwendige Bedingung seines Handelns angenommen werden müssen, sind indessen nicht ebenso notwendig seinem Bewußtsein voll verfügbar. Sie können zum Beispiel soweit habitualisiert sein, daß das Individuum sich selbst keine Rechenschaft über die Antizipationen, d. h. über die Annahmen gibt, die sein Handeln leiten; es folgt ihnen gleichsam
»automatisch«
. Die Antizipationen sind dann nicht mehr als spezifische Merkmale des handelnden Individuums zu bestimmen, sondern als Merkmale der Bedingungen, unter denen das Individuum handelt: sein Handeln ist total institutionalisiert,
»entfremdet«
. In jedem Fall aber wird das Handeln einem Vorentwurf folgen, in dem die Komponenten des Handelns abgeschätzt sind, gleichviel ob dieser Vorentwurf nun im reflektierenden Bewußtsein des Individuums oder in den institutionalisierten Regeln seines Handelns gegeben ist.
[047:32] Was für die Situation des praktisch Handelnden gilt, gilt in diesem Fall auch für die Situation dessen, der
»Theorie«
im |A3 18|Auge hat. Die Wissenschaft macht hier nur explizit, was der Handlungssituation implizit ist; sie macht ausdrücklich zum Thema, was dem Handelnden praktisch notwendige Bedingung für sein Handeln ist. Insofern steckt in allem Handeln, und zwar in der Form handlungsleitender Antizipationen (Annahmen über die Situation, über Ursachen und Wirkungen, also
»Hypothesen«
) etwas
»Theoretisches«
(Popper). Aber auch der Wissenschaftler, weniger auf Praxis als auf Theorie erpicht, bleibt an das gebunden, was man Handlungs-Kontexte nennen kann, jedenfalls dann, wenn der Gegenstand seiner Theorie aus Handlungen besteht. Dies ist bei der Erziehungswissenschaft zweifellos der Fall.
[047:33] Die ersten Sätze dieses Kapitels haben bereits eine solche Antizipation in theoretischer Absicht vorgenommen. Die Komponenten des Erziehungshandelns, die wir dort als sinnvoll, zum Teil sogar als notwendig unterstellt haben, sind: die Intention des Handelnden, Selbstbild und Fremdbild, Handlungs-Medien, institutionalisierte Handlungsregeln. Gemessen an einem systematischen Interesse geschah das jedoch zufällig und ohne Begründung. Wie auch immer Erziehungswissenschaft betrieben werden mag, sie wird mit einer bestimmten Vorstellung von der Struktur des pädagogischen Handlungsfeldes operieren, begründet oder nicht begründet; sie wird bestimmte Komponenten als handlungsleitend, als praxisrelevant annehmen, andere nicht; aus der Vielzahl des Denkbaren wird sie die kleinere Zahl des im Rahmen eines bestimmten Interesses Systematisierbaren auswählen und ihren Analysen zugrunde legen. Wir skizzieren zunächst einige Exempel aus der Wissenschaftsgeschichte der Pädagogik.
[047:34] 1. Ein bestimmter Komponenten-Komplex für das pädagogische Feld und seine Analyse ergibt sich, wenn der Versuch unternommen wird, sich die Gesichtspunkte der Analyse nicht durch die faktisch historische Gestalt gesellschaftlicher Verhältnisse vorgeben zu lassen, sondern ihnen gegenüber einen transzendentalen Standpunkt zu finden. Dieser Fall liegt zum Beispiel vor, wenn sich die analytischen Kategorien an dem Begriff des reflektierenden und gemäß der Reflexion vermeintlich selbst bestimmenden Individuums (Individualität) orientieren. Das pädagogische Feld strukturiert sich in solcher Sichtweise nicht nur als ein Ort gesellschaftlicher Reproduktion, son|A3 19|dern der
»Produktion«
, d. h. als ein Ort, an dem
»bessere«
Möglichkeiten gesellschaftlicher Existenz hervorgebracht werden können.
[047:35] Die historische Realität der Erziehung erscheint also als ein Komplex von Handlungsbedingungen, die dem transzendentalen Postulat mehr oder weniger genügen. Diese Handlungsbedingungen müssen daher als die Komponenten des Feldes bestimmt werden, und zwar so, daß das pädagogische Denken und Handeln über den historisch erreichten Stand von vernunftgemäßem Leben hinauszielt, Fortschritt möglich wird. In dieser Absicht strukturierte sich für Schleiermacher das pädagogische Feld durch die folgenden Komponenten:
  1. (1)
    [047:36] Die Partner des pädagogischen Handelns durften nicht als isolierte Individualitäten, sondern mußten als Individualitäten im gesellschaftlich-historischen Kontext bestimmt werden; also ist nicht das Erzieher-Zögling-Verhältnis, sondern das Verhältnis der Generationen zueinander die erste von ihm benannte Komponente des Feldes.
  2. (2)
    [047:37] Der Spontaneität und damit der möglichen Selbstbestimmung (Autonomie) steht, da sie sich nur historisch konkret verwirklichen kann, die Reproduktivität gegenüber.
  3. (3)
    [047:38] Selbstverwirklichung geschieht nur in konkreten gesellschaftlichen Lebensbereichen, in Staat, Kirche, geselligem Verkehr und Wissenschaft.
  4. (4)
    [047:39] Historisch steht das pädagogische Handeln im wesentlichen unter zwei einschränkenden (vernunftwidrigen) Bedingungen: die Reproduktion beschränkender Traditionen und die Reproduktion von Ungleichheiten.
  5. (5)
    [047:40] In diesem Zusammenhang hat der Staat unter den vier Lebensbereichen eine ambivalente Funktion: er hebt – sofern er sich an Vernunftsprinzipien orientiert – die traditionellen Beschränkungen in Richtung auf ein politisches Bürgerbewußtsein auf und er bestärkt – sofern er sich im Bildungswesen ein eigenes Herrschaftsinstrument zu sichern sucht – die bestehenden Ungleichheiten. Erziehung muß daher als vermittelndes Korrektiv zwischen der bürgerlich-individuellen Einheit
    »Familie«
    und der bürgerlich-kollektiven Ordnungsmacht
    »Staat«
    bestimmt werden, beiden gegenüber in kritischer Distanz. Vereinfacht dargestellt, bietet sich das auf der folgenden Seite dargestellte Struktur-Schema der Komponenten des pädagogischen Feldes an.
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Hier ist ein Schaubild zur Strukturierung der Komponenten des pädagogischen Feldes in Anlehnung an Schleiermacher⁠ zu sehen.
|A3 21|
[047:57] 2. In der auch durch Schleiermacher initiierten Tradition pädagogischen Denkens ist historisch einflußreich der geisteswissenschaftlich-lebensphilosophische Typus geworden. Obwohl sich nicht nur auf Dilthey, sondern auch auf Schleiermacher ausdrücklich berufend, entsteht hier eine andere Vorstellung von der Struktur des pädagogischen Feldes. Einige Komponenten werden stärker hervorgehoben, andere treten zurück. So wird der soziologische Gedanke Schleiermachers, daß sich im Erziehungshandeln zwei Generationen – nicht nur als Alters-, sondern auch als soziale Gruppen – gegenüberstehen, aufgegeben. Das pädagogische Verhältnis erscheint als Dyade, der gegenüber alle anderen Komponenten zu Randbedingungen schrumpfen. Diese Dyade wird zugleich als
»die Grundlage der Erziehung«
(Nohl)
behauptet. Als pädagogisches Feld erscheint danach das, was als Momente in dieser dyadischen Beziehung auszumachen ist. Das dyadisch gedachte Erziehungshandeln ist absichtsvoll. Diese Intention richtet sich aber nicht auf ein gesellschaftlich identifizierbares Datum, sondern auf das zu erziehende Subjekt und seine
»höhere Form«
, seine Mündigkeit. Diese Formalbestimmung muß jedoch von Fall zu Fall historisch konkretisiert werden. Gesellschaftliche Daten, also das, was für Schleiermacher die Lebensbereiche (Staat, Kirche, geselliger Verkehr, Wissenschaft) waren, tauchen hier als
»kulturelle Objektivationen«
auf; sie treten in das Erziehungsfeld nur vermittelt ein, umgeformt durch die Frage nach ihrem Beitrag zum Leben des je besonderen Kindes. In dieser Umformung erscheinen sie innerhalb des pädagogischen Verhältnisses einerseits als die Bildungsinhalte, andererseits als die Bildungs- oder Erziehungsziele. Eine schematische Darstellung könnte, wie es auf der folgenden Seite 22 dargestellt ist, aussehen.
[047:58] An dieser vereinfachten Skizze – in der hier zum Beispiel auch die Weiterführung des geisteswissenschaftlichen Ansatzes durch die
»Marburger Schule«
berücksichtigt wurde – ist zweierlei bemerkenswert: Der ohnehin schon bei Schleiermacher lockere Zusammenhang zu gesellschaftlichen Sachverhalten wie Herrschaft, Ökonomie, Politik ist noch weiter verdünnt worden. Das pädagogische Feld wird hier dominant durch das pädagogische Verhältnis, eine personale Beziehung also, bestimmt. Andererseits hat die dem pädagogischen Verhältnis gewidmete Aufmerksamkeit eine besondere kategoriale Differenzierung zur Folge, die dazu veranlaßt, Beiträge der psychologischen |A3 22|
Hier ist ein Schaubild zur Struktur des Erziehungsfeldes in Anlehnung an die Tradition des geisteswissenschaftlich-lebensphilosophischen Typus zu sehen.
|A3 23|und psychoanalytischen Literatur aufzunehmen: Probleme der frühkindlichen Erziehung, der Bedeutung affektiver Beziehungen im Erziehungsverhältnis, der Methoden und Medien, der Erziehungsstile, der Autorität als Merkmal persönlich-abhängiger Beziehungen (Klafki u. a. 1970).
[047:59] Die Schwierigkeit dieser Strukturierung besteht jedoch darin, daß nicht deutlich ist, ob es sich bei den verwendeten Begriffen um Ausdrücke der Beobachtungssprache oder der theoretischen Sprache handelt. Zudem erscheint die Verknüpfung mit Forschungsergebnissen aus Psychologie und Psychoanalyse eher additiv und nicht als Überprüfung von Hypothesen, die sich aus den Behauptungen über die Komponenten des Erziehungsfeldes ableiten lassen. Dieser besonders von erfahrungswissenschaftlich orientierten Vertretern der Pädagogik kritisierte Mangel hat dazu geführt, nach anderen Struktur-Modellen Ausschau zu halten, um der erziehungswissenschaftlichen Forschung ein allgemein zu akzeptierendes Grundmuster von analytischen Kategorien zu geben.
[047:60] 3. Offenbar spielt in allen Versuchen, die Struktur des pädagogischen Feldes zu ermitteln, ein Vorbegriff von Erziehung eine Rolle.
»Struktur des pädagogischen Feldes«
erscheint daher als nichts anderes, denn als eine Explikation jenes Vorbegriffs, freilich auf mehr oder weniger kontrollierte Art und Weise. An dieser Stelle knüpft Brezinka an, wenn er versucht, eine Übereinkunft in der Definition von
»Erziehung«
herzustellen; er empfiehlt dazu eine Sprache, die als empirische Wissenschaftssprache Wertneutralität, Allgemeinheit und empirisch gehaltvolle Sätze erlaubt. Die Definitions-Merkmale können dabei als Komponenten des pädagogischen Feldes in einem engsten Sinne dieses Begriffs verstanden werden: das notwendige Minimum, über das ein Konsensus hergestellt werden muß, wenn überhaupt Erziehungswissenschaft als konsistente Erfahrungswissenschaft möglich sein soll. Seine Definition:
[047:61]
»Unter Erziehung werden soziale Handlungen verstanden, durch die Menschen versuchen, das Gefüge der psychischen Dispositionen anderer Menschen mit psychischen und (oder) sozialkulturellen Mitteln in irgendeiner Hinsicht dauerhaft zu verbessern oder seine als wertvoll beurteilten Komponenten zu erhalten«
(Brezinka 1971, S. 613)
.
[047:62] In dieser Definition sind die Minimal-Komponenten des pädagogischen Feldes angegeben: interagierende Personen, von |A3 24|denen die einen gegenüber den anderen Intentionen (
»Handlungen«
) zu folgen versuchen und darin bestimmte Lernziele (
»verbessern«
) erreichen wollen, die formal als Änderung psychischer Dispositionen beschrieben werden; zu diesem Zweck bedienen sie sich bestimmter, von ihnen als erfolgversprechend angesehener Medien und Verfahren (
»psychische und/oder sozial-kulturelle Mittel«
). Schematisch:
Hier ist eine schematische Darstellung der Definition von Erziehung nach Brezinka⁠ zu sehen.
[047:69] Brezinka weist ausdrücklich darauf hin, daß dies eine theoretische Konstruktion ist, die sich mit Beobachtungsdaten erst verknüpfen läßt, wenn das potentielle Beobachtungsobjekt (der Erzieher) seine Intention expliziert hat. Denn: nur wo eine explizierbare Absicht zur Änderung der psychischen Dispositionen anderer vorliegt, soll von Erziehung gesprochen werden. Das heißt aber: Pädagogische Felder konstituieren sich durch ihre Interpretation als pädagogisch gemeinte Ereignisfolgen. Die hier vorgenommene radikale Ausklammerung aller gesellschaftlichen Komponenten erscheint dadurch legitimiert, daß diese als Konkretisierungen jedes einzelnen Definitions-Merkmals im Vorgang erziehungswissenschaftlicher Forschung, vor allem aber durch die je notwendigen Interpretationen eingeführt werden können. Interpretationen sind anders als in einem historisch-gesellschaftlichen Bedeutungs-Kontext ja gar nicht denkbar.
[047:70] 4. Im Lichte des Definitionsvorschlages Brezinkas erscheint Bernfelds Vorstellung von der Struktur des pädagogischen Feldes als eine historisch konkrete Auslegung des Begriffs Erziehung und zugleich ein theoretisch zu interpretierender Versuch, das Bedingungsfeld anzugeben, innerhalb dessen der historisch-empirische Gehalt der Definitions-Merkmale (oder der Formal-Komponenten des Erziehungsfeldes) erklärt werden kann. So heißt es bei Bernfeld – mit der Attitüde der Definition –:
[047:71]
»So mannigfaltig menschliche Gesellschaften strukturiert sein mögen, das Kind hat von Geburt an eine Stelle in ihnen. Es muß eine bestimmte Menge Arbeit für es von der Gesellschaft geleistet werden, |A3 25|sie hat irgendwelche Einrichtungen, die nur wegen der Entwicklungstatsache bestehen, gewisse Einstellungen, Verhaltungen, Anschauungen über sie. Die Kindheit ist irgendwie im Aufbau der Gesellschaft berücksichtigt. Die Gesellschaft hat irgendwie auf die Entwicklungstatsache reagiert. Ich schlage vor, diese Reaktionen in ihrer Gänze Erziehung zu nennen. Die Erziehung ist danach die Summe der Reaktionen einer Gesellschaft auf die Entwicklungstatsache«
(Bernfeld 1967, S. 51)
.
[047:72] Der von Schleiermacher schon zum Thema gemachte gesellschaftstheoretische Aspekt tritt hier noch deutlicher und entschiedener hervor in der Behauptung, daß die Tatsache
»Erziehung«
schlechterdings unbegriffen bleibt, wenn sie nicht innerhalb des konkret und historisch gegebenen Funktionszusammenhangs einer Gesellschaft verstanden wird. Die Struktur des pädagogischen Feldes wäre also nur oberflächlich beschrieben, wenn nur die beobachtbaren Komponenten im unmittelbar gegebenen Handlungszusammenhang bzw. deren theoretische Konstrukte (
»Disposition«
) berücksichtigt werden. Zwar weist auch Brezinka ausdrücklich darauf hin, daß das, was die Erziehungswissenschaft betreibt, sich nicht in dem durch die Definition gezogenen Umkreis erschöpfen muß; doch würde die Erziehungswissenschaft durchaus ihren Begriff erfüllen, wenn sie das täte, nur ist sie nicht genötigt, mehr zu tun. Bernfeld hingegen kehrt das Verhältnis um: Nur eine Erziehungswissenschaft, die das pädagogische Handeln als historische Reaktion der Gesellschaft begreift, kann ihren Begriff erfüllen, da Erziehung kein abstraktes anthropologisches Datum, sondern selbst eine gesellschaftliche Tatsache ist. Daraus folgt, daß die Struktur des pädagogischen Feldes nur zureichend beschrieben werden kann, wenn die historischen Komponenten von
»Gesellschaft«
, das je historisch geltende Vergesellschaftungsprinzip, in den Komponentenkatalog mit aufgenommen werden. Was als Erziehung gilt, welche Phänomene in welchen Kontexten als Erziehung interpretiert werden, das steht
»im funktionalen Zusammenhang mit den gesellschaftsbildenden und -umwandelnden Kräften, letzten Endes mit der Form und den Tendenzen des wirtschaftlichen Produktionsprozesses«
(Bernfeld 1967, S. 54)
und den durch sie determinierten Herrschaftsbeziehungen. Ein pädagogisches Datum – beispielsweise der stark punitiv-autoritäre Umgang des Vaters einer Arbeiterfamilie mit seinem Sohn – muß ohne Berücksichtigung dieser Komponente nicht nur oberflächlich, sondern falsch und ideologisch erscheinen. Jede solcher individueller – gleichwohl aber |A3 26|als gesellschaftlich zu interpretierender – Erziehungshandlungen reagiert indessen auf die
»Entwicklungstatsache«
. Dieser Begriff ist – dem Begriff
»Disposition«
bei Brezinka formal vergleichbar – ein theoretisches Konstrukt; er bezeichnet zwar formal die Naturbasis der Erziehung nach ihrer psychologischen Seite hin; was ihn aber in einer konkreten Situation, in einer gegebenen gesellschaftlichen Lage konstituiert, muß aus der Praxis der Erziehung erschlossen werden (zum Beispiel in welcher Form und mit welchen Inhalten
»Liebe zum Kind«
als die affektive Komponente einer pädagogischen Beziehung sich darstellt); dies wiederum ist ohne Berücksichtigung ökonomischer Prozesse nicht zureichend möglich, da die Erziehungspraxis als Reaktion der Gesellschaft zugleich als Funktion des
»wirtschaftlichen Produktionsprozesses«
gedacht wird. Bernfelds Vorstellung von den konstituierenden Kategorien des pädagogischen Feldes läßt sich also schematisch so skizzieren:
Hier ist eine schematische Darstellung der das pädagogische Feld konstituierenden Kategorien nach Bernfeld⁠ zu sehen.
[047:81] Der Objektbereich einer Wissenschaft, die dieser Vorstellung von der pädagogischen Feldstruktur folgt, sieht anders aus als der, der sich aus der Definition Brezinkas ergibt. Und auch im Vergleich mit den anderen Strukturvorstellungen zeigen sich Differenzen, die für die Auswahl relevanter Gegenstände, für nahegelegte verwendungsfähige Theorien, für nahegelegte Hypothesen und Forschungsstrategien entscheidend sind. Die Unterschiede sind keine im Grad der Wissenschaftlichkeit, es sei denn, man will Genauigkeit der Begriffe schon dafür halten; es sind auch keine Unterschiede der Bewertung im Sinne von besserer oder schlechterer Erziehung; es handelt sich vielmehr |A3 27|um Unterschiede der Interpretation historischer Situationen, denen die Interpretierenden selbst zugehören und in denen sie sich in bestimmter Weise lokalisieren. Gleichwohl bewegen sich diese Vorstellungen nicht jenseits dessen, was auf Irrtum hin geprüft werden könnte. So stecken zum Beispiel in Bernfelds Ansatz empirische Annahmen über Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge, die prüfbar sind, also beträchtlich mehr als nur Definitionen. Allein solche Annahmen sind unerläßlich, wenn überhaupt ein Handlungszusammenhang sich konstituieren oder ein Komplex von Ereignissen als Handlungszusammenhang zum Gegenstand einer erziehungswissenschaftlichen Theorie gemacht werden soll. Steckt also in diesem Sinne
»Theoretisches«
schon in allen unseren Überlegungen, dann ist es sinnvoll, anzugeben, welche theoretischen Anknüpfungspunkte man wählt, zu begründen, warum man die gewählten für sinnvoll hält und die Konsequenzen der Wahl zu zeigen. Ich mache auf den folgenden 160 Seiten einen Vorschlag für eine solche theoretische Strukturierung des pädagogischen Feldes.

Das pädagogische Feld als Sinnzusammenhang

[047:82] In der Definition Brezinkas erscheint das Kind als ein Objekt von Handlungsinteressen. Das wird an zwei Merkmalen seiner Definition deutlich: Einerseits ist Intentionalität für Brezinka nur auf der Seite des Erziehers lokalisiert; von der Intentionalität des Kindes ist nicht die Rede. Andererseits besteht Brezinka darauf, daß Erziehung nicht als Interaktion, sondern im engeren Sinne als Handlung bestimmt werden müsse. Interaktion hält er in diesem Zusammenhang für einen zu komplexen Begriff:
[047:83]
»Der Handelnde kann jeweils nur seine eigenen Handlungen (mehr oder weniger) kontrollieren, nicht aber die Handlungen seines Partners, bzw. der Vielzahl der Partner, mit denen er interagiert. Als Erziehungswissenschaftler wollen wir in erster Linie wissen, was er mit ihnen im Hinblick auf seine Ziele bewirkt hat oder bewirken kann. Das ist etwas anderes, als danach zu fragen, was aus den Gesamtsystemen sozialer Interaktionen möglicherweise an Veränderungen in den beteiligten Persönlichkeiten herauskommt«
(Brezinka 1971, S. 602)
.
[047:84] Dieses mit der Attitüde von Bescheidenheit und Genauigkeit vorgetragene Argument stellt in Wahrheit die Reduktion eines |A3 28|komplexen Geschehens dar, und zwar nicht nur auf wissenschaftlich eindeutig identifizierbare Begriffe, sondern auf eine bestimmte Richtung erziehungswissenschaftlicher Analyse. Das zeigt sich zum Beispiel darin, daß der Sinn einer pädagogischen Situation hier eindeutig durch die Intentionalität des Erziehers gegeben wird. Gerade die Abwehr des komplexeren Begriffes
»Interaktion«
bewirkt dies. Das hat zur Folge, daß in diesem Zusammenhang für die Veränderung pädagogischer Situationen als konstitutiv nur die Intentionen des
»Mächtigeren«
akzeptiert werden, nicht aber die Intentionalität des
»Schwächeren«
, des Educandus, ins Spiel kommt; dessen Intentionen werden allenfalls als modifizierende Bedingungen berücksichtigt.
[047:85] Mit dem Begriff des
»pädagogischen Feldes«
soll solche Verengung vermieden werden. Als Grundbegriff für erziehungswissenschaftliche Analysen scheint er uns dann sinnvoll zu sein, wenn mit ihm die folgenden Elemente als unverzichtbare Ausgangspunkte jeder erziehungswissenschaftlichen Analyse eingeführt werden:
  1. 1.
    [047:86] Jedes pädagogische Feld ist ein identifizierbarer Sinnzusammenhang, für den die Handlungsintentionen aller im Feld Interagierenden konstitutiv sind.
  2. 2.
    [047:87] Sinn bezeichnet
    »die Ordnungsform menschlichen Erlebens«
    (Luhmann, in: Habermas/Luhmann 1971, S. 31)
    und damit eine Reduktion von Komplexität, die durch Intersubjektivität bewirkt wird. Die Vielfalt des in einer Situation Wahrnehmbaren, für außenstehende Beobachter faktisch Vorhandenen und Möglichen wird beschränkt auf diejenigen Komponenten, die für eine bestimmte Handlung, das Erreichen bestimmter Zwecke, das Reagieren auf bestimmte Vorgänge notwendig sind. Es handelt sich also nicht um einen Ausschnitt aus den gegebenen Sachverhalten, sondern um eine bestimmte Ordnung, in die Sachverhalte der Welt gebracht werden. Dies aber – und darauf soll mit dem Feld-Begriff hingewiesen werden – ist nicht die Funktion der
    »Absicht«
    von einzelnen, sondern die Funktion von
    »Interaktionen«
    .
  3. 3.
    [047:88] Da Interaktionen immer verschiedene Alternativen des Verhaltens der Interaktionspartner enthalten (Goffman 1961), das faktische Interagieren aber immer nur eine jener Alternativen wählen kann, tritt zwar der Sinn des pädagogischen Feldes immer nur in empirisch angebbaren und abgrenzbaren Zusammenhängen auf, verweist aber zugleich über den Zusam|A3 29|menhang, dem er angehört, hinaus (Luhmann, in: Habermas/Luhmann 1971; Schütz 1971). Das pädagogische Feld, begriffen als ein Sinnzusammenhang, ist also nicht nur
    »reduzierte Komplexität«
    , sondern ist, durch die das faktische Interagieren transzendierenden Alternativen, zugleich auch Erhaltung von Komplexität.
  4. 4.
    [047:89] Der Sinnzusammenhang des pädagogischen Feldes konstituiert sich letzten Endes in drei Dimensionen: der interpersonellen Beziehung (Interaktion, Intersubjektivität), den Beziehungen zur Objektwelt und der Perspektivität dieser beiden Beziehungen. Vereinfacht hat Luhmann dies als die soziale, die sachliche und die zeitliche Dimension bezeichnet.
[047:90] Würden wir uns mit diesen Bestimmungen zufrieden geben, dann wäre folgender Einwand vernünftig: Der Sinnzusammenhang des pädagogischen Feldes erscheint als etwas, das im pädagogischen Felde selbst produziert wird, dessen letzte Instanzen die Interaktionspartner sind und das sich damit ausschließlich den Handlungsintentionen der Beteiligten verdankt. Das wäre zweifellos eine unrealistische Unterstellung, mit der sich zwar Erziehungswissenschaft betreiben ließe; eine solche Erziehungswissenschaft könnte sich aber aus dem Zirkel idealistischer Annahmen nicht befreien. Der Begriff des pädagogischen Feldes als eines Sinnzusammenhanges wird kritisch erst, wenn
»Sinn«
in den Rahmen seiner historischen Konstitutionsbedingungen eingefügt wird: Der Sinn eines pädagogischen Feldes konstituiert sich im Zusammenhang derjenigen gesellschaftlichen Bedingungen, die dieses Feld begrenzen und dadurch die Orientierungs- und Handlungsspielräume bestimmen. Die Intersubjektivität als sinnkonstituierendes Moment des pädagogischen Feldes ist insofern immer schon eine institutionell begrenzte. Die
»Reduktion von Komplexität«
ist nicht nur eine Funktion des pädagogischen Feldes selbst, sondern bereits eine Funktion der materiellen Bedingungen, innerhalb deren das pädagogische Feld seinen Ort hat.
»Erhaltung von Komplexität«
ist insofern auch nur ein relativer Begriff: Nicht nur die faktischen Interaktionen, sondern auch ihre denkbaren und den Interaktionspartnern präsenten möglichen Alternativen sind nicht beliebig, sondern im Regelfall begrenzt durch diejenigen Spielräume, die durch den gesellschaftlichen Ort des Feldes definiert sind. Kurz:
»Sinnzusammenhang«
ist eine Kategorie, mit deren Hilfe Grade von Restriktion angegeben werden können. Für das pädagogische Feld also bedeutet Re|A3 30|duktion von Komplexität auch: Restriktion von Lern- und Lebenschancen.
[047:91] Was für das faktische Erziehungsfeld gilt, gilt nicht notwendig auch für die Theorie. Ihre Aufgabe ist es gerade, die Form eines Konstitutionszusammenhangs für den Sinn des pädagogischen Feldes zu denken, der die Abstufungen materiell bedingter Deprivationen überschreitet. Oder weniger abstrakt formuliert: Einerseits ist daran festzuhalten, daß der Sinnzusammenhang eines pädagogischen Feldes sich durch die Intersubjektivität der an den Interaktionen beteiligten Individuen konstituiert, andererseits ist aber solche Intersubjektivität unter faktischen gesellschaftlich-historischen Bedingungen immer nur materiell verkürzt möglich. Diese Feststellung indessen ist nur sinnvoll, wenn die Theorie einen Begriff totaler Intersubjektivität mindestens denkt, d. h. einen Sinnzusammenhang, der durch Herrschaftsverhältnisse nicht schon vorweg auf begrenzte faktische Spielräume reduziert wird. Nur mit Hilfe einer solchen Unterstellung als Möglichkeit ist überhaupt Kritik gegebener Sinnzusammenhänge in Erziehungsfeldern möglich.
[047:92] Über diese kritische Modifikation hinaus ist noch eine weitere speziell pädagogische erforderlich. Was bisher gesagt wurde, gilt für Sinnzusammenhänge und Handlungsfelder überhaupt. Darüber hinaus aber zeichnet sich das pädagogische Feld durch Besonderheiten aus, die formaler wie auch inhaltlicher Natur sind. Auch hier können wir drei Dimensionen unterscheiden:
  1. 1.
    [047:93] Jedes pädagogische Feld ist sinn-konstituierend. Der Unterschied zwischen einem pädagogischen Feld und anderen gesellschaftlichen Handlungsfeldern besteht unter anderem darin, daß der Educandus im Sinne des gesellschaftlich definierten Rollensystems noch nicht voll handlungsfähig ist. Das bedeutet aber nichts anderes, als daß hier ein Moment von Spontaneität nicht nur als zu berücksichtigende Randbedingung eine Rolle spielt, sondern als Definitionselement der pädagogischen Interaktion. Da einerseits die Bedürfnisdispositionen des Heranwachsenden ihrer Unterentwickeltheit wegen, den gesellschaftlichen Erwartungen nicht voll entsprechen können, und da andererseits das Repertoire pädagogischer Reaktionsmöglichkeiten auf die Erwartungen des Heranwachsenden gar nicht lückenlos passend sein kann, ist ein Spielraum für sinnkonstituierende Interaktionen, für nicht institutionell vorgegebene Intersubjektivität ein wesentliches Merkmal.
  2. |A3 31|
  3. 2.
    [047:94] Ebenso aber gilt, daß das pädagogische Feld sinn-tradierend ist. Sinn-Konstitution ist nicht unbegrenzt möglich, sondern nur im Rahmen ökonomisch und kulturell vorgegebener Definitionen der Erziehungsaufgabe. Die Definition der Erziehungsaufgabe aber enthält eine ganze Reihe von Bestimmungen, die gegenüber dem Erziehungsfeld invariant sind: Elternrollen, Erzieherrollen, die Definition des Kindes in einem gegebenen kulturellen Kontext, Schülerrollen, Chancenspielräume im Rahmen definierter materieller Lagen, Begrenzung der Spielräume für die Lern- und Lebensperspektiven der Heranwachsenden, kurz: die Chancen-Struktur, die sich im pädagogischen Feld in der Form von zugelassenen Problemen, Lernzielen und Interaktionsmustern darstellt.
  4. 3.
    [047:95]
    Schließlich aber ist das pädagogische Feld auch sinn-erschließend. Der Sinn von Handlungszusammenhängen muß dem Educandus einsichtig gemacht werden. Tradition wird nie nur
    »andressiert«
    , sondern immer auch argumentativ vermittelt. Der Educandus soll sich am etablierten gesellschaftlichen Sinnzusammenhang beteiligen können. Veränderung eines gegebenen Sinnzusammenhangs, d. h. beispielsweise Einführung neuer Sinnmomente, ist rational nur möglich auf der Basis stattgehabter Teilhabe an historisch gegebenen Sinnzusammenhängen. Die sinn-erschließende Funktion des pädagogischen Feldes kann deshalb als die Bedingung der Möglichkeit dafür angesehen werden, daß argumentierende und also rationale, verändernde Beteiligung stattfindet.
    Es wird gerade bei dieser letzten Formulierung eingewendet werden können, daß es sich dabei nicht um eine objektiv notwendige Dimensionierung des pädagogischen Feldes handelt, sondern bereits um normative Setzungen, d. h. um Wertentscheidungen, die hier mit einem quasi-analytischen Vokabular unter der Hand eingeführt werden sollen. Das ist indessen nicht der Fall. Wir werden das später zu begründen versuchen.
[047:96] Das pädagogische Feld konstituiert sich also in den folgenden miteinander verschränkten Dimensionen:
[047:97]
Interpers. Beziehung Objektwelt Perspektivität
Sinn-Konstruktion
Sinn-Tradition
Sinn-Erschließung
|A3 32|

Lebenswelt

[047:98] Im vorangegangenen Abschnitt wurde darauf hingewiesen, daß das pädagogische Feld als Sinnzusammenhang, konkret als Rahmen historisch-gesellschaftlicher Bedingungen für Lernvorgänge gedacht werden muß, daß ein pädagogischer Sinnzusammenhang also nicht aus sich selbst, sondern nur im Kontext seines gesellschaftlichen Ortes bestimmt werden kann. Für diesen gesellschaftlichen Ort wählen wir den Ausdruck
»Lebenswelt«
. In diesem Sinne repräsentiert jedes pädagogische Feld die eigentümlichen Merkmale derjenigen Lebenswelt, in der es lokalisiert ist und deren Reproduktion seine Bestimmung oder sein Verhängnis darstellt.
[047:99] Das damit aufgeworfene Problem illustriert Cicourel in einer Untersuchung, die einige Probleme der Behandlung jugendlicher Delinquenten zum Gegenstand hat (Cicourel 1968). Er verficht eine substantielle und eine methodologische These. Die substantielle These läßt sich vereinfachend ungefähr so formulieren: Die Strategien, nach denen Bewährungshelfer oder Sozialpädagogen verfahren, wenn sie mit jugendlichen Delinquenten professionell Gespräche führen, haben nichts oder nur zufällig etwas mit dem zu tun, was für diese Jugendlichen selbst relevant ist; sie fassen pädagogische oder pädagogisch relevante Ereignisse mit Hilfe von Begriffen, Begriffsklassen und Erklärungsmustern auf, die von denen durchaus verschieden sind, mit deren Hilfe die Jugendlichen sich selbst interpretieren und die Welt, in der sie leben, und damit ihr eigenes Handeln strukturieren. Die weitgehende Wirkungslosigkeit unserer Formen der Behandlung von Delinquenz hängt also damit zusammen, daß beide
»Partner«
nach verschiedenen Regeln verfahren. Diese Regeln sind ihrerseits nur der kognitive Ausdruck verschiedener
»Lebenswelten«
: im Falle des Jugendlichen die soziale Gruppe, der er entstammt; im Falle des Bewährungshelfers das institutionelle System, für das er agiert.
[047:100] Die methodologische These Cicourels betrifft das gleiche Problem, jetzt nur angewendet auf den Forschungsprozeß; sie lautet: Die Verfahrensregeln des Forschers unterliegen prinzipiell der gleichen Frage, die an die kognitiven Regeln gestellt wurde, an denen der Bewährungshelfer sein Handeln orientiert; Zeugnisnoten, Delinquenz, Schulschwänzen, Leistungsbereitschaft, Arbeitsfähigkeit und ähnliches sind keine
»objektiven«
Daten, die als
»Tatsache«
hingenommen werden müß|A3 33|ten; auch sie sind vielmehr das Produkt von Definitionsprozessen und Handlungsprozeduren, die darauf hin befragt werden müssen, welchem sozialen Kontext sie sich verdanken.
[047:101] Zur Erläuterung dieses für Theorie und Praxis gleichermaßen konstitutiven Sachverhaltes verwendet Cicourel Garfinkels Begriff der
»background-expectancies«
und zitiert ihn:
[047:102]
»The member of the society uses background expectancies as a scheme of interpretation. In their terms, actual appearances are for him recognizable and intelligible as the appearances of familiar events. Demonstrably he is responsive to this background. At the same time he is at a loss to tell us what specifically the expectancies consist of. When we ask him about them he has little or nothing to say ... The anticipation that persons will understand, the occasionality of expressions, the specific vagueness of references, the retrospective-prospective sense of a present occurrence, waiting for something later in order to see what was meant before, are sanctioned properties of common discourse. They furnish a background of seen but unnoticed features of common discourse whereby actual utterances are recognized as events of common, reasonable, understandable, plain talk«
(Garfinkel nach Cicourel 1968, S. 7 f.)
.
[047:103] Das Entscheidende am Begriff der
»Hintergrunderwartungen«
(background-expectancies) ist die Behauptung, daß es sich dabei um sozial sanktionierte Merkmale der alltäglichen Verständigung (common discourse) handelt, um die
»allgemeinen Interpretationsregeln, nach denen der Handelnde die Situation des Alltags und sich selbst definiert«
(Habermas 1967, S. 117)
. Was für gegebene Individuen in gegebenen sozialen Kontexten als normal gilt, das bemißt sich nach jenen im
»common discourse«
eingespielten Interpretationsregeln. Die Behauptung, daß solche Regeln
»eingespielt«
werden, soll darauf verweisen, daß die Hintergrunderwartungen nicht Merkmale einzelner Individuen zusammenfassen, sondern Merkmale von Interaktionsmustern. Die Regeln also, nach denen der einzelne Ereignisse wahrnimmt und seine Wahrnehmungen interpretiert, enthalten immer auch die Unterstellung, daß auch andere in eben der gleichen Weise wahrnehmen und interpretieren. Die Reichweite, in der diese Unterstellung tatsächlich auch zutreffend ist, steckt den Horizont der Lebenswelt ab. Übereinstimmung oder Nicht-Übereinstimmung von Lebenswelten läßt sich dann dadurch prüfen, daß der Forscher seine Aufmerksamkeit darauf richtet:
|A3 34|
  • [047:104] mit welcher Wahrscheinlichkeit bestimmte Ereignisse in einem bestimmten sozialen Kontext vorkommen, d. h. wie
    »typisch«
    sie sind;
  • [047:105] wie sich für die Beteiligten Ereignisse mit anderen vergleichen lassen;
  • [047:106] wie Ereignisse miteinander verknüpft werden, zum Beispiel welche ursächlichen Beziehungen, welche Zweck-Mittel-Beziehungen angenommen werden;
  • [047:107] wie die Ereignisse sich in
    »moralische«
    Ordnungen einordnen und welche moralischen Ordnungen als handlungsleitend unterstellt werden
    (Cicourel 1970, S. 293)
    .
[047:108] Die Überlegungen Garfinkels und Cicourels gehen auf die phänomenologischen Analysen von Alfred Schütz zurück. Nicht an substantieller Theorie als vielmehr an erkenntniskritischen Fragen interessiert, hat Schütz allerdings den Begriff der Lebenswelt und ihrer Konstitution auf das einzelne Subjekt als ein erkennendes bezogen. Es heißt bei ihm:
[047:109]
»Zu jedem Augenblick meiner Existenz finde ich mich im Besitz eines gewissen Ausschnittes des Universums, den ich in der natürlichen Einstellung kurz
meine Welt
nenne. Diese Welt besteht aus meinen aktuellen und meinen früheren Erfahrungen von bekannten Dingen und ihren Beziehungen untereinander. Natürlich sind sie mir in verschiedenem Ausmaß und in mannigfachen Graden der Klarheit, Deutlichkeit, Konsistenz und Kohärenz bekannt. Diese Welt besteht auch aus einigen mehr oder minder leeren Erwartungen von noch nicht erfahrenen Dingen, die deswegen noch nicht bekannt sind, aber meiner möglichen Erfahrung trotzdem zugänglich sind und somit von mir potentiell gewußt werden können. Meine Welt, in der ich bisher gelebt habe und in der ich durch die Idealisierung des
und so weiter
, die für meine natürliche Einstellung so wichtig ist, erwarte, weiterhin zu leben, diese Welt ist von jeher typisch der Erweiterung fähig. Sie ist notwendig eine offene Welt. Mit anderen Worten: meine Welt trägt den Sinn, schon seit jeher ein Sektor einer höheren Einheit zu sein, die ich das Universum nenne: der offene äußere Horizont meiner Lebenswelt. Die Möglichkeit, die Lebenswelt zu überschreiten, gehört zur ontologischen Situation der menschlichen Existenz. Was wir subjektiv erfahren, bestimmt unser Wissen vom permanenten
In-der-Situation-sein
, dessen Umstände autobiographisch bestimmt sind. Desgleichen bekundet sich die menschliche Existenz im Auftauchen von neuartigen Erfahrungen, die nicht auf die Gesamtsumme meines aktuellen und antizipierten lebensweltlichen Wissens bezogen sind«
(Schütz 1971, S. 179 f.)
.
|A3 35|
[047:110] Diese ich-zentrisch formulierten Sätze dürfen freilich nicht so verstanden werden, als lägen die letzten zu ermittelnden empirischen Bedingungen von Lebenswelten im Bewußtsein der Subjekte. Vielmehr ist das, was sich für ein bestimmtes Subjekt als Lebenswelt konstituiert, über seine Biographie sowohl mit Traditionen wie mit anderen Biographien verknüpft, und zwar dadurch, daß sich
»meine Welt«
überhaupt nur in Verschränkung mit anderen
»Welten«
, nur auf dem Wege über Interaktionen, nur als soziale Wirklichkeit konstituiert. Die Lebenswelt
»ist der Rahmen, innerhalb dessen für uns Möglichkeiten offen stehen, der Ort der Verwirklichung aller unserer offenen Möglichkeiten, die Gesamtsumme aller Umstände, die unserer autobiographischen Situation entsprechend ausgewählt und von ihr bestimmt werden«
(Schütz 1971, S. 181)
. Die Lebenswelt also steckt den Rahmen ab, innerhalb dessen pädagogische Fragen entstehen. Ihre Analyse erst hebt diejenigen Inhalte hervor, an denen sich Lern-Intentionen entzünden, gibt die relevanten Interaktionen für Lernaufgaben an, legt die Bezugsgruppen nahe, an denen sich das Lernen orientiert usw.; kurz:
»Lebenswelt«
ist der Ausdruck für den primären Konstitutionszusammenhang pädagogischer Felder. Wenn diese Behauptung zutreffend ist, dann wäre der erste Schritt erziehungswissenschaftlicher Analysen die theoretische Rekonstruktion von Lebenswelten.
[047:111] In der bisherigen Darstellung steckt eine Ungenauigkeit: Was von Schütz als Konstitutionsbedingungen der Lebenswelt herausgearbeitet wurde, geschah in erkenntniskritischer Absicht. Die Konsequenz, die wir daraus ziehen, liegt jedoch auf einer anderen Ebene: auf der Ebene des Objektbereichs der Erziehungswissenschaft. Was Schütz im Hinblick auf den Forscher analysiert, wenden wir also auf die Gegenstände an, denen der Forscher sich zuwendet. Das könnte eine Erschleichung genannt werden. Angesichts des erziehungswissenschaftlichen Gegenstandes aber erscheint eine solche Übertragung legitim: Das Erziehungshandeln nämlich, das wir als den Gegenstand der Erziehungswissenschaft behaupten, hat den Zweck, erkenntnis- und handlungsfähige Subjekte hervorzubringen. Die Frage nach den Bedingungen des pädagogischen Feldes im Kontext von Lebenswelten ist damit also die Frage nach den Konstitutionsbedingungen für das Bilden von Erkenntnis- und Handlungsfähigkeit. Diese aber sind in
»Lebenswelten«
gegeben, allerdings nur dann, wenn nicht nur
»meine Welt«
, sondern ein |A3 36|objektiver Kommunikationszusammenhang mit dem Begriff Lebenswelt gefaßt wird. Die Frage ist also, auf welche Weise das zunächst noch abstrakte Postulat der Lebenswelt-Analyse erziehungswissenschaftlich eingelöst werden kann.
[047:112] Wer sich anschickt, eine solche Einlösung zu versuchen, hat es mindestens mit den folgenden Fragen zu tun:
  1. 1.
    [047:113] Lassen sich objektive Merkmale von Lebenswelten angeben, die den Spielraum dessen, was pädagogisch möglich ist, definieren?
  2. 2.
    [047:114] Ist es sinnvoll, hinter solche objektiven Merkmale zurückzufragen nach den Bedingungen, die diese Merkmale erzeugen, d. h. läßt sich ein gesellschaftlicher Konstitutionszusammenhang für Lebenswelten angeben?
  3. 3.
    [047:115] Ist die Annahme sinnvoll, daß das Heranwachsen des Individuums unter anderem dadurch charakterisiert ist, daß es – zunächst nacheinander, später gleichzeitig – mit verschiedenen Lebenswelten konfrontiert wird?
  4. 4.
    [047:116] Ist die Annahme sinnvoll, daß die verschiedenen Lebenswelten sich zueinander verhalten wie Instanzen, die mit unterschiedlicher Macht ausgestattet sind?
  5. 5.
    [047:117] Kann daraus die weitergehende Vermutung abgeleitet werden, daß die Erkenntnis- und Handlungsfähigkeit der Heranwachsenden sich nach Maßgabe solcher Dominanz-Verhältnisse bildet?
  6. 6.
    [047:118] Läßt sich nachweisen, daß die objektiven Merkmale von Lebenswelten – und zwar im Hinblick auf andere – unter anderem Dominanz-(Herrschafts-Gewalt-)Beziehungen enthalten, die als Folge des gesellschaftlichen Ortes dieser Lebenswelten interpretiert werden müssen?
  7. 7.
    [047:119] Ist es infolgedessen sinnvoll, Lebenswelten nach Graden von Deprivation zu unterscheiden? Deprivierte Lebenswelten wären dann solche, für die spezifische, aber aufhebbare Beschränkungen von Erkenntnis- und Handlungsfähigkeit nachweisbar sind und für die gilt, daß solche Beschränkung im pädagogischen Feld reproduziert wird?
  8. 8.
    [047:120] Ist die dabei vorgenommene normative Unterstellung, so als gäbe es ein objektives Maß für Deprivation, legitim oder ist diese Unterstellung nicht viel mehr eine Folge meiner eigenen Lebenswelt?
  9. 9.
    [047:121] Um diese Frage zu prüfen, ist es offenbar erforderlich, daß der Begriff
    »objektive Merkmale der Lebenswelt«
    entfaltet |A3 37|wird, und zwar sowohl im Hinblick auf die Dimensionen, in denen Merkmale identifizierbar werden, wie im Hinblick auf die empirische Beschreibung historisch gegebener Lebenswelten in solchen Dimensionen.
  10. 10.
    [047:122] Ist es schließlich sinnvoll, für Lebenswelten anzunehmen, daß wir es einerseits mit offen thematisierten Problemgehalten zu tun haben (mit direkt beobachtbaren Inhalten der Kommunikationen), andererseits aber auch ein Begriff von
    »unterdrückten Problemgehalten«
    erforderlich ist, weil erst mit seiner Hilfe erschlossen werden kann, was an möglicher Erkenntnis- und Handlungsperspektive in der Lebenswelt enthalten ist? Struktur und Funktion pädagogischer Felder könnten dann danach beschrieben und beurteilt werden, wie sie sich zu den Phänomenen
    »unterdrückter Problemgehalte«
    verhalten. Ein theoretisches Beispiel für solche Unterscheidung ist die Differenz von
    »Klassenlage«
    und
    »Klassenbewußtsein«
    : Ist
    »Klassenlage«
    der Ausdruck für ein Ensemble objektiver Merkmale –
    »Lebenswelten«
    wären dann die notwendigen Differenzierungen innerhalb der Klassenlage –, so ist
    »Klassenbewußtsein«
    der Ausdruck für unterdrückte, nicht explizit gemachte, aber durch Aufklärung explizierbar zu machende Problemgehalte.
[047:123] Im Lichte dieser Fragen zeigt sich der Sinn der Einführung des Begriffs
»Lebenswelt«
. Wir wollen ihn hier am Beispiel von
»Deprivation«
näher erläutern: Die Bildungs- und Erziehungsforschung der letzten Jahrzehnte ist sich darin einig, daß die Lernchancen bestimmter sozialer Gruppen als
»depriviert«
gelten können. Dabei hat der Begriff Deprivation (Verarmung) zwei Aspekte: Er verweist nämlich einerseits auf das Resultat vorgängiger Lernprozesse, auf den Stand also, den ein Individuum in verschiedenen Bereichen seiner Verhaltensmöglichkeiten erlangt hat. So wird z. B. von affektiver Deprivation (z. B. Hospitalismus), von kognitiver Deprivation (z. B. Sprachverhalten), innerhalb der kognitiven Deprivation wiederum von spezifischen Sektoren von Verarmung und Deprivation im sensomotorischen Bereich, im Bereich des sozialen Verhaltens usw. gesprochen. Andererseits verweist der Begriff zugleich auf die vermuteten Ursachen solchen Zurückbleibens im Lern- und Leistungsverhalten, besonders auf den Komplex von Bedingungen, der in der Regel mit dem Ausdruck
»sozio-ökonomische Lage«
zusammengefaßt wird. Als eine extreme Ver|A3 38|anschaulichung solcher Deprivationen kann die Lebenslage von
»multi-problem-families«
(Birke 1971)
bzw. von Familien in Notunterkünften (Haag 1971) gelten. Es zeigt sich in diesen Fällen, daß längeres Verbleiben in solchen Situationen ein Kommunikations- und Bezugsfeld etabliert, in welchem die Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsorientierungen sich auf einem bestimmten Niveau einspielen und so den relativ stabilen Horizont einer Lebenswelt darstellen. Wer in dieses Kommunikationsfeld dauerhaft eingebunden ist, nimmt Situationen nach den in dieser Lebenswelt geltenden Kriterien wahr, definiert die Situationen und die in ihnen möglichen Handlungsalternativen nach den in der Lebenswelt geltenden Standards und Regeln, hat eine bestimmte Meinung über wichtige und unwichtige Probleme und antizipiert einen bestimmten Spielraum für Problemlösungen; desgleichen werden für ihn bestimmte Inhalte thematisch, andere bleiben irrelevant; manche Inhalte werden expliziert, andere bleiben tabuiert. Das gilt natürlich nur tendenziell.
[047:124] Der oben schon skizzierte Einwand Cicourels offenbart hier nun den Sinn der Einführung des Begriffs
»Lebenswelt«
. Die Bestimmung eines besonderen Verhaltens, einer besonderen Erziehungspraxis bzw. der Struktur eines besonderen Erziehungsfeldes als depriviert orientiert sich in der Regel an einem Maß, das selbst nicht mehr problematisiert wird. Ebenso wie Cicourel für das Jugendrechtsystem behauptet, daß es gegenüber der Lebenswelt der Delinquenten eine fremde mit Macht ausgestattete und deshalb für die Delinquenten entfremdende Instanz sei, läßt sich nun für unseren Fall behaupten, daß die Bestimmung einer Lebenswelt als
»depriviert«
insgeheim die Standards der gesellschaftlich mächtigeren Gruppe anwendet. So wird zum Beispiel die Deprivation von Unterschichtkindern – der hier ins Auge gefaßte Fall ist nichts anderes als eine extrem ausgelesene Gruppe von Unterschicht-Familien – in der Regel an denjenigen Leistungen gemessen, die innerhalb unseres Schulsystems normativ Geltung beanspruchen. Aufhebung von Deprivation wird unter solcher Voraussetzung natürlich nur gedacht als ein lineares Aufholen eines Lernrückstandes, d. h. aber, daß auf diese Weise eine Lebenswelt, und zwar die gesellschaftlich mit größerer Macht ausgestattete, gegen eine andere, und zwar die gesellschaftlich schwächere, ausgespielt wird. Über die Legitimation der im Begriff Deprivation gesetzten Maße ist in solchem Verfahren noch nicht das Mindeste |A3 39|ausgemacht. Für die Frage der Legitimität ist es ja nicht hinreichend, darauf hinzuweisen, daß diejenigen Orientierungen, für die Geltung beansprucht wird, die größere gesellschaftliche Verbreitung genießen oder die Orientierungen von herrschenden Gruppen sind. Wie legitim ist also zum Beispiel eine kompensatorische Vorschul- oder Schulerziehung, die sich an den herrschenden Standards ausrichtet? Diese Frage muß in zwei Richtungen beantwortet werden: Einerseits erzwingt sie eine Reflexion auf die Legitimität von Erziehungs- und Lernzielen und die Beantwortung der Frage, ob überhaupt Lernzielbegründungen möglich sind, die allgemeine Geltung beanspruchen können; andererseits wird die Prüfung der Fragen nötig, welches
»Recht«
den sogenannten deprivierten Lebenswelten innewohnt und welche Lern- und Handlungsperspektiven sich von diesen Lebenswelten erschließen, ohne den konstatierten Restriktionen zu verfallen. Offenbar kann dieses Problem nur geklärt werden, wenn wir uns zunächst auf detaillierte Analysen solcher Lebenswelten einlassen, um die ihnen immanenten Regeln zu ermitteln.
[047:125] Wenngleich mit einem anderen theoretischen Interesse unternommen, haben doch die am Begriff der Subkultur orientierten Untersuchungen einige Anregungen im Hinblick auf die Richtung ergeben, die für die Erziehungswissenschaft hier einzuschlagen wäre; so hat etwa W. B. Miller mit Hilfe des Begriffs
»focal concerns«
(Kristallisationspunkte) versucht, diejenigen Dimensionen zu ermitteln, in denen sich die Handlungsorientierungen der Unterschicht konstituieren. Er hat dies unter anderem auch in der Absicht getan, die Verhaltensorientierungen der Mittelschicht nicht unbefragt in die Theorien über Jugenddelinquenz eingehen zu lassen. Das Ergebnis seiner Untersuchung teilt er in der auf der folgenden Seite abgedruckten Tabelle mit
(Miller in: Sack/König [Hg.] 1968)
.
[047:126] Das in unserem Zusammenhang Interessante dieser Tabelle ist die Behauptung, daß die dominanten Orientierungen der Unterschicht, nach denen entschieden wird, welches Verhalten Prestige verleiht und welches nicht, durchaus andere sind, als die, die einem Akademikerkind vermittelt werden. Man kann natürlich weitergehen als Miller und prüfen, wieweit die von ihm verwendeten Begriffe tatsächlich für die Lebenswelt spezifisch sind, oder ob nicht auch in diese Beschreibung auf dem Wege über ein bestimmtes Vokabular wiederum Orientierungen eingegangen sind, die der Lebenswelt selbst nicht primär zugehören.
|A3 40|
[047:127]

Kristallisationspunkte der Unterschichtkultur

Gebiet Wahrgenommene Alternativen
(Zustand, Qualität, Bedingung)
1. Schwierigkeiten gesetzliches Verhalten gesetzwidriges Verhalten
2. Härte physische Tapferkeit,
»Maskulinität«
, Furchtlosigkeit, Mut, Wagemut
Schwäche, Unangepaßtheit, Weiblichkeit; Schüchternheit; Feigheit, Vorsicht
3. Geistige Wendigkeit Fähigkeit zu übervorteilen, zu täuschen, jemanden hereinzulegen;
durch
»Gewitztheit«
Geld zu verdienen; cleverness, Schlagfertigkeit
Gutgläubigkeit,
»Vertrauensseligkeit«
; durch harte Arbeit Geld verdienen; Langsamkeit, Beschränktheit, verbale Hilflosigkeit
4. Erregung Spannung; Risiko, Gefahr; Abwechslung, Aktivität Langeweile;
»Apathie«
, Sicherheit, Gleichförmigkeit, Passivität
5. Schicksal vom Schicksal begünstigt,
»Glück«
haben
vom Schicksal benachteiligt,
»Pech«
haben
6. Autonomie Freisein von äußerlichem Zwang; Freisein von übergeordneter Autorität; Unabhängigkeit Vorhandensein von äußerlichem Zwang; Vorhandensein starker Autorität Abhängigkeit,
»umsorgt werden«
|A3 41|
[047:128] Eine ähnliche Frage kann man an den Sinn der Unterscheidung in verschiedene soziale Schichten stellen: auch der Begriff
»sozio-ökonomische Lage«
muß nicht unbefragt akzeptiert werden. Allerdings besteht kein Zweifel, daß gerade die Berücksichtigung sozio-ökonomischer Faktoren in der Erziehungsforschung einen wesentlichen Schritt darstellte. Aber drückt sich nicht in diesen an
»Besitz und Bildung«
orientierten sozialen Positionsskalen auch das Regelsystem einer bestimmten Lebenswelt aus, die nicht die Lebenswelt
»deprivierter«
Gruppen ist? Solche Fragen machen deutlich, daß als Voraussetzung für eine sinnvolle, erziehungswissenschaftliche Analyse von Lebenswelten, d. h. als Voraussetzung dafür, daß Erziehungsfelder im Kontext von Lebenswelten angemessen interpretiert werden können, eine wissenschaftliche Arbeit in zwei Richtungen erforderlich ist: Zum einen bedarf es einer genauen phänomenologischen Rekonstruktion von Kommunikationszusammenhängen, in denen heranwachsende Individuen lernen und handeln; zum anderen bedarf es eines – wie immer vorläufigen – theoretischen Rahmens, in dem Komponenten und Faktoren identifiziert werden können, die als die gesellschaftlichen Konstitutionsbedingungen für Lebenswelten angenommen werden können.

Erziehungsnormen

[047:129] Die zwei am Schluß des letzten Abschnittes formulierten Forderungen zielen auf
»substantielle Theorie«
, d. h. auf den faktischen Zusammenhang pädagogischer Phänomene, der in empirischer Theorie zum Gegenstand für wissenschaftliche Diskussion gemacht werden kann. Kommunikations-Theorie und Theorie der materiellen Konstitutionsbedingungen von Lebenswelten und pädagogischen Feldern sind dabei diejenigen wissenschaftlichen Ansätze, die hier als die für die erziehungswissenschaftliche Erkenntnis leitenden Paradigmata vorgeschlagen werden. Darin steckt die Behauptung, daß der Gegenstandsbereich der Erziehungswissenschaft sich aus zwei Basiskomponenten zusammensetzt. Die eine Komponente (Kommunikation) umfaßt die Tatsache, daß Erziehungshandeln immer intersubjektive Verständigung ist und infolgedessen pädagogische Aussagen immer Aussagen über den in solcher Verständigung enthaltenen oder hervorgebrachten Sinnzusammenhang sind, Aussagen über soziale Muster also, denen das Interagieren von Subjekten folgt. Die andere Komponente faßt die Tatsache, |A3 42|daß diese Interaktionen – ich formuliere das vorläufig sehr vorsichtig und noch unbestimmt – mit einem gesellschaftlichen Substrat verknüpft sind, das sich zum Beispiel als System gesellschaftlicher Arbeitsteilung (Oevermann 1970), als kapitalistisches Tauschprinzip oder, abstrakter, als Produktion oder Arbeit bestimmen ließe. Was dies im einzelnen, d. h. im Sinne von Aussagen über faktisch geschehende Erziehung heißt, soll an späterer Stelle erörtert werden.
[047:130] Es steckt nämlich in unserer Forderung noch ein zweiter Aspekt, der hier ausführlicher diskutiert werden muß: Der Ausdruck
»intersubjektive Verständigung«
enthält, wenn
»Verständigung«
nicht nur Austausch von Informationen, sondern auch Konsensus bedeuten soll, eine methodologische Grundfrage der Erziehungswissenschaft: Versteht sie sich als Sozialtechnologie oder kann sie einem Postulat folgen, das den empirischen Erscheinungen der Erziehung gegenüber transzendental ist und für die Theorie ein normatives Minimum auf eine legitimierbare Weise setzt? Die Frage nach dem gesellschaftlich-historischen Substrat dagegen verweist auf die andere methodologische Grundfrage: Muß nicht alle Pädagogik, also das Handeln und das Denken, notwendig auf seine materiell-gesellschaftlichen Konstitutionsbedingungen zurückgeführt werden und damit als ein im ganzen ideologisches Teilsystem der bürgerlichen Gesellschaft gelten können?
[047:131] Ich wende mich zunächst der ersten Grundfrage zu.
[047:132] Für Erziehungshandeln muß unterstellt werden, daß es kommunikatives Handeln ist.
»Kommunikatives Handeln«
nennen wir solches Handeln, das seine Zwecke in den daran beteiligten Subjekten selbst hat; das nicht auf Naturbeherrschung direkt aus ist (also auch nicht
»Produktion«
ist), sondern Verständigung über Sinn-Orientierungen und Handlungsziele erreichen will. Das pädagogische Handeln ist von dieser Art. Der Heranwachsende, der Educandus, soll im Erziehungsvorgang hervorgebracht werden als ein Subjekt, das zur Beteiligung am gemeinschaftlichen Leben fähig ist, und zwar nicht nur im Sinne einer funktionalen Handlungsfähigkeit, sondern auch im Sinne von Erkenntnisfähigkeit. Für die Ebene alltäglicher Kommunikation heißt das, daß der Educandus hervorgebracht werden soll als ein Subjekt, das sich in gegebene Sinnzusammenhänge einfügen, die in diesen Zusammenhängen eingespielten Standards problematisieren, auf der Basis solcher |A3 43|Problematisierung zu neuem Konsensus und neuem Handeln fähig sein soll.
[047:133] Es könnte eingewandt werden, daß es sich bei dieser
»Zweckbestimmung«
von pädagogischem Handeln um eine Setzung handelt, die als historische aus dem Kontext des wissenschaftlich Legitimierbaren herausfalle, eine präskriptive Aussage also, die allenfalls Gegenstand von wissenschaftlicher Analyse, nicht selbst aber wissenschaftlicher Satz sein könne. Das aber ist nicht der Fall. Wir behaupten, daß diese Zwecksetzung auf Unterstellungen beruht, die nicht beliebig revidierbar, sondern notwendig sind, wenn überhaupt ein kritischer Begriff von Erziehungswissenschaft möglich sein soll.
[047:134] Es geht also um nichts anderes als um die Frage, auf welchen Ebenen Lernzielprobleme diskutiert und legitimiert werden müssen. In der Erziehungswissenschaft finden wir die folgenden Haupttypen von Lernzieldiskussionen:
[047:135] 1. Lernziele werden als historische Daten verstanden, die hermeneutisch aus den dokumentierten pädagogischen Handlungszusammenhängen rekonstruiert werden können. Sie werden verstanden als die impliziten Orientierungen, denen das Erziehungshandeln folgt und die durch historische Analyse explizit gemacht werden können. Dabei wird methodisch unterstellt, daß die normativen Orientierungen, denen das Erziehungshandeln einer bestimmten Epoche und bestimmten Kultur folgt, eine Kontinuität bilden, und daß diese Orientierungen zusammengefaßt im
»Bildungsideal«
eine historisch anschauliche Form gewinnen. Angesichts der Kultur, der der Wissenschaftler selbst angehört, ergibt sich für ihn die Aufgabe, aus der Praxis und ihren Dokumenten die geltenden und pädagogisch relevanten Werte herauszuarbeiten. Wie der Künstler, der den
»Geist der Zeit«
und damit auch das pädagogisch Normative in anschauliche Bilder faßt, beteiligt sich auch die Erziehungstheorie an diesem Prozeß der Stilisierung des gesellschaftlich Verschiedenen, um sein gemeinsam Verbindliches zu ermitteln.
[047:136]
»Was wahre und echte Bildung sei, das ergibt sich anschaulich aus den Lebensformen, die in einem historisch bestimmten Lebenskreis als gültig empfunden werden. ... Weder der Erzieher noch der Zögling sind darauf angewiesen, über ein rechtes Bildungsideal nachzugrübeln, und es verriet ein Mißverstehen der pädagogischen Theorie, wenn in der öffentlichen Diskussion vorausgesetzt wurde, der Erzieher müsse ein Bildungsideal formulieren und sich daran |A3 44|binden, wenn er folgerecht wirken wolle. Solche Ideale werden weder bewußt konstruiert noch kann ihre Gültigkeit wissenschaftlich nachgewiesen werden; ... eine wirklich plastische Lebensform wird nicht von einem einzelnen ersonnen, sie ergibt sich durch das Zusammenströmen vieler Motive, aus der beispielgebenden Kraft von Gemeinschaften, in denen sich die geistig und moralisch führenden und schöpferischen Persönlichkeiten sammeln und von denen dann eine neue Kraft ausstrahlt; diese ist ungewollt und gewollt auch erzieherisch. Die Ideale menschlicher Ordnung und persönlicher Form erscheinen in einem solchen Kreis sodann als Bilder, die von wirklichen Mustern abgezogen und poetisch oder bildnerisch dann auch in Steigerung dargestellt werden. Von diesen Bildern wieder geht eine pädagogische Kraft aus, die ebenfalls gar nicht beabsichtigt zu sein braucht. In dieser Art ist das Ziel der Erziehung in einem erziehenden Gemeinleben bereits anschaulich vorgegeben, und sowohl die Jugend wie die Erzieher haben dies Vorbildliche vor Augen und im Sinn. Es übt eine Zensur aus, die förderlich, aber auch drückend und hemmend sein kann. Denn diese Ideale sind doch immer nur historische und typische Weisen, das Eigentlich-Menschliche unter bestimmten Verhältnissen sich vorzustellen«
(Flitner 1950, S. 128 f.)
.
[047:137] Diese komplexen
»Ideale«
konstituieren sich indessen in Dimensionen, die als allgemein geltend behauptet werden, weil sie notwendig als Dimensionen der pädagogischen Aufgabe gedacht werden müßten: in der somatischen, biologischen Dimension (
»Gesundheit und Leistungsfähigkeit«
), in der gesellschaftlichen Dimension (
»Tüchtigkeit«
und
»Bildung für das politische Gemeinwesen«
), in der Dimension des
»geistigen Verstehens«
(
»in der Geisteswelt heimisch werden«
) und in der religiösen Dimension (
»verstehend und tätig in die Kirche ... eingliedern«
)
(a. a. O.)
.
[047:138] An solchen Bestimmungen zeigt sich die Aporie dieses – unter dem Namen geisteswissenschaftliche Pädagogik bekanntgewordenen – Typus von Erziehungstheorie. In der Nachfolge Diltheys zu historisch-inhaltlicher Analyse verpflichtet, geraten die Dimensionen gerade nicht als allgemein-konstituierende, sondern als Dimensionen eines historischen Typus von pädagogischem Bewußtsein; so in der Trennung von Körper, Gesellschaft und Kultur oder in der Bestimmung der religiösen Dimension als christliche Überlieferung. Die Unterscheidung der gesellschaftlichen von der kulturellen (
»geistigen«
) Dimension wiederholt ein historisches Strukturelement bürgerlichen Bewußtseins: die Trennung der Sphäre der
»Utilität«
von der der
»höheren Geistigkeit«
, der Ökonomie von der Kultur, der Basis vom Überbau. Jenseits der Reproduktion des historisch Vorgegebenen vermag ein solcher Ansatz nichts.
|A3 45|
[047:139] 2. Gegen eine solche Behandlung des pädagogischen Normenproblems ist von erfahrungswissenschaftlicher Seite vorgebracht worden, daß dort eine wissenschaftlich unzulässige Vermischung von Deskription und Wertung vorliege. Normen (also Anweisungen für das Verhalten), Werte (also abstrakte Begriffe bzw. Kriterien, an denen die Normen orientiert werden) und Werturteile (d. h. Sätze, in denen Gegenständen, Beziehungen oder Handlungen Wert zugesprochen wird) würden nicht hinreichend auseinandergehalten, was eine rationale Diskussion der Wert- und Normenproblematik mindestens erschwere. Sätze über das Sollen würden als Sätze über Seiendes ausgegeben, oder es würde irrtümlicherweise beansprucht, aus der Analyse des Seienden Sollens-Forderungen ableiten zu können. Um die wissenschaftliche Erziehungstheorie ganz von solchen Schwierigkeiten freizuhalten, definiert Lochner:
[047:140]
»Erziehungswissenschaft ist diejenige theoretische, selbständige,
reine
Wissenschaft (Wissenschaft im exakten Sinn, genommen als
Grundlagenforschung
), die sich auf die Gesamtheit der Erziehungserscheinungen (Vorgänge und Abläufe sowie Unternehmungen, dynamische und statische Phänomene, Gestalten und Ergebnisse) richtet, sie feststellend, beschreibend aus der Fülle der sonstigen Lebenserscheinungen heraushebt, als eigentümliche Gegenstände betrachtet, erklärt, zu verstehen und zu deuten sucht. Sie unternimmt es, einen bestimmten Ausschnitt aus der Wirklichkeit mit Hilfe vorgefaßter, vorläufiger Begriffe zu erfassen, zu sichten, zu durchleuchten. So gesehen ist sie eine phänomenologische Einzeldisziplin oder
Tatsachenforschung
im eigentlichen Wortsinn und nichts weiter. Sie unterscheidet sich in diesem ihrem positiven, deskriptiv-empirischen, explikativen Charakter nicht oder nicht wesentlich von anderen ähnlichen Wissenschaften, zum Beispiel von der Nationalökonomie, der Psychologie, der Biologie«
(Lochner 1963, S. 415)
.
[047:141] Um nun die Probleme der Begründung und Kritik von Lernzielen, also pädagogisch relevanten Werten und Normen, nicht völlig aus dem Kontext wissenschaftlicher Erziehungstheorien auszuschließen, postuliert Brezinka (1971) neben der
»theoretischen Erziehungswissenschaft«
eine
»Moralphilosophie der Erziehung«
. Geht es in der theoretischen Erziehungswissenschaft um die Deskription von empirisch vorgefundenen Erziehungsnormen, um die Fragen ihrer Herkunft und um die Probleme der zweckmäßigsten Mittelwahl, so geht es in der Moralphilosophie der Erziehung um
»vernünftige Gründe«
für normative Sätze, um das Einhalten der Regeln der Logik bei solchen Sätzen, deren klare Formulierung, Prüfung auf Realisierbarkeit |A3 46|und Auswirkung hin. Der
»Moralphilosoph der Erziehung«
aber bleibt immer auf die theoretische Erziehungswissenschaft als eine empirisch-analytische Disziplin angewiesen, nicht umgekehrt.
[047:142] Erfahrungswissenschaftliche Belehrungen dieser Art wurden in der Erziehungswissenschaft von ihren geisteswissenschaftlichen Vertretern akzeptiert. So heißt es, das Problem der Erziehungsziele zusammenfassend, bei Klafki:
[047:143]
»Erziehungswissenschaft kann – in Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaften – zur rationalen Begründung und zur Sicherung der Überprüfbarkeit von Erziehungszielen beitragen und diese Überprüfung durchführen, indem sie
  1. 1.
    [047:144]
    die historischen Hintergründe aktueller Zielformulierungen und in der Erziehung mitwirkender Normen aufklärt,
  2. 2.
    [047:145]
    ideologiekritische Untersuchungen durchführt,
  3. 3.
    [047:146]
    die Eindeutigkeit oder Vieldeutigkeit oder die logische Stimmigkeit oder Unstimmigkeit von Zielsystemen oder Zielkomplexen herausarbeitet,
  4. 4.
    [047:147]
    die in allen Zielsetzungen steckenden Annahmen über die Wirklichkeit überprüft,
  5. 5.
    [047:148]
    die Erwartungen über die Realisierbarkeit und
  6. 6.
    [047:149]
    die möglichen ungewollten Nebenwirkungen bestimmter Zielsetzungen der Kontrolle empirischer Forschung unterzieht«
    (Klafki 1970, Band II, S. 50 f.)
    .
[047:150] Die wissenschaftliche Konsequenz dieser Aufgabenbestimmung läßt sich an der gegenwärtigen Diskussion innerhalb der Curriculumforschung illustrieren. Die Curriculum-Forschung ist in besonderer Weise mit Ziel-Fragen befaßt und von der Erörterung der Wert- und Normproblematik abhängig:
[047:151] Das organisierende Prinzip jedes Curriculums ist der Begriff eines zu erreichenden Endzustandes derjenigen Individuen, die ein Curriculum in einer Sequenz von Lernvorgängen durchlaufen. Die einzelnen Lernschritte, die Teilziele, die Auswahl der Inhalte und Methoden müssen von dem Begriff dieses Endzustandes her legitimiert werden. Das ist zwar in allen Erziehungsvorgängen der Fall; für die Curriculumforschung wird diese Frage indessen zu einem wissenschaftlichen Schlüsselproblem, weil es hier nicht nur um Deskription und Erklärung von faktisch geschehender Erziehung geht, sondern um eine wissenschaftliche Konstruktionsaufgabe mit innovatorischer Absicht: Curriculum-Forschung, Curriculum-Revision und Curriculum-Konstruktion bezeichnen nur verschiedene Aspekte des gleichen erziehungswissenschaftlichen Forschungszweiges. Die |A3 47|Ziel-Frage also wird zur Frage nach der Legitimations-Basis des ganzen Verfahrens. Dabei ist die zieladäquate Konstruktion eines Curriculums von der Ermittlung der für das Curriculum leitenden Ziele selbst zu unterscheiden. Nur die zweite Frage ist hier von Interesse.
[047:152] Vergleichen wir die Praxis der Curriculum-Forschung mit dem von Klafki gegebenen Aufgaben-Katalog, dann zeigt sich weitgehende Entsprechung. Historische Hintergründe aktueller Zielformulierungen – und dazu gehört auch der zeitgeschichtliche Kontext von Erwartungen an das Erziehungssystem – werden in Form von Lehrplan-Analysen, Ermittlungen des gesellschaftlichen Qualifikationsbedarfs, Analyse von Anwendungssituationen usw. aufgeklärt oder zumindest doch beschrieben. Lehrinhalte, Lehrplan und Qualifikationserwartungen werden auf Interessenlagen und ideologische Kontexte hin geprüft und der kritischen Analyse unterzogen; ein Beispiel dafür geben die Untersuchungen zu Inhalt und Ideologie politischer Bildung (Nitschke 1966; Becker/Herkommer/Bergmann 1967; Teschner 1968). Zielformulierungen werden auf ihre Genauigkeit, Stimmigkeit und Operationalisierbarkeit – d. h. auf ihre Umsetzbarkeit in Merkmale des Erziehungshandelns – überprüft; Beispiele dafür sind die Analysen der Sprache von Bildungsplänen, die von Topitsch (1960) und Blankertz (1970a, S. 141 ff.) vorgenommen wurden, und die Ordnungssysteme (Taxonomien), die für die Operationalisierung von Lernzielen ersonnen werden (Krathwohl in: Achtenhagen/Meyer 1971; Blankertz 1970b, S. 146 ff.). Untersuchungen zu Rolle und Bewußtsein des Lehrers ermitteln die Zielorientierungen der pädagogisch Handelnden.
[047:153] Aber auch unabhängig vom Objektbereich der Curriculum-Forschung gibt es eine über mehrere wissenschaftliche Disziplinen verteilte Erforschung sowohl der explizit leitenden Zielvorstellungen wie auch der in den pädagogischen Handlungsvollzügen impliziten Orientierungen, die die Lernvorgänge bestimmen. In der Sozialisationsforschung werden die pädagogisch relevanten Wertorientierungen (values) und Verhaltenssteuerungen erhoben, um das normative Gefüge von Familien, Gruppen und sozialen Schichten zu beschreiben und im Kontext historisch-gesellschaftlicher Lagen aufzuklären (zusammenfassend: Christensen 1964; Kohn 1969). Die den pädagogischen Institutionen und ihren Handlungsmustern immanenten Lernziele werden über Dokumenten-Analysen, teilnehmende Beob|A3 48|achtung, Funktionsanalysen oder Befragungen explizit gemacht (z. B. für Bewährungshilfe: Cicourel 1969; für Heimerziehung: Gefesselte Jugend 1971; für Fürsorgeorganisationen: Peters 1968).
[047:154] 3. Alle Untersuchungen dieser Art aber leiden an einem entscheidenden Mangel: sie fragen nicht nach der Legitimität der ermittelten Werte; ihre Geltung wird nur konstatiert, nicht aber in einem Begründungszusammenhang diskutiert. Die Curriculum-Forschung sieht zwar zum Teil dieses Dilemma und ersinnt darum immer kompliziertere Verfahren der empirischen Lernzielentwicklung (vgl. Robinsohn 1971; Flechsig u. a. in: Achtenhagen/Meyer 1971; Knab 1971), aus dem selbstgewählten Zirkel immer differenzierterer Reproduktion des
»Herrschenden«
aber kann sie so nicht ausbrechen. Das gilt auch für die Erziehungs-Zielforschung im außerschulischen Bereich: Lernziele, wie sie in der Sozialisationsforschung in der Form von Dimensionen oder Variablen auftauchen – starke versus schwache Leistungsmotivation, elaborierte versus restringierte Problemlösungskompetenzen, individualistische versus kollektivistische Orientierung, feldabhängiges versus unabhängiges Verhalten usw. –, werden in der Regel nicht in einem eigens zu diesem Zweck etablierten Begründungszusammenhang legitimiert, sondern aus der empirisch ermittelten Häufigkeitsverteilung bzw. aus der Bedeutsamkeit einer Dimension für institutionalisierte pädagogische Erwartungen, im Regelfall von Schule und Beruf, gewonnen. Aber solche Erwartungen tragen die Legitimität nicht in sich selbst, gleichviel ob sie von pädagogischen Einrichtungen präsentiert werden oder von Instanzen, die man als
»hinter«
diesen Einrichtungen liegend annimmt: Einzelwissenschaften im Fall von Lernzielen für Unterrichtsfächer, wirtschaftliche Instanzen im Fall von Arbeitsqualifikationen, Gemeinwesen im Fall von integrierten Sozialverhaltensweisen usw. Die Frage nach der Legitimität wird auf jeder Ebene, nach jedem Reduktionsschritt neu gestellt werden müssen.
[047:155] So unerläßlich einerseits solche empirische Ermittlung und der Regreß auf Instanzen sind, von denen angenommen werden kann, daß die zunächst beobachtete Zielstruktur eines pädagogischen Feldes in Wahrheit von ihnen produziert wird – zum Beispiel die Norm-Orientierung einer Familie von den schulischen Erwartungen, die schulischen Erwartungen von dem gesellschaftlichen Qualifikationsbedarf –, so wenig vermag sie das |A3 49|Legitimationsproblem zu lösen. Dies gilt – am Beispiel der Curriculum-Forschung – eben auch für noch so differenzierte und weit gestreute
»Expertenbefragungen«
, die über relevante Lerninhalte und Qualifikationen, über die Zielstruktur neu zu konstruierender Curricula, Auskunft geben sollen. Es
»potenzieren sich in Wirklichkeit die Probleme, denn weder darf die Auswahl solcher Experten willkürlich oder nach irgendeiner Skala pragmatischer
Wichtigkeit
vorgenommen werden, noch enthalten die im Katalog der Gegenstände und Qualifikationen gesammelten Fragen irgendein Kriterium, von dem her die Vernünftigkeit der Expertisen beurteilt werden könnte «
(Benner 1971 a, S. 317 f.)
. Die Frage nach der
»Vernünftigkeit der Expertisen«
ist natürlich die Frage nach der Möglichkeit
»vernünftiger«
Lern- oder Sozialisationsziele. Die Erziehungswissenschaft steht mit dieser Frage vor einer doppelten Schwierigkeit, die für die
»prinzipien-theoretische«
Pädagogik den Ausgangspunkt bildet.
[047:156] Was gegen die Versuche, auf empirischem Wege zu Lernzielentscheidungen zu gelangen, eingewandt wird, läßt sich grundsätzlich formulieren: Alle inhaltlichen Entscheidungen für Ziele und Zwecke der Erziehung sind Bestandteile eines historischen Kontextes, variieren also auch mit diesem; sie haben – in den wissenschaftlichen Diskussionszusammenhang als Setzungen eingebracht – die logische Form subjektiver Dezisionen, die durch Berufung auf Autoritäten (Kirche, Gruppenkonsensus, etabliertes Demokratie-Verständnis,
»unabweisliche«
Erfordernisse der Wirtschaft usw.) faktisch gestützt werden können, dadurch aber nicht an Legitimität gewinnen. Daraus muß für die Erziehungstheorie folgen, daß sie nicht – wie die alte Weltanschauungspädagogik – von obersten Sollens-Forderungen, Sinn-Normen ausgehen kann, denen sie Allgemeingültigkeit unterstellt und damit eine erschlichene wissenschaftliche Würde verleiht. Nicht betroffen von dieser Kritik aber wird die Tatsache, daß pädagogisches Handeln ohne eine
»Sollens-Struktur«
gar nicht denkbar ist. So reduziert sich das Normenproblem auf die Frage nach der Form des Bildungsprozesses bzw. auf das Postulat: Der Bildungsprozeß muß so gedacht und gestaltet werden, damit der Educandus im pädagogischen Dialog, im
»Bildungsgespräch«
(Derbolav) sich nicht vorgegebenen normativen Erwartungen fügt, sondern in die Lage versetzt wird, den Anspruch der Selbstbestimmung zu realisieren. Das Analoge gilt dann auch für das Verhältnis der Theorie zum Erzieher: |A3 50|
»Sie darf durch ihre pädagogische Sinnbestimmung dem Erzieher nicht seine inhaltlichen Entscheidungen abnehmen wollen, sie muß ihn vielmehr so in die Diskussion der Sinnproblematik einbeziehen, daß er selbst dazu aufgefordert wird, seine Entscheidung verantwortlich zu treffen«
(Schmied-Kowarzik/Benner 1970, S. 617)
.
[047:157] Die zweite Schwierigkeit, die sich aus der Forderung nach der Vernünftigkeit der Ziele ergibt, betrifft die verschiedenen Zielebenen und ihr Verhältnis zueinander. Nehmen wir an, es sei inhaltliche Einigkeit erzielt im Hinblick auf die Sinn-Normen, die auch für die Erziehung leitend sein sollen. Es bleibt dann die Frage, wie aus einer solchen übergeordneten Sinn-Norm die pädagogischen Ziele im einzelnen abgeleitet werden können. Dazu bedürfte es einer angebbaren Regel, der solche Ableitung zu folgen hätte. Meyer hat dieses Problem im Anschluß an Blankertz unter dem Namen des
»Deduktionsproblems«
bzw. der
»Deduktionshypothese«
diskutiert
(Meyer in: Achtenhagen/Meyer 1971, S. 106)
. Solche Regeln bzw. Deduktionshypothesen stehen aber nicht zur Verfügung und können prinzipiell auch nicht gebildet werden, es sei denn, wir beschränken uns bei der Formulierung von Zielen auf eng und präzise umgrenzbare Bereiche, in denen es um nichts anderes als den Erwerb technischer Kenntnisse und Fertigkeiten geht. Formulieren wir ein Lernziel wie z. B.
»eine Bohrmaschine zweckmäßig verwenden können«
oder
»den Kauf von Lebensmitteln in englischer Sprache abwickeln können«
oder
»eine Gleichung mit zwei Unbekannten lösen können«
, dann ist eine Sequenz von Lernzielen vorstellbar, die nicht beliebig ist, sondern die der Sachstruktur folgt; es muß hier also eine Regel geben, nach der aus dem allgemeineren Ziel die spezielleren deduzierbar sind. Nun ist unschwer einzusehen, daß die Beschränkung auf Ziele dieser Art eine technologische Verkürzung der Erziehungsaufgabe darstellen würde. In allen diesen Fällen nämlich kann gefragt werden – und ein Educandus, der das Fragen nicht schon verlernt hat, wird selbst so fragen –, wozu denn jene Lernziele angestrebt werden sollten. Ein damit eingeleiteter Regreß von Begründungen durch immer allgemeinere Ziele konstruiert nun aber keinen logischen Ableitungszusammenhang im Sinne theoretischer Hypothesen, sondern stellt einen Kommunikationszusammenhang mit praktischen Hypothesen dar. Am Beispiel: Was sich aus dem heute vielfach postulierten allgemeinen Erziehungsziel
»Emanzipation«
im detaillierteren |A3 51|Kontext pädagogischen Handelns als Zwischen- oder Teilziele ergibt, kann keine Theorie mit Bestimmtheit sagen, es sei denn, das, was für den Begriff
»Emanzipation«
als unverzichtbar behauptet wird, nämlich die Chance für Individuen und Gruppen, ihr Handeln selbst zu bestimmen, würde aufgegeben (aus diesem Grunde auch ist
»Emanzipation«
als Erziehungsziel nicht operationalisierbar; Emanzipation ist ein kommunikativer Begriff). Der Geltungsanspruch von Erziehungszielen nicht-technologischer Natur – und von dieser Art müssen alle allgemeineren sein, wenn der oben angeführte Frage-Regreß nicht mit Gewalt unterbunden wird – kann sich nicht vorweg auf eine wissenschaftliche Theorie stützen, sondern von ihr nur nachträglich konstruiert werden. Er erzwingt ein Stück wissenschaftlich nicht gesicherter Praxis, in der immer mehrere Alternativen als zu dem allgemeineren Ziel
»passend«
gedacht werden müssen. Der Geltungsanspruch also kann
»allein in gelingenden Prozessen der Aufklärung und d. h.: im praktischen Diskurs der Betroffenen eingelöst werden«
(Habermas 1971a, S. 10)
.
[047:158] Nun geben allerdings allgemeine Ziele oder Sinn-Normen in der Regel ein Prinzip für die
»negative Eingrenzung«
(Bockelmann1965; Blankertz 1970a) an: Es kann in einer bestimmten Zahl von Fällen eindeutig behauptet werden, daß sie mit der Norm unvereinbar sind. Mit der Sinn-Norm
»Emanzipation«
z. B. ist offenbar unvereinbar, wenn Teile der heranwachsenden Generation auf einem Niveau gehalten werden, das nur durch technologische Lernziele definiert wird; mit der Sinn-Norm einer autoritären Klassengesellschaft ist es unvereinbar, wenn für die Schulen
»kritische Kapitalismus-Analysen«
als Lernziel postuliert werden. Blankertz hat versucht, das Problem – allerdings im engeren Zusammenhang der Didaktik – schematisch darzustellen. Dieses Schema folgt hier mit einer Änderung: wo Blankertz von
»didaktischer Konzeption«
spricht, verwenden wir den Ausdruck
»pädagogische Konzeption«
(Blankertz 1970a, S. 270)
.
[047:159] Die negativen Eingrenzungen also bedeuten nicht, daß auch positiv aus der Sinn-Norm eindeutige Lernziele oder komplexere pädagogische Konzeptionen zwingend sich ergeben. Das wird zwar häufig versucht, um der eigenen Norm eine Art theoretischer Würde zu verschaffen, ist aber eine wissenschaftliche Erschleichung. Ein solcher Versuch nämlich gelingt nur unter zwei Bedingungen:
|A3 52|
Hier ist ein Schaubild zum Problem der negativen Eingrenzung in Anlehung an Herwig Blankertz zu sehen.
|A3 53|
  1. 1.
    [047:174] muß die Tatsache ignoriert werden, daß die Sinn-Norm – wenn für sie nicht Gewalt, sondern Verständigung als das Instrument ihrer Geltung unterstellt wird – in einem Prozeß praktischer Kommunikationen realisiert wird; und
  2. 2.
    [047:175] muß unterschlagen werden, daß die pädagogische Realisierung der Sinn-Norm an eine nicht generell vorhersehbare Anzahl faktischer Bedingungsfaktoren in der Erziehungswirklichkeit gebunden ist.
[047:176] 4. Was bleibt bei dieser Problemlage der empirischen Erziehungsforschung zu tun, wenn sie das Interesse hat, nicht neben der Legitimationsfrage einher zu arbeiten, sondern sich an ihr mit ihren Mitteln zu beteiligen? Wir hatten behauptet, daß der Geltungsanspruch allgemeiner Sinn-Normen erst in der praktischen Kommunikation, im
»praktischen Diskurs«
eingelöst werden könne. Nun kann dieser Diskurs zwar gedacht werden als ein Vorgang, der sich nur unter Erwachsenen, also außerhalb des Erziehungsfeldes oder an seinem Rande abspielt. Das wäre aber inkonsequent, denn es ist sicher nicht sinnvoll anzunehmen, daß am Ende eines Erziehungsprozesses sich an dem Educandus unvermittelt die Fähigkeit zur Beteiligung an diesem Diskurs zeigt; sinnvoller ist es, davon auszugehen, daß diese Fähigkeit durch eine Vielzahl von Beteiligungen im pädagogischen Feld sich bildet, d. h. daß
»praktischer Diskurs«
Derbolav:
»Das Bildungsgespräch«
; Buber:
»Das dialogische Verhältnis«
– ein reales Moment im Erziehungsprozeß darstellt. – Das setzt aber offenbar Qualifikationen voraus, die gelernt werden müssen. Fend hat solche Qualifikationen mit dem Ausdruck
»wünschenswerte Sozialisationsergebnisse«
zusammengefaßt.
[047:177]
»In Analogie zu den Forschungsergebnissen über die Entwicklung des moralischen Urteils bot sich die Befürwortung, einer internen Verhaltenssteuerung auf der Grundlage differenzierter kognitiver Bewertungsschemata an. Sie garantiert am ehesten die Unabhängigkeit von unmittelbaren sozialen Sanktionen und eine Selbststeuerung des Verhaltens angesichts sozialer Anforderungsstrukturen. Der Inhalt und die Gültigkeit von Normen werden zum Bereich der Diskussion und die Begründung des
Richtigen
und
Falschen
durch den Bezug auf Autoritätspersonen tritt in den Hintergrund. Normative Orientierungen mit diesen Merkmalen können als Grundlage für eine kreative Weiterentwicklung und Verarbeitung normativer Systeme angesehen werden. Sie bilden die wesentlichen Voraussetzungen und Komponenten
autonomen
und
emanzipatorischen
Verhaltens«
(Fend 1971, S. 38)
.
|A3 54|
[047:178] In unsystematischer Aufzählung nennt Fend die folgenden Dimensionen für wünschenswerte Sozialisationsziele:
  1. 1.
    [047:179] Innensteuerung als Voraussetzung für die Fähigkeit zur Distanz gegenüber unmittelbaren externen Kontrollen und Anforderungen;
  2. 2.
    [047:180] Realitätsbezug, d. h., internalisierte Normen sollen an der Erfahrung der Realität überprüft und modifiziert werden können;
  3. 3.
    [047:181] Rationalität, d. h., die das Verhalten regelnden Normen sollen im Verlauf des Erziehungsprozesses zunehmend mehr in Argumentationszusammenhänge eingebettet werden;
  4. 4.
    [047:182] Sensibilität, d. h., eigenes Handeln soll an den sozialen Konsequenzen, also im Hinblick auf die Handlungen, Motive und Probleme anderer Personen, sich orientieren;
  5. 5.
    [047:183] Kreativität, d. h., normative Systeme sollen selbständig und innovativ weiterentwickelt und verfeinert werden können; als Voraussetzung dafür gilt Rollendistanz und die Fähigkeit, Verhaltenserwartungen einer Metakommunikation zu unterziehen;
  6. 6.
    [047:184] soziale Extensivität, d. h., Verhaltensstandards sollen nicht auf in-groups beschränkt sein, sondern in ihrer Anwendung auch Außengruppen miteinschließen;
  7. 7.
    [047:185] Relativität, d. h. die Fähigkeit, zwischen unterschiedlichen normativen Orientierungen zu wechseln;
  8. 8.
    [047:186] Legitimitätsprüfung, d. h. die Fähigkeit, normative Anforderungen nicht nur wahrzunehmen und ihnen zu entsprechen, sondern sie auf ihre Begründbarkeit, hin zu überprüfen, also Distanz zu sozialen Erwartungen, Fähigkeit zum Legitimitätsentzug.
[047:187] Sowohl die Inhalte, die sich in diesen Dimensionen konkretisieren, wie auch die Ausprägungsgrade bleiben dabei offen. Das macht den formalen Charakter dieses Vorschlags aus. Fend hat selbst nicht versucht, seinen Vorschlag zu begründen; er vertraut auf die Plausibilität, d. h. darauf, daß angesichts derart formaler Bestimmungen sich leicht ein Konsensus wird finden lassen. Deutlich ist jedoch, daß diese Dimensionen nicht historisch beliebig sind: Die Hoffnung auf ihre Plausibilität ist dadurch begründet, daß sie – als ihren gesellschaftlich-historischen Kontext – Grundverhaltensweisen erkennen lassen, die dem Begriff eines liberal organisierten Gemeinwesens zugehören.
|A3 55|
[047:188] Fend verzichtet ausdrücklich auf eine systematische Anordnung dieser Sozialisationszieldimensionen. Wir haben deshalb auch keine Möglichkeit zu prüfen, ob sein Katalog vollständig ist oder was etwa noch fehlen könnte. Für mögliche Ergänzungen wären wir auf subjektive Einfälle angewiesen, es sei denn, wir verfügten selbst über einen theoretisch begründeten Rahmen für eine Zielsystematik. Mit dem Hinweis auf die Kongruenz jener Zieldimensionen mit dem Begriff eines liberal verfaßten Gemeinwesens ist aber schon angedeutet, daß – wenngleich von Fend nicht ausdrücklich hervorgehoben – dort doch ein immanentes Kriterium erkennbar ist, ein Auswahlprinzip, das ihn bei der Entwicklung seiner Zieldimensionen geleitet hat: die Dimensionierung orientiert sich an dem Begriff eines Subjektes, das auf der Basis der Fähigkeit zu normgerechtem Verhalten sich normativen Erwartungen gegenüber distanzieren kann und zu innovatorischem Handeln fähig ist. Fend fragt, in welche Dimensionen diese Fähigkeit differenziert werden muß und welche Verhaltensbedingungen als ihre notwendige Voraussetzung angenommen werden müssen. Darüber hinaus ist eine Hierarchisierungsabsicht erkennbar: Die formulierten Sozialisationsziele bzw. Zieldimensionen entstammen nicht den institutionalisierten Lernerwartungen, wie sie als die Standards unserer Bildungseinrichtungen den Heranwachsenden entgegentreten, sondern Fend setzt mit seinem Katalog auf einer Ebene an, der den institutionalisierten Bildungserwartungen gegenüber Priorität eingeräumt werden soll. Er unterstellt in seinem Katalog, daß mit dessen Hilfe geprüft werden kann, wieweit die Einzelziele bestehender Bildungs- und Erziehungseinrichtungen jenen übergeordneten Zielen dienlich sein können.
[047:189] Die Ebene, auf der Fend seine wünschenswerten Sozialisationsziele bestimmt, ist die des sozialen Verhaltens, besser noch: des normgerechten und normen-reflektierenden Verhaltens. Das Gelingen oder Nicht-Gelingen von Erziehungsvorgängen – so dürfen wir Fend interpretieren – soll also letzten Endes entschieden werden daran, wieweit die Fähigkeit zu normativer Flexibilität sich hat bilden können. Lernziele auf der Ebene instrumentellen Verhaltens sind demgegenüber untergeordnet; wenngleich sie zweifellos im Rahmen des ganzen Erziehungsprozesses einen großen Raum einnehmen, kann ihnen keine Legitimität für sich eingeräumt werden. Diese von Fend gedachte Hierarchie und die normative Flexibilität, die er postuliert, ist – in einer anderen Terminologie – geleitet von dem |A3 56|Begriff der Fähigkeit zu rationaler und reflektierter Verständigung und einem entsprechenden Handeln. Für diesen Begriff wählen wir den Ausdruck
»Kommunikationsgemeinschaft«
.
[047:190] 5. Ehe wir den Versuch unternehmen, in dem Begriff der Kommunikationsgemeinschaft einen Ansatzpunkt für die Dimensionierung von Erziehungszielen zu entwickeln, soll ein anderer Zugang zur Frage der Legitimation von Zielen skizziert werden. Der interessanteste Versuch nämlich, hier einen Schritt weiterzukommen, entstammt der soziologischen Sozialisationsforschung, und zwar dem sogenannten symbolischen Interaktionismus. Die Rollentheorie T. Parsons’, zu der sich der Interaktionismus als kritisches Komplement versteht, geht von einem analytischen Modell der sozialen Wirklichkeit aus, in dem im Sinne eines
»Idealfalles«
die Bedingungen für erfolgreiches Rollenhandeln formuliert werden.
»Rollenhandeln«
heißt dabei alles Handeln in einem sozialen Kontext, in dem die Handelnden bestimmte Positionen einnehmen und mit Hilfe gegenseitiger Verhaltenserwartungen interagieren.
»Erziehung«
sind danach diejenigen Prozesse zu nennen, in denen die Grundqualifikationen des Rollenhandelns erworben, erlernt werden.
»Erfolgreiches Rollenhandeln«
bezeichnet die formale Norm, an der Sozialisationsprozesse und Erziehungsvorgänge orientiert werden sollen bzw. sich notwendig orientieren müssen, wenn überhaupt das heranwachsende Individuum zum Mitglied von Gruppen und also der Gesellschaft werden soll. Die Begriffe, aus denen die wesentlichen Thesen des Rollenmodells gebildet werden, sind: Bedürfnisse, Befriedigung von Bedürfnissen, Erwartungen, Rollennormen (d. h. institutionalisierte Erwartungen), Interpretationen von Erwartungen, Wertorientierungen. Mit diesen Begriffen nun wurden die folgenden Thesen gebildet:
[047:191] Erfolgreiches Handeln entsteht mit um so größerer Wahrscheinlichkeit:
  1. 1.
    [047:192] je mehr Bedürfnisse bzw. Bedürfnisdispositionen den Rollennormen und Wertorientierungen entsprechen (Integrationstheorem);
  2. 2.
    [047:193] je genauer sich die Erwartungen und die Interpretationen von Erwartungen durch ihre Adressaten entsprechen (Identitätstheorem);
  3. 3.
    [047:194] je weitgehender die Interaktionspartner in ihren Erwartungen übereinstimmen und eine Kongruenz zwischen diesen und |A3 57|den wirksamen Verhaltenskontrollen besteht (Konformitätstheorem).
[047:195] Die Kritik des Interaktionismus – vor allem bei Goffman – verweist darauf, daß diese Annahmen empirisch keinesfalls den
»Normalfall«
treffen, vielmehr einen
»pathologischen«
Grenzfall des Verhaltens bezeichnen (Goffman 1968). Ein Erziehungsprozeß, der den in jenen Annahmen implizierten Zielen folgt, würde unflexible,
»total angepaßte«
Individuen hervorbringen, die in Konflikten sich nicht mehr sinnvoll verhalten könnten und als
»deviant«
klassifiziert werden müßten. Habermas hat deshalb diese rollentheoretischen Annahmen erweitert zu einer
»kritischen Rollentheorie«
, die den Ertrag des Interaktionismus zusammenfaßt:
[047:196]
»Die drei Grundannahmen der Rollentheorie vernachlässigen drei Dimensionen möglicher Freiheitsgrade des Handelns. Das Integrationstheorem schließt aus, daß wir eine stabil eingespielte Interaktion nach Graden der Repressivität bewerten. Das Identitätstheorem schließt eine Differenzierung nach Graden der Rigidität der Rollendefinition und des entsprechenden Interpretationsspielraums aus. Das Konformitätstheorem schließt eine Unterscheidung nach Graden der Autonomie des Handelns aus. Alle drei Theoreme unterstellen, durch Vorentscheidungen auf der analytischen Ebene, einen Normalfall eingespielter Interaktion, der in Wahrheit ein pathologischer Grenzfall ist: nämlich volle Komplementarität der Erwartungen und des Verhaltens, die nur um den Preis der Unterdrückung von Konflikten zu erzwingen ist (pseudomutuality); ferner die Deckung von Definition der Rolle und Interpretation der Handelnden, die nur um den Preis des Verzichts auf Individuierung zu erreichen ist (rigidity); und schließlich die Abbildung der Rolle als Norm auf der motivationalen Ebene verinnerlichter Rolle, die nur um den Preis einer zwanghaft automatischen Verhaltenskontrolle zu verwirklichen ist. Die drei vernachlässigten Dimensionen können wir einführen, um Institutionen (Rollensysteme) nach dem Grad ihrer Repressivität, dem Grad ihrer Rigidität und der Art der von ihnen auferlegten Verhaltenskontrolle zu unterscheiden. Da nun der primäre Sozialisationsvorgang als Erwerb der Grundqualifikationen des Rollenspiels verstanden wird, können dieselben Dimensionen auch dazu dienen, auf der Ebene der Persönlichkeitsstruktur solche Grundqualifikationen zu fassen, die sich dem üblichen Konzept des Rollenlernens entziehen«
(Habermas 1968c, S. 10 f.)
.
[047:197] Konfliktfähigkeit, Individuierung und autonome, rationale Verhaltenskontrolle sind damit diejenigen Zieldimensionen, die im Kontext einer rollentheoretisch angelegten Sozialisationstheorie postuliert werden müssen. Als Voraussetzung für jene drei Dimensionen müssen jedoch diejenigen genommen werden, die |A3 58|auch nach der Kritik ja nicht verworfen, sondern in den Dienst der
»kritischen Rollentheorie«
gestellt werden: Fähigkeit zur Darstellung von Erwartungen von Ego und der Wahrnehmung der Erwartungen von Alter; Fähigkeit der Interpretation von Erwartungen und damit des Ausnützens von Verständigungsspielräumen; Fähigkeit, Bedürfnisse und ihre Befriedigung überhaupt auf geltende Normierungen beziehen zu können.
[047:198] An dem Vorschlag Fends, wie auch an diesem, eher systematischen, fällt auf, daß die in psychologischen Lernzieltaxonomien häufig verwendete Unterscheidung von affektiven und kognitiven Lernzielen keine Rolle spielt. Wir halten das für einen Vorzug, da auf diese Weise schon bei der Lernzielbestimmung vermieden wird, den Erziehungsvorgang in Teile zu zerlegen, von denen kaum angenommen werden kann, daß sie unabhängig voneinander auftreten. Auch im affektiven Verhalten spielen die kognitiven Schemata (zum Beispiel bei der Konfliktbewältigung) eine konstituierende Rolle, ebenso wie auch kognitive Akte eine motivationale und damit Affekt-Seite haben. Ferner fällt auf, daß in der
»kritischen Rollentheorie«
wie auch schon bei Fend instrumentelle Lernziele nicht ausdrücklich erwähnt sind. Auch hier hat das seinen Grund darin, daß dem instrumentellen Verhaltensbereich sein Ort immer erst zugewiesen werden kann nach Maßgabe seiner Funktion im Kontext einer
»Kommunikationsgemeinschaft«
. Konkreter formuliert: Die Bildung von Arbeitsqualifikationen wird zwar faktisch von der gegebenen Struktur ökonomischer Verwertungsinteressen diktiert; diese Interessen aber können kein letzter Legitimationsgrund sein; auch diese Verwertungsinteressen müssen sich gefallen lassen, an einem Begriff von menschlicher Kommunikation, von interpersoneller Beziehung und Handlung gemessen zu werden, die sie ermöglichen sollen oder denen sie dienstbar zu machen sind. Instrumentelle Fähigkeiten können mithin keine Legitimationsebene für pädagogische Zielentscheidungen abgeben, gleichwohl aber sind sie eine notwendige Dimension, wenn es um die innere Differenzierung und Hierarchisierung der legitimierenden Dimensionen geht. Das soll im folgenden Abschnitt näher ausgeführt werden.
|A3 59|

Ein theoretischer Rahmen für Lernzieldiskussionen

[047:199] Die bisher durchlaufene Abfolge der Gedanken ist einem Einwand ausgesetzt, der nicht leicht genommen werden darf. In der Sekundärliteratur zu Fragen der Sozialisation, vor allem in der dezidiert marxistisch orientierten, wird immer häufiger die Meinung vertreten, der
»bürgerliche«
Gehalt der Erziehungs- und Sozialisationsforschung komme vor allem darin zum Ausdruck, daß ihre Grundbegriffe, Forschungsfragen und ins Auge gefaßten Verhaltensalternativen denjenigen Qualifikationen verpflichtet bleiben, die Merkmale des historischen bürgerlichen Individuums sind. Dieses Individuum, als Moment des privatkapitalistischen Marktes, bedürfe freilich zu seinem materiellen Überleben Eigenschaften, die es
»konkurrenzfähig«
halten, und zwar als einzelnes Individuum. In der Wissenschaft, deren Funktion wesentlich in der Stützung dieses historischen Verhältnisses bestehe, komme das unter anderem darin zum Ausdruck, daß – explizit oder implizit – solche Qualifikationen als erwünschte Sozialisationsziele angenommen werden, die innerhalb der gegenwärtigen sozialen Straten (Schichten, Klassen) zwar für die höheren Positionen sowohl reale Lebenschancen bedeuten wie auch funktionale Lebenschancen sind; für die unteren Positionen hingegen (Arbeiter) bedeute eine solche Orientierung einerseits im Regelfall eine Diskriminierung, andererseits eine Entfremdung von ihrer historisch möglichen Aufgabe des politisch-solidarischen Kampfes gegen eben jene durch die bürgerliche Erziehungsorientierung gestützten Verhältnisse und ihre Folgen auf der Ebene der Klassengegensätze. Erst an späterer Stelle will ich diskutieren, ob auch die in diesem Gedankengang vorgenommenen Unterstellungen im Hinblick auf den Zusammenhang von ökonomisch-kapitalistischem System und der Erziehungspraxis bzw. -theorie zutreffen und ob sie tatsächlich notwendig konstitutiv sind für die Erziehungswissenschaft. Hier soll zunächst nur ein Moment des Gedankens erörtert werden, der Vorwurf nämlich, Begriffe wie
»Individuierung«
,
»Rollendistanz«
,
»Autonomie«
und ähnliche seien historische Merkmale des bürgerlichen Subjektes und könnten deshalb für die unteren sozialen Schichten nicht als gültige Erziehungsziele oder Erziehungs-Dimensionen angenommen werden. Im folgenden werde ich zu zeigen versuchen, daß dies ein in sich widersprüchlicher Gedanke ist, und zwar nicht deshalb, weil auch für das Proletariat die Erziehungsaufgabe als
»Inte|A3 60|gration in die bürgerlich-spätkapitalistische Gesellschaft«
bestimmt werden müsse, sondern deshalb, weil gerade jeder Erziehungs- und Bildungsprozeß, der sich am Begriff des Transzendierens eines historisch gegebenen Gesellschafts- und Kultur-Horizontes zu orientieren sucht, jener
»bürgerlichen«
Qualifikationen schlechterdings nicht entraten kann. Oder in der Terminologie der neuen Linken: Der
»Klassenstandpunkt«
erweist sich – im Erziehungsfeld – nicht durch die Parteinahme für oder gegen Verhaltensweisen, die über die sozialen Schichten ungleich verteilt sind, sondern allenfalls darin, wie sie im Rahmen des ganzen Bildungsprozesses fungieren, bzw. mit welchen Inhalten sie sich assoziieren.
[047:200] Nun sind Ausdrücke wie Autonomie, Rollendistanz, Individuierung, rationale Verhaltenskontrolle und Kreativität solche, die die Form des Verhaltens betreffen. Ein solcher Ansatz bei der formalen Seite des Bildungsprozesses gilt heute manchem als verdächtig; der Argwohn entsteht, es könne auf diese Weise unterschlagen werden, was eine Revolutionierung der Erziehung allererst ausmache: die Veränderung der Inhalte. Nicht ob ein Kind imstande sei, Verhaltenserwartungen distanziert wahrzunehmen, Alternativen zu erwägen und sprachlich differenziert auszudrücken, sei entscheidend, sondern nur, ob es die politisch relevanten Inhalte seiner Klassenlage sich aneignet und damit zu bestimmtem politischen Handeln fähig werde. Kinderbücher werden folglich nicht danach beurteilt, auf welche Weise diese oder jene Inhalte präsentiert werden (Bildmaterial, Sprache, Anordnung, symbolische Differenziertheit usw.), sondern danach, welche Inhalte zur Sprache kommen. Viele der neuen sich politisch verstehenden Kinderbücher sind denn auch mit solchem Gesichtspunkt hergestellt.
[047:201] Wie kann diese Frage nach den praktischen Prioritäten beantwortet werden? Gibt es Kriterien, die es erlauben, angesichts dieser Alternative eine begründete und nicht widerlegbare Entscheidung zu treffen? Handelt es sich überhaupt um eine Alternative, deren beide Wahlmöglichkeiten als ein Prioritätenverhältnis bestimmt werden müssen? Es läge nahe, dies zu verneinen. Die Frage wäre dann nur noch, ob es zweckmäßig ist, mit der Behandlung des formalen oder der Behandlung des inhaltlichen Aspekts zu beginnen. Ich entscheide mich für die Behandlung des formalen Aspektes als ersten Schritt, und zwar in der Annahme, daß die Gründe dafür im Verlauf der Erörterung hervortreten.
|A3 61|
[047:202] Überall wo Erziehung geschieht, wo also ein Umgang zwischen Erwachsenen und Noch-Nicht-Erwachsenen stattfindet, ist mindestens eine notwendige Unterstellung im Spiel: die Annahme, es sei möglich, das noch nicht erwachsene Individuum über verschiedene Lernwege zur Teilhabe an einem bestehenden Kulturzusammenhang zu bilden. Diese Annahme hat zwei Aspekte: Einerseits schließt sie ein, daß es ausdrücklich auf diesen Sachverhalt der Bildung gerichteter Absichten und entsprechender Handlungen bedarf, andererseits wird der Kulturzusammenhang nicht nur als bewußtloses System von Verhaltensstabilisierungen genommen, sondern als ein begründbarer und begründeter Zusammenhang: in ihm und über ihn ist Kommunikation in der Form der Sprache möglich. Auch dort, wo die Erziehungspraxis sich nachdrücklich und eindeutig repressiv organisiert, wird in Anspruch genommen, daß das Ziel mindestens zusammenfällt mit dem kulturellen Status der erwachsenen Mitglieder der Gesellschaft. Für diesen wiederum wird in Anspruch genommen, daß er sich nicht dem Zufall oder willkürlichem Zwang verdankt, sondern in einem Prozeß von Kommunikationen sich als legitim erwiesen hat. Selbst wenn das Bewußtsein des Erziehenden sich in dieser Annahme ideologisch täuschen und es sich faktisch gerade um einen unter Zwang hergestellten Kultur- und Erziehungszusammenhang handeln sollte (Unterdrückung, Ausbeutung, Diskriminierung), enthält doch gerade auch das falsche Bewußtsein sein Gegenteil als Postulat: so wie die Verhältnisse faktisch nicht sind, sollten sie sein. Und eindeutiger dort, wo repressive Kultur- und Klassenverhältnisse als ausdrückliches Leiden erscheinen, werden für die Erziehungspraxis praktische Kritik und damit Erörterung, Problematisierung, Begründung konstitutiv.
[047:203] Kurz: Jeder Erwachsene nimmt für sich in Anspruch, daß er auf die Frage, warum er seinen Umgang mit Unerwachsenen auf diese und keine andere Weise gestaltet, eine begründete Antwort geben kann. Er unterstellt damit, daß menschliche Kommunikation als rationale Sinnverständigung mindestens möglich und dies die Dimension sei, innerhalb derer sein Erziehungsverhalten legitimerweise der Kritik unterzogen werden könne. Da nun der Bildungsprozeß auch faktisch nicht gedacht werden kann ohne die Fragen des Educandus nach Motiven und Gründen, hat er selbst mindestens auch die Form solcher auf Verständigung zielender Kommunikation. Der Bedeutungsgehalt kultureller Lagen kann sich für den Heranwachsenden |A3 62|gar nicht anders herstellen als dadurch, daß in immer neuen Situationen das Handeln in ihnen erläutert wird. Jede nicht konservative Kritik an Erziehungsverhältnissen hat deshalb – und zwar notwendigerweise – die Erweiterung kommunikativer Spielräume im Bildungsprozeß zum Gegenstand; alles andere ist Modifikation oder Hinweis auf Bedingungen, die als deren empirische Voraussetzung genommen werden. Jener notwendigen Unterstellung wegen kann es auch schlechterdings keine legitime konservative Erziehungskritik geben, sie ist immer repressiv, in sich widersprüchlich und reiner Ausdruck von Herrschaftsinteressen.
[047:204] Diese fundamentale Ebene des Bildungsprozesses nennen wir Diskurs. Sie ist fundamental in einem theoretischen, nicht in einem empirischen Sinne: Wir behaupten, daß sie die letzte Legitimationsbasis für Lernzielentscheidungen darstellt, nicht aber, daß die Qualifikationen dieser Ebene – das ihr entsprechende Verhalten – vom Individuum als erstes erlernt werden müsse oder könne. Wir beabsichtigen also keine genetische Theorie, in der von Entwicklungen, von der Aufeinanderfolge von Lernschritten die Rede ist, sondern zunächst nur eine Struktur-Theorie, in der die notwendigen Kriterien bestimmt werden, unter denen das pädagogisch-kommunikative Handeln beurteilt werden muß.
[047:205] Im Zusammenhang mit erkenntniskritischen Fragestellungen, sozialwissenschaftlich-methodologischen Erörterungen, sprachphilosophischen Überlegungen und Arbeiten zum methodologischen Status der psychoanalytisch-therapeutischen Theorie ist dieses Problem in den letzten Jahren vor allem von den Autoren Apel, Habermas und Lorenzer diskutiert worden, im Hinblick auf die Probleme der Erziehungswissenschaft am ehesten von Dietrich Benner und Werner Loch. Worum es dabei geht, läßt sich am besten am Beispiel der erkenntniskritischen Überlegungen von Karl-Otto Apel zeigen:
[047:206]
»Der Mensch hat, wie mir scheint, von Haus aus zwei gleich wichtige, aber nicht identische, sondern komplementäre Erkenntnisinteressen:
  1. 1.
    [047:207]
    ein solches, das durch die Notwendigkeit einer technischen Praxis aufgrund der Einsicht in Naturgesetze bestimmt ist,
  2. 2.
    [047:208]
    ein solches, das durch die Notwendigkeit sozialer, moralisch relevanter Praxis bestimmt wird.
[047:209]
Das letztere ist auf die – auch von der technischen Praxis schon vorausgesetzte – Verständigung über Möglichkeit und Normen eines sinnvollen menschlichen In-der-Welt-Seins gerichtet. Dieses Interesse an Sinn-Verständigung bezieht sich nicht nur auf Kommunikation |A3 63|unter den Zeitgenossen, sondern zugleich auf Kommunikation der Lebenden mit den vergangenen Geschlechtern in der Weise der Traditionsvermittlung. Erst durch die Traditionsvermittlung erreicht ja der Mensch jene Kumulation von technischem Wissen und jene Vertiefung und Bereicherung seines Wissens um mögliche Sinn-Motivationen, die ihm seine Überlegenheit über die Tiere verleihen«
(Apel in: Hermeneutik und Ideologiekritik 1971, S. 26 f.)
.
[047:210] Diesem zweiten Erkenntnisinteresse gebührt ein Primat gegenüber dem ersten. Die Begründung dafür ist in der Tatsache zu suchen, daß jedes technische Handeln einen Dialog der Menschen über die ihr Handeln leitenden Sinn-Normen voraussetzt. Faktisch allerdings gibt es Kommunikationen zwischen Menschen, in denen diese Dimension des Dialogs unterdrückt oder ausgeblendet wird: Es gibt Kommunikationen, die nur noch die Struktur wechselseitiger oder einseitiger Manipulationsversuche haben. Der Hinweis auf das Vorhandensein solcher Kommunikationen (zum Beispiel technologische Manipulation von Lernprozessen durch den Lehrer, Verhaltenskonditionierung qua Sanktionsdrohung in der Familie, Interaktion im Funktionszusammenhang hierarchisch organisierter Arbeitsteilung in Betrieben usw.) ist indessen kein Einwand. In diesen Fällen wird nämlich nur faktisch ausgeschlossen, was im Grunde eine Bedingung ihrer Möglichkeit ist und insgeheim auch vom manipulierenden Partner für sich selbst unterstellt wird: Daß sein eigenes Handeln geleitet wird von Normen, die begründet sind, also auf Verständigung beruhen. Diese, in aller menschlichen Kommunikation enthaltene Unterstellung nennt Apel die Idee der Kommunikationsgemeinschaft;
»jeder, der überhaupt argumentiert, setzt sie als ideale Kontrollinstanz voraus«
. Sie existiert jedoch nicht nur in der Form der implizierten Unterstellung, d. h. als Gedanke, sondern zugleich als wirkliches Moment auch der faktischen Kommunikation, aber eben nur als Moment: Der Mensch kann die für jeden Kulturzusammenhang überhaupt unerläßliche
»Orientierung seiner Willensintentionen auf mögliche Zwecke«
hin nur erwerben im Zusammenhang des Erlernens von Sprache. Nur im Medium sprachlich vermittelter interpersoneller Beziehung gewinnt das Kind einen
»sozialen Ort«
, zum Beispiel die Identifikation mit einer sozialen Rolle und damit einen bestimmten Horizont möglicher Zwecksetzungen und diesen entsprechenden instrumentellen Techniken. Nur so formiert sich der Sinnhorizont eines Individuums, und zwar im Anschluß an die bereits eingespielten und überlieferten Le|A3 64|bensformen, die es vorfindet. Diese aber sind – wie schon angedeutet – immer schon im Dienste bestimmter Zwecke
»institutionalisiert«
, gleichsam partiell eingefroren auf einem historisch konkreten Stande der gesellschaftlichen Entwicklung. Zugespitzt könnte man so formulieren: Das im Vorgang des Spracherwerbs enthaltene Prinzip wird durch gesellschaftliche Zwänge faktisch institutionalisierter Kommunikation immer wieder negiert: Erziehung stellt sich dar als Repression, Disziplinierung, technische Qualifizierung für Interessen der Kapital-Verwertung, als Verkürzung möglicher Argumentationen, als hierarchische Verzerrung denkbarer Symmetrie der Kommunikationen usw. Gerade darin aber erweist sich der kritische Charakter des Ansatzes:
[047:211]
»Bedenkt man nämlich, daß die reale Kommunikationsgemeinschaft, die der Argumentierende in der endlichen Situation voraussetzt, keineswegs dem Ideal der unbegrenzten Interpretationsgemeinschaft entspricht, vielmehr allen bewußtseins- und interessenmäßigen Begrenzungen der in Nation, Klassen, Sprachspiele und Lebensformen geteilten Menschengattung unterliegt, so ergibt sich aus diesem Kontrast zwischen Ideal und Realität der Interpretationsgemeinschaft auch bereits das regulative Prinzip des praktischen Fortschritts, mit dem der Fortschritt der Interpretation verschränkt sein könnte und sollte«
(Apel in: Hermeneutik und Dialektik I 1970, S. 140 f.)
.
[047:212] Dieser von Apel in einem erkenntniskritischen Zusammenhang vorgetragene Gedanke nun ist für die Erziehungswissenschaft und ihre Lernzielproblematik von normativer Bedeutung: Unausweichlich hat alle Erziehung eine bestimmte Stellung zu jenem
»praktischen Fortschritt«
, die sich danach bestimmt, wieweit sie dazu beiträgt, diesen Fortschritt zu fördern oder zu erschweren. Dies aber hängt offenbar davon ab, mit welcher Entschiedenheit sie versucht, Erziehungsverhältnisse, pädagogische
»Verkehrsformen«
(Marx) zu etablieren, die Kommunikation als Sinnverständigung real möglich machen, oder – mit dem oben eingeführten Begriff – wieweit sie sich selbst in der Dimension des
»Diskurses«
bestimmt.
[047:213] Diskurs also nennen wir diejenige Ebene von Kommunikationen, auf der Sprache nicht normativ verbindlichen Sinn lediglich überliefert, sondern
»als selbstreflexives Medium«
Apel, 1970, S. 136
Kommunikation über Kommunikationen möglich macht, also als
»Metakommunikation«
(Watzlawick)
fungiert, verfestigte Institutionen, Normen und Regeln problematisiert: Diskurs ist als Metainstitution
»Instanz der Kritik aller unreflektierten sozialen Normen«
(Apel)
. Für eine Verwendung dieser Kategorie im |A3 65|Zusammenhang von Lernzieldiskussionen stellt sich nun die Frage, ob Merkmale des Diskurses angebbar sind, die es erlauben, diesen Begriff konkret auf Erziehungsprozesse anzuwenden und ihn damit zum Instrument erziehungswissenschaftlicher Analyse zu machen. Wir können den Gedanken wiederum mit Hilfe einer Erörterung weiterführen, die nicht in erziehungswissenschaftlicher, sondern in diesem Fall in sprachtheoretischer Absicht von Habermas unter dem Titel
»vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz«
vorgelegt wurde.
[047:214] Bei Apel hieß es, daß
»jeder, der überhaupt argumentiert«
, den Begriff der Kommunikationsgemeinschaft als
»ideale Kontrollinstanz«
voraussetzt. Habermas nennt diesen Akt eine
»kontrafaktische«
Unterstellung oder Antizipation: Im kommunikativen Akt wird so getan, als sei eine unverstellte Verständigung zwischen den Partnern möglich; dabei ist dieses
»so tun als ob«
keine Täuschung, sondern eine notwendige Bedingung dafür, daß Verständigung überhaupt angezielt werden kann. Das gilt allerdings nur dann, wenn die Kommunikationspartner die Absicht haben, sich wechselseitig als intentionale Subjekte zu nehmen und nicht als manipulierte oder zu manipulierende Objekte.
»Verständigung«
heißt dabei: Wiederherstellung eines zunächst gestörten Konsensus durch Begründung (
Habermas in: Habermas/Luhmann 1971, S. 115
). Was
»Störungen«
sind und was
»Wiederherstellung«
ist, d. h., welchen Regeln beides notwendigerweise folgt, ergibt sich aus den empirisch notwendigen Elementen des Sprechaktes. Ob Störungen auftreten und ob Wiederherstellung des Konsensus möglich und sinnvoll ist, ergibt sich aus den empirischen Randbedingungen des Sprechaktes.
[047:215]
»Ein Sprachspiel verläuft ungestört, wenn sich die sprechenden und handelnden Subjekte in ihren Äußerungen so verstehen, daß sie
  1. a)
    [047:216]
    den pragmatischen Sinn der interpersonalen Beziehung (der im Sprechakt auch verbalisiert werden kann) intentional mitteilen und entsprechend auffassen können;
  2. b)
    [047:217]
    den Sinn des propositionalen Gehaltes ihrer Äußerungen intentional mitteilen und entsprechend auffassen können;
  3. c)
    [047:218]
    den Geltungsanspruch der Meinungen, die sie kommunizieren, nicht in Frage stellen; und
  4. d)
    [047:219]
    den Geltungsanspruch der Handlungsnorm, der sie jeweils folgen wollen, akzeptieren können«
    (Habermas in: Habermas/Luhmann, S. 116)
    .
[047:220] Mit anderen Worten: Störungen können entstehen, wenn
|A3 66|
  • [047:221] die Partner nicht mehr verstehen, welcher Art die Beziehungen zwischen ihnen sind oder sein sollen (a);
  • [047:222] die Partner nicht mehr verstehen, warum und mit welcher Absicht etwas Bestimmtes ausgesagt wird (b);
  • [047:223] den Partnern nicht einsichtig ist, inwiefern eine geäußerte Meinung zutrifft oder nicht, d. h., ob sie Geltung beanspruchen kann (c);
  • [047:224] den Partnern zweifelhaft ist, ob sie der Handlungsnorm des anderen folgen können oder sollen (d).
[047:225] In solcher Situation werden typische Fragen gestellt. In einem ersten Schritt haben die Fragen die Funktion, sich des Bedeutungskontextes zu vergewissern, Undeutlichkeiten oder Mehrdeutigkeiten zu reduzieren:
  • [047:226] Wie hast Du gerade Deine Beziehung zu mir definiert?
  • [047:227] In welcher Rolle siehst Du Dich?
  • [047:228] In welcher Rolle siehst Du mich?
  • [047:229] In welcher Rolle möchtest Du, daß ich Dich und ich mich sehe? (a) (vgl. dazu auch Laing 1971).
  • [047:230] Wie soll ich das, was Du sagst, verstehen?
  • [047:231] Warum sagst Du das jetzt und so, wie Du es sagst?
  • [047:232] Von welcher Bedeutung ist das, was Du sagst, für Dich und für mich? (b)
  • [047:233] Verhält sich die Sache so, wie Du es behauptest?
  • [047:234] Warum verhält es sich so?
  • [047:235] Läßt sich das erklären und auf welche Weise? (c)
  • [047:236] Warum verhältst Du Dich in dieser Situation so und nicht anders?
  • [047:237] Warum handelst Du so? (d).
[047:238] Die Fragen vom Typ a) und b) zielen auf Deutung und Definition der pragmatischen Situation – also auf Relevanz-Regeln – ab, die durch die Fragen näher bestimmt werden sollen. Die Fragen vom Typ c) zielen auf Behauptung von Sachverhalten und die damit zusammenhängenden Erklärungen – also auf theoretische Sätze – ab. Die Fragen vom Typ d) zielen auf die Rechtfertigung des Verhaltens – also auf normative Begründungen bzw. ideologische Absicherungen – ab (Habermas in: Habermas/Luhmann 1971, S. 116).
|A3 67|
[047:239] Jede solcher Fragen kann nun entweder im Rahmen eines kommunikativen Prozesses befriedigend beantwortet werden, und zwar einfach dadurch, daß die Antwort die erbetene Information gibt und damit die zunächst herrschende Undeutlichkeit beseitigt ist. Oder diese Fragen drücken grundsätzlichen Zweifel aus bzw. melden ihn an, nachdem pure Information keine Deutlichkeit der Situation und der in ihr behaupteten Sachverhalte bzw. einen Dissens über die in der Situation enthaltenen Geltungs- und Handlungsansprüche herbeigeführt hat: in diesem Fall konzentriert sich die Kommunikation auf die Ebene des Diskurses.
[047:240]
»Deutungen, Behauptungen, Erklärungen und Rechtfertigungen, die in Zusammenhängen der Interaktion auftreten, geben Informationen; sie befriedigen Fragen, in denen man sich nach etwas erkundigt. Sie genügen aber nicht solchen Fragen, die Zweifel an den impliziten Geltungsansprüchen von Äußerungen ausdrücken; diese Fragen verlangen die Angabe von Gründen. Sie können deshalb nur in Diskursen beantwortet werden, dadurch also, daß man die Interaktionen unterbricht. Die diskursive Begründung formt Deutungen in Interpretationen, Behauptungen in Propositionen, Erklärungen in theoretische Rechtfertigungen um. Zu diesem Zwecke müssen wir von der Rede, die kommunikatives Handeln ist, zur Rede als Diskurs übergehen«
(Habermas in: Habermas/Luhmann 1971, S. 117)
.
[047:241] Der Diskurs also ist die Legitimationsebene für das kommunikative Handeln. Der Begriff des Diskurses erfüllt dabei zwei Funktionen:
  • [047:242] In erkenntniskritischer Hinsicht repräsentiert er das von Apel formulierte Postulat des
    »praktischen Fortschritts«
    , insofern mit seiner Hilfe bestimmbar wird, unter welchen Umständen die praktischen Verhältnisse das Eintreten in Diskurse verhindern oder erschweren und infolgedessen eine kritische Theorie der gesellschaftlich-historischen Bedingungen kommunikativen Handelns und also des Erziehungshandelns notwendig ist. Er liefert die Legitimationsbasis für Bedeutung und Verwendung des Ausdrucks
    »Emanzipation«
    .
  • [047:243] In empirischer Hinsicht gibt er die Möglichkeit, soziale Handlungsfelder zu identifizieren, in denen Diskurs-Chancen mit Wahrscheinlichkeit auftreten können oder bestimmte Formen des Diskurses institutionalisiert sind.
[047:244] Die beiden Funktionen bedeuten, auf den Gegenstandsbereich der Erziehungswissenschaft angewendet: Erziehung muß ver|A3 68|standen werden als ein kommunikatives Handeln, dessen Ziel darin liegt, eine Kommunikationsstruktur zu etablieren, die den Erwerb von Fähigkeiten zum Diskurs ermöglicht. Unter konkreten, die Realisierungschancen dieses Postulats historisch einschränkenden Bedingungen kann das nichts anderes heißen als: Erwerb von Fähigkeiten einer kritischen Beteiligung am
»praktischen Fortschritt«
, des Kampfes gegen Diskurs-einschränkende Bedingungen. Kein pädagogischer Akt kann unabhängig von diesem Legitimationskontext wahrhaft gerechtfertigt werden.

Gestörte Kommunikation

[047:245] Sowohl Apel wie auch Habermas haben – mögliche Mißverständnisse vorwegnehmend – bereits darauf hingewiesen, daß
»Kommunikationsgemeinschaft«
die gegen faktisch-praktische Verhältnisse gerichtete kritische Idee ist (Apel), daß es
»realistisch«
ist, die Abweichung vom Modell des Diskurses
»als den historischen Regelfall anzunehmen«
(Habermas)
. Beide verweisen damit auf das Problem, das in den letzten Sätzen des vorangegangenen Abschnitts angedeutet wurde.
[047:246] Wir wissen sowohl aus der praktischen Erziehungserfahrung wie auch aus der wissenschaftlich kontrollierten Erfahrung in pädagogischen Institutionen, Gruppen, Familien, sozialen Schichten usw., daß
»Diskurse«
auftreten, daß sie aber nicht das Faktisch-Typische pädagogischer Prozesse ausmachen. Typisch sind eher
  • [047:247] Beziehungsdefinitionen, deren Geltung nicht in Frage gestellt wird (Eltern–Kind, Lehrer–Schüler usw.);
  • [047:248] Informationen, deren Verwendungssinn nur in Grenzen offen bleibt;
  • [047:249]
    »bündige«
    , d. h. nicht argumentative Antworten auf Kinderfragen;
  • [047:250] Beschränkung auf traditional eingespielte Handlungsziele und Handlungsmuster usw.
[047:251] Gemessen am kontrafaktischen Begriff des Diskurses –
»kontrafaktisch«
in zweierlei Hinsicht: als Ebene der Problematisierung von faktischen Geltungsansprüchen und als der nur gedachte
»reine Fall«
einer herrschaftsfreien Kommunikation – stellt sich also alles pädagogische Handeln als eine
»gestörte«
(Watzlawick |A3 69|u. a.)
oder
»verzerrte«
(Habermas)
Kommunikation dar. Faktisches Erziehungshandeln also wird nach dieser Maßgabe so gedacht, als sei es auf einer Skala anzuordnen, die im Sinne von kontinuierlich ausgeprägter erscheinenden Störungen oder Verzerrungen verläuft:
Hier ist ein Schaubild zur Kontinuierlichkeit der auftretenden Störungen in der Kommunikation des Erziehungshandelns in Anlehung an Watzlawick und Habermas zu sehen.
[047:252] Damit stellt sich die Frage nach den Indikatoren für
»Störung«
oder
»Verzerrung«
. Da hier kein Vorschlag für empirische Untersuchungen ausgearbeitet werden soll, sondern lediglich die Gesichtspunkte herausgestellt werden sollen, die für erziehungswissenschaftliche Analysen leitend sind, werden wir nur diskutieren, in welchem Sinne
»Störung«
als Konstituens für faktisches Erziehungshandeln genommen werden kann. Aus den vielen Ansätzen, die sich in dieser Richtung in der gegenwärtigen Erziehungswissenschaft, kommunikations- und sozialisationstheoretischen Diskussion erkennen lassen, greifen wir beispielhaft vier heraus: das Dominanz-Problem, das Problem des Symbolgebrauchs, der Ansatz bei den
»Axiomen«
menschlicher Kommunikation und die Vorstellung einer sachstrukturellen Gesetzlichkeit, der die kognitive Entwicklung des Individuums notwendig folgen müsse.
[047:253] 1. Seit Jahrzehnten schon beschäftigt die Erziehungswissenschaft, die Erziehungspsychologie und Teile der Erziehungssoziologie die Frage, wie es zu erreichen wäre, die ungleiche Verteilung von Sanktionschancen in der Erziehungsgruppe zu reduzieren, wenn nicht gar aufzuheben, und zwar ohne gleichzeitig die Chance eines geordneten und zielorientierten Lernens überhaupt aufzugeben. Dieses Problem wurde in älteren Arbeiten unter dem Titel der
»pädagogischen Autorität«
abgehandelt und wird heute in der Regel als Problem pädagogischer Führungsstile oder Unterrichtsstile, eines eher
»permissiven«
oder
»punitiven«
, eines
»control-oriented«
oder
»autonomy-oriented«
Sozialisationsstils diskutiert. In solchen Erörterungen und empirischen Untersuchungen sind immer zwei Annahmen enthalten, die auf verschiedenen Ebenen liegen: die Hypothese, daß ein bestimmtes Muster des Erziehungshandelns bestimmte Wirkun|A3 70|gen im Verhalten des Educandus zur Folge habe (empirische Hypothese), und die Unterstellung, daß es nicht nur empirisch sinnvoll, sondern prinzipiell geboten sei, pädagogische Kommunikation nach Graden von Dominanz der Erziehungspersonen zu beschreiben und in ihren Wirkungen zu bestimmen. Das bedeutet im Hinblick auf die Frage nach dem Erziehungshandeln als einer Form
»gestörter Kommunikation«
aber nichts anderes, als den Versuch, innerhalb der von uns postulierten Skala genauere Bestimmungen einzuführen,
»Indikatoren«
zu finden für
»Störungen«
. Ein autoritärer, punitiver oder
»control-oriented«
Erziehungsstil erscheint so als ein bestimmter Typus pädagogischer Kommunikationsstörung, der doppelt beurteilt werden muß: unter dem Gesichtspunkt seiner meßbaren Wirkungen und unter dem Gesichtspunkt seiner Nähe oder Ferne zum idealen Konstrukt unverzerrter Kommunikation, seiner Legitimität.
[047:254]
»Dominanz«
bedeutet unter diesem Gesichtspunkt immer
»Verzerrung«
, und zwar insofern, als die Chancen für die Wahl bestimmter Kommunikationsmodi (von Imperativen, Fragen, Drohungen, Empfehlungen usw.) ungleich unter die Kommunikanden verteilt sind. Solche Ungleichheit kann indessen als pädagogisch notwendig angesehen werden, und insofern ist der Ausdruck
»Störung«
natürlich irreführend; der Sinn dieses Ausdrucks – und nur darauf kommt es in unserem Zusammenhang an – liegt eben darin, unter allen Umständen zu vermeiden, daß die Art, in der sich faktisch das Erziehungshandeln in bestimmten historischen und gesellschaftlichen Lagen darstellt, zur Grundlage für normative Entscheidungen genommen wird. Mit dem Hinweis darauf, daß solche Art von
»Kommunikationsstörung«
als pädagogisch notwendig genommen werden kann, deutet sich allerdings eine Schwierigkeit an, von der wir meinen, daß sie das pädagogische Grundproblem überhaupt darstellt: die
»pädagogische Paradoxie«
, unter empirisch notwendigen Dominanz-Bedingungen eben diese Bedingungen kritisieren zu müssen. Wir werden darauf noch eingehen.
[047:255] 2. Alles Erziehungshandeln ist symbolisch vermittelte Kommunikation. Auch die nicht-verbalen Akte im Erziehungsprozeß bekommen Stellung und Bedeutung nur dadurch, daß sie – durch Sprache ermöglicht – interpretiert sind und auf diese Weise Sinn
»haben«
. Pädagogische Kommunikation läßt sich also danach beurteilen, was auf welche Weise kommuniziert |A3 71|wird; das ist das Thema der Curriculum-Forschung und Didaktik. Oder genauer: Das Thema der gegenwärtigen Didaktik ist ein Sonderfall dessen, was hier in Rede steht. In Rede nämlich steht die Tatsache – und das ist eine Tatsachenbehauptung, die als erkenntnisleitende heuristisch notwendig ist, damit überhaupt die empirischen Fragen historisch sinnvoll gestellt werden können –, daß die faktischen Sprachspiele, deren sich das Erziehungshandeln bedient, immer schon als deformierte bestimmt werden müssen. Das gilt insofern, als empirische Bedingungen stets einschränkend sind im Vergleich zum idealen Konstrukt: Die Performanz der sprachlichen Kommunikation folgt nicht nur den Regeln der idealen Sprechsituation (Kompetenz), sondern auch den Regeln der materiell begrenzten Lebenswelten. Apel, Habermas und Lorenzer haben das paradigmatisch am Vorgang der psychoanalytisch orientierten Therapie zu explizieren versucht. Die therapeutische Situation ist dadurch charakterisiert, daß die Kommunikationsmittel des Patienten
»desymbolisiert«
sind, die
»Geschlossenheit des Sprachspiels aufgebrochen ist«
.
»Sprache wird korrumpiert, der Zugang zu den Motiven wird verschüttet, die Regeln verlieren ihre Symbolqualität«
(Lorenzer 1970, S. 168)
; das geschieht im sogenannten Verdrängungsmanöver; die Worte bedeuten etwas anderes als sie
»eigentlich«
, im Normalfall des umgangsprachlichen Sprachspiels, bedeuten; mögliche Bedeutungen werden aus der Sprache des Individuums
»exkommuniziert«
, das Sprachspiel wird aufgespalten in einen intersubjektiv kommunizierbaren
»öffentlichen«
und einen der rationalen Erörterung nicht mehr zugänglichen
»privaten«
Teil.
[047:256] Dieses – hier nicht eingehender zu explizierende – Paradigma gilt nicht nur für den psychotherapeutischen Prozeß, sondern hat, wie ich meine, eine fundamentale Bedeutung für die Bildungstheorie überhaupt, wenngleich in einem modifizierten Sinn: Wir betrachten die Vorgänge sprachlicher Vermittlung im Erziehungshandeln als solche, die unter zwei Bedingungen verzerrt sind, einer unspezifischen und einer spezifischen: unspezifisch verzerrt sind sie insofern, als sie nur Ausschnitte oder Anwendungsfelder derjenigen Verzerrungen sind, an denen Kommunikationen unter gewalthaft aufrecht erhaltener Herrschaft allenthalben leiden – was zu beweisen ist. Spezifisch verzerrt sind sie insofern, als die selbst unter Herrschaftseinwirkung pädagogisch agierenden Erwachsenen dem Postulat nach auch ihren natürlich gegebenen Herrschaftsvorsprung dem unmün|A3 72|digen Heranwachsenden gegenüber aufheben müßten, indessen aber nicht anders handeln können als im Rahmen empirischer möglicher Lernschritte.
[047:257] Diese Unterscheidung von
»unspezifischer«
und
»spezifischer«
Verzerrung ist indessen nur analytisch sinnvoll. Faktisch nämlich bietet sich dem Beobachter das Sprachspiel zwischen den pädagogisch miteinander Kommunizierenden als nur eines dar: das ist die symbolische Darstellung der Tatsache, daß gesellschaftliche Herrschaft und pädagogische Autorität untrennbar ineinander verschränkt sind. Die Aspekte solcher Störung des symbolisch-kommunikativen Prozesses könnten sein: Unterschlagung oder Tabuierung von Inhalten, Fixierung auf bestimmte Formen der sprachlichen Mitteilung, Verkürzung der Explikation von Phantasie-Gehalten, restringierte oder verzerrte Darstellung von Intentionen usw.
[047:258] Ähnlich wie beim Dominanz-Problem wird auch hier der Begriff der Kommunikationsstörung oder -verzerrung gedacht nach Maßgabe eines Begriffs unverzerrter Kompetenz: Sprache wird unterstellt als das Kommunikationsmedium, in dem die in einer Situation gegenwärtigen Gehalte – soweit sie überhaupt sprachlicher Mitteilung zugänglich sind – vollständig und unverkürzt darstellbar sind. Verzerrte symbolische Kommunikation wird deshalb sowohl als Indikator für einen defizienten Modus der Situation genommen wie auch als ein Mittel, diesen Modus zu produzieren oder zu stabilisieren.
[047:259] 3. Ausgehend von
»Axiomen«
menschlicher Kommunikation haben Watzlawick und andere
(Watzlawick u. a. 1969)
versucht, die Regeln zu bestimmen, nach denen Kommunikationen verlaufen, die als gestörte zu bezeichnen sind. Zwar werden dort vor allem solche Kommunikationen beschrieben, die im engeren Sinne als pathologisch gelten, vor allem die Kommunikation sogenannter Schizophrener; das Modell läßt aber auch eine Anwendung auf
»normale«
pädagogische Gegenstände zu, ja es ist sogar so angelegt, daß – seinem Anspruch nach – jede menschliche Kommunikation mit seiner Hilfe beschrieben werden kann. Auch hier sind die Bestimmungen
»normaler«
oder
»reifer«
Kommunikation so gewählt, daß sie den idealen Grenzfall faktischen Kommunizierens bestimmen, der historische Regelfall demgegenüber als
»gestört«
genommen werden muß. Die Axiome menschlicher Kommunikation und die aus ihnen folgenden Kommunikations-Alternativen, die zugleich Arten von |A3 73|Störung bedeuten beziehungsweise den idealen Fall markieren, sind diese:
[047:260] a) Es ist unmöglich, nicht zu kommunizieren.
[047:261] Daraus folgt, daß das Kommunikationsangebot des einen und die darin vorgeschlagene Beziehungsdefinition vom anderen entweder (idealer Fall) akzeptiert wird als Basis für eine damit eingeleitete Folge von kommunikativen Akten oder (Fälle von Störung) abgewiesen oder entwertet wird. Unter institutionalisierten Erziehungsbedingungen mit eindeutig definierten Lernzielvorgaben ist zu vermuten, daß die Chancen, Kommunikationsangebote zu machen und bestimmte Beziehungsdefinitionen als Basis vorzuschlagen, ungleich verteilt sind. Der Educandus ist vermutlich in der Wahl der Alternativen (Annahme, Abweisung, Entwertung) nicht frei. Das gilt – wenngleich mit Modifikationen – auch für den Erzieher, sofern sein Verhalten an die Regeln (Rollen) und Zielbestimmungen der Institution gebunden ist.
[047:262] b)
»Jede Kommunikation hat einen Inhalts- und einen Beziehungsaspekt«
(Watzlawick u. a. 1969, S. 56)
.
[047:263] Einerseits hat jede Kommunikation einen sachlichen Gegenstand, über den kommuniziert wird; dieser Gegenstand kann außerhalb der gerade aktuellen Beziehung zwischen den Kommunikationspartnern liegen, er kann aber auch aus Merkmalen dieser Beziehung selbst bestehen. Andererseits aber wird parallel dazu immer auch eine Bestimmung der Beziehung vorgenommen, wird dem Partner mitgeteilt, wie ich ihn sehe, wie ich meine Beziehung zu ihm wünsche, wie ich wünsche, daß er mich sieht usw.
»Störung«
bedeutet hier, daß beide Aspekte in der Kommunikation durcheinander geraten (zum Beispiel: man gibt vor oder glaubt wirklich über inhaltliche Probleme zu reden, in Wahrheit aber werden Beziehungsprobleme zur Sprache gebracht); Störungen liegen ferner vor, wenn die Beziehungsdefinitionen des einen vom anderen verworfen oder gar entwertet werden; schließlich handelt es sich um eine Kommunikationsstörung auch dann, wenn Blindheit der Partner für den Beziehungsaspekt der Kommunikation überhaupt herrscht. Der
»ideale Fall«
liegt vor, wenn die Beziehungsdefinitionen wechselseitig akzeptiert werden und zueinander passen,
»wenn sich die Partner sowohl über den Inhalt ihrer Kommunikation als auch über die Definition ihrer Beziehung einig sind«
(Seite 81)
.
|A3 74|
[047:264] c)
»Die Natur einer Beziehung ist durch die Interpunktion der Kommunikationsabläufe seitens der Partner bedingt«
(S. 61)
. Wie die Partner sich verhalten, ist abhängig davon, wie sie Ursachen und Wirkungen in der Kommunikation einschätzen: Der Erzieher hält die
»Faulheit«
oder
»mangelnde Intelligenz«
eines Kindes oder Jugendlichen für die Ursache wenig befriedigender Leistungen, der Educandus nimmt als Ursache eben die Tatsache in Anspruch, daß der Erzieher gegen ihn ein Vorurteil hege und ihm damit die Lust am Lernen nehme. In dieser Dimension –
»Interpunktion«
beziehungsweise Ursache-Wirkungs-Vermutungen der Kommunikationspartner im Hinblick auf die Gründe ihres Verhaltens – gilt die Kommunikation immer dann als gestört, wenn die Partner oder einer von ihnen auf einer linearen Zuordnung von eindeutigen Wirkungen zu eindeutigen Ursachen besteht und das wechselseitige Verhalten deshalb nicht darauf eingestellt werden kann, daß jedes Moment im Kommunikationsprozeß immer zugleich sowohl als Ursache wie auch als Wirkung genommen werden kann, der Prozeß also kreisförmig ist. Konflikte innerhalb von Institutionen sind häufig von dieser Art, sofern angenommen werden darf, daß in einer pädagogischen Institution nicht nur Lernziele und Lernwege relativ festgelegt sind, sondern mit diesen zugleich Annahmen über typische Problemsituationen und ihnen entsprechende typische Erklärungsmuster verbunden werden. Der exponierteste Fall der daraus resultierenden Diskrepanz zwischen institutionalisierter Interpunktion und der Interpunktion der Betroffenen liegt in denjenigen Einrichtungen und Maßnahmen vor, denen in der Regel sogenannte dissoziale Kinder und Jugendliche unterworfen werden. Zugespitzt läßt sich sagen, daß
»Kommunikationsstörung«
hier zum systematischen Merkmal der pädagogischen Einrichtung geworden ist.
[047:265] d) Die menschliche Kommunikation bedient sich zweier Modalitäten: einer
»digitalen«
, in der sachliche Behauptungen aufgestellt und danach beurteilt werden können, ob sie zutreffen oder nicht (das ist nur mit Hilfe künstlicher Zeichensysteme möglich: menschliche Sprache, Zahlen) und einer
»analogen«
, in der Beziehungen ausgedrückt und unmittelbare Reaktionen erwartet werden (Körpersprache, einfache Lautsymbole, Tonfall usw.). Digitale Probleme sind nicht analog darstellbar; die in der analogen Modalität kommunizierten Phänomene sind nur unter beträchtlichem Informationsverlust in digitale Sprache übersetzbar.
|A3 75|
[047:266] Je mehr Beziehungsprobleme in den Vordergrund der Kommunikation rücken, um so wichtiger wird für den pädagogischen Umgang die analoge Modalität. Von Kommunikationsstörungen muß in dieser Dimension immer dann die Rede sein, wenn Kommunikationspartner darauf bestehen, daß nur die digitalisierbaren Gehalte als Kommunikationsinhalte zugelassen sind:
»Versachlichung«
von Autoritätskonflikten durch Verleugnen des Beziehungsaspektes und der entsprechenden Kommunikations-Modalität, Reduktion des pädagogischen Umgangs auf die leistungsthematischen Gehalte, Realisierung der analogen Kommunikation auf kollektive Stereotype usw. Der Tauschcharakter der menschlichen Verkehrsformen (Marx) ist – in dieser Terminologie ausgedrückt – nichts anderes als die allmähliche Vernichtung der analogen Kommunikation als einer menschliche Beziehungen konstituierenden Modalität,
»Entfremdung«
nichts anderes als die gesellschaftlich erzeugte Unfähigkeit, Beziehungs-Bedürfnisse und -Probleme anders als in der durch das
»Kapital«
digitalisierten Form darzustellen und also auch zu erkennen.
[047:267] e)
»Zwischenmenschliche Kommunikationsabläufe sind entweder symmetrisch oder komplementär, je nachdem, ob die Beziehung zwischen den Partnern auf Gleichheit oder Unterschiedlichkeit beruht«
(S. 70)
.
[047:268] Der
»ideale Fall«
wiederum ist dadurch charakterisiert, daß die Kommunikationspartner – je nach der Situation wechselnd – imstande sind, entweder eine symmetrische oder eine komplementäre Form der Kommunikation zu wählen, d. h. sich entweder als gleich in der Wahl der Kommunikationsmittel oder als
»spiegelbildlich«
aufeinander bezogen zu bestimmen, wobei die Chancen für diese Wahl gleich verteilt sind. Auch aus dieser Annahme folgt, daß der historische Regelfall – zumal der pädagogische – als
»Störung«
anzusprechen ist. Die Unterstellung des
»idealen Falles«
aber gibt uns ein Maß für die Beurteilung pädagogisch-faktischer Verhältnisse: Die Mutter-Kind-Beziehung ist dem Typus nach gewiß eine Form komplementärer Beziehung; sie muß – nach diesem Axiom – aber danach beurteilt werden, wie weit in dieser Beziehung auch symmetrische Kommunikation möglich ist, zum Beispiel im Austausch von Zärtlichkeit, in Situationen gemeinsamer Freude, im Spiel usw. Die Lehrer-Schüler-Beziehung im Sinne institutionell definierter Rollen kann so interpretiert werden als
»starre Komplementarität«
; ein extremer und in der erziehungswissenschaftlichen Literatur besonders häufig diskutierter Fall von starrer Komplementarität ist das sogenannte autoritäre Verhalten, das für symmetrische Kommunikationsakte keinerlei Spielraum mehr läßt. Auf den Prozeß des Heranwachsens bezogen scheint es sinnvoll zu sein, die quantitativen und qualitativen (auf bestimmte Inhalte und Situationen bezogenen) Mischungsverhältnisse symmetrischer und komplementärer Kommunikationen in Abhängigkeit von dem jeweiligen Entwicklungsstand zu sehen.
[047:269] 4. Der gerade referierte Ansatz Watzlawicks ist ausschließlich daran interessiert, wie ein gegebenes Kommunikationssystem
»funktioniert«
. Zur Beantwortung der Frage, wie solche Systeme entstehen, nach welchen Regeln sie sich entwickeln, trägt er außer einigen Andeutungen nichts bei. Daß aber gerade diese Frage für die Erziehungswissenschaft von Bedeutung ist, liegt auf der Hand. Man ist deshalb versucht, die Theorie
»menschlicher Kommunikation«
in dieser Richtung weiterzudenken und zum Beispiel zu fragen, ob nicht Beziehungs- und Inhalts-Aspekt, analoge und digitale Modalität, Dissonanz und Konsonanz von Interpunktionen im Sinne von notwendig aufeinander folgenden Entwicklungsstufen gedacht werden können. Die von Watzlawick unausgesprochen unterstellte kommunikative Kompetenz könnte so – ähnlich der
»Sprachkompetenz«
Chomskys – als ein theoretisches Konstrukt genommen werden, mit dessen Hilfe nicht nur faktische Kommunikationen, sondern auch die Entwicklung derjenigen Fähigkeiten beschrieben werden könnte, die sich in der faktischen Kommunikation zu einem bestimmten Zeitpunkt darstellen. Eine solche Erweiterung der Theorie müßte allerdings gegenwärtig allzu spekulativ ausfallen.
[047:270] Anders steht es mit der Interaktionstheorie G. H. Meads (G. H. Mead 1968). Obwohl auch in erster Linie an Struktur- und weniger an Entwicklungsproblemen orientiert, stellt Mead doch die komplexe Struktur menschlicher Interaktion in Schritten dar, die den entwicklungsmäßigen Aufbau jener Struktur bedeuten (an anderer Stelle werden wir darauf noch näher eingehen). Mit anderen Worten: Symbolische Interaktion ist ein Geschehen mit einer bestimmten kognitiven Struktur, an dem nur teilnehmen kann, wer über die entsprechenden kognitiven Schemata verfügt; dabei erfordert der komplexe Charakter dieser Struktur, daß das interagierende Individuum in einer |A3 77|Reihe von Lernschritten die entsprechenden Schemata ausbildet. Von Interaktions- oder Kommunikationsstörung muß hier also dann die Rede sein, wenn einige der erforderlichen Schemata ausbleiben, sei es, daß situative Faktoren dies bewirken, sei es, daß sie in der Lern-Geschichte des Individuums nicht gebildet worden sind.
[047:271] Im Rahmen der Entwicklungspsychologie ist dieser Gedanke von Piaget und seinen Schülern in einer umfänglichen Theorie nach verschiedenen Seiten hin entfaltet worden. Die in unserem Zusammenhang – Suche nach einem objektiven Begriff von Kommunikationsstörung – entscheidenden Thesen dieser Theorie sind die folgenden:
  1. a)
    [047:272] Erkennen (Kognition) ist nicht nur begriffliches Erkennen, sondern
    »jedes adaptive Verhalten impliziert ein Erkennen in der Form einer zumindest minimalen Erkenntnis der Umwelt«
    (H. G. Furth 1972, S. 331)
    , auch
    »die elementarste Form perzeptueller Erkenntnis (ist) das Ergebnis einer konstruktiven Tätigkeit des mit sinnlichen Daten in Interaktion stehenden Organismus«
    (a. a. O., S. 42)
    .
  2. b)
    [047:273] Alles Handeln hat (auch) eine kognitive Struktur.
  3. c)
    [047:274] Die dazu erforderlichen kognitiven
    »Schemata«
    oder
    »Organisationen«
    werden gleichsam zwingend in einer bestimmten Aufeinanderfolge gebildet.
  4. d)
    [047:275] Die Bildung und die Anwendung der Schemata ist kein von der sinnlichen Erfahrung in Interaktionen mit Dingen und Menschen isolierter
    »Erkenntnisakt«
    , noch ist es
    »Erkenntnis«
    einer angeblich unabhängigen Objektwelt, sondern eine vom Subjekt konstruierte unauflösliche Subjekt-Objekt-Beziehung
    (Furth 1972, S. 41)
    .
[047:276] Sofern die Struktur von Handlungen – nicht ihr Auftreten überhaupt oder ihre Intensität und Richtung – sich den in ihnen enthaltenen kognitiven Schemata verdankt, liegt es nahe zu prüfen, ob nicht über den Bereich der Intelligenz-Entwicklung hinaus sachstrukturelle Gesetzlichkeiten angenommen werden können, denen der Bildungsprozeß folgen muß und an denen gemessen Störungen identifizierbar werden. Die damit ermittelte Norm wäre keine Unterstellung im Sinne eines
»idealen Falles«
, sondern eine solche, die sich – Piaget folgend – aus der Natur des menschlichen Organismus und der für ihn möglichen Evolutionen notwendig ergibt. Das bedeutet, daß die Stadien |A3 78|oder Stufen der Entwicklung einer kognitiven Struktur nicht beliebig relativierbar sind; die in ihnen auftauchenden Schemata und ihre Aufeinanderfolge sind nicht umkehrbar, nicht kulturspezifisch: sie sind keine Eigentümlichkeiten kultureller oder gesellschaftlicher Lagen, sondern Eigentümlichkeiten der Gattung. Piaget und Inhelder haben das für die Bildung des abstrakten Denkens durch den Nachweis der Stufen: sensomotorische Operationen, konkrete Denkoperationen, formale Denkoperationen zeigen können.
[047:277] Ein anderes instruktives Beispiel gibt Kohlberg
(Kohlberg 1969)
, und zwar in der oben angedeuteten Absicht, nämlich zu zeigen, daß die Vorstellung von kognitiven Strukturen, deren Entwicklung invariante Stufenfolgen durchläuft, ein adäquates Paradigma zur Beschreibung und Erklärung von Bildungsprozessen überhaupt ist. Kohlberg wählt zur Veranschaulichung die Entwicklung des Traum-Begriffs beim Kinde. Die Tabelle auf S. 79 zeigt die Entwicklungsschritte, die Kinder im Hinblick auf ihre Beurteilung des
»Realitätscharakters«
von Träumen durchlaufen. Die
»pattern types«
sind diejenigen Strukturen, die eine bestimmte Entwicklungsstufe charakterisieren und die vorhergehenden integriert haben.
[047:278] Der Vergleich mit den Atayal-Kindern zeigt zwei weitere wesentliche Merkmale des hier gewählten theoretischen Paradigmas: Varianzen entstehen nicht in der Art der Stufen oder ihrer Aufeinanderfolge, sondern nur in den Zeitpunkten, zu denen die Stufen jeweils erreicht werden; die Atayal-Kinder brauchen wesentlich länger als die amerikanischen, um die einzelnen Stufen zu erreichen; nicht die – logisch notwendige – Aufeinanderfolge der Stufen ist kulturabhängig; aber die Zeit, die insgesamt für den Bildungsprozeß oder das Durchlaufen einzelner Stufen benötigt wird, steht offenbar eindeutig in dieser Abhängigkeit. Der Vergleich zeigt noch ein weiteres: Die Annahme der Stufen darf nicht die Behauptung einschließen, daß unter allen Umständen sämtliche Stufen durchlaufen werden; die Atayal-Kinder erreichen die sechste Stufe gar nicht; ja sie entwickeln sich sogar zurück auf den kulturspezifischen Level der dritten Stufe, auf dem sie mit 16 Jahren in dieser Kultur am Ende des Bildungsprozesses – im Hinblick auf diesen einen Verhaltensaspekt – angelangt sind. Eine unter angebbaren Bedingungen mögliche weitere Differenzierung der kognitiven Struktur wird also gebremst oder verhindert. Die Ausdrücke
»gebremst«
und
»verhindert«
legen nahe, bei den In|A3 79|
Sequence in Development of dream concept in American and Atayal children
Scale Pattern Types
Step 0 1 2 3 4 5 6
1. Not Real – Recognizes that objects or actions in the dream are not real or are not really there in the room. + + + + + +
2. Invisible – Recognizes that other people cannot see his dream. + + + + +
3. Internal Origin – Recognizes that the dream comes from inside him. + + + +
4. Internal Location – Recognizes that the dream goes on inside him. + + +
5. Immaterial – Recognizes that the dream is not a material substance but is a thougt. + +
6. Self-caused – Recognizes that dreams are not caused by God or other agencies but are caused by the self’s thougt processes. +
Median age of American children in given pattern or stage (Range = 4 to 8) 4,6 4,10 5,0 5,4 6,4 6,5 7,10
Median age of Atayal of given pattern. (Range = 7 to 18) 8 8 10 16 12 11
No. of Atayal children fitting scale types = 12; not fitting = 3.
No. of American children fitting scale types = 72; not fitting = 18.
dividuen eine Tendenz zu weiterer Differenzierung anzunehmen; das scheint im vorliegenden Fall auch so zu sein. Gleichwohl aber könnte auch die Umwelt des heranwachsenden Individuums so sein, daß eine weitere Differenzierung für eine erfolgreiche Bewältigung von Lebenssituationen gar nicht erforderlich ist; nach diesem Modus hat zum Beispiel Bruner (Bruner u. a. 1971) Differenzen zwischen
»primitiven«
und
»evolutionierten technischen«
Gesellschaften erklärt.
|A3 80|
[047:279] Nach diesem Modell nun läge eine
»gebildete«
, reife Form von Kommunikation, von Auseinandersetzung mit der Objekt- und Sozial-Welt dann vor, wenn sie sich derjenigen kognitiven Strukturen bedienen kann, die dem Stande der gesellschaftlichen Entwicklung entsprechen. Von Störung oder Verzerrung müssen wir dann sprechen, wenn der Differenzierungsgrad der kognitiven Struktur darunter bleibt.
»Bildungsbarrieren«
sind unter diesem Gesichtspunkt Determinanten verzerrter Kommunikation. Ihr Ort liegt in dem materiellen und kulturellen Rahmen der Lernfelder, die wir
»Lebenswelten«
genannt haben. Ihre Genese – da es sich nicht um verschiedene Kulturen oder Gesellschaften handelt – muß aus den Bedingungen dieser Klassengesellschaft erklärt werden. Die pädagogische Intervention gewinnt – folgen wir dem Paradigma der kognitiven Entwicklung – ihr objektives Maß aus den logisch notwendigen Stufen der kognitiven Entwicklung und dem, was zu einem bestimmten Zeitpunkt historisch möglich ist. Das gegenwärtig Mögliche aber ist offenbar die in jeder Entwicklungsreihe gegenwärtig letzte Stufe; andernfalls würde sich die Theorie Piagets selbst aufheben.

Folgerungen

[047:280] Unternehmen wir nun den vielleicht etwas riskanten Versuch, die referierten Ansätze zur Bestimmung gestörter Kommunikation zu integrieren. Wir hatten den
»Diskurs«
als die letzte Legitimationsbasis für Lernzielentscheidungen und -Begründungen bestimmt. Die Rechtfertigung dafür hatten wir daran gesehen, daß in jedem Erziehungsakt der Erzieher seinen Status des Erwachsenen als eines auf der Basis begründeter Handlungsorientierung agierenden Subjektes unterstellt. Diese Unterstellung ist zwar als eine Triebkraft pädagogischer Kommunikation anzusehen, aber eben nur als eine. Der historische Regelfall nämlich erfüllt in seiner faktischen Gestalt nicht den in der Unterstellung postulierten Begriff von Kommunikation, sondern bleibt hinter ihm zurück, wofür empirische Bedingungen als ursächlich angenommen werden müssen, die ihren Inbegriff im historisch-sozialen Kontext der Erziehungssituation haben. Lernzielprobleme haben es also mit dieser Differenz zu tun. Die referierten Ansätze machen Vorschläge, in welchen Dimensionen
»Störung«
ermittelt werden muß und also jene |A3 81|Differenz aufgeklärt werden kann. Es sind dies die folgenden Dimensionen:
  • [047:281] die kognitive Struktur,
  • [047:282] die Beziehungsdefinitionen,
  • [047:283] die Inhalte von Kommunikationen,
  • [047:284] die symbolischen Kommunikationsmittel.
[047:285] Jeder Erziehungsakt kann nach diesen Dimensionen analysiert werden. Es sind
»Dimensionen«
, d. h., sie können zwar unabhängig voneinander betrachtet werden, sie treten aber nicht unabhängig voneinander auf: Jede Beziehung, jede Thematisierung eines Inhaltes, jeder Komplex von Symbolen hat eine kognitive Struktur; jede kognitive Struktur konkretisiert sich innerhalb von Beziehungen, angesichts von Inhalten; Inhalte werden bedeutsam im Rahmen von Beziehungsdefinitionen und identifiziert in symbolischen Mitteln usw.
[047:286] Damit haben wir zugleich einen Vorschlag für die Bestimmung des Gegenstandes der Erziehungswissenschaft, d. h. der Bestimmung des pädagogischen Feldes in denjenigen Dimensionen gemacht, die der pädagogischen Intervention zugänglich sind. Das gilt freilich nur, wenn kein Zweifel daran besteht, daß die Natur der pädagogischen Intervention ein kommunikatives Handeln ist, dessen
»Gegenstand«
auch nur in dem liegen kann, was den Kommunikationspartnern verfügbar ist. Daß darüber hinaus in jeder pädagogischen Situation Faktoren wirksam sind, die die faktische Gestalt der Kommunikation in unterschiedlicher Stärke bestimmen, unterliegt keinem Zweifel. Diese Faktoren können jedoch für das pädagogische Handeln nur mittelbar zum Gegenstand werden, und zwar über die Änderung von kognitiven Strukturen, Beziehungsdefinitionen, Kommunikationsinhalten und Kommunikationsmitteln – d. h. über die zu bildende Handlungsfähigkeit der von jenen Faktoren betroffenen Subjekte.
»Erziehung«
kann deshalb nicht mehr sein als organisierte Aufklärung; darin liegt ihre Macht wie ihre Ohnmacht.
[047:287] Nehmen wir hier den Ausdruck
»Aufklärung«
in Anspruch, dann wird deutlich, daß wir mit der Dimensionierung noch gleichsam unterhalb der Ebene des
»Diskurses«
geblieben sind. Im Diskurs aktualisieren sich kognitive Schemata, die das Kommunizieren eines Individuums oder einer Gruppe überhaupt und nicht nur in der Form des Diskurses bestimmen. Die Mög|A3 82|lichkeit, eingespielte Definitionen, Normen, Kommunikationsregeln, die Bedingungen ihrer Stabilität oder Veränderbarkeit problematisieren und also
»metakommunikativ«
zum Inhalt machen, über Frage und neue Begründung neuen Konsensus erzielen und das Handeln daran umorientieren zu können, ist zwar die gleichsam letzte Probe aufs Exempel, die höchste mögliche Stufe der Anwendung kommunikativer Schemata und ihrer kognitiven Implikationen; aber weder ist dies der historische Regelfall, noch auch ist es dem Typus nach das, was quantitativ den Erziehungs- und Bildungsalltag ausmacht. Dieser Alltag strukturiert sich viel eher auf einer Ebene kommunikativer Prozesse, in denen es um einfachen und nicht um metakommunikativen Umgang geht; und das prinzipiell immer für alle Partner der pädagogischen Kommunikation: Erwartungen wahrnehmen und interpretieren, Regeln erlernen und einhalten, Probleme identifizieren und lösen, Beziehungen definieren, Sprache verstehen, Situationen strukturieren, Handlungen planen usw. Kurz: Eine relative Sicherheit in der Kommunikation muß vorausgesetzt werden, wenn Diskurs als reales Ereignis wahrscheinlich sein soll. Diese Ebene der Kommunikation nennen wir
»Interaktion«
. Lernziele und die Analyse pädagogischer Felder differenzieren sich deshalb in die beiden Ebenen Interaktion und Diskurs.
[047:288] Im Abschnitt über das pädagogische Feld als Sinnzusammenhang haben wir als die konstitutiven Dimensionen die Sozialwelt, die Objektwelt und die Welt der projektiven Gehalte unterschieden. Dies sind folglich nun auch diejenigen Dimensionen, in denen sich Interaktion und Diskurs bestimmen müssen. Das analytische Schema zur Bestimmung pädagogischer Sachverhalte sähe demnach also so aus, wie auf der nächsten Seite dargestellt.
[047:289] Interaktion und Diskurs verhalten sich zueinander wie die Stufen der kognitiven Entwicklungstheorie: das eine (Interaktion) ist notwendige Voraussetzung des anderen (Diskurs). Da jedoch der Begriff des Diskurses die Legitimationsbasis abgibt, müssen Lernzielentscheidungen auf der Ebene der Interaktion mit Bezug auf ihn gefällt werden, anders blieben sie unkritisch. Andererseits setzt der Diskurs das Funktionieren der Schemata auf der Ebene der Interaktion voraus; Lernzielentscheidungen, die den Diskurs unmittelbar betreffen, müssen deshalb diese Voraussetzung mit einbeziehen; anders blieben sie empirisch blind. Schließlich müssen alle Lernzieldiskussionen |A3 83|in den Kontext des historisch Möglichen und Notwendigen eingefügt bleiben, müssen sich im Rahmen der Bedingungen von Situationen, Lebenswelten, Institutionen, Produktionsverhältnissen und Klassenlagen begründen; anders blieben sie politisch leer.
Hier ist ein Schaubild des analytischen Schemas zur Bestimmung pädagogischer Sachverhalte abgebildet.
|A3 84|

2. Kapitel
Erziehung als Interaktion

Interaktion

[047:300] Die im ersten Kapitel vorgetragenen Erwägungen, besonders in den letzten Abschnitten, knüpfen an eine Forschungstradition an, auf die schon verschiedentlich hingewiesen wurde und die für die Sozialisationstheorie neuerdings von immer größerer Bedeutung wird. Von der Pädagogik hätte sie eigentlich schon längst rezipiert werden sollen, da in ihr die Genese und die Struktur von Interaktion zum Grundthema der Sozialisationstheorie gemacht wird. Dieser Ansatz – vom Pragmatismus des Ch. Peirce (1970) herkommend und über G. H. Mead (1968), Goffman (1961, 1963), Strauss (1968), Bateson u. a. (1969), Laing (1971), Watzlawick u. a. (1969) nun auch in die deutsche sozialisationstheoretische (Habermas 1968; Krappmann 1971; Oevermann 1970) und erziehungswissenschaftliche (Baacke 1972; Loch, in: Lurija/Judowitsch 1970) Diskussion eindringend – ist deshalb für die erziehungswissenschaftliche Forschung vielversprechend, weil er die Chance einer Wendung vom manipulativen zum kommunikativen Erziehungsverständnis begründen helfen und damit unsere Erziehungskonzepte erweitern könnte. Im folgenden soll nun allerdings nicht diese Theorie-Geschichte dargestellt werden, sondern es geht nur um jene Forschungsteile, die im Zusammenhang dieses Textes von besonderer Bedeutung scheinen. In diesem Sinne soll (noch einmal) von der Struktur der Interaktion, von den Grundsachverhalten des interpersonellen Handelns, der Beziehungsproblematik und dem Identitäts-Konzept die Rede sein.

1. Struktur der Interaktion

[047:301] Unter den oben genannten Theorien spielt die von G. H. Mead die bedeutendste Rolle. Das von ihm entwickelte Paradigma für die Struktur der menschlichen Interaktion stellt seit seiner ersten Veröffentlichung 1934 den ausgesprochenen oder unausgesprochenen Bezugspunkt aller einschlägigen Erörterungen dar. Ch. Morris, Schüler Meads, faßt dessen Theorie in einer These zusammen:
»Die Umwandlung des biologischen Indivi|A3 85|duums in einen mit Geist begabten Organismus findet ... durch das Werkzeug der Sprache statt, während die Sprache wiederum die Existenz einer bestimmten Gesellschaft und bestimmte physiologische Fähigkeiten der individuellen Organismen voraussetzt«
(Mead 1968, S. 23)
.
Eine Interaktion im Medium
»signifikanter Symbole«
– so nennt Mead die sprachlichen Zeichen im Unterschied zu
»vokalen Gesten«
– etabliert eine Situation,
»in der der einzelne in sich selbst Reaktionen auslösen und auf sie reagieren kann unter der Bedingung, daß der gesellschaftliche Reiz auf ihn die gleiche Wirkung ausübt wie auf andere«
(Mead 1968, S. 187)
.
In der durch signifikante Symbole vermittelten oder strukturierten Situation geschieht also folgendes: A richtet mit Hilfe eines signifikanten Symbols eine Erwartung an B; er unterstellt dabei, daß B ihn versteht; die von B nun zu erwartende Handlung kann von A antizipiert werden, und zwar aufgrund einer Eigentümlichkeit signifikanter Symbole: sie lösen nämlich im Sprecher die gleiche Reaktion aus wie im Hörer; nichts anderes heißt
»verstehen«
; es werden Symbole verwendet, die für mehrere die gleiche Bedeutung haben; infolgedessen kann A nun auch noch antizipierend den nächsten Schritt tun: die Vollendung seiner eigenen Handlung als Reaktion auf die Handlung B’s ins Auge fassen. Die so beschriebene Struktur reziproker Erwartungen, Antizipationen und ihrer symbolischen Präsentation ist nicht nur etwas, nach dem äußerlich beschreibbar die Interaktion abläuft, sondern es ist auch
»in«
den Individuen: ein kognitives Grundmuster der menschlichen Interaktion, das A und B teilen.
[047:307] Die Bedeutung einer sprachlichen Geste liegt also nicht nur in der unmittelbaren Wirkung, die sie zur Folge hat (die Response des Interaktionspartners), sondern darüber hinaus in der Vorwegnahme der weiteren Interaktionsschritte durch die an der Interaktion beteiligten Individuen. Menschliche Interaktion ist so dadurch charakterisiert, daß sie schon im Ansatz zweierlei enthält: die Bindung an die geteilten Bedeutungen eines gesellschaftlichen Kontextes und die relative Freiheit von den Faktoren einer situativen Gesamtdynamik, der der Organismus ohne die Fähigkeit, über signifikante Zeichen verfügen zu können, verhaftet bliebe.
[047:308] Die symbolische Interaktion in diesem Sinne setzt also die Verwendung von Symbolen voraus, die allgemeine Anerkennung haben, die gleiche Bedeutung für verschiedene Individuen haben und imstande sind, die Allgemeinheit von Beziehungen |A3 86|auszudrücken.
»Man kann nichts sagen, was absolut partikulär wäre; alles, was sinnvoll gesagt wird, ist allgemein«
(Mead 1968, S. 189)
, und zwar insofern, als alle signifikanten Symbole ein gesellschaftlich Allgemeines enthalten. Es liegt demnach in der Natur der menschlichen Interaktion, daß das Individuum, indem es spricht, immer auch mit den Intentionen der anderen spricht. Und umgekehrt gilt, daß ein Individuum, wenn es etwas sagt, zu sich selbst auch das sagt, was es zu anderen sagt;
»andernfalls wüßte es nicht, worüber es spricht«
(S. 189)
.
[047:309] Um solche einerseits trivial, andererseits vielleicht auch spekulativ anmutenden Behauptungen zu konkretisieren, verwendet Mead Beispiele aus der kindlichen Sprach- und Selbstentwicklung, insbesondere aus der Sphäre des Spiels. Das einleuchtendste Exempel ist das kindliche Rollenspiel, und zwar jenes, in dem das Kind alleine spielt.
»Es spielt zum Beispiel, daß es sich etwas anbietet, und kauft es; es gibt sich selbst einen Brief und trägt ihn fort; es spricht sich selbst an – als Elternteil, als Lehrer; es verhaftet sich selbst – als Polizist. Es hat in sich Reize, die in ihm selbst die gleiche Reaktion auslösen wie in anderen. Es nimmt diese Reaktionen und organisiert sie zu einem Ganzen. Das ist die einfachste Art und Weise, wie man sich selbst gegenüber ein anderer sein kann«
(S. 193)
.
Das Kind produziert also mit Hilfe der Sprache in solchen Fällen in sich selbst das Muster einer symbolischen Interaktion, damit aber zugleich auf sprachliche Weise das Muster sozialer Beziehungen und seinen eigenen Ort innerhalb solcher Beziehungssysteme. Es entwickelt in sich und übt für sich seine Identität. Der Ausdruck
»Identität«
bedeutet dabei den durch Sprache dem Bewußtsein verfügbar gemachten Ort der einzelnen Person in einem sozialen Beziehungssystem. Und zwar sprechen wir von Identität nur dann, wenn die Person das Selbstverständnis, das sie sprachlich von sich selbst produziert, mit dem Verständnis teilt, das andere Personen dieses Beziehungssystems von ihr haben. Fällt dieses sprachlich formulierte Selbstverständnis mit dem Verständnis oder dem Bild, das andere von dieser Person haben, nicht zusammen, drohen Identitätskrisen oder im äußersten Falle Identitätsverlust.
[047:313] Das Beispiel des Kindes, das für sich selbst verschiedene Rollen zu spielen versucht, ist nur der einfachste Fall solcher Identitätssuche und Identitätsfindung. Als Paradigma der voll entwickelten Interaktionsstruktur führt Mead das Gruppenspiel an. Das charakteristische Merkmal von Gruppenspielen ist, daß |A3 87|sie sich nach Regeln vollziehen. Das Gruppenspiel
»repräsentiert im Leben des Kindes den Übergang von der spielerischen Übernahme der Rolle anderer zur organisierten Rolle, die für das Identitätsbewußtsein im vollen Wortsinn entscheidend ist«
(S. 194)
.
Im Falle des Gruppenspieles kann das Kind verschiedene Rollen nicht mehr nacheinander ausprobieren und in sich selbst zur Darstellung bringen, sondern es muß die Gesamtheit der durch die Regeln miteinander verbundenen Rollen innerhalb des Spiels gleichzeitig gegenwärtig haben. Das Kind muß gleichsam die Haltung aller anderen am Spiel Beteiligten in sich haben. Die Organisation des Ganzen, die Spielregel, kontrolliert die Reaktion jedes einzelnen. Alles, was der einzelne tut, wird bestimmt durch Annahmen über die möglichen Reaktionen der anderen; alles, was der einzelne Spieler tut, ist Bestandteil des Interaktions-Systems, wird bestimmt durch die Position, die sich für ihn aus dem Wechselspiel der Gruppe bzw. den Spielregeln ergibt. Da die Regeln, denen die Interaktion faktisch folgt, auf der geteilten Bedeutung signifikanter Symbole beruhen, kann man sagen: Sozialspiele und Sprachspiele enthalten die gleiche Struktur.
[047:317] Wie aber kommt es zu jenem Übergang vom individuellen Rollenspiel zum Gruppenspiel, zu jenem Befolgen von Regeln und der Dauerhaftigkeit des damit verbundenen Verhaltens? Auch dies muß durch die Struktur der Interaktion erklärt werden können. Zu diesem Zweck führt Mead den Begriff des
»verallgemeinerten Anderen«
(generalized other) ein. Am individuellen Rollenspiel wird deutlich, daß das Kind kraft seiner Fähigkeit, signifikante Symbole verwenden zu können, sich als ein
»selbst«
sehen, auf sich selbst reagieren kann.
[047:318]
»Für das Selbst ist es notwendig, daß die Person auf sich selbst reagiert. Dieses gesellschaftliche Verhalten liefert das Verhalten, in dem Identität auftritt. Außer dem sprachlichen kenne ich kein Verhalten, in dem der einzelne sich selbst Objekt ist, und soweit ich sehen kann, ist der einzelne solange keine Identität im reflektiven Sinn, als er nicht sich selbst Objekt ist. Diese Tatsache gibt der Kommunikation entscheidende Bedeutung, da sie ein Verhalten ist, bei dem der einzelne in dieser Weise auf sich selbst reagiert«
(S. 184)
.
[047:319] Die Symbole, die das Kind in seinen Interaktionen verwendet, sind – wir erinnern noch einmal daran – von geteilter Bedeutung, auf Situationen bezogen, in denen Interaktion stattfand und möglich ist. Dies ist die Bedingung dafür, daß das Kind |A3 88|auch Erwartungen akzeptieren kann, die über die unmittelbar gegebene Situation hinausgehen, und zwar nach Maßgabe seines Fortschrittes im Erwerb signifikanter Symbole. Jenes Gruppenspiel ist ein Beispiel für solche Erwartungen. Das Kind aber kann sie nur erfahren in einem
»pädagogischen«
Kontext, d. h. im Zusammenhang einer interagierenden Gruppe, in der Erwartungen und Reaktionen wiederkehren und das Allgemeine in den Symbolen nicht auf Zweier-Beziehungen oder einzelne Situationen beschränkt bleibt, sondern sich als relativ stabile soziale Struktur, als Struktur der Interaktion, etabliert und dem Kinde auf diese Weise ein relativ dauerhafter sozialer Ort, eine Identität ermöglicht wird.
[047:320]
»Die organisierte Gemeinschaft oder gesellschaftliche Gruppe, die dem einzelnen seine einheitliche Identität gibt, kann
der (das) verallgemeinerte Andere
genannt werden. Die Haltung dieses verallgemeinerten Anderen ist die der ganzen Gemeinschaft. So ist zum Beispiel bei einer gesellschaftlichen Gruppe wie einer Spielmannschaft eben dieses Team der verallgemeinerte Andere, insoweit es – als organisierter Prozeß oder gesellschaftliche Tätigkeit – in die Erfahrung jedes einzelnen Mitgliedes eintritt«
(S. 196 f.)
.
[047:321] Korrespondierend mit dieser dem Individuum gegenüber als äußerlich beschriebenen Instanz des
»verallgemeinerten Anderen«
muß eine entsprechende
»innere«
Instanz angenommen werden. Sie ist in dem obigen Zitat von Mead im Grunde auch schon mitbeschrieben, wenn er sagt, daß ein Kontext von Erwartungen nur insofern als
»verallgemeinerter Anderer«
zu bestimmen ist, als dieser
»in die Erfahrung jedes einzelnen Mitgliedes eintritt«
, d. h. sich dort zu einer kognitiven Struktur organisiert. Im Individuum entsteht ein Zusammenhang von Interaktions-Orientierungen, den es mit den Mitgliedern der Gruppe teilt, der zu ihm
»selbst«
gehört und den es als
»sich selbst«
im Sinne eines sinnvoll interagierenden Subjektes bestimmen kann. Mead nennt diese Instanz das
»Me«
(das
»Mich«
, oder – in der hier zitierten Übersetzung – das Ich), und zwar im Unterschied zum
»I«
(
»Ich«
), das sich vom
»Me«
noch einmal distanziert erfahren kann. (Diese problematische Unterscheidung kann indessen hier unerörtert bleiben.)
[047:322] Unter gesellschaftlichen Bedingungen laufen diese Prozesse nicht willkürlich ab, sondern sie werden – zumal innerhalb von Erziehungsverhältnissen – gesteuert. Das geschieht dadurch, daß die möglichen Interaktionen, in die das Kind geraten kann, |A3 89|begrenzt sind und Regelmäßigkeit zeigen: Mit bestimmten Individuen (zum Beispiel Familienmitgliedern) interagiert es häufiger, bestimmte Individuen (zum Beispiel Eltern, Lehrer) verfügen über Sanktionsmittel und damit über Einfluß auf die verwendeten Interaktionsmuster. Es müssen also – vor der Entstehung des
»Me«
und an seiner Bildung beteiligt – besonders bedeutsame Interaktionspartner angenommen werden:
»signifikante Andere«
, die im Falle von durch Macht gestützten Einflußchancen sogar als
»autoritative Andere«
in Erscheinung bzw. in den Interaktionsprozeß eintreten
(Gerth/Mills 1970, S. 74 ).
[047:323]
»Die soziale Bestimmtheit des Selbst muß noch in einer anderen Hinsicht spezifiziert werden: durch die Überlegung, wer die anderen sind, denen wir antworten. Nur die Einschätzung jener anderen, die in gewisser Weise für die Person bedeutsam sind, sind wertvoll für den Aufbau und die Erhaltung des Selbstbildes. In manchen Familien und Gesellschaften ist die Mutter für das Kind der bedeutendste
signifikante Andere
, da sie direkt für die körperlichen Bedürfnisse sorgt und durch ihre Handlungen die impulsiven Anfänge der Handlungen des Kindes ergänzt. In solchen Fällen ist wahrscheinlich das Bild des Kindes, das es von sich selbst hat, identisch mit dem, das die Mutter von ihm hat. Wenn aber die Person heranwächst, dann beginnt eine Vielzahl von
signifikanten Anderen
zu wirken. Wenn wir wissen, wer der
signifikante Andere
des Selbstbildes einer Person ist oder war, so wissen wir schon sehr viel über diese Person«
(Gerth/Mills 1970, S. 78)
.
[047:324] Aus den bisher beschriebenen Begriffen und ihrer Beziehung zueinander ergibt sich das folgende schematische Struktur-Bild von Interaktion:
Hier ist ein Schaubild zur Struktur von Interaktion in Anlehnung an Gerth⁠ und Mills⁠ zu sehen.
|A3 90|

2. Das
»interaktionistische Rollenmodell«

[047:333] Im Anschluß an das von Mead entwickelte Paradigma haben insbesondere die
»symbolischen Interaktionisten«
Goffman und Strauß einzelne Fragen noch deutlicher herauszuarbeiten versucht. Dabei richtete sich dieser Versuch unter anderem gegen das sozialisationstheoretische Konzept von Parsons, demgegenüber nun die sogenannte
»kritische Rollentheorie«
ins Feld geführt wurde, in der deutschsprachigen Diskussion vor allem von Habermas (1968), Krappmann (1971 a, 1971 b) und Oevermann (1970). G. H. Mead könnte noch so interpretiert werden, als unterstelle er für den Normalfall eine vollkommene Entsprechung der sozialen Erwartungen an das Individuum und dessen eigenen Orientierungen und Handlungsimpulsen. Nimmt man indessen denjenigen Teil seines Paradigmas ernst, in dem gerade der symbolische Charakter der Interaktion, d. h. Antizipation, Reziprozität, Vergegenständlichung und damit auch Interpretation von Verhaltenserwartungen, hervorgehoben wird, dann zeigt sich, daß Interaktionsspielräume, Aushandeln von Beziehungsdefinitionen und Regeln sowie Umorganisieren von Regeln durchaus zur
»normalen«
Interaktion gehören, daß also
»geteilte Bedeutung«
Inkongruenzen zuläßt, ja daß solche durch die Verschiedenartigkeit von Individuen (vgl. das
»I«
) und Situationen sogar unausweichlich sind und damit zu den wesentlichen Bestandteilen der Interaktionsstruktur gehören. Eben dieser Punkt interessiert – unter anderem – den symbolischen Interaktionismus. Er richtet sich damit vor allem gegen die folgenden Annahmen einer
»traditionellen«
Rollen- und Sozialisationstheorie (vgl. Krappmann 1971 a). (Wir erörtern damit hier noch einmal ausführlich, worauf bereits bei der Diskussion von Erziehungszielen hingewiesen wurde.):
  • [047:334] Eine Interaktion verläuft um so erfolgreicher, je ausgeprägter die Verhaltenserwartungen und die Interpretationen dieser Erwartungen übereinstimmen.
  • [047:335] Das Individuum sucht in einer Situation sein Verhalten immer an nur einer dominanten Erwartung zu orientieren; gelingt das wegen divergierender oder gar widersprüchlicher Erwartungen in ein und derselben Situation nicht, entsteht für das Individuum eine prekäre Lage, in der es zur Devianz, zu abweichendem Verhalten neigt.
  • |A3 91|
  • [047:336] Eine erfolgreiche Interaktion ist um so wahrscheinlicher, je eindeutiger die Partner in ihren Erwartungen übereinstimmen.
  • [047:337] Erfolgreiche Interaktion setzt voraus, daß die Bedürfnisse der Interagierenden den institutionalisierten Werten, die in dem sozialen Rahmen der Interaktion enthalten sind, entsprechen.
  • [047:338] Die Orientierung der Interaktionspartner an den vorgegebenen Erwartungen (am verallgemeinerten anderen, an Rollennormen, an institutionalisierten Zwecken) garantiert ihnen eine gegenseitige Befriedigung ihrer Bedürfnisse.
  • [047:339]
    »Wenn eine Person voll im Interaktionssystem sozialisiert ist, ist es nicht richtig zu sagen, daß eine Rolle etwas ist, was ein Handelnder
    hat
    oder
    spielt
    , sondern etwas, das er
    ist
    (Parsons 1955, S. 107)
    ; was eine solche Person
    »ist«
    , ist also – und zwar ohne Rest – identisch mit ihrem
    »Me«
    .
[047:340] Diese Annahmen sind offenbar sinnvoll, sofern die relative Gleichförmigkeit des Verhaltens verschiedener Personen in gleichen sozialen Situationen erklärt werden soll.
[047:341] Sie
»ist in dieser abstrakten Form nämlich sehr gut imstande, plausibel zu machen, daß die normenkonforme Integration eines Kindes in die Gesellschaft erreicht wird, indem Bedürfnisdispositionen, die um soziale Erfahrungen im komplementären Rollenhandeln organisiert wurden, als Motivation zur Erfüllung von vorgegebenen Normen in Dienst genommen werden. Das Modell erklärt also durchaus die
vergesellschaftende
Seite des Sozialisationsprozesses«
(Krappmann 1971a, S. 167)
.
[047:342] Aber unter welchen Umständen ist so etwas schon in reiner Form der Fall? Goffman hat – mit einer feinen impliziten Ironie – beschrieben, unter welchen Bedingungen dieses Modell Gültigkeit beanspruchen kann: in totalen Institutionen, in denen den Individuen tatsächlich kaum eine Wahl bleibt, als sich dem institutionalisierten System von Erwartungen, Bedürfnisbefriedigungen und Interaktionsregeln zu unterwerfen. Das ist in psychiatrischen Anstalten, im Militär, der Tendenz nach in Erziehungsheimen, Schulen und arbeitsteiligen Produktions- oder Distributionsbetrieben der Fall. Die
»repressive«
Tendenz solcher Einrichtungen besteht gerade darin, die in der Struktur der Interaktion vorgezeichneten Spielräume zu beschneiden, was sich an der spezifischen Deformation zeigen läßt, die dort der kommunikativen Kompetenz der Individuen mehr als andernorts zugefügt wird. Für den
»Normalfall«
ist deshalb |A3 92|ein Paradigma der Interaktion zu wählen, im Vergleich zu dem die totale Institution als der
»pathologische«
Grenzfall erscheint. Aus diesem Grunde postuliert das
»interaktionistische Rollenmodell«
(statt
»Rolle«
ist es hier zulässig und meines Erachtens sogar sinnvoller, von
»Interaktion«
zu sprechen), daß
  1. »1.
    [047:343]
    Rollennormen nicht rigide definiert sind, sondern einen gewissen Spielraum für subjektive Interpretation durch die Rollenpartner lassen; daß
  2. 2.
    [047:344]
    die Rollenpartner im jeweiligen Interaktionsprozeß nicht nur die gerade aktuelle Rolle übernehmen, sondern zugleich verdeutlichen, welche weiteren Rollen sie noch innehaben oder früher innehatten; daß
  3. 3.
    [047:345]
    mehr als ein vorläufiger, tentativer und kompromißhafter Konsens der Partner über die Interpretation ihrer Rollen im Regelfall nicht zu erreichen und auch nicht erforderlich ist.
  4. 4.
    [047:346]
    Dieses Modell geht ferner gerade davon aus, daß die individuellen Bedürfnisdispositionen den institutionalisierten Wertvorstellungen nicht voll entsprechen. Somit müssen nach diesem Modell
  5. 5.
    [047:347]
    die Rollenpartner für die Sicherung des Fortgangs von Interaktion fähig sein, auf die von den eigenen verschiedenen Bedürfnisdispositionen des anderen einzugehen und auch unter Bedingungen unvollständiger Komplementarität, d. h. nur teilweiser Befriedigung eigener Bedürfnisse, zu interagieren.
  6. 6.
    [047:348]
    Nicht Institutionen, deren Mitglieder Normen
    automatisch
    erfüllen, werden als stabil betrachtet (es sei denn, sie werden unter Zwang aufrecht erhalten, K. M.), sondern diejenigen, die ihren Mitgliedern ermöglichen, im Rahmen des Interpretationsspielraums, den die vorgegebenen Normen lassen, eigene Bedürfnisse in der Interaktion zu befriedigen«
    (Krappmann 1971 a, S. 169).
[047:349] Mit diesen Thesen wird die theoretische Aufmerksamkeit zunächst ganz auf das Geschehen zwischen den Interaktionspartnern, d. h. auf die genauere Bestimmung ihrer Beziehung gerichtet. Das interaktionistische Modell gibt zwar die Richtung weiterer Bestimmung und Analysen an, bleibt in diesem Stadium aber noch relativ abstrakt. Denn: Was geschieht im einzelnen, wenn eine Kommunikation aufgenommen wird? Nach welchen Regeln verfahren die Partner? Was wird auf welche Weise mitgeteilt? Diesen Fragen ist – wie wir schon im ersten Kapitel sahen – Watzlawick in verschiedenen Dimensionen nachgegangen. Aber er hat dabei unter anderem nur aufgenommen und systematisiert, was im Bereich speziellerer Forschungsrichtungen bereits erarbeitet worden war: im Kreis derjenigen Forschungsgruppe vor allem, die sich mit Fragen einer kommunikationstheoretisch orientierten Therapie sogenannter schizophrener Patienten und Familien befaßte (Bateson u. a. 1969).
|A3 93|

3. Die
»Beziehungsfalle«

[047:350] Von Mead wie auch von Gerth/Mills wurde darauf hingewiesen, welche Bedeutung bei der Bildung des
»Me«
den primären Bezugspersonen (signifikanten Anderen) und den Beziehungen zu ihnen zukommt. Wie das Individuum sich zu sehen lernt, wie es sich in Beziehung zu anderen bestimmt, wie es konkret solche Beziehungen aufnimmt und unterhält, welches
»Selbst«
es ausbildet, ist von der Art der Beziehung zu diesen Bezugspersonen entscheidend abhängig. In dem Maße, in dem im Verlauf einer Biographie immer andere, gesellschaftlich immer allgemeinere Gültigkeit repräsentierende signifikante Andere, auch in der Form von Bezugs-Kollektiven, in den Interaktionshorizont des Individuums eintreten, läßt sich das Beziehungsproblem auf verschiedenen Ebenen denken, die sowohl nach Maßgabe lebensgeschichtlicher wie auch gesellschaftlich-objektiver Kriterien angenommen werden können. Jedenfalls scheint es so zu sein, daß die Beziehungsphänomene, will man sie systematisch betrachten, im Rahmen einer kontrollierten Erweiterung des gesellschaftlichen und biographischen Kontextes interpretiert werden müssen.
[047:351] Auf der dem einzelnen Fall, der besonderen Situation am nächsten liegenden Ebene ist eine, wie ich meine, der erziehungswissenschaftlich folgenreichsten Hypothesen zur Aufklärung primärer Beziehungsprobleme entwickelt worden: die
»double-bind-Hypothese«
oder die Hypothese von der
»Beziehungsfalle.«
Sie wurde zwar im Ramen der Therapie von Schizophrenen entwickelt; dieser Ursprung aber ist hier uninteressant, da sie ein generelles Struktur-Problem von Interaktionen und des Sozialisationsprozesses aufwirft. Diese Hypothese läßt sich am besten mit Hilfe des Beispiels beschreiben, das
Haley (in: Bateson u. a. 1969)
gibt:
[047:352] Eine Mutter ruft nach ihrem kleinen Kind und bittet es, auf ihren Schoß zu kommen. Sie gibt damit sprachlich zu erkennen, daß sie eine liebevoll-zärtliche Beziehung zu ihm aufzunehmen wünscht. Gleichzeitig aber drückt sie durch den Tonfall ihrer Stimme und durch nicht-verbale, ihre Rede begleitende Gesten aus, daß sie eine Abneigung gegen das Kind verspürt und ihr der Gedanke, das Kind auf dem Schoß zu haben, nicht angenehm ist. Das Kind stutzt einen Augenblick. Dann geht es zur Mutter, klettert auf ihren Schoß, nimmt einen Knopf ihrer Jacke in die Hand und sagt:
»Das ist aber ein schöner Knopf!«
|A3 94|
[047:353] Was geschieht in dieser Situation? Die Interaktion findet offenbar auf zwei
»Kanälen«
statt, auf einem verbal-expliziten und einem zweiten, in dem mit Hilfe nicht-verbaler Gesten zusätzliche Botschaften ausgetauscht werden können (nach Watzlawick: digitale und analoge Kommunikations-Modalitäten, hier auf der Beziehungsebene). Die Mitteilungen auf beiden Kanälen können kongruent sein, sie müssen es aber nicht. Im vorliegenden Fall sind sie es offensichtlich nicht. Für das Kind entsteht in dieser Situation das Problem, auf welche der beiden Mitteilungen es reagieren soll. Denn die beiden Mitteilungen sind nicht nur nicht kongruent, sondern sie sind widersprüchlich. Da die in den beiden Mitteilungen zum Ausdruck gebrachten Erwartungen sich ausschließen (
»Komm zu mir!«
»Bleib mir fern!«
), kann das Kind auf keine der beiden reagieren, ohne die andere zu verletzen. Es sitzt in einer
»Beziehungsfalle«
oder befindet sich – wie Watzlawick das nennt – in einer paradoxen Kommunikations-Situation. Es löst dieses Dilemma durch ein Verhalten, das im Hinblick auf die beiden widersprüchlichen Beziehungsdefinitionen der Mutter uneindeutig ist und eigentlich jede der beiden Mitteilungen zu negieren vorgibt: es wendet sich einem anderen Sachverhalt (dem Knopf) zu.
[047:354] Die Differenz zwischen den Mitteilungen auf den beiden
» Kanälen«
muß nicht als Widerspruch angenommen werden; es genügt die Annahme, daß es sich um nicht-kongruente Mitteilungen handeln kann, um daran festzuhalten, daß es sich hier um eine für die Aufklärung pädagogischer Probleme außerordentlich fruchtbare Hypothese handelt. Double-bind-Interaktionen gehören zu jedem Erziehungsalltag. Problematisch allerdings werden sie in dem Maße, in dem sie regelmäßig wiederkehren und für einzelne Individuen typische Interaktionen sind, denen sie konfrontiert werden. Wir können dann – im Sinne der Hypothese – annehmen, daß, je ausgeprägter sich solche Inkongruenzen zu dauerhaften Interaktionsmustern verdichten, die Chancen zur Metakommunikation und damit zur Bewältigung dieser Lage im Sinne einer Emanzipation aus den Bedingungen, die sie herbeiführen, unwahrscheinlicher werden. Mir scheint, daß es sich bei dieser Hypothese nicht um ein unerhebliches Detail handelt, sondern um eine Vermutung, die eine Art Basis-Merkmal unserer Art, mit der jungen Generation umzugehen, zum Vorschein bringt. Besonders betroffen scheinen davon diejenigen Gruppen zu sein, die sich in stärker abhängigen sozialen Positionen befinden. Die im zitierten Beispiel |A3 95|geschilderte Interaktion häuft sich vermutlich dort, wo das Kind ein für das Ehe-Subsystem oder die Familie im ganzen schwer zu bewältigendes Problem darstellt (Richter 1963 und 1970). So ist ferner etwa in Erziehungsheimen eine Differenz zwischen zwei nicht zu vereinbarenden Erziehungsstilen und den darin enthaltenen Beziehungsdefinitionen zu beobachten: eine am Modell der bürgerlichen Kleinfamilie orientierte Beziehungs- und Verhaltenserwartung und ein offizielles Umgangs-Reglement, das gerade die eher punitiven und individuelle Eigentümlichkeiten vernachlässigenden Merkmale des Erziehungsstils der unteren sozialen Schichten reproduziert (vgl. Mollenhauer 1972; Wenzel 1970). Für englische Arbeiter-Eltern, deren Kinder sich in weiterführenden Schulen befinden, ist eine ähnliche Situation beschrieben worden: Einerseits erwartet die Schule, das Lehrer-Kollegium, daß sie Interesse für die Schule zeigen, andererseits stellt sich die Schule den Eltern gegenüber in einer Form dar (die vielen Fremdheitserlebnisse, die Arbeiter-Eltern sehr konkret mit der höheren Schule haben), die nicht als positives Beziehungsangebot interpretiert werden kann (vgl. Jackson/Marsden 1962). Kinder solcher Eltern selbst befinden sich in unseren Bildungsinstitutionen vermutlich in einem ähnlichen Konflikt, sofern ihnen einerseits Aufmerksamkeit entgegengebracht wird, man damit aber die Erwartung verknüpft, daß sie die Erfahrungen ihrer sozialen Herkunft besser ignorieren oder verleugnen.
[047:355] Also nicht nur im Bereich der primären Sozialisation – obwohl sie dort ihren eigentlichen Ort hat und ihre Fruchtbarkeit am nachdrücklichsten erweisen konnte –, sondern auch im sekundären Bereich der Bildungsinstitutionen scheint uns die
»double-bind-Hypothese«
eine produktive Annahme zu sein. In den durch solche Konstellationen herbeigeführten Konfliktsituationen entsteht ein Lösungs-Dilemma, das nur dann ausweglos und entschieden pathogen ist, wenn es keine Alternative von
»signifikanten Anderen«
gibt. Für den anderen Fall haben Gerth/Mills das Konstrukt des
»intimen Anderen«
vorgeschlagen: ein Interaktionskontext, der alternativ die unbefriedigt gebliebenen Erwartungen und Beziehungsbedürfnisse befriedigen kann. Neger-Kinder zum Beispiel, die in einem Test, in dem schwarze und weiße Puppen bewertet werden mußten, die schwarzen Puppen negativ bewerteten und sich damit der von der dominanten rassistischen Kultur der Weißen etablierten Beziehungsdefinition anschlossen, also ein negatives Selbstbild |A3 96|hatten, finden vermutlich in ihrer eigenen sozialen und ethnischen Subkultur eine Möglichkeit, den Konflikt durch einen Rückzug auf die
»intimen Anderen«
dieser primären Bezugsgruppe zu ertragen.
»Solidarische«
Beziehungen in unterprivilegierten Gruppen und die sogenannte status-orientierte Stabilität von Unterschicht-Subkulturen sind auf diese Weise nicht nur erklärbar; sie erweisen sich darüber hinaus nicht nur im Rahmen politischen Kampfes, sondern auch pädagogisch als sinnvoll und bisweilen notwendig.
[047:356] Angesichts solcher Beispiele wird deutlich, daß auch die Frage nach der Lösung von Beziehungsproblemen auf verschiedenen Ebenen gestellt werden muß. Zwar läßt sich die allgemeine Form der pädagogischen Aufgabe als
»Organisierung oder Umorganisierung des Interaktionsfeldes«
bestimmen. Diese Organisierung aber stellt auf den verschiedenen Ebenen je besondere Probleme: Durch ökonomische Verhältnisse erzeugte Beziehungsprobleme stellen für die pädagogische Intervention offenbar andere Fragen und Aufgaben als diejenigen Beziehungsprobleme, deren Genese zureichend aus dem primären Interaktionszusammenhang verständlich gemacht werden kann, und von dem deshalb auch sinnvoll angenommen werden kann, daß er direkt durch pädagogisch-kommunikatives Handeln auf den Weg der Veränderung gebracht werden mag. Der Modellfall für diese Ebene der Problemlösung ist die Therapie; ihr am nächsten stehen die Interaktionsprobleme der Familie und von Kleingruppen (Gruppendynamik). Für diese gleichsam elementare Ebene hat Watzlawick im Hinblick auf die double-bind-Situation zusammenfassend die folgenden Bestandteile behauptet:
  1. »1.
    [047:357]
    Zwei oder mehrere Personen stehen zueinander in einer engen Beziehung, die für einen oder auch alle von ihnen einen hohen Grad von physischer und/oder psychischer Lebenswichtigkeit hat. ...
  2. 2.
    [047:358]
    In diesem Kontext wird eine Mitteilung gegeben, die a) etwas aussagt, b) etwas über ihre eigene Aussage aussagt und c) so zusammengesetzt ist, daß diese beiden Aussagen einander negieren bzw. unvereinbar sind. ...
  3. 3.
    [047:359]
    Der Empfänger dieser Mitteilung kann der durch sie hergestellten Beziehungsstruktur nicht dadurch entgehen, daß er entweder über sie metakommuniziert (sie kommentiert) oder sich aus der Beziehung zurückzieht ...«
    (Watzlawick u. a. 1969, S. 196)
    .
  4. 4.
    [047:360]
    »Wo Doppelbindungen von längerer oder sogar chronischer Dauer sind, werden sie zu gewohnheitsmäßigen und schwer beeinflußbaren Erwartungen hinsichtlich der Natur menschlicher Beziehungen und |A3 97|der Welt im allgemeinen, und diese Erwartungen bedürfen schließlich keiner weiteren Verstärkungen.«
  5. 5.
    [047:361]
    »Das durch Doppelbindungen verursachte paradoxe Verhalten hat selbst doppelbindende Rückwirkungen, und dies führt zu sich selbst verewigenden Kommunikationsstrukturen«
    (S. 199)
    – sofern nicht durch Interventionen der Zirkel aufgebrochen wird.
[047:362] Die grundlegende Bedeutung von Beziehungsproblemen, die in dieser Hypothese zum Ausdruck gebracht wird, hat – mehr oder weniger explizit – natürlich die Psychoanalyse von Anfang an beschäftigt. Neuerdings – jedoch noch vor Watzlawick – haben
Laing/Phillipson/Lee (1971)
genau dieses Problem, die Frage nämlich, von welcher Struktur eigentlich die Beziehung zwischen Individuen und damit auch die hier zu erwartenden Probleme seien, zum Ausgangspunkt ihrer Arbeiten gemacht. Anlaß dafür – nach Laings eigenen Angaben – war die Beobachtung, daß er in der therapeutischen Interaktion mit dem Patienten nur schwer die in psychiatrischen Lehrbüchern enthaltenen Beschreibungen des Verhaltens der Patienten wiedererkennen konnte. (Eine solche Erfahrung ist für den Pädagogen gewiß nachvollziehbar angesichts der Stereotype vom
»unbegabten Schüler«
,
»delinquenten Jugendlichen«
, der
»verwahrlosten Familie«
, dem
»Autoritarismus des Unterschicht-Vaters«
usw.). Er folgerte daraus, daß jede genaue Diagnose, und folglich auch der therapeutische Weg, nicht von einem verdinglichten Bild des Patienten, sondern vom Patienten als einem Kommunikationspartner auszugehen habe. Er nennt diese Wendung das Überführen eines verdinglichten
»Prozesses«
, dessen die Individuen selbst nicht mächtig sind, in die
»Praxis«
einer Kommunikation, in der Verständigung auf der Ebene des Patienten geschieht. Solche Verständigung aber muß ausgehen von dem Sinnzusammenhang, der sich in den Interaktionsstrukturen des Patienten darstellt. Die allgemeine Bedeutung dieses Gedankens wird plausibel, wenn wir statt von
»Therapie«
von pädagogischer Kommunikation und statt vom
»Patienten«
von den Partnern solcher Kommunikation sprechen. Außerdem ist es wichtig, darauf hinzuweisen, daß die von Laing behauptete
»Verdinglichung«
nicht nur in Lehrbüchern oder in der objektivierenden Wissenschaft geschieht, sondern dort nur fortgesetzt wird, was im Handeln der Institutionen fortwährend geschieht (vgl. dazu in diesem Kapitel den Abschnitt 3 über Institutionen). Für eine solche Überführung von
»Prozeß«
in
»Praxis«
ist entscheidend, daß ein deutliches Bewußtsein, eine genaue |A3 98|Kenntnis von den möglichen Beziehungen zwischen den Interaktionspartnern besteht, daß es gelingt, die Interaktionsmuster, in diesem Fall die wechselseitigen Beziehungsdefinitionen, bekanntzumachen, weil aus ihnen alles folgt, was an wesentlichen Informationen für Gestaltung und Veränderungen der
»Praxis«
unerläßlich ist. Für die empirische Sicherung dieses Ansatzes hat Laing einen Fragebogen entworfen, dessen Struktur auch im Ausschnitt deutlich wird und der seinen Ansatz – und besonders auch die Mead-Nachfolge, in der er sich befindet – prägnant veranschaulicht:
[047:363]
»A Wie richtig, glauben Sie, sind die folgenden Feststellungen?
  1. 1.
    [047:364]
    Sie versteht mich.
  2. 2.
    [047:365]
    Ich verstehe sie.
  3. 3.
    [047:366]
    Sie versteht sich.
  4. 4.
    [047:367]
    Ich verstehe mich.
[047:368]
B Wie, glauben Sie, würde sie die folgenden Feststellungen beantworten?
  1. 1.
    [047:369]
    Ich verstehe ihn.
  2. 2.
    [047:370]
    Er versteht mich.
  3. 3.
    [047:371]
    Ich verstehe mich.
  4. 4.
    [047:372]
    Er versteht sich.
[047:373]
C Wie würde sie Ihrer Meinung nach glauben, daß Sie die folgenden Feststellungen beantwortet haben?
  1. 1.
    [047:374]
    Sie versteht mich.
  2. 2.
    [047:375]
    Ich verstehe sie.
  3. 3.
    [047:376]
    Sie versteht sich.
  4. 4.
    [047:377]
    Ich verstehe mich.«
    (Laing/Phillipson/Lee 1971, S. 175 )
    .
[047:378] In dieser Gruppe von Items wird ein Kommunikationsakt (
»verstehen«
) den Partnern einer Interaktions-Dyade (hier: Ehepartner–Ehepartner; möglich wäre aber auch: Elternteil–Kind, Erzieher–Zögling, Lehrer–Schüler) zur Einschätzung gestellt; der Fragebogen enthält im ganzen 60 solcher vorgegebener Kommunikationsakte (sich den Kopf zerbrechen über ..., sich verlassen auf ..., Angst haben vor ..., gemein sein zu ..., sich lustig machen über ..., usw.), durch deren Beantwortung Informationen über sechs Dimensionen der interpersonellen Beziehung gewonnen werden sollen: Interdependenz und Autonomie, herzliche Anteilnahme und Unterstützung, Geringschätzung und Enttäuschung, Kontroversen (Kampf und Flucht), Widersprechen und in Verwirrung bringen, extreme Verweigerung von Autonomie (S. 68 f.). Die Pointe der Methode – man kann sie als eine subtile Weiterentwicklung soziometrischer Meßverfahren ansehen – besteht darin, daß ein Urteil durch drei Perspektiven (A, B und C) hindurch abge|A3 99|wandelt wird und so die Sichtweisen der beiden Partner auf ihre gemeinsame Beziehung zueinander ins Verhältnis gesetzt werden können. Die erste Ebene (A) ist die einfache Perspektive, das gleichsam naive Urteil; die zweite Ebene (B) nennen die Autoren
»Meta-Perspektive«
: Welches Bild hat der Partner von unserer Beziehung nach meiner Einschätzung? Welches Stereotyp vermute ich bei ihm? Die dritte Ebene nennen die Verfasser die Meta-meta-Perspektive (C): Welches Bild habe ich von der Meta-Perspektive des Partners oder welches Beziehungs-Stereotyp vermutet, nach meiner Meinung, der Partner bei mir?
[047:379] Nun ist aber auf jeder der drei Ebenen die Perspektive geteilt.
»Ich verstehe dich«
kann von beiden Partnern behauptet werden, aber dennoch Verschiedenes bedeuten. Die Perspektive des anderen (Alter) geht natürlich – gemäß dem Paradigma Meads – in die Perspektive des einen (Ego) als dessen Wahrnehmung vom anderen ein:
»ich verstehe dich, weil du mich verstehst«
oder
»ich verstehe dich, obwohl (oder darin, daß) du mich nicht verstehst.«
So sehen die Partner nicht nur jeweils den anderen, sondern auch sich selbst im Hinblick auf den anderen, sie haben
»in sich«
eine Beziehungsstruktur (Ego – Alter), die der
»äußeren«
Beziehung zwischen den beiden Personen analog ist: ich (Ego) verstehe mich (Alter) – du (Ego) verstehst dich (Alter). Auf diese Weise entsteht die in dem Fragebogen-Auszug zitierte Sequenz der zwölf Statements, die als eine minuziöse Darstellung der reziproken Beziehungsstruktur in einem Untersuchungsinstrument interpretiert werden kann. Schematisch stellt sich diese Struktur für jede der drei Ebenen so dar:
Hier ist eine Abbildung zu sehen, die die Analogie in der Beziehungsstruktur zwischen zwei Personen und dem Alter bzw. Ego der beiden Personen darstellt.
[047:386] Laing und Mitarbeiter haben damit nichts anderes getan, als die Struktur des
»Me«
genauer zu bestimmen bzw. abzuwandeln, und zwar dadurch, daß sie die Annahmen, die die Interaktionspartner über ihre Beziehung wechselseitig machen und auf immer neue Situationen mehr oder weniger gleichbleibend anwenden, in dem Detail zur Sprache bringen, das sich vermutlich der tatsächlichen Kompliziertheit der Alltagssituationen weitgehend annähert. Im Sinne eines Erklärungszusammen|A3 100|hanges bleibt indessen dieses Schema noch nach zwei Seiten hin relativ unbestimmt: Offen bleibt, auf welche Weise und wodurch konkrete Beziehungsstrukturen entstehen – und es bleibt weiterhin offen, welche konkreten Wirkungen für den Bildungsprozeß bzw. die Sozialisation, von der Beziehungsstruktur ausgehend, zu erwarten sind. Laing und Mitarbeiter machen nur eine allgemeine Angabe im Hinblick auf zu vermutende Wirkungen von Beziehungsstrukturen der einen oder anderen Art; eine Angabe, in der ein – wenngleich als kulturspezifisch charakterisierter – Begriff von
»normaler«
Beziehungsstruktur und ihr folgendem
»normalem«
Verhalten unterstellt wird:
»Sollten zwei Personen wirklich so sein und so interagieren, wie sie annehmen, daß sie sind und daß sie interagieren, wenn sie die Items der Kategorie A positiv beantworten, so kann man ihre Beziehung legitim als eine solche charakterisieren, die ein Gleichgewicht zwischen Fürsichsein und Autonomie auf der einen und gegenseitigem Aufeinanderbezogensein auf der anderen Seite hält, in einer Weise, die wir in unserer Gesellschaft gewöhnlich als
gut
oder
wünschenswert
ansehen«
(S. 69)
.
Für die Wirkung einer solchen Beziehungsstruktur auf die Partner kann dann das gleiche gelten: Autonomie und Solidarität wird in ihnen stabilisiert werden. Zwei Unterstellungen konstituieren den hier behaupteten Normalitätsbegriff: einerseits wird angenommen, daß es sinnvoll und notwendig sei, sich an einer mindestens gedachten Übereinstimmung von kognitiver Struktur und faktischem Verhalten (
»... so interagieren, wie sie annehmen, daß sie sind ...«
) zu orientieren; andererseits wird ebenso als sinnvoll und notwendig angenommen, daß für jedes Individuum prinzipiell eine Balance zwischen einem individuellen (
»Fürsichsein und Autonomie«
) und einem sozialen Selbst (
»gegenseitiges Aufeinanderbezogensein«
), zwischen Ego und Alter, möglich sei. Das Problem des
»Me«
wird damit erweitert zu der Fragestellung, die unter dem Namen der
»Identität des Ich«
diskutiert wird.

4. Identität

[047:390] Die Lernspielräume, die sich dem Individuum eröffnen und die Richtung, die sein Lernen nehmen kann, müssen also im Kontext der Beziehungen interpretiert werden, in denen es sich bewegt bzw. sich zu bewegen gezwungen ist. Wenn wir sagen, sie
»müssen«
im Beziehungskontext interpretiert werden, dann |A3 101|meinen wir damit ein erziehungswissenschaftliches Postulat. Natürlich können auch andere analytische Referenz-Rahmen für die Bestimmung von Lern-Problemen gewählt werden. Kommt es uns aber darauf an, pädagogische Kommunikation zu analysieren, dann gilt – gemäß des Diskurses als Legitimationsbasis – immer, daß mindestens zwei Gesichtspunkte die Analyse leiten müssen: Pädagogisches Geschehen ist als ein Beziehungsphänomen und der Educandus in denjenigen Dimensionen zu betrachten, in denen er als Subjekt der ihn betreffenden Interaktionen erscheinen kann, d. h. in diesem Fall als ein Individuum, das die im interaktionistischen Paradigma unterstellten Reaktionsspielräume ausschöpfen kann, über
»interpersonelle Kompetenz«
(Weinstein 1969) verfügt. In der Sprache Meads: Der Educandus ist als ein Interaktionspartner zu betrachten, der in sich ein
»Selbst«
bildet, das der Inbegriff der zur inneren Struktur organisierten Interaktionserfahrung ist. Mead hatte das zunächst als das
»Me«
bestimmt. Am Beispiel Laings sahen wir, wie dieses Me auf der Grundlage wechselseitiger Beziehungsdefinitionen sowohl entsteht wie auch aufrecht erhalten wird, und zwar dadurch, daß es sich in allen einzelnen Interaktionen immer aufs neue bewähren muß, darin allerdings einer Regel folgt, von der angenommen werden kann, daß sie relativ situationsunabhängig geworden ist.
[047:391] In den Interaktionen des Individuums bilden sich also Regelmäßigkeiten im Hinblick auf die Beziehungsdefinitionen, und zwar nach Maßgabe der Interaktionserfahrung und unter der Bedingung reziproker Antizipationen und deren Stabilisierung. Sofern diese Reziprozität nicht nur von der einzelnen Interaktion bzw. von dyadischen Beziehungen abhängig ist, sondern allgemeine und d. h. von der einzelnen Situation unabhängige Erwartungen enthält (das
»verallgemeinerte Andere«
), bestimmt sie das Individuum als Mitglied einer sozialen Gruppe, und zwar so, daß es sich selbst zugleich in dieser Bestimmtheit wahrnehmen kann und sich zu ihr als zu einem Teil seiner selbst verhalten kann: das ist seine
»soziale Identität«
.
[047:392] Von den einzelnen Situationen unabhängig und damit – wenigstens im Ansatz – als ein Allgemeines wird soziale Identität durch drei Komponenten sowohl gebildet wie auch entweder bestätigt oder neu hergestellt:
  • [047:393] Das in der Interaktion singuläre, d. h. nur auf diese Interaktion bezogene Verhalten ist mit einem Bedeutungs-Kontext |A3 102|pragmatisch verknüpft; die einzelnen Interaktionen sind untereinander verbunden in einem Sinnzusammenhang, der sich im Rahmen der jeweiligen Lebenswelt konstituiert.
  • [047:394] Über Symbole (Sprache, Sprachcodes) und Rollen wird der allgemeine Gehalt singulärer Reaktionen in der Interaktion festgehalten und je aktualisiert.
  • [047:395] Nach Maßgabe von Sinnzusammenhang und Rollengehalt werden interpersonelle Taktiken (Weinstein 1969; im Hinblick auf sprachliche Taktiken: Lewis 1970) erworben als die Instrumente der sozialen Selbstdarstellung des
    »Me«
    .
[047:396] Diese Bildung vollzieht sich unter der empirischen Bedingung eines nach Rollen – d. h. bereits etablierten interpersonellen und überindividuellen Wahrnehmungs- und Reaktionsmustern – strukturierten Beziehungsfeldes. Der zur Demonstration dafür am häufigsten in der Literatur herangezogene Fall ist die Familie, da für unseren Kulturkreis die primären Sozialisationsleistungen immer noch im Regelfall von der Familie erbracht werden. Solche interpersonellen Muster strukturieren sich in der alltäglichen Wirklichkeit der Kleingruppe vor allem durch
»Koalitionen«
, in denen zwischen mindestens zweien eine besondere Dichte und Regelmäßigkeit der Interaktion hergestellt wird. Vor allem zwei solcher Koalitionsmöglichkeiten sind in der primären Sozialisation von entscheidender Bedeutung für den Erwerb eines allgemeinen Bezugsrahmens für die Bildung der eigenen interpersonellen Kompetenz: die Generation und das Geschlecht. Es scheint, als handle es sich dabei nicht nur um historisch vorherrschende Rollendifferenzierungen, sondern um solche, die als universal und notwendig für den Bildungsprozeß überhaupt angenommen werden müssen. Eine solche Feststellung impliziert jedoch weder, daß
»Generationenschranke«
und
»geschlechtsgebundene Rollen«
(Lidz 1971)
in der Form notwendig seien, die in dem gegenwärtigen Typus der bürgerlichen Kleinfamilie zur Darstellung kommt, noch daß als Ort der primären Sozialisation nicht auch institutionelle Alternativen zur Familie überhaupt historisch sinnvoll möglich wären (vgl. Liegle 1971).
[047:397] Soziale Identität als Zugehörigkeit zu Gruppen und damit zu einem intersubjektiv Allgemeinen wird also über Interaktionen und die in ihnen enthaltenen Regelmäßigkeiten gebildet; diese wiederum kommen zunächst in der Form von Koalitionen zur Darstellung, und zwar vornehmlich in den beiden Dimensionen |A3 103|der Generation und des Geschlechts. Das Problem, das dabei entsteht, betrifft nie nur den einen – etwa den abhängigen – Interaktionspartner, sondern ist ein Problem der ganzen Interaktion, betrifft also die Identität aller an der Interaktion Beteiligten, wenngleich in unterschiedlicher Intensität. Strauss zitiert dafür ein Beispiel:
[047:398]
»Eine frühere Schwester beschrieb ... einige interessante Reaktionen auf einen erzwungenen Wandel der Geschlechtsrollen.
Frankie
wurde im Alter von 5 Jahren zur Untersuchung in die Klinik gebracht, und
er
wurde dort als genuines Mädchen diagnostiziert, dessen Klitoris irrtümlich für einen kleinen Penis gehalten worden war. Auf der Kinderstation zeigte Frankie vor der Untersuchung eine entschiedene Vorliebe für die Gesellschaft kleiner Jungen ... Nach der Bestimmung des wirklichen Geschlechts des Kindes wurden die Schwestern angewiesen, Frankie als kleines Mädchen zu behandeln:
Dies klang nicht so schwierig – bis wir es versuchten. Frankie gab einfach nicht die richtigen Stichworte. Es ist erstaunlich, wie sehr die eigene Reaktion auf ein Kind von dessen Verhalten einem selbst gegenüber abhängt.
Es war
äußerst schwierig, auf Frankies typisches Klein-Jungen-Verhalten nicht in der gleichen Weise zu reagieren, in der ich auf andere Jungen der Station reagierte. Und Frankie als Mädchen behandeln, hieß aus der Tonart fallen. Wir alle mußten uns ständig dazu anhalten, es zu tun. Doch wenn wir es taten, blieben uns vage, unbehagliche Gefühle zurück, als hätten wir einen Irrtum begangen
.«
(A. Strauss 1968, S. 90.)
[047:399] Das bedeutet, daß soziale Identität selbst kein unproblematisches, sondern für das Individuum ein riskantes Beziehungsproblem darstellt: Gerade wegen der implizierten Allgemeinheit ist jede Veränderung im Referenz-Rahmen des
»Me«
für das eine Individuum folgenreich auch für alle anderen Individuen, mit denen es kommuniziert, und damit auch folgenreich für deren soziale Identität. Ohne
»Zugehörigkeit«
entschwindet dem Individuum auch sein
»Selbst«
, als das es sich bestimmen kann, jedenfalls in der sozialen Dimension, entschwindet ihm die
»capacity to distinguish self from nonself«
(Weinstein 1969, S. 759)
.
»Zugehörigkeit«
kann aber – gleichsam am anderen Ende der Skala –
»Überangepaßtheit«
bedeuten, völliges Aufgehen des Selbst in sozialer Identität und damit subjektiv nicht mehr gesteuerte Abhängigkeit von sozialen Erwartungen. Das damit angesprochene Balance-Problem für das Individuum hat Mead schon beschäftigt:
[047:400]
»Das
Me
ist ein von Konventionen und Gewohnheiten gelenktes Wesen. Es ist immer vorhanden. Es muß jene Gewohnheiten, jene |A3 104|Reaktionen in sich haben, über die auch alle anderen verfügen; der einzelne könnte sonst nicht Mitglied der Gesellschaft sein. Doch reagiert der einzelne ständig auf eine solche organisierte Gemeinschaft, indem er sich selbst ausdrückt, sich nicht notwendigerweise im offensiven Sinn behauptet, aber sich ausdrückt, da er selbst in einen kooperativen Prozeß eingespannt ist, wie er zu jeder Gemeinschaft gehört. Die betreffenden Haltungen werden von der Gruppe bezogen, doch bietet sich der einzelnen Person, in der sie organisiert sind, die Möglichkeit, ihnen in einer Form Ausdruck zu verleihen, die bisher vielleicht noch nicht zu verzeichnen war«
(Mead 1968, S. 241 f.)
.
[047:401]
»Sich ausdrücken«
kann das Individuum offenbar nur, wenn es neben der sozialen noch eine zweite Dimension gibt, in der es seine Identität bestimmt. Mead hat hier – etwas ungenau – das
»I«
(Ich) einzuführen versucht als den Inbegriff der aus dem Organismus aufsteigenden Impulse, die infolgedessen nur dem Individuum zugehörig seien. Angemessener und genauer scheint uns indessen im Anschluß an Goffman (1963) und Krappmann die Bestimmung dieser Dimension als
»Zeitdimension, in der die Ereignisse im Leben des Individuums zu einer
personal identity
zusammengefaßt werden«
(Krappmann 1971, S. 170)
zu sein. Diese auch von Mitscherlich (1966) in den Begriffen
»soziales«
und
»persönliches Ich«
diskutierte Unterscheidung ist die Form, in der das Individuum auf zwei unterschiedliche Klassen von sozialen Erwartungen reagiert: zu sein wie jeder andere und zu sein wie kein anderer. Beide Erwartungen sind nicht voll zur Deckung zu bringen; in der reinen Form schließen sie sich aus, jedenfalls in solchen historischen Situationen, für die die Zugehörigkeit zu verschiedenen sozialen Gruppen mit je besonderen Typen gesellschaftlicher Problemstellungen und Problemlösungen unterstellt werden muß; und das ist vermutlich in allen großen und differenzierten Gesellschaften der Fall. Um die Balance zwischen der sozialen und der personalen Dimension der Identität zu halten, muß das Individuum deshalb ein
»als-ob«
-Verhalten hervorbringen, eine – wie Goffman sagt –
»phantom normalcy«
und
»phantom uniqueness«
(vgl. dazu auch Oevermann 1970). Im Falle der Vernichtung der persönlichen Identität zugunsten der Alleinherrschaft sozialer Erwartungen können wir von
»Verdinglichung«
der Interaktion sprechen, für den anderen Fall, den der Vernichtung der sozialen Identität zugunsten der personalen, gibt es mit Recht keinen geläufigen Terminus: streng genommen ist dieser Fall empirisch nicht möglich, da jede Kommunikation mit einem Anderen, wenn in ihr nicht nur sinnlose Informationen ver|A3 105|mittelt werden sollen, auf mitteilbare und damit sozial geteilte Bedeutungen angewiesen ist, soziale Identität also mindestens im Hinblick auf Situationen gebildet werden muß. Von dieser grundsätzlichen Schwierigkeit abgesehen, gibt es jedoch Fälle von außerordentlich schwach ausgebildeter sozialer Identität; annäherungsweise können wir den
»Outsider«
als einen solchen Fall ansehen. Was wir als
»Dissozialität«
oder
»Delinquenz«
bezeichnen, nähert sich – sofern es nicht restlos als Definitionsproblem bestimmt werden kann (vgl. dazu den Abschnitt
»Institutionen«
in diesem Kapitel), sondern Probleme unbewältigter psychischer Balance anzeigt – dem einen oder anderen Pol dieser zweidimensionalen Skala.
[047:402] Es könnte vorgebracht werden, daß es sich bei der Identitäts-Problematik um ein Spezialproblem im Rahmen des ganzen Erziehungsprozesses handele, von dem jedoch nicht angenommen werden dürfe, daß es für den Bildungsprozeß und folglich für die pädagogische Kommunikation von fundamentaler Bedeutung sei. Das ist indessen nicht der Fall. Die Bildung der Identität als Balance zwischen ihrer sozialen und personalen Dimension ist ja zugleich die Bildung eines Bedeutsamkeits-Horizontes, innerhalb dessen das Individuum im Rahmen der Gruppen, denen es zugehört, Probleme und Inhalte gewichtet und damit konkrete Lernperspektiven erwirbt. Infolgedessen ist die Behauptung gerechtfertigt: Wo immer Lernerwartungen entstehen oder an Individuen gerichtet werden, steht deren Identität zur Diskussion, d. h. die Frage, wie weit sich die in den Erwartungen zum Ausdruck kommende Perspektive in die gebildete und balancierte Identität dieses Individuums integrieren läßt. Der Grad von
»Repressivität«
eines Erziehungssystems oder einer Erziehungspraxis ließe sich deshalb danach bestimmen, wie weit dieses für den Bildungsprozeß von Individuen und Gruppen fundamentale Erziehungsproblem zum Thema gemacht wird. Die soziale Identität des Arbeiters, seiner Familie und seiner Kinder, gilt in kapitalistischen Gesellschaften offenbar als etwas, das vernachlässigt werden darf. Für den Bildungsgang des Arbeiterkindes kommen innerhalb des Bildungssystems nahezu ausschließlich seine auf
»personale Identität«
bezogenen individuellen Eigentümlichkeiten in Betracht, und zwar unter dem Gesichtspunkt ihrer
»Bildbarkeit«
für die Verwertungsinteressen des gegebenen ökonomischen Systems. Der Kontext seiner
»sozialen Identität«
schrumpft demgegenüber zum Begriff der
»Subkultur«
, die nur noch als ein die |A3 106|Bildung des Kindes verzögernder Faktor in Erscheinung tritt. Als Referenz-Rahmen für
»soziale Identität«
bleiben dann nur noch – für die faktische Strategie der Bildungsinstitutionen – die sekundären Bezugsgruppen der pädagogischen Einrichtungen und damit bei uns der dominanten bürgerlich-kapitalistischen Kultur (Ortmann 1971; Negt 1968). Was sich so, gegenüber den Identitäts-Horizonten von Arbeiterkindern, als repressive Praxis eines Erziehungssystems darstellen kann, kann auf verschiedenen Ebenen dieses Systems beobachtet werden: im Umgang mit Obdachlosen, mit Problem-Familien, mit Kindern und Jugendlichen in der Heimerziehung, innerhalb von Familien durch besondere Starrheit der Gruppengrenze oder durch Rigidität innerfamiliärer Koalitionen, in der Vernichtung personaler Identität in
»Gehirnwäsche«
und
»Selbstkritik«
als Institution usw.
[047:403] Nicht ohne Grund haben zur Klärung des Identitäts-Problems Goffman und Strauss individuelle Berichte über Interaktionserfahrungen verwendet, hat Cicourel Gesprächsprotokolle zwischen Sozialarbeitern und Probanden interpretiert, hat Erikson Biographien analysiert, sind die für die sozialen Kontexte der Bildung von Identität fruchtbarsten Untersuchungen mit dem Verfahren der teilnehmenden Beobachtung unternommen worden. Da die Identitäts-Balance eine Leistung des Ich ist, die sich in symbolisch vermittelter Interaktion mit anderen bewährt und ein Verhältnis nicht nur zu diesen anderen, sondern auch zu sich selbst impliziert, ja eigentlich Auseinandersetzung mit sich selbst als einem zugleich Eigenen (Ego) und Anderen (Alter) bedeutet, ist die sprachliche Selbstdarstellung das geeignetste Material für die Erforschung von Identitäts-Problemen. Das Studium von autobiographischen Aufzeichnungen kann deshalb als der
»Focus«
pädagogischer Reflexion bezeichnet werden – wenngleich die Erziehungswissenschaft darin noch kaum methodische Erfahrung hat.
[047:404] Identitäts-Balance kann nicht erzwungen werden; sie muß als eigene Leistung des Individuums angesehen werden, deren Gelingen allerdings von Voraussetzungen abhängig ist, die in der Struktur der erfahrenen Interaktionen liegen. Aus den Erörterungen dieses Abschnittes folgernd können solche Voraussetzungen in den folgenden Thesen zusammengefaßt werden:
[047:405] Eine balancierte Identität wird für das Individuum um so wahrscheinlicher sein, je deutlicher in der Interaktion
|A3 107|
  • [047:406] die Partner an der Definition der Situation aktiv beteiligt werden;
  • [047:407] situationsbezogene flexible Beziehungsdefinitionen möglich sind;
  • [047:408] Rollendistanz gewahrt werden kann, d. h. für Verhaltenserwartungen Interpretationsspielräume offen bleiben;
  • [047:409] Ambiguitätstoleranz ausgedrückt wird, d. h. differierende Erwartungen und die Differenzen zwischen Erwartungen und eigenen Bedürfnissen ertragen werden;
  • [047:410] Empathie realisiert wird, d. h. die Erwartungen und Beziehungsdefinitionen der Interaktionspartner wechselseitig antizipiert und zur Bestimmung des eigenen Verhaltens verwendet werden;
  • [047:411]
    »Aushandeln von Identität«
    (identity bargaining) möglich ist, d. h. nicht an einer bestimmten Form von Selbst- Präsentation unbedingt festgehalten wird, sondern situations- und partnerbezogene Modifikation stattfinden kann:
  • [047:412] die Komponenten und Prozesse der Interaktion symbolisch, d. h. in Sprache, ausdrückbar und kommunizierbar, damit auch problematisierbar und revidierbar werden.

Situation

[047:413] Bei der Auswertung von Protokollen, die die vollständige Aufzeichnung pädagogischer Kommunikationen – sei es dessen, was an verbalem Verhalten beobachtbar ist, sei es, daß auch nicht-verbale Gesten beobachtet werden – enthalten, entsteht häufig ein besonderes methodisches Problem: Wie ist die kleinste Protokoll-Einheit zu bestimmen, die noch sinnvoll interpretationsfähig ist? Nehmen wir zur Veranschaulichung des Problems folgende Äußerungen aus einem größeren fiktiven Protokollzusammenhang:
[047:414] A: Nun sage ich das schon zum drittenmal! Aber du hörst mir ja einfach nicht zu!
B: Wieso?
[047:415] Ein solcher Protokoll-Teil ist offensichtlich kaum zu interpretieren, wenn man sich nicht mit formal-bedeutungslosen Feststellungen begnügen will. Aus dem Zusammenhang unserer bisherigen Erörterungen könnte man in einem solchen formalen Sinne natürlich eine Qualifizierung des Textes vornehmen; so |A3 108|zum Beispiel, daß es sich um eine komplementäre Kommunikation handelt, in der sowohl ein inhaltlicher (nun sage ich das ...) wie auch ein Beziehungsaspekt (... sage ich ... hörst mir nicht zu ...) thematisiert wird; daß offenbar Nicht-Übereinstimmung in der Beziehungsdefinition vorliegt; daß Rollenerwartungen ausgesprochen werden, aber auf sie nicht adäquat reagiert wird usw. Aber zum einen hat man mit Recht den Eindruck, daß diese Qualifikationen, wenn überhaupt, so doch sicher nicht zureichend aus dem Text begründbar sind; zum anderen ist mit Feststellungen dieser Art nicht viel gewonnen, solange der Bezugsrahmen (die Referenz) unbestimmt bleibt. Ist es zum Beispiel wirklich möglich, in diesem Falle eine komplementäre Kommunikation anzunehmen? Es könnte sich ja um einen einzelnen komplementär scheinenden Akt im Rahmen einer sonst eindeutig symmetrischen Kommunikation handeln. Und ferner: Spricht hier ein Vater zu seinem Kind, eine Tochter zu ihrer Mutter, ein Ehepartner zum anderen, ein Lehrer zu seinem Schüler oder umgekehrt, ein Erziehungsberater zu einem Jugendlichen? Wie ist der Ausdruck
»... sage ich ...«
zu verstehen: im Sinne von
»... gebe ich die Anweisung, daß ...«
,
»gebe ich dir die Begründung dafür, daß ...«
,
»... erkläre ich dir ...«
,
»... halte ich dir vor, daß ...«
usw.? Worum handelt es sich bei dem
»... das ...«
: um den Hinweis auf ein Ereignis, einen Gegenstand, eine Meinung, eine normative Verhaltensanweisung, eine instrumentelle Problemlösung? Schließlich: Heißt
»hörst mir .. nicht zu«
: du folgst meiner Anweisung nicht; nimmst sie nicht wahr; tust so, als würdest du sie nicht wahrnehmen usw.? B’s Reaktion
»Wieso?«
enthält natürlich ebenfalls alle diese leeren Stellen für die Interpretation und darüber hinaus noch weitere, weil zum Beispiel hier nicht einmal – wie bei
»sagen«
und
»zuhören«
– diejenige Klasse von Sprechakten eindeutig ist, der der Ausdruck zuzuordnen wäre.
[047:416] Versucht man, über diese Schwierigkeiten sich nicht dadurch hinwegzusetzen, daß man – wie es bisweilen in Untersuchungen zum sogenannten autoritären oder autokratischen Führungsstil geschieht – sie ignoriert und zum Beispiel
»Wieso?«
nur als Frage und die Äußerung von A als Anweisung, noch dazu offenbar in einer Reihe von Kumulationen (... schon zum dritten Mal ...) bestimmt und zählt, dann entsteht das Problem einer kontextadäquaten Interpretation. Unter welchen Umständen kann als sicher gelten, daß ich adäquat interpretiere? Wie ist |A3 109|der Kontext beschaffen, auf den die Interpretation als ihren Referenz-Rahmen sich beziehen muß? Welche Informationen sind unerläßlich, um die Bedeutung von Äußerungen in der Interaktion identifizieren zu können?
[047:417] Diese Fragen sind nicht so trivial, wie es scheinen könnte. Erinnern wir uns an das Eingeständnis Laings, daß er in der konkreten Kommunikation mit Patienten die Lehrbuchbeschreibungen der Symptome psychotisch Kranker nur schwer wiedererkennen konnte: er spricht darin – positiv gewendet – eine praktische und theoretische Maxime aus, die wir – auf pädagogische Sachverhalte bezogen – so formulieren wollen:
  • [047:418] Jeder kommunikative Akt im pädagogischen Kontext muß von dem
    »Erziehenden«
    in erster Linie nach Kriterien beurteilt werden, die den in der konkreten Situation vorkommenden Kommunikations-Akten entnehmbar sind;
  • [047:419] jede wissenschaftliche Analyse pädagogischer Kommunikationen muß als primären Referenz-Rahmen die konkrete Situation und ihre interaktions-strukturellen, inhaltlichen und interaktions-dynamischen Implikationen nehmen.
[047:420] Ein Blick auf die Erziehungswirklichkeit und auf die pädagogische Forschungspraxis zeigt, daß diese Maximen sich offenbar nicht von selbst verstehen. Die pädagogische Praxis vollzieht sich in der Regel unter der Bedingung eines Rahmens institutioneller Prozeß-Definitionen (Curricula im Bildungswesen, Resozialisierungs-Programme in Einrichtungen für dissoziale Jugendliche, Symptom-Vermeidungsstrategien im Bereich der Jugendhilfe usw.) oder ideologischer, auch auf Zeitgewinn abzielender pädagogischer Leistungs-Erwartungen (Familie), so daß die Erfüllung jener Maxime in der Praxis institutionalisierter Erziehung auf große Schwierigkeiten stößt. Andererseits – in bezug auf die Wissenschaft – herrscht zum Beispiel in der Sozialisationsforschung noch ein Untersuchungstypus vor, dessen Fragestellungen weniger aus dem Bedeutungs-Kontext des
»Objektbereichs«
und dessen Praxis stammen, als vielmehr den Interessen an standardisierten Verhaltenserwartungen entnommen sind. Demgegenüber zeigt sich allerdings in der interaktionistischen Forschungstradition, in der gegenwärtigen linguistischen Diskussion beispielsweise zum Problem des Sprechaktes, in der Erneuerung des marxistischen Begriffs der
»Untersuchung«
als eines praktisch-kommunikativen Vorganges und in den jüngsten Versuchen,
»Handlungsforschung«
(action research) als methodologisch legitimen Typus zu etablie|A3 110|ren, ein gemeinsames Interesse an einem wissenschaftlichen Verfahren, das mindestens im ersten Schritt die konkreten und sowohl formal wie inhaltlich bestimmten Bedeutungs-Kontexte ermitteln will. Den kleinsten Referenz-Rahmen für solche Analysen, und damit auch die kleinste deskriptive Einheit für Sozialisationsprozesse, nennen wir
»Situation«
.
[047:421] Ist es möglich, diejenigen Strukturmerkmale anzugeben, die eine
»Situation«
ausmachen und sie von einem beliebigen zwischenmenschlichen Ereignis unterscheiden? Gibt es empirische und sozialisationstheoretische Gründe für die Annahme, daß
»Situation«
eine für die erziehungswissenschaftliche Erkenntnis fruchtbare und unerläßliche Ebene der Analyse ist? Wie verhalten sich dann die
»objektiven«
Merkmale der
»Situation«
zu den
»subjektiven«
, die Beteiligung der Interaktionspartner betreffenden? Diesen drei Fragen wollen wir im folgenden etwas weiter nachgehen.

1. Struktur der Situation

[047:422] Laing hatte – in Übereinstimmung mit der interaktionistischen Theorie – jeden Vorgang menschlicher Kommunikation so bestimmt, daß er eine regelmäßige Struktur aufweist und damit als
»Situation«
mit formal identifizierbaren Komponenten zu bezeichnen ist:
[047:423]
»Das einfachste Schema, um das Verhalten einer Person zu bestimmen, muß mindestens zwei Personen und eine beiden gemeinsame Situation umfassen. Und dieses Schema muß nicht nur die Interaktion der beiden, sondern auch ihre Intererfahrung sichtbar machen:[047:424]
Hier ist ein Schaubild zur Interaktion bzw. Intererfahrung zwischen zwei Personen (Paul und Peter) zu sehen.
Diesem Schema zufolge ist Peters Verhalten gegenüber Paul zum Teil eine Funktion davon, wie Peter Paul erfährt. Wie Peter Paul erfährt, ist zum Teil eine Funktion von Pauls Verhalten gegenüber Peter. Pauls Verhalten gegenüber Peter ist wiederum teilweise eine Funktion davon, wie Paul Peter erfährt, und diese Erfahrung wiederum zum Teil eine Funktion von Pauls Verhalten gegenüber Peter«
(Laing/Phillipson/Lee 1971, S. 20)
.
|A3 111|
[047:425] Peters und Pauls Erfahrung und Verhalten sind natürlich inhaltlich bestimmt. Peter sagt zum Beispiel – aufgrund seiner Erfahrung von Paul:
»Willst du mit mir spielen?«
, oder:
»Löse die Aufgabe X!«
, oder:
»Ich finde diese Strafe ungerecht!«
, oder:
»Was macht eigentlich dein Meister, wenn ...?«
usw. Paul reagiert darauf sowohl aufgrund seiner interpersonellen Erfahrung von Peter wie auch aufgrund der Referenzen und der mit ihnen verknüpften Erfahrungen (dieses Spiel, diese Art von Aufgaben, diese Strafen in den und den anderen Situationen, dieser Betrieb). Die
»gemeinsame Situation«
hat also eine formale Interaktionsstruktur und eine inhaltliche Referenz, einen Kontext. Oder genauer: sie besteht aus formalen Struktur-Merkmalen und inhaltlichen Bedeutungsmerkmalen; diese zusammen bilden den
»situativen Kontext«
.
[047:426] Feststellungen der vorstehenden Art geraten sehr in die Nähe linguistischer Überlegungen. Das ist kein Zufall, sondern – wie mir scheint – ein notwendiger Schritt der Erziehungswissenschaft. Zu den pädagogisch anregendsten Entdeckungen der letzten Jahrzehnte gehört zweifellos Bernsteins Theorie der linguistischen Codes (Bernstein in 1971a/b; Bernstein in Gumperz/Hymes 1972; Oevermann 1970; Roeder 1971). Sie hat uns – neben großer schulpraktischer Bedeutung – darauf hingewiesen, daß sich die kulturelle Erfahrungswelt des Heranwachsenden in Sprache organisiert, und zwar nicht in
»Sprache überhaupt«
, sondern in Codes, Regelsystemen für faktisches Sprachverhalten, die mit den sozialen Beziehungssystemen verknüpft sind, in denen das Individuum lebt. Oder, im Anschluß an unsere Erörterungen formuliert: Sprachcodes sind die für bestimmte soziale Lagen charakteristischen Regeln, mit deren Hilfe die Individuen Situationen bedeutungsvoll strukturieren. Damit ist nicht behauptet, daß nur sprachliches Verhalten zu dieser Leistung imstande sei. Es wäre – wenn ein solcher Begriff schon entsprechend empirisch ausgearbeitet wäre – sogar sinnvoller, von Kommunikationscodes (vgl. dazu Oevermann 1970) zu sprechen; auf jeden Fall aber wird es sich um Verständigungsmittel, also symbolische Gesten handeln müssen. Nichts anderes wird ja auch vom Interaktionismus behauptet. Der linguistischen Diskussion, sofern sie diesen Aspekt des Sprachproblems aufgreift, kann deshalb eine fundamentale sozialisationstheoretische Bedeutung zugesprochen werden. Es verwundert aus diesem Grunde auch nicht, daß in einigen Hinsichten linguistische und sozialisationstheoretische Fragestellungen sich |A3 112|bis zur Gleichheit annähern. Das tritt beispielsweise neuerdings bei
Wunderlich (1972)
deutlich hervor, wenn er behauptet, daß
»der wichtigste Punkt«
bei der Analyse von Sprechakten und deren kommunikativer Funktion sei,
»daß eine sprachliche Äußerung als interpersonaler Sprechakt, oder – anders formuliert – als ein Handlungszug im Rahmen eines gegebenen Kontextes zu verstehen ist «
; eine sprachliche Äußerung aber ist – darin wird die Analogie zu Laings Struktur-Schema und der Doppelseitigkeit von formalen und inhaltlichen Merkmalen deutlich – eben auch Interaktion, interpersonelle Beziehung:
[047:427]
»Kommunikation ist nicht nur ein Austausch von Intentionen und ein Austausch von sprachlichen Inhalten, (das ist sie auch), zuallererst ist sie aber Herstellen von zweiseitigen Beziehungen; und diese determinieren das, was Verständigungsebene genannt werden kann, von der auch erst Intentionen und Inhalte ihren praktischen Sinn in Handlungskontexten bekommen«
(Wunderlich, in: Maas/Wunderlich 1972, S. 117)
.
[047:428] Die
»gemeinsame Situation«
(Laing)
wird also hier näher als
»Verständigungsebene«
bestimmt, die sich nach den formalen Merkmalen der Interaktion, nach kommunizierten Inhalten und nach Verwendungsrichtungen von Inhalten (Intentionen) strukturiert. Mindestens diese Elemente also sind erforderlich, um eine Situation als eine referenzfähige Interpretationseinheit auszumachen. Was wir für jeden pädagogisch-kommunikativen Vorgang behaupten, die Notwendigkeit nämlich, ihn im Kontext einer Situation zu bestimmen, das formuliert analog – um noch einmal die Linguistik zu zitieren – Searle genau und treffend:
[047:429]
»Die Hypothese, daß der Sprechakt die Grundeinheit der Kommunikation ist, deutet zusammen mit dem Prinzip der Ausdrückbarkeit darauf hin, daß eine Reihe von analytischen Beziehungen besteht zwischen dem Sinn von Sprechakten; dem, was der Sprecher meint; dem, was der geäußerte Satz (oder ein anderes Element) bedeutet; dem, was der Sprecher intendiert; dem, was der Zuhörer versteht; und den Regeln, die für die sprachlichen Elemente bestimmend sind«
(Searle 1971, S. 36 f.)
.
[047:430] Der
»Sinn von Sprechakten«
: das sind die Verwendungssituationen, die zwar außer der gegebenen Situation liegen können, in ihr aber mindestens virtuell dem Kommunikanden verfügbar sind;
»was der Sprecher meint«
: das ist der Zusammenhang möglicher und vom Sprecher antizipierter Reaktionen des |A3 113|Hörers;
»was der geäußerte Satz bedeutet«
: das ist der intersubjektive Gehalt der verwendeten Symbole;
»was der Sprecher intendiert«
: das ist die spezifische Situationsveränderung, die er durch seinen Akt hervorzubringen sucht;
»was der Zuhörer versteht«
: das ist die spezifische Bedeutung, die er – aufgrund seiner interpersonellen Erfahrung – dem Wahrgenommenen gibt. Diese Behauptungen können, wie mir scheint, nicht nur für sprachliche Kommunikation gelten, sondern für kommunikative Akte überhaupt, welcher Mittel der Bedeutungsübermittlung sie sich auch immer bedienen. Sie können mithin auch als die Dimensionen zur Analyse pädagogischer Situationen genommen werden.
[047:431] Im Zusammenhang solcher, besonders sprachtheoretischer Erörterungen liefern die beiden Bücher von Lewis Carroll
»Alice im Wunderland«
und
»Alice hinter den Spiegeln«
seit langem beliebte und eindrucksvolle Zitate. Zum Beispiel dieses:
[047:432]
»
Wenn ich ein Wort gebrauche
, sagte Goggelmoggel in recht hochmütigem Ton,
dann heißt es genau, was ich für richtig halte – nicht mehr und nicht weniger.
Es fragt sich nur
, sagte Alice,
ob man Wörter einfach etwas anderes heißen lassen kann.
Es fragt sich nur
, sagte Goggelmoggel,
wer der Stärkere ist, weiter nichts
«
(Carroll 1963, S. 98)
.
[047:433] Hier wird, in Übereinstimmung mit unseren bisherigen Darstellungen, die These vertreten, daß die Bedeutung, die kommunikative Akte haben, das Ergebnis von Interaktionen sind. Genauer noch wird hier behauptet, daß das in einem konkret empirischen Sinn nachweisbar sei, und es wird darüber hinaus eine Hypothese vorgeschlagen, nämlich die, daß die Bedeutung kommunikativer Akte und damit die Struktur von Situationen in mindestens einer Dimension von gesellschaftlichen Machtverhältnissen abhängig ist,
»daß die Herrscher über die Bedeutung in Wirklichkeit die Intentionen von Individuen in Sprechsituationen sind. Die Regeln des Sprechens (und des Kommunizierens, K. M.) und der Satzbildung sind nach dieser Ansicht Beschreibungen von Konventionen, die zwischen reziproken Individuen existieren«
(Helmer 1971, S. 67)
; diese Konventionen entstehen unter empirisch angebbaren Bedingungen, zum Beispiel denen von Machtverhältnissen. Wir haben es also, allgemein gesprochen, mit der Frage zu tun, ob es empirische Argumente gibt, die wahrscheinlich machen, daß die Verwendung des Situations-Begriffes zu einer erfolgreichen Forschungspraxis führt.
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2. Empirische Komponenten der Situation

[047:434] Man kann eine Situation als Schnittpunkt verschiedener Kausalketten betrachten. Danach würden in einer Situation verschiedene, auf je besondere Weise determinierte Individuen zusammentreffen und die Situation würde – teils als Merkmale der Individuen, teils als unpersönliche materielle Merkmale der Situation selbst – durch verschiedene, als unabhängige Variable definierte Kontexte determiniert sein. Bedient man sich einer solchen Sichtweise, dann liegt es nahe, im Anschluß an die Sozialisationsforschung mit drei solcher Kausalketten zu operieren: der biographischen, der institutionellen und der sozio-ökonomischen. In der biographischen Kausalkette würden die individualgenetischen Determinanten rekonstruiert, in der institutionellen würden im wesentlichen die Verfahren der Rollen-Analyse angewendet werden, in der sozio-ökonomischen würde es sich um Schicht- und Klassenanalysen handeln. Eine Prüfung der empirischen Daten und ihrer pädagogisch-praktischen Verwendbarkeit in konkreten Situationen aber offenbart den relativ abstrakten Charakter – im Hinblick auf die konkrete Situation – einer solchen Verfahrensweise. Welche Art von Varianzen kann durch diese Kausalketten aufgeklärt werden?
Versuchen wir eine Klärung an einem fiktiven Beispiel! Wenn wir uns das Rollenspiel einer Kindergruppe denken und anhand eines genauen Protokolls Struktur und Verlauf dieses Spiels samt der je besonderen Rollen-Performanz der einzelnen Spieler analysieren, dann könnte sich folgendes ergeben: Wir verfolgen, um der besonderen Form von Rollen-Performanz der einzelnen Spieler auf die Spur zu kommen, die biographische Kausalkette; dabei könnten zum Beispiel die im Spiel zu beobachtenden Projektionen der Kinder von besonderer Wichtigkeit sein. Bei der Prüfung der institutionellen Kausalkette werden wir auf Rollenerfahrungen in der Familie oder in Bildungsinstitutionen bzw. in Peer-Gruppen stoßen. Im Rahmen der sozio-ökonomischen Kausalkette werden uns vielleicht die im Spiel verwendeten Verständigungsmittel (schicht-spezifische Sprachcodes) wichtig oder die Thematisierung von klassenspezifischen Inhalten. Als jeweils unabhängige Variable werden angenommen: Persönlichkeitsmerkmale, Erfahrungen mit Institutionen (Rollen, Sanktionen, Herrschaft), sozio-ökonomische Variablen (Subkultur, Arbeitssituation des Familienernährers, Klassenlage).
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[047:435] Denken wir uns nun einen Vergleich mit anderen, ebenfalls kontrollierten Rollenspielen der gleichen Gruppe von Kindern, in denen allerdings auch andere Situationen gespielt werden, dann scheint es sinnvoll, zu vermuten, daß einige Beobachtungen sich wiederholen, andere dagegen nicht. Wir werden zum Beispiel beobachten, daß ein und dasselbe Kind in dem neuen Rollenspiel ein anderes kommunikatives Verhalten hervorbringt als im ersten Versuch. Allgemein formuliert: Wie ist es zu erklären, daß ein Individuum nicht immer, nicht in allen Situationen nach Maßgabe der auf jene abstrakte (mit Hilfe der Kausalketten) Weise gewonnenen Prognosen handelt oder sich verhält? Die Aufklärung dieser situativen Varianz im individuellen Verhalten ist erziehungswissenschaftlich nicht weniger wichtig als die Aufklärung über-situativer Varianzen nach psychologischen, soziologischen oder ökonomischen Faktoren oder Kausalitäts-Modellen. Das gilt aus einem sehr einfachen Grunde: Die Gestaltung von Situationen ist das, dessen der Pädagoge (Erzieher, Lehrer, Sozialarbeiter usw.) am ehesten mächtig ist. Die
»Fehler«
, die er machen kann, sind in erster Linie Fehler in der Beurteilung, Strukturierung oder Veränderung von Situationen. Konzentriert er seine Aufmerksamkeit ausschließlich oder vornehmlich auf die über-situativen Faktoren, unterläuft ihm, was in den oben formulierten Maximen gerade als unbedingt zu vermeiden gefordert wurde: Entweder überläßt er die Situation den nicht kalkulierten Einflüssen seiner persönlichen Spontaneität oder Intuition bzw. grobschlächtiger Deduktion aus den abstrakten Faktoren jener Kausalketten – oder er
»verdinglicht«
die Situation durch eine zwar strikte, aber umstandslose, unvermittelte Anwendung jener Faktoren zur Beurteilung und Strukturierung, so als sei sie nichts als der vollständig prognostizierbare Fall einer gut gesicherten Theorie. Das geschieht faktisch in der psychologischen Diagnose und Behandlung von verhaltensproblematischen Kindern und Jugendlichen immer wieder wie auch in Versuchen zur
»Politisierung«
von Jugendlichen in Erziehungsheimen oder andernorts. Das kann natürlich kein Argument, weder gegen gute Diagnosen noch gegen klassenspezifische Politisierung von jungen Leuten sein; es ist nur ein Argument gegen eine Verwendung von linearen Kausalketten und deren umstandslose Umsetzung in Praxis, in der situative Faktoren nur noch als taktisch zu berücksichtigende Randbedingungen, wenn überhaupt, wahrgenommen werden. Gerade die kommunikative Dimension |A3 116|jeder Situation würde auf diese Weise unterschlagen. Auf diese besondere Form von Praxisblindheit hinzuweisen, scheint mir gegenwärtig besonders wichtig.
[047:436] Für unsere Argumentation wählen wir aus dem schon öfter erwähnten Grunde wiederum die linguistische Diskussion als Beispiel. Cazden behauptet als zusammenfassendes Ergebnis einer Fülle von Einzeluntersuchungen und im Hinblick darauf, daß die
»Sprechsituation«
auch als unabhängige Variable zu betrachten sei:
[047:437]
»Unser eigentliches Ziel ist es zu verstehen, wie die vorgängige Erfahrung (für die die jeweilige soziale Klasse nur ein ungefährer und gemischter Index ist) in der Interaktion mit den Faktoren der momentanen Situation das Verhalten einer Person beeinflußt. Zwischen Sprechen oder Schweigen entscheidet ein Kind in jedem Moment aufs neue; es beschließt, die kommunikative Absicht a auszuführen oder die kommunikative Absicht b, die Vorstellung x auszudrücken oder die Vorstellung y, in der Form 1 oder der Form 2. Die Wahl, die das Kind trifft, ist eine Funktion der Charakteristik der Situation, wie es sie auf Grund seiner früheren Erfahrungen wahrnimmt. Wir beobachten, daß ein bestimmtes Kind in einer bestimmten Situation eine bestimmte Äußerung entweder tut oder nicht tut. Bisher haben wir diese Äußerung nur zu den Charakteristika des Kindes, etwa seiner sozialen Herkunft, in Beziehung gesetzt und die Charakteristika der Situation ignoriert«
(Cazden in Klein/Wunderlich 1971, S. 275)
.
[047:438] Das bedeutet, daß es nicht nur sinnvoll, sondern zur Vermeidung irreführender und falscher Theorien sogar unerläßlich ist, die Situation auch als eine unabhängige Variable zu betrachten. (Vielleicht ist es in diesem Zusammenhang sinnvoll, darauf hinzuweisen, daß der Ausdruck
»unabhängige Variable«
nicht bedeutet, daß es sich dabei um Phänomene oder Merkmale handelt, die schlechterdings unhinterfragbar seien; ihr Zustandekommen, ihre Genese kann also in einem anderen Forschungskontext durchaus zum Gegenstand einer erklärenden Theorie gemacht werden und dort dann als
»abhängige Variable«
erscheinen. Darin dokumentiert sich unter anderem die Tatsache, daß Theorien nicht Abbilder der Wirklichkeit sind, sondern
»Sichtweisen«
derselben, die sich bewähren oder nicht bewähren können.)
[047:439] Nach der Dimensionierung, die wir weiter oben vorgenommen haben, ergibt sich, daß die Interaktionspartner prinzipiell Situationen im Hinblick auf ihre formalen Komponenten (Beziehungsaspekt) und ihre inhaltlichen, Bedeutung repräsentieren|A3 117|den Komponenten (Inhaltsaspekt) strukturieren können, und zwar nach Maßgabe ihrer je besonderen Intentionen. Zur inhaltlichen Strukturierung von Situationen und damit zum Nachweis situativer Faktoren in dieser Hinsicht liegen Untersuchungen vor, in denen signifikante Unterschiede im Sprachverhalten ein und derselben Kinder nachgewiesen werden konnten, wenn als Stimulus für ihre sprachlichen Äußerungen unterschiedlich strukturierte Bilder, Themen oder Aufgaben gewählt wurden. So wird von den Kindern zum Beispiel bei der Darbietung von Spielzeug oder Stummfilm mehr gesprochen als bei der Darbietung eines Farbfotos vom gleichen Gegenstand. Desgleichen zeigen sich signifikante Differenzen, wenn die persönliche Anteilnahme an dem Gegenstand oder Bild größer wird (Cazden in Klein/Wunderlich 1971, S. 276 ff.). Je mehr ein Ereignis oder ein Gegenstand als
»selbsterfahren«
, je weniger es als
»nachempfunden«
gelten kann, um so komplexer sind die Sprechakte, mit denen die Mitteilung erfolgt (Labov in Klein/Wunderlich 1971, S. 80 ff. und S. 111 ff.). Ein eindrucksvolles und anschauliches Beispiel für unterschiedliches Verhalten als Folge unterschiedlich strukturierter Themenstellung gibt Moffet:
[047:440]
»Während ich einigen Schülern der dritten Klasse zuschaute, die ihre Beobachtungen über Kerzenflammen niederschrieben (diesmal nicht bloß in Form von Notizen, sondern ausführlich), fiel mir auf, daß in ihren Arbeiten häufig Sätze auftauchten, die mit
if
und
when
anfingen. Da solche Konstruktionen für eine dritte Klasse ungewöhnlich sind, wurde ich neugierig, bis mir aufging, daß diese subordinierten Satzanfänge ein direktes Ergebnis des Hantierens mit dem Beobachtungsobjekt waren. Also:
Wenn ich ein Glas über eine Kerze stülpe, wird die Flamme blau.
Hier haben wir ein gutes Beispiel dafür, wie eine körperliche Tätigkeit in einem Erkenntnisvorgang und dadurch in der sprachlichen Struktur reflektiert wird. Die Erkenntnisanforderung, die die Kerzen-Tests mit sich brachten, schufen die Notwendigkeit für subordinierte Satzteile, da die Schüler nicht aufgefordert wurden, ein bloß statisches Objekt zu beschreiben, sondern vielmehr die Veränderungen des Objekts in der Veränderung von Bedingungen (
if
und
when
)«
(Moffet 1968, S. 180)
.
[047:441] Ähnliche Fragen werden aufgeworfen, wenn die formalen, den Beziehungsaspekt betreffenden Komponenten der Situation kontrolliert werden. Der damit gemeinte Sachverhalt ist aus der Interview-Praxis wohlbekannt: Die sorgfältige Konstruktion von Interview-Leitfäden und Fragebögen wäre ja nicht erforderlich, wenn dabei nicht unterstellt werden müßte, daß in der |A3 118|künstlich hergestellten Situation eine Reihe von situativen, besonders die Interaktion von Interviewer und Interviewtem betreffenden Faktoren wirksam ist, die durch das methodische Arrangement des Untersuchungsinstrumentes gerade ausgeschaltet werden sollen. Das gilt besonders natürlich für Kinder:
»Die Sprache, die ein Kind in einem Interview gebraucht, reflektiert ebensosehr seine Beanspruchung durch die Zwänge einer Kommunikationssituation wie sie seine sprachlichen Fähigkeiten reflektiert«
(Cazden in Klein/Wunderlich 1971, S. 279)
. So scheint das in einer Situation enthaltene Autoritätsgefälle, gleichgültig, ob zwischen Erwachsenen und Kindern oder nur zwischen Kindern bzw. Jugendlichen, die kommunikativen Spielräume stark zu beeinträchtigen, und zwar nicht erst auf der Ebene des Handelns, sondern bereits bei der Wahl der Verständigungsmittel – was sicher nichts Neues ist. Darüber hinaus ist vermutlich die Art der Eröffnung einer Interaktion von großem Einfluß auf das Verhalten der Interaktionspartner. So stellte Cooperman fest, daß
»eine Unterhaltung eher stattfindet und zu einem größeren Austausch von Äußerungen führt, wenn sie vom Kind initiiert wird«
, und daß
»ein Kind so gut wie nie auf den Befehl eines Erwachsenen (
Hör auf, das und das zu machen
) verbal antwortet, bis auf die seltene Ausnahme, wenn es
nein
sagt; auf der anderen Seite riefen Befehle, die zu einer Handlung aufforderten (
Mach das und das
), häufig verbale Antworten hervor«
(nach Cazden in Klein/Wunderlich 1971, S. 287)
. Eine pädagogisch besonders folgenreiche Hypothese bezieht sich auf die Funktion der Dialog-Längen, wenn angenommen werden darf, daß Dialoge zwischen Kindern und zwischen Erwachsenen und Kindern um so länger werden, je
»entspannter«
sie sind, je größer der Spielraum ist, der dem Kind für das Thematisieren seines eigenen Erfahrungsbereiches gegeben wird. In einer Untersuchung zu diesem Problem heißt es:
[047:442]
»Eine Hauptthese dieser Untersuchung ist die, daß mit der Länge des Dialogs die Wahrscheinlichkeit zunimmt, daß das Kind einen größeren Bereich der Ressourcen und Strategien seiner Sprache hört und gebraucht. Die Fähigkeit zum Elaborieren und Qualifizieren – oder die, der Elaboration und Qualifikation zu folgen – wird am ehesten in einem erweiterten Dialog gelernt, wenn das Bedürfnis nach Bedeutungsspezifizierung und Elaboration durch einen anfänglichen Austausch geweckt worden ist«
(Plumer nach Cazden a. a. O., S. 7 f.)
.
|A3 119|
[047:443] Unter der Bedingung solcher Hypothesen erscheint manche Test-Situation als der ins Extrem stilisierte Fall eines Situationstyps, der in unserem Erziehungswesen nicht ungewöhnlich ist. Um den Charakter einer solchen Situation zu decouvrieren und damit zugleich die Daten zu kritisieren, die auf solche Weise häufig über sprachliche oder kommunikative Deprivierung gewonnen werden, teilt Labov das Protokoll eines Interviews mit einem Jugendlichen mit, das wir seiner Anschaulichkeit wegen hier mit dem Kommentar Labovs zitieren wollen:
[047:444]
»Das Kind ist im Klassenzimmer allein mit dem Interviewer, einem jungen freundlichen Weißen, der Anweisung erhalten hat, ein Spielzeug auf den Tisch zu legen und zu sagen:
Erzähl mir darüber alles, was du weißt
. Die Bemerkungen des Interviewers stehen in Klammern. [047:445] (Tell me everything you can about this.) [047:446] [12 Sekunden Schweigen] [047:447] (What could you say it looks like?) [047:448] [8 Sekunden Schweigen] [047:449] A space ship. [047:450] (Hmmmm.) [047:451] [13 Sekunden Schweigen] [047:452] Like a je-et. [047:453] [12 Sekunden Schweigen] [047:454] Like a plane. [047:455] [20 Sekunden Schweigen] [047:456] (What color is it?) [047:457] Orange. [Pause] An’ whi-ite. [Pause] An’ green. [047:458] [6 Sekunden Schweigen] [047:459] (And what should you use it for?) [047:460] [8 Sekunden Schweigen] [047:461] A jet. [047:462] [6 Sekunden Schweigen] [047:463] Give one to some-body. [047:464] (Hmmmm. Who do you think would like to have it?) [047:465] [10 Sekunden Schweigen] [047:466] Clarence. [047:467] (Hm. Where do you think we could get another one of these?) [047:468] At the store. [047:469] (O-Ka-ay!) [047:470] Die soziale Situation, die ein solches defensives Verhalten produziert, ist diese: Ein Erwachsener stellt einem isolierten Kind Fragen, deren Antworten er offensichtlich schon kennt, während alles, was das Kind sagt, sich ihm zum Nachteil auswirken kann. Tatsächlich ist dies das Paradigma der Schulsituation, die so lange vorherrscht, wie Lesen gelehrt (aber nicht gelernt) wird. |A3 120|[047:471] Wir können solche Resultate in unserer eigenen Forschung auch erhalten und haben sie in unserer Arbeit mit jüngeren Brüdern der
Thunderbirds
aus der Fifth Avenue 1390 auch vorgefunden. Wenn wir aber die soziale Situation umgestalten, indem wir die Größen- und Machtrelationen verändern, einen engen Freund der Versuchsperson hinzuziehen und über Dinge sprechen, von denen wir wissen, daß sie sie interessieren, dann gelangen wir auf eine Ebene angeregten und schnellen Sprechens«
(Labov nach Cazden a. a. O., S. 289 f.).
[047:472] Wenn unser Forschungsinteresse nicht lediglich darin bestehen soll, Defizite bei Individuen und Gruppen zu ermitteln, die dann, nach Maßgabe von bereits institutionalisierten Lernzielen, zu kompensieren sind, sondern wenn unser Interesse sich auf die Ermittlung von Bildungsstrukturen, spezifischen Lernfeldern mit ihren je relevanten Inhalten und Interaktionsformen und auf das in solchen Lagen sinnvolle, weil den Betroffenen unmittelbar dienliche Bildungsangebot richten soll – dann muß die subtile Erforschung der kommunikativen Situationen, in denen sich Lernende befinden, das erste Gebot einer erziehungswissenschaftlichen Empirie sein.
[047:473] Über die in der Situation wirksamen formalen und inhaltlichen Faktoren hinaus muß indessen für die pädagogische Kommunikation noch ein weiterer Faktor in Rechnung gestellt werden. Sie hat es nämlich in einer besonderen, von anderen Situationen zu unterscheidenden Weise mit der intentionalen Komponente zu tun. Wir wollen diese Komponente die
»Meta-Intentionalität«
der pädagogischen Situation nennen. Für jede menschliche Kommunikation – also auch für die pädagogische – muß unterstellt werden, daß die Partner der Situation eigene Intentionen haben und diese in ihren kommunikativen Akten zum Ausdruck bringen. Ferner muß unterstellt werden, daß das Postulat gilt, daß die Intentionen des anderen in der jeweils eigenen Interaktionsstrategie reflektiert, also nicht nur berücksichtigt, sondern als ernsthaft akzeptiert werden. Das gilt auf der
»naiven«
Ebene, ohne Berücksichtigung eines etwa kalkuliert geplanten Situations-Arrangements durch einen der Partner. Aber gerade dies ist für pädagogische Situationen charakteristisch: daß einer der Partner, derjenige nämlich, der sich in der Rolle des
»Pädagogen«
definiert, für sich in Anspruch nimmt, Situationen zu strukturieren, und zwar so, daß seine Chance der Einflußnahme in der Situation größer ist als die der anderen Partner. Er nimmt sogar – noch weitergehend – für sich in Anspruch, daß ihm selbst, wenn nicht ein Monopol, so doch ein entschiedenes Übergewicht institutionell gesichert wird, um Situationen über|A3 121|haupt vorweg und nicht erst in der Situation selbst zu strukturieren. Das macht das spezifische Herrschaftsgefälle aus, das wir in der Erziehungswirklichkeit antreffen. Es ist also nicht hinreichend, auf die intentionale Komponente der Situation nur zu verweisen, sondern wir müssen wenigstens versuchen, das spezifische Problem etwas genauer zu bestimmen.
[047:474] Erinnern wir uns an das mit dem Begriff
»Diskurs«
bezeichnete Lernzielproblem: Danach müssen alle pädagogischen Kommunikationen so gerichtet, so strukturiert sein, daß die Wahrscheinlichkeit einer Bildung, Erweiterung oder Stabilisierung der Diskurs-Kompetenz vergrößert wird. Akzeptieren wir diese Forderung, dann geht daraus hervor, daß die Intentionen des Stärkeren, des Erziehers, als pädagogische nicht auf der gleichen Ebene liegen können wie die des Schwächeren, des Educandus. Der stärkere Part hat es also bei sich selbst mit zwei unterschiedlichen Arten von intentionalen Akten zu tun: einer
»naiven«
und einer
»pädagogisch reflektierten«
. Zum Beispiel nimmt er einen Normen-Verstoß des Educandus wahr und neigt spontan zu einer naiven Reaktion, wie sie in jeder anderen Interaktion unterstellt werden darf: Geltenlassen, Zurechtweisen, Mißbilligen usw. Solche Reaktionen sind spontan; sie entstammen, ebenso wie die Reaktionen des Educandus, dem erworbenen Zusammenhang von Verhaltensdispositionen, der faktischen Gestalt, in der sich seine eigene Identitäts-Balance befindet. Außerdem wird sein Verhalten eine Funktion der Situation und deren Randbedingungen sein: Unter Streß wird er anders als in entspannter Situation reagieren, zudem nach Maßgabe seiner pädagogischen oder pädagogisch relevanten Ideologien, seiner besonderen Form von Situationswahrnehmung usw. Kurz: er unterliegt der gleichen Gefahr der
»Verdinglichung«
des Beziehungsgeschehens wie der Educandus. Auf der
»pädagogisch reflektierten«
Ebene der Meta-Intention jedoch ist er gehalten, an der Aufhebung jener Verdinglichung zu arbeiten, die naiven Intentionen seiner selbst und des Educandus sich zum Gegenstand der Reflexion zu machen, um die Situation so strukturieren zu können, daß
»emanzipatorische«
, d. h. der Situation und ihren Komponenten und Faktoren gegenüber distanzierte Intentionen des Educandus möglich werden. Die empirische Frage, die sich hier stellt, ist, von welchen Faktoren es abhängt, daß Meta-Intentionen zum Zuge kommen und die Situationsdynamik nicht stärker ist als die metakommunikativ disziplinierte Strukturierungsabsicht des Erziehers.
|A3 122|

3. Definition der Situation

[047:475] Von der Strukturierung der Situation durch die Interaktionspartner war bisher vielleicht allzu leichthin die Rede. Wir wollen sehen, welche weiteren Detailprobleme noch dahinter stecken. In der Formel
»die Interaktions-Partner strukturieren die Situation«
ist ja zweierlei unterstellt: Einerseits wird
»Situation«
als etwas dem Individuum und seinem Verhalten Vorgegebenes gedacht; andererseits wird eine Aktivität des Individuums angenommen, die sich auf dieses
»objektiv«
Vorgegebene richtet. Es wird also unterstellt, daß das Individuum Merkmale der Situation wahrnimmt und im Hinblick oder mit Rücksicht auf diese Wahrnehmungen sein Verhalten einrichtet. Dabei ist dieses Einrichten des eigenen Verhaltens nicht als ein bloß passives Reagieren auf die in der Situation anwesenden Stimuli zu denken; es ist vielmehr eine organisierende Tätigkeit, in der dreierlei geschieht:
  • [047:476] Erworbene Muster (Schemata) des Verhaltens werden in der Situation angewendet, auf sie transferiert; insofern ist das Verhalten in dieser Situation eine Probe auf bereits erfolgte Lernprozesse. Piaget nennt diesen Aspekt des Verhaltens
    »Akkomodation«
    : Anpassung des Organismus an die Bedingungen der Umwelt.
  • [047:477] Die Situation bzw. die Daten der Umwelt werden so wahrgenommen, daß sie vom Individuum verarbeitet werden können; es findet Selektion, Gewichtung, Interpretation statt. Piaget: Der Organismus
    »assimiliert«
    sich, genauer: seinen erworbenen Schemata, die Daten der Umwelt.
  • [047:478] Da die Interaktions-Situation selbst ein Geschehen und kein ruhendes Daten-Ensemble ist, auch gar nicht gedacht werden kann als etwas vom Verhalten des Individuums Unabhängiges, kann das Individuum auch verändernd in die
    »vorgegebene Datenmenge«
    eingreifen, um die Situation sich besser assimilierbar zu machen. Während die ersten beiden Aspekte des individuellen Verhaltens notwendig in jeder empirischen Situation enthalten sind, da der menschliche Organismus eben so und nicht anders reagiert, ist der dritte Aspekt zwar empirisch möglich, aber nicht notwendig.
[047:479] Der symbolische Interaktionismus verwendet für diese auf die Situation gerichtete strukturierende Aktivität des Indivi|A3 123|duums den Ausdruck
»Definition der Situation«
. Der Ausdruck ist allerdings mißverständlich, da er vermuten lassen könnte, es werde behauptet, daß das Individuum in einem nicht nur bewußten, sondern auch verbal explizierten kommunikativen Akt die Situation zuerst definiere und dann entsprechend handele. Eine solche idealistisch-rationalistische Annahme wäre gewiß leicht als unzutreffend zu erweisen. Im Verhalten eines 3jährigen Kindes in einem familialen Konflikt werden wir vermutlich nur selten dergleichen beobachten können.
»Definition«
heißt denn auch nicht die spezielle intellektuelle Tätigkeit des Definierens im Zusammenhang rationaler verbaler Erörterungen, sondern die bewußte oder unbewußte Strukturierung der Bedeutungs-Komponenten der Situation gemäß den erworbenen kognitiven und Beziehungs-Schemata (vgl. dazu den Abschnitt
»Folgerungen«
im 1. Kapitel)
.
[047:480] Da von jedem der Interaktions-Partner je andere Situationsdefinitionen vorgenommen werden können – in pädagogischen Kommunikationen wird das vermutlich sogar die Regel sein –, ist es nicht unabdingbar, daß in einer Situation nur eine Definition gilt. So können zum Beispiel Konfliktsituationen dadurch beschrieben werden, daß in ihnen divergierende Situationsdefinitionen aufeinandertreffen, infolgedessen Ereignisse unterschiedlich als sinnvoll interpretiert werden, Elemente der Situation vom einen als bedeutsam, vom anderen dagegen als irrelevant wahrgenommen werden. Die durch das Verlangen einer Schüler-Gruppe nach Mitentscheidung über die Lernziele entstandene Situation; die Reglementierung eines Lehrlings wegen politischer Tätigkeit im Betrieb; die Situation eines Obdachlosen-Kindes in der Grundschule unter der Ankündigung, in eine Sonderschule überwiesen zu werden; die Einweisung eines Jugendlichen in ein Erziehungsheim: diese Situationen implizieren jeweils ein Bündel von Situationsdefinitionen der verschiedenen Beteiligten, die nicht kongruent sind und gerade in diesem Sachverhalt ihr pädagogisches Problem haben. Kompliziert werden solche Konstellationen jeweils dadurch, daß die Definition der Anwendungsfall jener erworbenen kognitiven und Beziehungs-Schemata ist und insofern die Komponenten der Individualgenese, des sozialen Erfahrungsfeldes und der institutionellen Merkmale der Situation selbst enthält. Da Erziehung aber nichts anderes ist als Strukturierung von Situationen, also auch Umgang mit den Situationsdefinitionen aller an der pädagogischen Kommunikation Beteiligten, muß die |A3 124|Analyse solcher zwischen den im pädagogischen Feld interagierenden Individuen wirksamen Situationsdefinitionen als der erste praktische Schritt eines jeden pädagogischen Handelns behauptet werden. Gleiches gilt für die Forschung: Erst die Ermittlung der Situationsdefinitionen der Betroffenen kann uns Einblick in die Relevanz der wissenschaftlichen Fragestellungen verschaffen; das gilt allerdings nur, sofern die Forschung an den Problemen des Handlungsfeldes und nicht nur an abstrakter Theorie interessiert ist.
[047:481] Als Zusammenfassung der interaktionistischen Forschungstradition definiert Weinstein folgendermaßen:
[047:482]
» Defining the Situation: the process of selecting and organizing stimuli in the situation into a coherent whole. This concept is presented as a kind of shorthand summary of all the internal processes mediating between the impinging of situational stimuli and the selection and evocation of responsive lines of action. Its end product is the actor’s definition of the situation: his best guess as to the nature of the reality with which he is currently engaged; his answer to the question,
What's going on here?
It is from this definition of the situation that inferences concerning alter’s probable behavior, alter’s expectations of ego’s behavior, and appropriate norms are drawn. In other words, it is from his definition of the situation that ego’s interpersonal tasks are formulated and lines of action to pursue them are selected«
(Weinstein 1969, S. 755)
.
[047:483] Von dieser Situationsdefinition, die den beiden ersten von uns genannten Aspekten entspricht, unterscheidet Weinstein die
»projected definition of the situation«
; sie entspricht unserem dritten Aspekt: das Individuum definiert die Situation nicht nur für sich selbst, sondern es kann auch versuchen, auf die Definitionen der Interaktions-Partner Einfluß zu nehmen. Das Problem der interpersonellen Kontrolle, d. h. der wechselseitigen Beeinflussung der Interaktions-Partner, kann so formuliert werden als die Frage nach der erfolgreichen Beeinflussung der Situationsdefinitionen des jeweils anderen. Das geschieht dadurch, daß alter dazu gebracht wird, die Bedeutungskomponenten der Situation so zu strukturieren, daß sie mit der Situationsdefinition von ego kongruent sind. Erziehungsideologien, verbal explizit gemachte Verhaltensnormen, Erziehungskonventionen und -sitten,
»Hausordnungen«
pädagogischer Einrichtungen sind unter diesem Gesichtspunkt symbolische Techniken, den Spielraum für Situationsdefinitionen durch den Educandus einzuschränken. Auf der Ebene der symbolischen Kommunika|A3 125|tion entstehen so Gewohnheiten – Bourdieu (1970;1971) hat dieses Phänomen mit Hilfe der kultursoziologischen Kategorie des
»Habitus«
am Beispiel ästhetischer Stile und des Bildungswesens herauszuarbeiten versucht –, die sichern, daß die Individuen soziale Fälle oder Situationen nach einem konstanten Schlüssel dekodieren, Situationsdefinitionen also nicht beliebig vorgenommen werden, sondern nach Maßgabe eines
»herrschenden Interesses«
.
[047:484] Der Fall der zum
»Habitus«
gewordenen Situationsdefinition markiert indessen nur die Richtung auf das eine Ende der Skala, auf der verschiedengradige Spielräume für die Interaktionspartner gedacht werden müssen; die Varianz der Erziehungswirklichkeit bewegt sich zwischen der totalen Institutionalisierung der Definitionen und der Definitionsoffenheit der Situation. Das impliziert, daß die Situationsdefinition als ein sehr komplizierter Akt bzw. als ein Bündel von Akten aufgefaßt werden und ihre Ermittlung sich auf verschiedenen Ebenen der Analyse und der Beschreibung bewegen muß. So können eine nicht-sprachliche abweisende Geste, gelangweilter Ausdruck, die entschiedene Behauptung
»Das interessiert mich jetzt nicht!«
, die stille Konzentration, die liebevolle Zuwendung zu einem Partner usw. interpersonelle Taktiken sein, um damit die Situation so zu definieren, daß sie letzten Endes den Zielen oder den Verhaltens- und Handlungsmöglichkeiten des Individuums gerecht wird. Freilich kann ein solches Situations-Management auch scheitern oder eine Strategie resignativer Anpassung, der Um-Definition der Situation nach Maßgabe der in der Situation wirksamen stärkeren Intentionen bedeuten. Eine sorgfältige Analyse von Situationsdefinitionen scheint uns deshalb in der pädagogischen Praxis und Forschung unerläßlich.
[047:485] In ähnlichem Zusammenhang interpretiert Steinert (1972) ein Beispiel von Zulliger (wo im folgenden Text von
»Strategien«
die Rede ist, halten wir den Ausdruck
»interpersonelle Taktik«
für angemessener):
[047:486]
»Ein Mädchen hatte in einem Spiel, in dem Tiernamen verteilt wurden, für den Lehrer, der tatsächlich einen langen Hals hatte, den Spitznamen
Giraffe
vorgeschlagen. Als der Lehrer davon hört, versucht das Mädchen – offenbar naiv – zu erklären. Der Lehrer will aber keine Erklärung hören, sondern schimpft über Undank und gibt dem Mädchen eine schlechte Betragensnote. Das Mädchen hat offensichtlich die Strategie, zornige Erwachsene durch Erklärung seines Verhaltens zu beschwichtigen. Dieses Verhalten läßt sich vom |A3 126|Interaktionspartner z. B. in eine Strategie
fremde Schwäche nicht ausnützen, um selbst auch Nachsicht zu erfahren
einbauen. Der Lehrer verfolgt aber eine andere Strategie:
gegen versuchte Kränkungen Macht einsetzen
oder
von Unterlegenen Hochachtung fordern
, was daher rührt, daß der Lehrer die Situation anders definiert als das Mädchen, nämlich als eine des Beschämtwerdens wegen seines Aussehens (was aus der früheren Reaktion seiner sozialen Umwelt auf seinen langen Hals, die Zulliger berichtet, verständlich wird: die partielle Ablehnung des jungen Manns durch seine Schulkollegen manifestierte sich in Hänseleien seines Aussehens wegen).[047:487] Wir können daher als langfristige Strategien des Lehrers erschließen, sich Zuneigung zu bewahren, sich keinen allzu kompetitiven Interaktionen auszusetzen, Situationen zu wählen, in denen seine Überlegenheit gesichert ist. Es ist nicht unplausibel, seine Wahl des Lehrerberufes in diesem Zusammenhang zu sehen«
(Steinert 1972, S. 95 f.)
.
[047:488] Ein anderes Beispiel – allerdings nicht aus einem pädagogischen Zusammenhang, dafür aber um so augenfälliger – berichtet Watzlawick:
[047:489]
»Unter den während des Krieges in England stationierten amerikanischen Soldaten war die Ansicht weit verbreitet, die englischen Mädchen seien sexuell überaus leicht zugänglich. Merkwürdigerweise behaupteten die Mädchen ihrerseits, die amerikanischen Soldaten seien übertrieben stürmisch. Eine Untersuchung, an der u. a. Margaret Mead teilnahm, führte zu einer interessanten Lösung dieses Widerspruchs. Es stellte sich heraus, daß das Paarungsverhalten (courtship pattern) – vom Kennenlernen der Partner bis zum Geschlechtsverkehr – in England wie in Amerika ungefähr dreißig verschiedene Verhaltensformen durchläuft, daß aber die Reihenfolge dieser Verhaltensformen in den beiden Kulturbereichen verschieden ist. Während z. B. das Küssen in Amerika relativ früh kommt, etwa auf Stufe 5, tritt es im typischen Paarungsverhalten der Engländer relativ spät auf, etwa auf Stufe 25. Praktisch bedeutet dies, daß eine Engländerin, die von ihrem Soldaten geküßt wurde, sich nicht nur um einen Großteil des für sie intuitiv
richtigen
Paarungsverhaltens (Stufe 5–24) betrogen fühlte, sondern zu entscheiden hatte, ob sie die Beziehung an diesem Punkt abbrechen oder sich dem Partner sexuell hingeben sollte. Entschied sie sich für letztere Alternative, so fand sich der Amerikaner einem Verhalten gegenüber, das für ihn durchaus nicht in dieses Frühstadium der Beziehung paßte und nur als schamlos zu bezeichnen war«
(Watzlawick u. a. 1969, S. 20)
.
[047:490] Dieses Beispiel weist darauf hin, wie kompliziert Situationsdefinitionen werden, wenn die verwendeten Symbole keine geteilte Bedeutung mehr haben. Wie diffizil der Vorgang des Definierens und Um-Definierens ist, wird dann deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, was die Partner tun müßten, um bei |A3 127|einem Verhalten zu einem Konsens zu kommen, das so stark wie das sexuelle sich an nichtverbalen Kommunikationsmitteln orientiert, immer vorausgesetzt, daß die nicht explizierten Regeln, denen das Verhalten der Partner folgt, nicht kongruent sind.
[047:491] Nicht in dieser offensichtlichen Weise ins Auge fallend, aber dennoch von der gleichen Form, sind Situationen und ihre Definitionsprobleme, wenn Kinder verschiedener Subkulturen zusammentreffen, wenn bürgerliche Erwachsene mit jugendlichen Banden zu tun haben, wenn psychoanalytisch orientierte Lehrer mit stark leistungsorientierten Eltern sich auseinandersetzen müssen, ja selbst wenn stark geschlechtsrollengebundene Situationsdefinitionen von Ehepartnern in familialen Situationen aufeinandertreffen. Solche Andeutungen machen hoffentlich plausibel, in welche Vielzahl von Fragen sich eine zureichende Beantwortung des Problems der Situationsdefinitionen im Zusammenhang pädagogischer Kommunikationen aufsplittert:
  • [047:492] Welche verbalen Kommunikationsmittel werden verwendet?
  • [047:493] Welche Sachverhalte werden, bzw. in welchen Kommunikationsakten wird reichhaltig verbalisiert, in welchen weniger reichhaltig?
  • [047:494] Welche nicht-verbalen Gesten werden zur Strukturierung der Situation verwendet?
  • [047:495] Worauf richtet sich die Aufmerksamkeit und die Interaktionshäufung unter den Interaktionspartnern?
  • [047:496] In welchen Kontext werden die Ereignisse und ihre Bedeutung gebracht?
  • [047:497] Mit welchen Mitteln und in welcher Richtung versuchen die Interaktionspartner, die Situationsdefinition des anderen zu beeinflussen? Und so weiter.
[047:498] Der Versuch, den Begriff
»Definition der Situation«
zu differenzieren und ihn als eine beobachtbare Variable im Erziehungsgeschehen auszuweisen, darf nicht so verstanden werden, als solle damit wiederum eine neue, noch elementarere
»Ursache«
für das Zustandekommen und die zu erwartende Wirkung von Erziehungssituationen eingeführt werden. Sie darf allerdings als das wichtigste strukturierende Moment von Situationen gelten: Situationsdefinitionen sind diejenigen Vorgänge, durch die außersituative
»objektive«
Verhältnisse in eine Situation und damit in die Interaktionserfahrung von Individuen eingebracht |A3 128|werden; sie sind der
»mediating process«
der Sozialisation, das pädagogisch entscheidende Geschehen. Die unterschiedliche Wirkung verschiedener Situationen auf ein und dasselbe Individuum kann nur dadurch verstanden werden, daß auf der Vergleichsebene Merkmale variieren, die die Individuen zu unterschiedlichen Definitionen der Chancenspielräume einer Situation veranlassen und damit auch unterschiedliches, je auf die Situation hin besonderes Verhalten und Handeln zur Folge haben. Der Begriff Situationsdefinition leistet mithin zweierlei: Er erlaubt, das Individuum und sein Handeln im Rahmen der gesellschaftlichen Determinanten zu interpretieren, unter deren Zwang es leben muß – er unterschlägt dabei andererseits aber nicht, daß alles Handeln des Individuums eine intentionale Komponente hat, daß es selbst Daten fortwährend interpretiert und das aus solcher Interpretation folgende Handeln verantworten kann, daß das Individuum zugleich Objekt und Subjekt seiner Verhältnisse ist. Dies ist es allerdings in je verschiedenen Ausprägungen, die großenteils von den objektiven Merkmalen der Situation abhängen, d. h. davon, wie groß der explizite Definitionsspielraum ist, der dem Individuum verbleibt, und wie groß der Anteil verdrängter, nur noch projektiver Definitionsgehalte ist, die nicht mehr handlungsrelevant werden können. Die immer analoge Definition von verschiedenen Situationen durch ein Individuum ist im Rahmen dieses Paradigmas nur so zu verstehen, daß es immer wiederkehrende gleichartige interpersonelle Erfahrungen gemacht hat, die wir mit Laing als eine
»Verdinglichung«
seiner interpersonellen Beziehungen und Lernperspektiven bezeichnet haben.
[047:499] Die auf konkretes Erziehungsgeschehen gerichteten Fragen, die veranschaulichend an solche Erörterungen sich anschließen, könnten so aussehen:
  • [047:500] Wie definiert ein Arbeiterkind die Situation, in die es mit kognitiv besser ausgestatteten Kindern in einer Vorschule in Konkurrenz gerät?
  • [047:501] Wie definiert das gleiche Kind eine Situation, in der es in einer Kleingruppe seines eigenen Wohnbezirks und seiner eigenen sozialen Gruppe sich in der nachbarschaftlich üblichen Umgangssprache über Spiele verständigen kann?
  • [047:502] Wie definiert ein Kind eine Situation, in der ihm die Lösung eines Problems im Rahmen einer abstrakten Leistungserwartung zur Aufgabe gemacht wird?
  • |A3 129|
  • [047:503] Wie definiert das gleiche Kind eine Situation, in der es dem formal gleichen Problem im Kontext seiner sozialen Erfahrungen konfrontiert ist?
  • [047:504] Wie definiert ein Jugendlicher eine Situation, in der er, nach Einweisung in ein Erziehungsheim, zu einer Unterredung mit dem Leiter des Heims gebeten wird?
  • [047:505] Wie definiert der gleiche Jugendliche eine Situation, in der er, nach Einzug in eine Wohngemeinschaft, der Gruppe über seine Probleme berichtet? Und so weiter.
[047:506] Wir haben behauptet, daß die Entwicklung kognitiver Schemata (Piaget) wie auch die Entwicklung von Beziehungs-Schemata (Kohlberg) in einer Aufeinanderfolge von Stadien oder Stufen verläuft, die zwar nicht zeitlich ein für allemal fixiert ist, die auch verzerrt, verzögert, gestoppt oder beschleunigt werden kann, die aber nicht umkehrbar ist. Ist dies der Fall, dann sind Situationsdefinitionen in zwei Richtungen nicht beliebig: Sie sind gebunden an den jeweiligen Entwicklungsstand des Individuums, und sie sind darüber hinaus gebunden an die interpersonellen Taktiken der Interaktionspartner und durch diese hindurch an den institutionellen Kontext, in dem die Situation ihren sozialen Ort hat. Für wen die Ausdrücke
»Meister«
,
»Vorgesetzter«
,
»Lehrer«
oder
»Erzieher«
keine allgemeinen öffentlichen Symbole sind, sondern nur privatsprachliche Zeichen für einen früh erlebten intimen Beziehungskonflikt, der wird eine entsprechende Situation auf einer
»früheren Entwicklungsstufe«
definieren als jemand, der private Erfahrung und allgemeine Bedeutung zu unterscheiden gelernt hat und infolgedessen imstande ist, die Bedeutung der Situation im Kontext von
»Generation«
,
»Institution«
,
»Klassenlage«
zu strukturieren; aber im zweiten Fall wird er dennoch abhängig sein von dem, was die Macht-Struktur der Situation ihm vorgibt, jedenfalls im Hinblick auf die Handlungsrelevanz seiner Definitionen. Diese – die entwicklungsgeschichtliche und die gesellschaftliche Komponente – nennen wir die Bedingungen für Situationsdefinitionen. Die Struktur der Situationsdefinition ist bestimmbar wiederum auf zwei Ebenen: auf der verwendeter Kommunikations-Mittel, die gleichsam als Definitions-Instrumente verwendet werden, und auf der Ebene der Definitions-Dimensionen, in denen die Definitionen vollzogen werden: Es wird Bedeutsames ausgewählt bzw. behauptet oder festgesetzt, es werden Probleme bestimmt, d. h. Fragen, die |A3 130|überhaupt einer Lösung oder Beantwortung bedürftig sind, und es werden Problemlösungen als möglich, relevant, zulässig oder geboten ins Auge gefaßt oder verworfen. Das Ganze wiederum kann sowohl dem Bewußtsein der Beteiligten verfügbar oder nicht verfügbar sein, d. h. also intentional oder nur funktional. Als Zusammenfassung unserer Überlegungen zur Situation ergibt sich das auf den Seiten 132/133 dargestellte Schema.
[047:507] Mit der Hervorhebung der Entwicklungs- und der gesellschaftlichen Komponente haben wir schon darauf hingewiesen, daß Situationsdefinitionen von den Interaktionspartnern nicht völlig spontan vorgenommen, in der je aktuellen Situation nicht völlig neu produziert werden. Das geht auch aus unserer schematischen Übersicht hervor, in der diejenigen Stellen angegeben sind, an denen sich die Situation über die bereits erworbenen Schemata mit einerseits biographischen Daten, andererseits sozial allgemeinen Kontexten und Erfahrungszusammenhängen, kurz: mit subjektiven und objektiven Konventionen des Definierens von Situationen verknüpft. Zwar können wir gelten lassen, daß auch solche Konventionen sich letzten Endes aus Situationen heraus entwickeln; der Sozialisationsprozeß ist in dieser Hinsicht nichts als eine Reihe von Situationen, in denen das Definieren und die entsprechenden Taktiken gelernt werden samt der möglichen Handlungskonsequenzen, d. h. generalisiert und auf andere mögliche Situationen übertragen werden. Aber die Definitionsspielräume sind eben nicht beliebig. Sie sind von Anfang an begrenzt. Allerdings können die Spielräume auch unter den Bedingungen einer für eine soziale Gruppe beispielsweise geltenden Rahmenbegrenzung variieren: Zu Beginn eines Spiels von Kindern, wo es darum geht, Spielinhalt und -regeln zu finden, womöglich zu erfinden, ist der Spielraum größer als nach erzielter Übereinkunft. Die Entstehung einer Gruppe wird man nach diesem Muster beschreiben können als eine Zunahme von konventionell definierten und eine Abnahme von konventionell nicht definierten Situationen, solchen nämlich, in denen Definitions-Divergenzen herrschen. Pädagogisch sinnvoll wird häufig der Fall sein, in dem Definitions-Konventionen revidiert werden, genauer: in dem die Situation so arrangiert wird, daß Definitions-Divergenzen nicht nur wieder möglich, sondern auch explizit werden und nicht in den Bereich von Privatsprachen und Projektionen abgedrängt zu werden brauchen. Das kann der Fall sein bei der Einführung neuer, eher kommunikativer Formen des Unterrichts, bei |A3 131|der Öffnung der
»Gruppengrenzen«
einer Familie, bei der Einführung eines neuen Erziehungs- und Kommunikationsstiles in einem Heim, bei Initiierung einer Bürgerinitiative in einer Obdachlosensiedlung, bei der Einführung eines Wohnkollektivs für Jugendliche, der Planung einer Vorschuleinrichtung usw. Aber auch solche Fälle dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß eine Situation nicht notwendig, ja mit großer Wahrscheinlichkeit auch nicht im Regelfall, eine Gleichverteilung der aus den jeweiligen Definitionen folgenden Handlungsalternativen enthält. Als Regelfall aber können wir annehmen, daß die Definitionen der Interaktionspartner nicht völlig kongruent sind. Laing hat darauf, wenngleich in einer am intimen interpersonellen Kontext orientierten Sprache, hingewiesen:
[047:508]
»Was geschieht, wenn zwei Menschen sich über die Bedeutung, die man einem bestimmten Akt beimißt, nicht einig sind? Es entspinnt sich ein sehr komplizierter Prozeß. Ist die Kommunikation optimal, dann erkennen sie, daß ihre Interpretationen des Aktes differieren, und sie erfassen auch, daß sie beide die Differenz ihrer Interpretationen erkennen. Wenn dieser Fall eingetreten ist, werden sie vielleicht in Streit darüber geraten, ob man die betreffende Handlung in Zukunft ändern sollte oder nicht. Ein solcher Streit kann verschiedene Formen annehmen: [047:509] Drohen: Tue dies oder das! [047:510] Erbitten: Bitte tue dies! [047:511] Bestechen: Wenn du dies tust, werde ich dafür jenes tun. [047:512] Überreden: Ich glaube, du würdest gut daran tun, dies zu tun, weil ... usw. [047:513] Zudem liegt bei Problemen, bei denen keine Übereinstimmung herrscht, oft auch ein Mißverstehen vor und die fehlende Einsicht, daß man sich mißversteht. Das kann beabsichtigt sein, zum Beispiel als einfacher Versuch, die Ansicht der anderen Person zu ignorieren, oder das unabsichtliche Ignorieren der gegensätzlichen Ansicht. In beiden Fällen kommt es zum Zerbrechen der Kommunikation«
(Laing/Phillipson/Lee 1971, S. 24)
.
[047:514]
»Zerbrechen der Kommunikation«
heißt nicht, daß die Individuen auseinandergehen. Das ist im pädagogischen Feld ohnehin nur in denjenigen Situationen möglich, in denen Freiwilligkeit der Teilnahme herrscht, und das sind recht wenige. Zerbrechen der Kommunikation heißt, daß keine Verständigung über die in der Situation definierbaren (bestimmbaren) und von allen Partnern akzeptierbaren Handlungsperspektiven möglich ist, die gemeinsame Situation also nur noch durch Zwang aufrechterhalten werden kann. In unserer Terminologie stellt sich eine solche ungleiche Verteilung von Handlungschancen dar als |A3 132|
Hier ist ein Schaubild zu sehen, welches die Bedingungen für die Situationsdefinition bzw. die Struktur der Situationsdefinition von Alter und Ego darstellt. |A3 133| Hier ist ein Schaubild zu sehen, welches die Bedingungen für die Situationsdefinition bzw. die Struktur der Situationsdefinition von Alter und Ego darstellt.
konventionelle Vorweg-Definition von Situationen, die zwar nicht das Definieren der Situation durch die Betroffenen unmöglich macht – das ist schon der Struktur der Interaktion wegen unmöglich –, die aber die denkbaren Definitionsalternativen einschränken und vor allem die Wahrscheinlichkeit bestimmter Handlungskonsequenzen auf Kosten anderer begünstigen. Von solcher Einschränkung, Begrenzung und Begünstigung durch übersituative Faktoren, also durch Merkmale des sozialen Systems, soll im folgenden die Rede sein.

Institution

[047:515] Unsere Darstellung blieb bisher – trotz der verschiedenen Hinweise auf die Bedeutung übersituativer, institutioneller oder sozialstruktureller Faktoren bzw. Bedeutungszusammenhänge – in der Regel auf den Bereich der unmittelbar erfahrenen zwischenmenschlichen Beziehungen und die in ihnen auftauchenden Lern- und Handlungsprobleme beschränkt. Das mag das Mißtrauen gesellschaftstheoretisch orientierter Leser genährt haben, die argwöhnen mögen, hier handle es sich um nichts als eine neue Version
»autonomer Pädagogik«
, d. h. einer Form von Erziehungswissenschaft, die glaubt, den gesellschaftlichen – im besonderen historischen Zusammenhang: den klassengesellschaftlichen – Kontext des Erziehungsgeschehens ignorieren zu können. Nun scheint mir – und das ging hoffentlich aus meinen Erörterungen hervor – die Frage nach der
»Autonomie der Pädagogik«
als einer eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin wie auch als einer eigenständigen sozialen Praxis wenn nicht gegenstandslos, so doch zumindest uninteressant zu sein. Was wir Pädagogik oder Erziehungswissenschaft nennen, hat es mit einer gesellschaftlichen Praxis zu tun, die als kommunikatives Handeln mit lernbezogener Zielorientierung Probleme besonderer Art aufwirft. Diese Probleme haben es, was die Regel dieses Handelns betrifft, zunächst mit der Struktur von Kommunikation zu tun; bei dieser Frage erscheint mir die Tradition der symbolischen Interaktionsanalyse als die leistungsfähigste Forschungstradition; sie habe ich deshalb in den Vordergrund gerückt. Die Frage ist jetzt, ob es gelingt, auch die gesellschaftlichen Faktoren und Orientierungen des Erziehungsgeschehens als Analyse pädagogischer Kommunikation mit einem Begriffsinstrumentarium fortzusetzen, das an die bisherige Terminologie und ihren Bedeutungs-Kontext anschließt. |A3 135|Auf das hier zu lösende theoretische Problem haben wir schon verschiedentlich hingewiesen: Im Rahmen der Lernzielproblematik erörterten wir die Tatsache, daß verschiedene Ansätze zur Beschreibung menschlicher Kommunikation immer mit der Unterstellung einer
»idealen Kommunikationsgemeinschaft«
, einer
»unverzerrten Kommunikation«
, einem den Axiomen menschlicher Kommunikation auf eine
»reife«
,
»ungestörte«
Weise folgenden Beziehungsverhalten operieren. Aus solcher Unterstellung ergibt sich die theoretische Nötigung,
» Verzerrung«
als den historischen Regelfall nicht nur zu beschreiben, sondern auch die Bedingungen zu ermitteln, denen sie geschuldet ist. Ähnliche Fragen traten auf bei der Diskussion von personaler und sozialer Identität: Welches sind die Bedingungen für die Balance zwischen diesen beiden Dimensionen der Selbstinterpretation, und welche besondere Form nimmt sie jeweils unter konkreten Bedingungen an? Welche Rolle spielt die Macht-Struktur in pädagogischen Beziehungen? Welche übersituativen Faktoren sind für die Struktur der Handlungs- und Lernperspektiven verantwortlich? In welchen materiellen Bedingungen manifestiert sich der besondere Bedeutungshorizont von Lebenswelt? Probleme dieser Art wurden bisher nur angedeutet. Wir wollen nun sehen, wie weit das Instrumentarium der Interaktionsanalyse reicht, um die Diskussion solcher Fragen möglich zu machen.
[047:516] Wir können dabei noch einmal an Meads Begriff des
»Me«
anschließen – bzw. an den Begriff der Identität – wie auch an das, was über Situationsdefinitionen ausgeführt wurde. Situationsdefinitionen – so war der Akzent unserer Darstellungen – sind unter anderem intentional gerichtete Strukturierungen der Situation, die die Interaktionspartner vornehmen. Angesichts einer solchen Feststellung war es nötig, vor drei empirisch unzulässigen Folgerungen zu warnen:
  • [047:517] Diese Feststellung impliziert nicht, daß die Definitionen der Partner kongruent sind, (Generationenkonflikt; Rollenkonflikte; Interessen-Differenzen) usw.
  • [047:518] Sie impliziert zweitens nicht, daß die Chancen für Definitionsspielräume gleich verteilt sind (Barrieren im Antizipieren-Können von Handlungsalternativen; ungleich verteilte Kommunikationsmittel; ungleiche Chancen, Situationen durch Einführung bestimmter Inhalte oder Rollenvorschriften vorweg, zu strukturieren).
  • |A3 136|
  • [047:519] Sie impliziert drittens nicht, daß die Handlungsrelevanz der Definitionen gleich verteilt ist (der eine Partner kann den in der Definition zum Ausdruck gebrachten Intentionen folgen; die Definition der anderen wird zwar explizit, in ihren Handlungskonsequenzen jedoch verdrängt).
[047:520] Alles dies ist nicht im Operieren mit dem Begriff der Situationsdefinition enthalten, kann also auch mit seiner Hilfe nicht expliziert werden, sondern bedarf einer Analyse der empirischen Bedingungen, unter denen Erziehung, bzw. konkretes Erziehungshandeln geschieht. Indessen ist es nicht notwendig, den Begriff der Situationsdefinition – auch darauf wurde schon hingewiesen – im Sinne eines spontanen Aktes des Individuums zu verstehen. Das ergibt sich schon daraus, daß wir als Definitionsinstrumente auch nicht bewußt gesteuerte Ausdrucksgesten ins Auge gefaßt und daß wir von der intentionalen eine funktionale Definitionsebene unterschieden haben. Mindestens damit wird zugegeben, daß die Situationsdefinition eines Individuums im Lichte einer Genese gesehen werden muß, in der sich so etwas wie Definitions-Gewohnheiten bilden, die mit typisch auftretenden sozialen Situationen verbunden sind: der Genese des
»Me«
. Die Begriffe
»Me«
und
»Identität«
wären sinnlos, wenn in ihnen nicht vorausgesetzt würde, daß das Handeln des Individuums Regeln folgt, nach denen die Gleichartigkeit des Verhaltens in verschiedenen Situationen verstanden werden kann: Die an der pädagogischen Kommunikation beteiligten Individuen reagieren beim Definieren von Situationen auf die Wahrnehmungen der Situation nach Maßgabe einer Definitionsregel. Das
»Me«
bzw. die von einem konkreten Individuum gebildete Identitäts-Balance können wir deshalb so bestimmen: Es ist der Inbegriff der in verschiedenen Situationen für das Individuum wiederholbaren Bestandteile von Situationsdefinitionen, sowohl im Hinblick auf die biographische wie im Hinblick auf die soziale Reihe faktischer Situationen, denen es konfrontiert wird, es ist der Satz von Regeln, nach denen es Situationen definiert. Von einer Identitätskrise muß immer dann gesprochen werden, wenn die erworbenen Definitionsstandards angesichts aktueller Situationen wiederholt versagen und sich in der Handlungsperspektive des Individuums keine Chance zur sinnvollen Korrektur zeigt.
[047:521] Im Anschluß an Alfred Schütz hat Cicourel (1970) die Elemente sozialer Situationen benannt, die im Hinblick auf die in Situationsdefinitionen enthaltenen Regelmäßigkeiten relevant sind:
|A3 137|
  • [047:522] Die Reziprozität der Perspektiven der Kommunikationspartner; sie bedeutet, daß beide beim je anderen vergleichbare Erfahrungen voraussetzen, bzw. daß alle
    »die gleiche Erfahrung hätten, wenn sie die Rollen tauschen würden«
    (S. 304)
    ; das wiederum ist nur möglich unter der Voraussetzung wiederholter gleichartiger Beziehungserfahrungen (vgl. den 1. Abschnitt in diesem Kapitel); es betrifft den formalen Aspekt von Interaktion.
  • [047:523]
    »Der vorhandene Wissensstand des Handelnden«
    (S. 305)
    ; er betrifft den von uns so genannten inhaltlichen Aspekt der Interaktion: die Inhalte, das Wissen sind nicht individuelles Eigentum, sondern immer – wie Symbole – geteiltes Wissen; zwar differiert der
    »Wissensstand«
    der Individuen; ohne die Basis gemeinsamen Wissens aber kommt keine sinnvolle Kommunikation zustande.
  • [047:524]
    Die Typisierung sozialer Situationen, wodurch diese nach Maßgabe von Mustern wahrgenommen und sowohl das eigene wie das Verhalten des Anderen einem Regel-Verständnis zugänglich wird und der Identität integriert werden kann. Besonders dieses letztere Element ist für die folgenden Überlegungen wichtig. Es heißt dazu bei Cicourel:
    »Sozial verteiltes, in alltäglicher Kommunikation für selbstverständlich gehaltenes Wissen wird innerhalb eines Kontextes ausgetauscht, wobei der Handelnde sowohl sein eigenes als auch das Verhalten des anderen typisiert. Typische soziale Rollen und typische Erwartungen werden im Austausch sozial verteilten und sozial anerkannten Wissens vorausgesetzt.«
    Cicourel fährt dann mit einem Schütz-Zitat fort:
    »Sozial anerkanntes Wissen besteht so aus einer Reihe von Rezepten, die jedem Angehörigen der Gruppe helfen sollen, seine Situation in der Realität des Alltagslebens in einer typischen Weise zu definieren«
    (Cicourel 1970, S. 305 f.)
    .
[047:525] Uns geht es hier besonders um die
»typischen Weisen des Definierens von Situationen«
. Es handelt sich dabei um einen Vorgang, der seine Wurzel zwar in der interpersonellen Beziehung konkreter Individuen und deren Nötigung zur Verständigung, also zur Allgemeinheit symbolischer Formen und Inhalte in der zeitlichen und der sozialen Erstreckung hat, der aber zugleich das Prinzip der Institutionalisierung des Handelns in sich trägt und deshalb die Brücke zum je historisch konkreten Kontext bildet. Mit anderen Worten: Um soziale Situationen verfügbar zu machen, entwickeln wir – d. h. die Interaktionspartner, die interagierenden sozialen Gruppen oder Kollektive von Individuen – Regeln des Definierens von Situationen, durch die |A3 138|wechselseitig Handlungsspielräume festgesetzt werden; damit müssen aber zugleich den Individuen die den eingeräumten Handlungsspielräumen entsprechenden
»Eigenschaften«
zugeschrieben werden; sie müssen als Inhaber von Positionen, als Spieler von Rollen identifizierbar sein. Auf die Erziehungswirklichkeit gerichtet heißt das: Das Erziehungs- und Bildungswesen muß verstanden werden als ein Unternehmen, mit dessen Hilfe die gleichsam unendliche Vielzahl möglicher Situationen, in die ein heranwachsendes Individuum kommen kann, und die ebenso große Vielzahl von Situationsdefinitionen, die denkbar wäre, auf ein Maß reduziert werden, das die Aufgabe der generativen Reproduktion der Gesellschaft empirisch wahrscheinlich macht. Das bedeutet, daß Situationen nach Standards definiert, damit Handlungsspielräume begrenzt und adäquate Eigenschaften den Individuen zugeschrieben werden. Was einerseits als ein notwendiges Element jeder sozialen Situation, jeder symbolisch vermittelten Interaktion angenommen werden muß, fungiert andererseits – im Kontext konkreter Gesellschaften – als ein Mechanismus kollektiver sozialer Kontrolle. Diese Ambivalenz des allgemeinen, d. h. über-situativen Gehalts von Situationsdefinitionen hat für das Erziehungshandeln indessen noch eine besondere Schwierigkeit. Der Vorsprung des Erziehers im Definieren-Können von Situationen ist einerseits dadurch gestützt, daß es eine definierte Klasse von Situationen gibt, in denen Individuen als
»Educandus«
auftreten, es gibt – um die an der Dramaturgie orientierte Redeweise Goffmans (1969) aufzunehmen – das Sozialspiel, das
»Erziehung«
heißt, in der die Rollen (Parts) verteilt sind; andererseits aber ist dies kein Sachverhalt, der beliebig revidierbar wäre: dieses Sozialspiel kann zwar nach anderen Regeln gespielt werden, die Dichotomie der Grundrollen aber ist durch die Tatsache der Generation vorgegeben. Um so wichtiger ist es, sorgfältig auf die dramaturgischen Details zu achten, besonders aber auf das Spiel im ganzen, das da aufgeführt wird, die Klassifikationen bzw. Zuschreibungen, die die Individuen erfahren, die Standard-Definitionen von Situationen, an denen sich solche Zuschreibung immer wieder orientiert, und die Interessen, denen sie dient.

1.
»Labeling approach«
und Delinquenz

[047:526] Unsere These ist also: die Erziehungswirklichkeit ist ein System von definierten Situationen mit unterschiedlichem Institutio|A3 139|nalisierungsgrad, deren Funktion darin liegt, die heranwachsenden Individuen je zu einer kongruenten Situationsdefinition zu veranlassen. Das Gelingen dieses Unternehmens ist davon abhängig, daß den Individuen Merkmale zugeschrieben werden, die es erlauben, ihnen gegenüber eine durch die institutionelle Situationsdefinition gestützte interpersonelle Taktik anzuwenden, und zwar relativ unabhängig davon, wie das betroffene Individuum selbst die Situation definiert.
[047:527] Cicourel (1968) beschreibt das damit entstehende Problem unter anderem am Beispiel der versuchten Verständigung zwischen einem Sozialarbeiter und einem
»delinquenten«
Jugendlichen: Der Sozialarbeiter tritt in die Interaktion mit dem Probanden ein mit einer Reihe von Hintergrunderwartungen (background expectancies), die sich aus mehr oder weniger genau definierten, aber doch operationablen Klassifikationen von Ereignissen, Zuordnungen von Ereignissen zu beobachtbaren Merkmalen eines Individuums,
»Theorien«
über Ursachen und Wirkungen usw. zusammensetzt. In der Interaktion mit dem Jugendlichen, der beispielsweise in eine Art
»Schlägerei«
verwickelt war, versucht der Sozialarbeiter einen Zusammenhang zwischen diesem Ereignis und seinen Hintergrunderwartungen – d. h. den Elementen der institutionell vorgegebenen Situationsdefinitionen – herzustellen. Er besorgt das mit der expliziten oder impliziten Leitfrage,
»what happened?«
, was ging vor? Herauszubekommen, was
»wirklich«
vorgeht oder vorging in jener
»Schlägerei«
, erweist sich nun als außerordentlich schwierig, wenn nicht gar als unmöglich: Die Situation
»Schlägerei«
nämlich wird nicht nur von den beiden Interaktionspartnern auf völlig verschiedene Weise gedeutet, schon ihre Bezeichnung als
»Schlägerei«
ist eine Definition, die es zwar dem Sozialarbeiter erleichtert, sie in den Kontext seiner Situationsdefinitionen einzubringen, von dem Jugendlichen aber nicht akzeptiert werden kann. Für ihn ist dieses Etikett (label) falsch. Der Jugendliche versucht denn auch zunächst, dem Sozialarbeiter begreiflich zu machen, daß die Situation ganz anders definiert werden müsse, um im Rahmen seiner eigenen Identität Sinn zu bekommen, und daß die Fragerichtungen des Sozialarbeiters an der Bedeutung der Situation vorbeigehen. Der Sozialarbeiter wiederum muß, da er im Rahmen eines Kontrollsystems handelt, das von ihm Rechenschaft fordert, an denjenigen Situationsdefinitionen festhalten, die ihm von dort in Form von Symptomatologien, Theorien, Handlungsanweisungen, Rechtssätzen usw. zur Verfügung |A3 140|stehen. Im Regelfall resigniert der Jugendliche und schließt sich – zunächst vielleicht nur scheinbar – den Definitionen des Sozialarbeiters an, schon deshalb, weil die Interaktion nicht
»offen«
ist, sondern der andere Part ein Sanktionssystem repräsentiert, dem sich der Proband in der Regel kaum entziehen kann. Dem Jugendlichen wird die Eigenschaft des
»Schlägers«
zugeschrieben. Diese Eigenschaft nun – und das ist entscheidend – ist nicht die Bezeichnung für eine Klasse physischer Ereignisse, sondern die Deutung einer sozialen Situation, die so, aber auch anders ausfallen kann. Diese Deutung ist nicht wahr oder falsch; wir können von ihr nur sagen, daß sie diesem oder jenem System von Situationsdefinitionen entspricht, diese oder jene Kontrollfunktion erfüllt, diesen oder jenen Interessen folgt.
[047:528] Dieser – in der neueren, besonders der kriminologischen Diskussion als
»labeling approach«
bezeichnete – Forschungsansatz ist von
Quensel (1970)
versuchsweise in Form eines anschaulichen Verlaufsmodells auf die Entstehung delinquenter
»Karrieren«
angewendet worden. Etwas abgewandelt müssen wir uns danach die Struktur einer Delinquenzgenese etwa so vorstellen:
[047:529] Für das Individuum entsteht innerhalb seines primären Interaktionszusammenhanges ein Problem; es gelingt ihm nicht, dieses Problem unauffällig zu lösen; die Schwierigkeit wird bemerkt, zunächst von den Mitgliedern der eigenen unmittelbaren Umwelt, die aber in diesem Fall die Problemlösung nicht sinnvoll unterstützen können; sein Verhalten wird über den engeren Kreis hinaus
»auffällig«
, und zwar dadurch, daß er zu Problemlösungen greift, die den üblichen Situationsdefinitionen nicht entsprechen; er wird also auffällig nach Maßgabe des dominierenden Systems von Situationsdefinitionen und Verhaltensklassifikationen (das Individuum wird beispielsweise als besonders
»ungepflegt«
, als
»Rabauke«
empfunden oder als
»Schulschwänzer«
oder als
»unaufrichtig«
oder als
»Arbeitsbummler«
usw.). Dabei hat die Bedeutung der klassifizierenden Bezeichnung nichts oder nur sehr marginal etwas mit dem Problem und der Bedeutung des faktischen Verhaltens für das Individuum zu tun. Es folgt eine nächste Stufe, in der eine pädagogische Institution sich zu Kontrollmaßnahmen entschließt. Das Individuum gerät in denjenigen Typus von Interaktionssituationen hinein, die wir oben im Anschluß an Cicourel beschrieben haben. In diesem Prozeß – der nach dem Muster des |A3 141|
»Identity bargainings«
verstanden werden muß – wird es genötigt, seine bisherige Praxis von Situationsdefinitionen zu revidieren und sich einem anderen Bedeutungssystem anzupassen. Das gelingt aber nicht, wenigstens nicht auf Anhieb. Zunächst empfindet es die Klassifikation, der es ausgesetzt ist, als
»Stigmatisierung«
(Goffman 1967) und entwickelt zur Abwehr interpersonelle Taktiken, um seine Identität gegen den fremden Code zu sichern. In den Augen der Institution erscheint das als eine Verstärkung der eingrifferheischenden Merkmale. Die inkriminierten Verhaltenseigentümlichkeiten verstärken sich, das Individuum wird zum
»Delinquenten«
; es folgen stärkere institutionelle Maßnahmen bis zur Heimunterbringung und womöglich darüber hinaus. Schematisch stellt sich dieser Verlauf so dar:
Hier ist ein Schaubild zum Verlauf einer Delinquenzgenese in Anlehnung an Quensel⁠ zu sehen.
|A3 142|
[047:543] Das Charakteristische dieses Prozesses ist, daß die Situationsdefinitionen sich immer mehr von dem primären Interaktionszusammenhang entfernen und zunehmend rigidere Formen von Institutionalisierung annehmen, bis hin zu den von Goffman (1968) beschriebenen totalen Institutionen. Daß ein solcher Prozeß überhaupt möglich wird, hat seinen Grund darin, daß einerseits für jede Interaktion das Arsenal von Kommunikationsmitteln prinzipiell begrenzt ist (zum Beispiel durch die Regeln der Sprache), andererseits die praktische Kommunikation sich zur Orientierung einer dem kommunikativ Möglichen gegenüber noch einmal eingeschränkteren Klassifikation der Kommunikationspartner bedient. Das geläufigste Beispiel für solche Klassifikation ist die Unterscheidung von
»normalem«
und
»abweichendem«
Verhalten. Diese Unterscheidung ist von praktischer – und nur von praktischer Bedeutung. Sie liefert das Prinzip, mit dessen Hilfe bestimmte Anwendungsregeln für interpersonelle Taktiken in Kraft gesetzt werden. Ob ich in einer bestimmten Situation ein Individuum als
»normal«
oder
»abweichend«
klassifiziere, hängt wiederum von Situationsdefinitionen ab, die ich vornehme. Die
»Macht«
des Interaktionspartners wird ausschlaggebend dafür sein, ob meine Definition und Klassifikation in der Situation aufrechterhalten werden kann oder nicht.
[047:544] Ein Beispiel: Eine Gruppe
»entwichener Fürsorgezöglinge«
versucht, sich eine Existenz außerhalb des Heims dadurch zu sichern, daß sie sich in Wohngemeinschaften organisiert und beim zuständigen Jugendamt die offizielle Anerkennung betreibt. Dort gibt es noch viele Vorbehalte, man fürchtet vielleicht die Verstärkung von
»abweichendem«
Verhalten, Zunahme von Aggressivität, entgleitende Kontrolle, Außer-Kraft-Setzen der eigenen Verhaltensstandards usw. Die Jugendlichen entschließen sich zu offensivem Vorgehen: sie erscheinen – nach zeitlich sehr knapp bemessener Anmeldung – in großer Zahl zu einer von ihnen verlangten Diskussion, genannt
»Go-in«
, mit offiziellen Vertretern der etablierten Pädagogik bzw. der Jugendhilfe, die sich indessen entschlossen haben, nicht mit Zwangsmaßnahmen zu reagieren. In der Diskussion verwenden die Jugendlichen – sie sind in der Überzahl – die ihnen geläufigen Kommunikationsmittel im sprachlichen und nichtsprachlichen Ausdruck: sie reden ihren Jargon, sparen nicht mit Schimpfwörtern, reden lautstark, agieren mit Drohgebärden, werfen Zigarettenreste auf den Boden, machen ironische Nebenbemer|A3 143|kungen, legen die Beine auf den Tisch. Dies alles sind Verhaltensweisen, die in der Kommunikation mit
»Pädagogen«
nach Maßgabe der institutionellen Situationsdefinition nicht
»üblich«
sind. Was geschieht hier?
[047:545] Die Jugendlichen in diesem Beispiel versuchen die Situation so zu definieren, daß sie einerseits mit ihrer Identität und ihren tatsächlichen Einstellungen zu
»Pädagogen«
kongruent ist, und sie versuchen zu verhindern, daß die Situationsdefinition auf der Gegenseite sich durchsetzen kann. Da sie in der Mehrzahl sind und die Kontrahenten sich entschlossen haben, die Ebene der Kommunikation nicht zu verlassen, gelingt ihnen die Definition. Das heiß aber, daß es ihnen gelingt, für diese Situation die übliche Zuschreibung von
»normal«
und
»abweichend«
außer Kraft zu setzen. Es ist in der Situation nicht möglich, ihr Verhalten als
»abweichend«
zu klassifizieren, was sich zum Beispiel darin dokumentieren kann, daß schon einem solchen Versuch mit massiver Ironie oder mit Gelächter begegnet wird. Was hier am Beispiel einer Gruppe sich zeigt, ist eine interpersonelle Taktik der Situationsdefinition, die ebenso von einzelnen durch Stigmatisierung bedrohten Individuen praktiziert wird. So berichtet Goffman die folgende Mitteilung eines Mädchens, das ein Bein verloren hat; das Mädchen schildert Situationen, denen es häufig ausgesetzt wird, und seine eigene Reaktion in solchen Situationen:
[047:546]
»Die Fragen darüber, wie ich mein Bein verlor, ärgerten mich immer, so entwickelte ich eine stehende Antwort, die diese Leute davon abhielt, noch weiter zu fragen:
ich habe mein Bein im Pfandhaus versetzen müssen, als ich knapp bei Kasse war
.«
[047:547] Oder:
[047:548]
»Mein armes Mädchen, wie ich sehe, haben Sie ihr Bein verloren.«
Für den Betroffenen ist das die Gelegenheit:
»Wie unachtsam von mir!«
(Goffman 1967, S. 168)
.
[047:549] Diese praktischen Möglichkeiten der für die Klassifikation von Individuen relevanten Umdefinition von Situationen sind – besonders im Fall der
»Fürsorgezöglinge«
– vermutlich nicht der Regelfall, zeigen aber, daß zwar Revisionen und Neu-Etikettierungen möglich sind – in einer solchen Situation erscheint dann plötzlich der Pädagoge als der
»Abweichende«
–, ein totaler Verzicht auf Klassifikation des Verhaltens aber faktisch unmöglich ist. Anderes gilt indessen für die Theorie: Theoretisch ist, wie wir sahen, die Unterscheidung zum Beispiel von |A3 144|
»normal«
und
»abweichend«
ohne Bedeutung, da theoretisch ja die Bezugssysteme beliebig gewechselt werden können. Wird eine solche Unterscheidung dennoch für die wissenschaftliche Forschung leitend, in dem Sinne, daß diese sich eine der praktizierten Klassifikationen zu eigen macht als einen nicht mehr problematisierten Bezugsrahmen für ihre Fragestellungen (
»delinquent«
,
»schulreif«
,
»begabt«
,
»depriviert«
usw.), dann reproduziert sie in dieser Hinsicht gerade diejenigen handlungsleitenden Ideologien, die sie doch aufklären sollte.

2. Topos und Habitus

[047:550] Die
»delinquente Karriere«
verläuft also entlang einer Konfliktlinie, auf der mindestens zwei Arten von Situationsdefinitionen aufeinandertreffen. Diese beiden Arten unterscheiden sich nach Maßgabe des Kontextes, in dem sie als sinnvoll erfahrbar sind: Der Sozialarbeiter erfährt die Klassifikationen und Definitionen, mit denen er operiert, als sinnvoll im Rahmen der ihm zugewiesenen Berufstätigkeit, die den institutionalisierten Anwendungsregeln sozialer Kontrolle folgt; der
»Proband«
erfährt als sinnvolle Situationsdefinition und Merkmalszuschreibung, was den subkulturellen Regeln seiner sozialen Lage und den dort herrschenden Beziehungsstrukturen entspricht. Mit anderen Worten: Der Spielraum für Situationsdefinitionen in konkreten Kommunikationen ist nach Maßgabe sozialstruktureller Variablen systematisch eingeschränkt. Da wir Lernperspektiven als abhängig von Situationsdefinitionen bestimmt haben, können wir auch sagen: Die Wahrscheinlichkeit des Auftretens bestimmter Lernperspektiven von Individuen ist abhängig von den sozialstrukturell vorgegebenen Situationsdefinitionen, denen diese Individuen konfrontiert werden.
[047:551] Im
»identity bargaining«
, dem Aushandeln von Identität in konkreten interpersonellen Akten, geht es also nicht nur um die Identität je einzelner Individuen, sondern auch um die kollektive Identität von Lebenswelten. Diese unterscheiden sich nach den je handlungsrelevanten Situationsdefinitionen, die in ihnen vorgenommen werden. In dieser Sichtweise operieren wir also mit einer Vorstellung von Pluralität im Hinblick auf die Lebenswelten, die dadurch, daß sie durch standardisierte Situationsdefinitionen zugleich begrenzte Spielräume für Handlungs- und Lernperspektiven setzen,
»Bildungswelten«
sind.
[047:552] Wir müssen nun damit rechnen, daß es in unserer Gesellschaft |A3 145|zwei Grundarten solcher Bildungswelten gibt, die wir – entsprechend der Unterscheidung von primärer und sekundärer Sozialisation – primäre und sekundäre Bildungswelten nennen können. Für die sekundären Bildungswelten – also die gesellschaftlich institutionalisierten Situationen wie Schulen, Heime, Betriebsausbildungsstätten, Beratungsstellen usw. – gilt, daß ihre Analyse es mit zwei Grundfragen zu tun hat:
[047:553] 1. Welche Funktion erfüllen sie als Einrichtungen sozialer Kontrolle, und zwar dadurch, daß sie bildungsrelevante Situationen definieren und Individuen klassifizieren – und auf welche Weise erfüllen sie diese Funktion? Untersuchungen zum Erziehungsmilieu von Erziehungsheimen, zur Curriculum-Konstruktion im Bereich der Schule, zu Fragen der Unterrichtsorganisation und Unterrichtstechnologie, zur Qualifikationsleistung (Erfolg) von Bildungseinrichtungen, zur Ermittlung von Leistungsdifferenzen in Abhängigkeit von verschiedenen Faktoren usw. beantworten Fragen von dieser Art.
[047:554] 2. Wie verhalten sich die im Bildungskontrollsystem institutionalisierten Standards für Situationen und Perspektiven zu den primären Bildungswelten, die in diesen Institutionen ja durch ihre Mitglieder mindestens virtuell vertreten sind? Fragen von dieser Art beantworten Untersuchungen – wenn auch häufig mit anderer Interessenrichtung angelegt – zur Benachteiligung bestimmter sozialer Gruppen in den Bildungseinrichtungen, zu schichtspezifischen Sozialisationsdifferenzen im Hinblick auf Parameter der schulischen Erwartungen, zum Zusammenhang von Sprache und sozialer Herkunft, zur Entstehung und Behandlung von subkultur- oder schichtspezifischen Formen von Devianz usw. Die ausgesprochene oder unausgesprochene Ausgangsfrage solcher Untersuchungen entsteht in der Regel durch die Beobachtung, daß Kinder und Jugendliche aus verschiedenen Sozialisationsmilieus mit den im Erziehungs- und Kontrollsystem etablierten Situationsdefinitionen unterschiedlich ausgeprägt in Konflikt geraten. Dieser Konflikt kann sich auf verschiedene Weise darstellen: in unterschiedlichen Quoten im Anteil an den Sekundarstufen des Bildungssystems, in unterschiedlicher Erfüllung der Erwartungen im Hinblick auf das soziale Verhalten, in unterschiedlicher Ausprägung von Identitätskrisen oder von anderen psychischen Störungen, in unterschiedlicher Wahrscheinlichkeit, zu einem
»Fall«
für sozialpädagogische Betreuungsinstitutionen zu werden, usw.
|A3 146|
[047:555] Es wird also unterstellt, daß es sinnvoll ist, eine
»Kultur«
der Erziehungseinrichtungen, der Lehrer, der Erzieher anzunehmen, die der
»Kultur«
der Kinder und Jugendlichen und ihres Herkunftsmilieus nicht notwendig kongruent ist. Diese Unterstellung erweist sich auch offenbar mindestens in einem Fall empirisch als sinnvoll: im Fall der unteren sozialen Schichten. Da Situationsdefinitionen wesentlich auf symbolische Formen der Vermittlung und Darstellung angewiesen sind, ist es naheliegend, daß in der Sozialisationsforschung die Diskussion der linguistischen Variablen einen so breiten Raum eingenommen hat, besonders die Erörterung der linguistischen schichtspezifischen Sprach-Codes. Bei Bernstein heißt es denn auch: Der Code-Begriff
»bezieht sich auf die Übermittlung der Grundstruktur einer Kultur oder Subkultur – den
Kern
der Bedeutungsstruktur«
(Bernstein 1971b, S. 33)
. Wir können, im Anschluß an unsere Terminologie, auch sagen: Das Sprachverhalten ist der wichtigste Indikator dafür, auf welche Weise und in welcher Richtung in bestimmten sozialen Lagen Situationsdefinitionen vorgenommen werden. Oevermann formuliert diesen Gedanken so :
[047:556]
»Eine Handlungssituation strukturiert sich in der komplexen Berührung von materiellen und objektiv beschreibbaren Situationsbedingungen, den eine soziale Interaktion steuernden institutionalisierten Erwartungsmustern und den kognitiven und affektiven Deutungen der Beteiligten beziehungsweise Handelnden. Die eine Handlungssituation jeweils strukturierenden subjektiven Deutungen resultieren aus der Summe der eine Biographie konstituierenden, sozial vermittelten Erfahrungen. Der durch die linguistischen Kodes induzierte, subkulturell spezifische Sprachgebrauch kanalisiert wesentlich diesen Prozeß der Verarbeitung von lebensgeschichtlicher Erfahrung in eine biographische Organisation. Unter diesem Gesichtspunkt werden also nicht nur Deutungen schon vorgängig an eine Handlungssituation herangetragen, sondern die Deutung der Handlungssituation vollzieht sich von vornherein im Medium der für die Sozialbiographie eines Sprechers lebensgeschichtlich prägenden linguistischen Kodes«
(Oevermann 1970, S. 190)
.
[047:557] Der Ausdruck
»Sozialbiographie«
in diesem Zitat verweist auf das, was wir die primären Lebenswelten bzw. Bildungswelten genannt haben. Um also einen Standort für die Kritik der im Erziehungssystem vorgenommenen institutionalisierten Situationsdefinitionen zu gewinnen, ist eine Explikation der Regeln erforderlich, nach denen im Kontext der
»Sozialbiographien«
, der primären Bildungswelten, Situationen definiert werden. |A3 147|Eine solche Explikation aber kann ich hier nicht geben; dazu fehlen noch diejenigen Untersuchungen, die sich in ihren Fragen nicht an das klassifizierende System der Institutionen halten, sondern – wie etwa von den Autoren Cicourel, Bernstein, Oevermann angestrebt – ihnen gegenüber einen unabhängigen Standpunkt einzunehmen versuchen. Wir können nur die Probleme skizzieren, mit denen es solche Analysen zu tun hätten. Einen Versuch in dieser Richtung – und zwar im Sinne von Anmerkungen zu empirischen Arbeiten über linguistische Codes und das Gesellschaftsbild von Arbeitern – hat
O. Negt (1968)
mit der Einführung des Begriffs
»soziale Topik«
(Popitz u. a. 1957) in bildungstheoretische Fragen der Arbeiterbildung gemacht. Das Problem schichtspezifischer Kommunikations-Codes, um das es dabei unter anderem geht – und das gegenüber den linguistischen Codes eine noch allgemeinere Ebene der Analyse anzielt – läßt sich ja in folgende Fragen aufspalten:
  1. 1.
    [047:558] Inwiefern lassen sich unterschiedliche Formen kommunikativer Performanz unterscheiden, und wie ist ihre Entstehung bzw. Stabilisierung zu erklären?
  2. 2.
    [047:559] Wieweit indizieren Kommunikations-Codes – an einem Stadien-Modell kognitiver Entwicklung gemessen – einen bestimmten, unter Umständen depriviert zu nennenden Stand der kognitiven Struktur?
  3. 3.
    [047:560] Wieweit sind bestimmte Kommunikations-Codes und die ihnen kongruenten Muster des Sprachverhaltens Anlaß für Stigmatisierung ihrer Träger durch die pädagogischen Institutionen (
    »So darfst du das nicht sagen! Drück dich besser aus!«
    )?
  4. 4.
    [047:561] Wie wird in den verschiedenen Kommunikations-Codes die soziale Welt gedeutet, wie werden Situationen definiert und strukturiert, welche Handlungs- und Lernperspektiven werden eröffnet oder nahegelegt?
[047:562] Negt interessiert sich vor allem für die letzte Frage, weil ihre Beantwortung zum Beispiel für die Entwicklung didaktischer Modelle der Arbeiterbildung von großer Wichtigkeit ist. In der
»sozialen Topik«
einer gesellschaftlichen Gruppe, Schicht oder Klasse werden die Relevanzkriterien sichtbar, nach denen diese Population ihr Handlungsfeld strukturiert:
[047:563]
»Die im Begriff der
sozialen Topik
zusammengefaßten sprachlich verfestigten, von der individuellen Erfahrung, ja von Alter, beson|A3 148|derer Berufsqualifikation usw. (relativ) unabhängigen Gebilde, die weder bloße Vorurteile und zufällige Meinungen, noch wissenschaftliche Einsichten sind, besitzen für den im Medium der
öffentlichen Sprache
[Negt verwendet hier noch den älteren Ausdruck Bernsteins für den
restringierten Code
, K. M.] Denkenden eine zentrale Bedeutung für die rationale Bewältigung der komplizierten ökonomischen und politischen Vorgänge«
(Negt 1968, S. 48)
.
[047:564] Das eindrucksvollste Beispiel eines solchen sozialen Topos ist das Stereotyp:
»Die da oben«
»Wir hier unten«
! Soziale Topoi sind mithin
»Deutungsmodelle«
, in denen die Auswahl relevanter Tatsachen festgelegt, wird, in der solche Tatsachen zugleich in einen vulgären Erklärungszusammenhang gebracht und Handlungsspielräume nahegelegt werden. Sie erfüllen – ohne damit notwendig rational zutreffende Erklärungen von Sachverhalten zu sein; aber das ist hier auch uninteressant, weil es um die überindividuellen Situationsdefinitionen und die in ihnen enthaltenen Bildungsperspektiven als Tatsachen geht, die den geplanten Bildungsprozessen vorgegeben sind – eine doppelte Funktion:
[047:565]
»... die psychologische Funktion der Bestätigung einer sozialgeschichtlich bedingten Gruppensolidarität, die im Bewußtsein einer kollektiven Leistung und eines gemeinsamen Schicksals zum Ausdruck kommt, und die kognitive der Erschließung der Wirklichkeit durch eine ordnende Selektion der Wahrnehmungen und Informationen«
(Negt 1968, S. 48)
.
[047:566] Die in den Topoi proletarischer Subkulturen zum Ausdruck kommenden Deutungsmodelle sind gewiß nicht
»falscher«
als diejenigen, denen die Angehörigen der mittleren und oberen Sozialschichten folgen. Dennoch haben sie wesentlich geringere Chancen, in das Erziehungssystem Eingang zu finden, und sei es auch nur als methodische Anknüpfungspunkte, wie das in neueren Vorschulprogrammen bisweilen geschieht. Um so wichtiger scheint uns, auf die Analyse solcher Deutungsmodelle, ja zunächst einmal auf deren Ermittlung besonderen Wert zu legen. Unsere relative Unkenntnis anderer als der mittelschichtorientierten Kommunikations-Codes, was die unmittelbare Anschauung betrifft, und der dort etablierten Regeln für Situationsdefinitionen muß vermutlich selbst schon als ein Resultat jener Ungleichheit der Durchsetzungschancen für Deutungsmodelle und Situationsdefinitionen gelten: Erziehungswissenschaftler und Pädagogen gehören eben zu jenen sozialen Gruppen, |A3 149|die sich noch relativ mühelos und häufig ohne sich dessen bewußt zu sein die Zuschreibungsregeln unseres Erziehungssystems zu eigen machen, sich mit ihnen eher identifizieren als mit denen, die in unserer Erziehungswirklichkeit den schwächeren Part darstellen. Um diese ungleiche Verteilung von Informationen auszugleichen, scheint – darauf wiesen wir schon einmal hin – ein Typus von Forschung zweckdienlich, der vor allem nach dem Muster von Feldstudien und Fallanalysen arbeitet, um auf diese Weise in den Besitz der erforderlichen qualitativen und inhaltlichen Daten zu kommen. Dafür gibt es in der englischsprachigen Literatur schon seit längerem eine Reihe von eindrucksvollen Beispielen. Eines davon ist die Studie von Willmott und Young
»Family and Class in a London Suburb«
(1960), in der die Lebens- und Bildungswelt eines Londoner Arbeiterbezirks rekonstruiert wurde. Willmott und Young fanden dort eine besondere Dichte der sozialen Beziehungen, das fast völlige Fehlen von Status-Neid gegenüber der Mittelschicht und den Nachbarn der eigenen Schicht, eine hohe Bewertung produktiver manueller Arbeit, eine durch die Tradition der sozialen Lage und Geschichte gestützte hohe politische Solidarität, ein Minimum an sozialer Isolierung einzelner, besonders der alten Leute. Die Bewohner dieses sozial relativ homogenen Arbeiterbezirks wissen zwar, daß andere soziale Gruppen auf sie herabsehen; das beeinträchtigt aber nicht ihre Identität und ihr Selbstwertgefühl. Die Handlungs- und Lernperspektiven, die in dieser Bildungswelt entstehen und deren topologische Kristallisationspunkte (vgl. die
»focal concerns«
von Miller, die wir im Abschnitt
»Lebenswelt«
referiert haben) erst noch durch Felduntersuchungen in der BRD zu ermitteln wären, deuten sich in dem folgenden Dialog anschaulich an:
[047:567]
»Soziologe: Wie weit willst du’s mal bringen, wenn du erwachsen bist? [047:568] Zeitungsjunge: Was wollen Sie? [047:569] Soziologe: Weißt du ..., willst du mal ein großer Geschäftsmann werden? [047:570] Zeitungsjunge: Nö. [047:571] Soziologe: Willst du mal ... ein großer Rechtsanwalt werden? [047:572] Zeitungsjunge: Nö. [047:573] Soziologe: Willst du mal ein Bankier werden? [047:574] Zeitungsjunge: Warum sollte ich’n Bankier werden? [047:575] Soziologe: Willst du mal ein Professor werden? [047:576] Zeitungsjunge (ärgerlich): Sagen Sie mal, Mann, wofür halten Sie mich eigentlich? [047:577] |A3 150|Soziologe: Ich will lediglich herausfinden, ob du eine Vorstellung davon hast, was du mal werden willst? Willst du mal Präsident der Vereinigten Staaten werden? [047:578] Zeitungsjunge: Nicht doch. Ich will mal so ’ne Größe werden wie Big Butch (ein notorischer Gangster innerhalb des Slums), und ich will, daß die Leute zu mir aufsehen und mich wirklich für den Boß Nummer Eins halten ... Wer ist denn der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika? Leute wie Big Butch machen den, den Präsidenten, indem sie hier ne Mark bezahlen und da ne Mark. Im übrigen: der Präsident lebt irgendwo in Washington, und ich kenn ihn nicht. Er redet dauernd über Sachen wie ... [047:579] Soziologe: ... wie Zölle, Außenpolitik ... [047:580] Zeitungsjunge: Genau. Solche Sachen. Aber Big Butch – der spricht unsere Sprache«
(Alinski in Müller/Nimmermann 1971, S. 202 f.)
.
[047:581] Die Situation ist jedoch anders in gemischten Siedlungsbezirken. Die kulturelle und materielle Distanz zu den Angehörigen der Mittelschichten wirkt sich hier auf das Netzwerk sozialer Beziehungen auflösend aus, Vereinzelung ist häufiger, Konkurrenzgefühle und Status-Vergleiche spielen schon eine wichtige Rolle, das Selbstwertgefühl ist schwach ausgeprägt, kurz: die Stigmatisierung der unteren Schichten durch die höheren bedroht die individuelle und kollektive Identität; die dominante Kultur entfaltet mit ihren Zuschreibungsregeln ihre Macht gegenüber der schwächeren. Das institutionalisierte Erziehungssystem setzt diesen Prozeß fort bzw. legitimiert ihn auf der Ebene von definierten Bildungskarrieren, Lernzielen und Curricula.
[047:582] Was Negt mit dem Begriff der sozialen Topik für die Arbeiterschaft in die Bildungsdiskussion einführte, hat – für die Seite der
»dominanten«
Kultur – Bourdieu (1970; 1971) unter dem Begriff des
»Habitus«
für die Bourgeoisie versucht.
»Habitus«
nennt Bourdieu diejenigen
»Schemata, die das Denken der Gebildeten in all den Gesellschaften regeln, die über eine Schule als Institution verfügen«
(Bourdieu 1970, S. 143)
. Es sind kognitive Muster, die sowohl das Verstehen wie auch das Produzieren kultureller Güter ermöglichen, wobei natürlich – im Sinne eines Zirkelschlusses – eben jene sozialen Ereignisse als kulturelle Güter definiert werden, die den Regeln des Habitus folgen. Dabei kommt den sprachlichen Formen der Darstellung und Ordnung von Gedanken (Rhetorik) eine besondere Bedeutung zu. Diese kulturellen Schemata nun entfalten ihre eigentümliche Funktion dadurch, daß sie im Bildungssystem verbindlich institutionalisiert sind, andererseits aber damit eine |A3 151|Selektion erzeugt wird, dergestalt, daß die Vertrautheit mit dem Habitus – der ja als Eigenschaft der Individuen nicht erst in der Schule hervorgebracht wird – die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Bildungskarriere enorm erhöht. Es hat danach wenig Sinn, die Frage der Ungleichheit von Bildungschancen an einzelnen, durch Tests abfragbaren Leistungen der Individuen zu orientieren; vielmehr ist die Frage der Chancengleichheit eine Frage nach den Regeln, nach denen lernrelevante Situationen definiert werden: der Habitus ist
»eine generative Grammatik der Handlungsmuster«
(Bourdieu 1970, S. 150)
. Die entscheidenden Indikatoren für den Habitus – d. h. die Beobachtungen, mit deren Hilfe wir ihn rekonstruieren können – sind unter anderem die Sprachspiele, die inhaltlichen Elemente der Curricula, das im Curriculum zum Ausdruck kommende Verhältnis von Theorie und Praxis, die Struktur und die Stellung von Examina. Die Bildungsleistung der pädagogischen Institutionen besteht danach darin,
»Individuen zu produzieren, die durch einen längeren Transformationsvorgang mit dem Ziel einer identischen, dauerhaften und übertragbaren Schulung, die sie mit gemeinsamen Denk-, Auffassungs-, Beurteilungs- und Handlungsschemata ausstattet (Habitus), systematisch und dauerhaft verändert worden sind«
(Bourdieu 1971, S. 212)
. Die Trennlinie, die erfolgreiche von nicht erfolgreichen Individuen scheidet, ist bestimmt durch die in der sozialen Lage vorgezeichnete Nähe oder Ferne zum Habitus der dominanten Kultur.
[047:583] Damit wird das Bildungswesen zum konservativen Herrschaftsinstrument:
[047:584]
»Da die Struktur der Beziehungen zwischen den sozialen Klassen als Kräftefeld zugleich in unmittelbar wirtschaftlichen oder politischen Antagonismen und in einem System symbolischer Positionen und Oppositionen zum Ausdruck kommt und die Bedingungen für das Entstehen von unterschiedlichem Habitus schafft, liefert sie das Erklärungsprinzip für die systemeigenen Charakteristika, die das Verhalten von Mitgliedern der gleichen Klasse in den verschiedensten Lebens- und Arbeitsbereichen prägen, selbst wenn dieses Verhalten seine spezifische Form den Eigengesetzen der jeweiligen Subsysteme verdankt«
(Bourdieu 1971, S. 220)
.
[047:585] Uns interessiert hier nicht der substantielle Gehalt der Aussage, der darauf hinaus läuft, daß tatsächlich schon erwiesen sei, daß die im Habitus manifestierten symbolischen Schemata die für das Erziehungssystem entscheidenden Erklärungsgründe |A3 152|liefern und daß darüber hinaus dies das spezifische Prinzip sei, nach dem Erziehungseinrichtungen Herrschaftsfunktionen erfüllen. Zu viele Fragen bleiben hier noch offen.
  • [047:586] Handelt es sich – im Hinbick auf den Habitus der beiden Klassen – wirklich um Unterschiede der Art oder nicht vielleicht doch nur um solche der Ausprägung?
  • [047:587] Würde eine genaue Prüfung des Bildungswesens in der BRD ergeben, daß in den Schulen und anderen Erziehungseinrichtungen ein Habitus institutionalisiert ist, der mit der Klassenlage systematisch kovariiert?
  • [047:588] Dürften wir solche Kovarianz wirklich im Sinne eines ursächlichen Zusammenhangs interpretieren, dergestalt, daß Klassenzugehörigkeit und nicht etwa, um nur zwei mögliche Alternativen zu nennen, Subkultur oder Arbeitsteilung, als entscheidende Ursachen unterstellt werden müssen?
  • [047:589] Ist überhaupt die hier unterstellte lineare Kausalität der Reihe: soziale Klassen – Struktur ihrer Beziehungen – klassenspezifischer Habitus – geprägtes Verhalten der Klassenmitglieder – habitusspezifische Selektion durch Bildungseinrichtungen, ist diese Kausalreihe wirklich eine zutreffende Unterstellung? Wir wollen nicht bestreiten, daß sie plausibel ist; da aus ihr aber konkrete Strategien des pädagogischen Handelns folgen, ist Genauigkeit angebracht. Wir könnten sonst leicht in den Fehler verfallen, der zum Beispiel dort besonders auffällig wird, wo aus der Tatsache, daß Kinder und Jugendliche aus der Unterschicht in Erziehungsheimen überrepräsentiert sind, gefolgert wird, Schichtzugehörigkeit sei eine
    »Ursache«
    für einen bestimmten Typus von Verhaltensauffälligkeit.
[047:590] Aber gleichviel, ob die empirischen Unterstellungen sich bei genauer Analyse in dieser Form als zutreffend erweisen oder nicht: Bourdieu hat seine Annahmen wenigstens plausibel machen können; d. h. die Einführung des Begriffs
»Habitus«
kennzeichnet ein wissenschaftliches Programm, das die Formulierung von Hypothesen erlaubt. Daran ist in unserem Zusammenhang vor allem interessant, daß mit seiner Hilfe die Frage nach den in Erziehungssystemen generalisierten Situationsdefinitionen aufgeworfen wird, und zwar nicht als individuelle, sondern als
»kollektive«
Akte symbolisch vermittelter Konstituierung von Wirklichkeit. Der Ausdruck
»kollektiv«
kann natürlich nur metaphorisch verstanden werden;
»kollektiv«
kann |A3 153|tatsächlich nie etwas anderes heißen, als der in individuellen Akten zum Ausdruck kommende
»gleiche Nenner«
, als das in vielen individuellen Akten Identische (
»das Kollektiv«
ist immer eine Abstraktion, die – in ihrer verdinglichten Form – eher von agitatorischer als von theoretischer Bedeutung ist). Das aber stellt sich konkret dar in symbolischen Prozessen und auf keine andere Weise.
[047:591] In dieser Richtung des Erkenntnis-Interesses fallen die Begriffe
»Merkmalszuschreibung«
,
»Stigma«
,
»soziale Topik«
und
»Habitus«
zwar nicht zusammen, liegen aber auf einem Kontinuum. Sie alle weisen auf je besondere Aspekte des Problems hin:
[047:592] 1. Der Begriff
»Merkmalszuschreibung«
verweist darauf, daß alles Verhalten einer durch das soziale System vorgegebenen Zuweisungsregel unterworfen wird, durch die Eigenschaften und Personen zueinander in Beziehung gebracht werden und die den dominanten Normen durch die für ihre Einhaltung etablierten Institutionen zur Durchsetzung verhilft: normal – deviant, schulreif – nicht schulreif, begabt – nicht begabt, praktisch – theoretisch, leistungsfähig – depriviert usw. Im Anschluß an unsere Ausführungen über Interaktion und Beziehung können wir auch sagen: Merkmalszuschreibung nennen wir den Mechanismus, mit dessen Hilfe die Erziehungsinstitutionen die Verdinglichung besorgen.
[047:593] 2. Der Begriff
»Stigmatisierung«
verweist auf die Identitätsprobleme, die durch solche Merkmalszuschreibung für das Individuum entstehen. Zuschreibungen werden in der Regel nicht konfliktlos akzeptiert, sondern stellen für die Balance zwischen persönlicher und sozialer Identität eine Schwierigkeit dar, deren Bewältigung mit dem Sanktionsapparat zusammenhängt, der der zuschreibenden Instanz zur Verfügung steht: Schulschwänzer, Arbeitsbummelant, Lügner, Schwachsinniger, Faulenzer, Sonderschüler, Radikaler usw.
[047:594] 3.
»Soziale Topik«
verweist auf das Ensemble symbolischer, vor allem sprachlicher Manifestationen, in denen die grundlegenden Orientierungsschemata für den Bereich des Sozialverhaltens zum Ausdruck kommen. Es sind die symbolischen Ausdrücke der kognitiven Schemata, mit deren Hilfe das Individuum die wiederkehrenden sozialen Wahrnehmungen in bestimmten sozialen Lagen sich assimiliert, bzw. sich den unausweichlichen Bedingungen seiner objektiven Situation akkumuliert. Soziale Topoi sind – ihrer Tiefenstruktur nach – Sätze |A3 154|wie zum Beispiel:
»Die da oben entscheiden über uns«
;
»auf Nachbarn kann man sich verlassen«
;
»jeder ist seines Glückes Schmied«
;
»man muß sich nach der Decke strecken«
;
»wie man sich bettet, so liegt man«
. Der Begriff
»soziale Topik«
bringt darüber hinaus zum Ausdruck, daß solche symbolischen Manifestationen – Bertolt Brecht scheint mir der bisher unübertroffene Meister ihrer literarisch-ästhetischen Darstellung zu sein – sich je nach Maßgabe der in ähnlichen sozialen Positionen enthaltenen Gemeinsamkeiten organisieren. Je nach Interesse kann sich die Aufmerksamkeit der Theorie auf die Gemeinsamkeiten der Klasse, der sozialen Schicht, der Subkultur, der siedlungsgeographischen Lage oder andere Gemeinsamkeiten richten. Es gibt keinen a priori zwingenden Grund, die eine oder andere Ebene der symbolischen Organisation zu wählen. Das kann allein durch die empirische Kontrolle geleistet werden.
[047:595] 4. Der Begriff
»Habitus«
versucht im Vergleich dazu die Analyse auf einer dem Individuum gegenüber abstrakteren, dem sozialen System gegenüber konkreteren Ebene anzusetzen. Er unterstellt, daß es nicht nur positionsspezifische Gemeinsamkeiten der symbolischen Organisation gibt, sondern daß es für die je konkrete historische Situation relevante Stile des Auswählens und Verstehens von gesellschaftlichen Ereignissen und Produkten, des Hervorbringens solcher Produkte und des gesellschaftlichen Handelns gibt, die in zwei Richtungen in einen Erklärungszusammenhang eingeordnet werden können. Als historische Kategorie meint der Begriff des Habitus die in bestimmten geschichtlichen Situationen dominanten Formen der Welt-Interpretation und Handlungsmuster: der gotische Habitus, der Habitus bürgerlich-liberaler Kultur, der Habitus der chinesischen Kulturrevolution, der moderne Habitus der Technokratie usw. Solche Muster sind zugleich das Organisationsprinzip für die Unterrichtssysteme, die die Reproduktion des Habitus leisten sollen. Andererseits meint der Begriff als sozialstrukturelle Kategorie die gleichzeitig existierenden Formen von Interpretation und Handlung, die in Relation oder gar Konkurrenz zueinander stehen, sich in funktionalen oder hierarchischen Beziehungen ordnen lassen: der Habitus der beiden Klassen, der Habitus von Schichten oder Subkulturen, der Habitus von Regionen, der Habitus von Institutionen usw. Als erziehungswissenschaftliche Kategorie ist dieser Begriff deshalb bedeutsam, weil er beansprucht, ein Inbegriff von Handlungs- und Lernperspektiven bzw. deren symbolischer Organisation |A3 155|zu sein. Mir scheint, daß der Begriff in dieser Hinsicht seine Fruchtbarkeit nur erweisen kann, wenn wir mit seiner Hilfe die verschiedenen kulturellen Ausprägungen einer in sich nicht-konsistenten Kultur – und darum handelt es sich bei uns – und ihrer pädagogischen Bedeutungen prüfen: Gibt es ein Syndrom kultureller Orientierungen, das als der gesellschaftlich dominante technokratische Habitus in der Gesamtschule seine institutionelle Darstellung findet? Gibt es einen subkulturellen oder klassenspezifischen Habitus derjenigen Population und ihres sozialen Ortes, die in signifikantem Ausmaß innerhalb des Erziehungssystems nicht erfolgreich ist? Gibt es den Habitus von
»Gegenkulturen«
? Gibt es schließlich – innerhalb der dominanten Kultur – neben dem technokratischen Habitus traditionelle symbolische Organisationen, deren Beziehungen zu allen anderen ebenso untersucht werden müssen wie die des technokratischen Habitus zu ihnen? Mit ziemlicher Sicherheit können wir annehmen, daß Fragen dieser Art zu komplex gestellt sind, als daß vertretbare Antworten in einem einzigen Zugriff zu erwarten wären; sie geben aber die Richtung an, in der die differenzierenden Fragen fortschreiten könnten.

3. Institutionalisiertes Handeln

[047:596] Stigma, Merkmalszuschreibung (Labeling), Topik und Habitus sind nicht in erster Linie Kategorien der Institutionen-Analyse im engeren Sinne, also dessen, was die Soziologie Organisationen oder organisierte Institutionen nennt. Für die Pädagogik wird indessen das darin angesprochene Problem nach zwei Richtungen hin interessant: zum einen im Hinblick auf die Analyse lernrelevanter Kommunikationen an beliebigem Ort und ihrer
»dekommunikativen«
Bestandteile, d. h. derjenigen Elemente, die den Diskurs dadurch erschweren oder verhindern, daß die Explikation eigener Sinnorientierung (gemäß der primären Lebenswelt) unterdrückt wird (Labeling, Stigma) oder sie sich in den durch Tradition und dominante Kultur verfestigten symbolischen Organisationen abbilden muß (Topik, Habitus); zum anderen im Hinblick auf die von den Veranstaltern des Erziehungsprozesses verwendeten Handlungsmuster und den in diesen enthaltenen Definitionen und Klassifikationen. Solche Handlungsmuster, sofern sie durch Institutionen (Familie, Schule, Heim, Betrieb; aber auch Gruppe, Clique, Nachbarschaft) gestützt werden, sind in der Regel auf typische Situa|A3 156|tionen hin bemessen. Wäre das nicht der Fall, dann wären zum Beispiel Befragungen von Eltern, Lehrern und Erziehern nach ihren Zielvorstellungen, angewendeten Erziehungsmitteln, Präferenzen für bestimmte Alternativen in pädagogischen Entscheidungssituationen usw. sinnlos. Die in den Handlungsmustern enthaltene Typik ist natürlich historisch erzeugt. Die Erziehungssysteme verschiedener Gesellschaften wie verschiedener Epochen ein und derselben Nation unterscheiden sich denn auch dadurch, daß in ihnen eine je besondere Situations-Typik unterstellt wird. Das gleiche gilt für Differenzen innerhalb eines Erziehungssystems; dieses verstehen wir als die Institutionalisierung von Handlungsmustern für den Umgang mit der jüngeren Generation nach Maßgabe der als typisch definierten Situationen. Unsere Aufmerksamkeit muß sich also auf die Art und Weise richten, in der pädagogische Handlungsmuster der Erziehungseinrichtungen je eine Situations-Typik unterstellen und gegenüber den Adressaten zur Geltung bringen. Oder anders formuliert: Mit welchen Mitteln und nach welchen Gesichtspunkten werden die pädagogischen Handlungsfelder arrangiert, um einer unterstellten, aber in der Regel nicht explizierten Situations-Typik zu entsprechen?
[047:597] Wir haben an früherer Stelle schon darauf hingewiesen, daß jedes Curriculum als ein Versuch genommen werden kann, die inhaltlichen und formalen Komponenten eines Lernweges so zu strukturieren, daß sie dem einzelnen Individuum gegenüber allgemein sind und diejenigen Qualifikationen erzeugen, die gesellschaftlich gebraucht werden. Expertenbefragungen, Ermittlung von Verwendungssituationen für Wissen und formale Fähigkeiten sowie Lernziel-Operationalisierungen erfüllen in der Curriculum-Forschung die Funktion, diesen Nexus zwischen Lernweg und gesellschaftlichem Qualifikationsbedarf herzustellen (vgl. dazu Becker/Jungblut 1972). In den Worten Bourdieus: Es geht dabei um die Frage nach dem Habitus des Curriculums, und zwar als abhängig von den
»wirtschaftlichen und politischen Antagonismen«
und dem
»System symbolischer Positionen und Oppositionen«
. Die entscheidende Frage bei der Analyse wie bei der Konstruktion von Curricula richtet sich also auf die Art und Weise, wie dort Klassifikationen von Situationen vorgenommen werden. Die
»Bausteine«
dieses Gedankens können wir uns zusammenfassend und schematisch so vorstellen:
|A3 157|
Hier ist eine Abbildung zur Analyse und Konstruktion von Curricula unter dem Aspekt der Klassifikation von Situationen zu sehen.
[047:609] In diesem Rahmen hat
Basil Bernstein (1971 a)
einen bemerkenswerten theoretischen Vorschlag gemacht. Er geht davon aus, daß in jeder Gesellschaft die Prinzipien, nach denen institutionalisiertes Lernen organisiert wird,
»die Machtstruktur und die Regeln sozialer Kontrolle«
spiegeln. (Der Ausdruck
»spiegeln«
weist dabei lediglich auf die unterstellte Regelmäßigkeit einer Beziehung zwischen beiden Variablen hin. Bernstein ist vorsichtig und behauptet keine linearen Kausalbeziehungen.) Diese
»Prinzipien«
können als der strategische Nenner des Habitus genommen werden; sie geben die Regel an, nach der
»Erfahrungs-, Identitäts-, und Beziehungsformen«
im Individuum gebildet werden (Bourdieu:
»Denk-, Auffassungs-, Beurteilungs- und Handlungsschemata«
). Diese Regeln nennt Bernstein
»Code«
, bezogen auf das Erziehungssystem
»pädagogischen Code«
. Bernstein nimmt nun an, daß man zur Bestim|A3 158|mung eines historisch-konkreten Codes der Unterrichtsorganisation zwei Dimensionen postulieren muß, und zwar die Klassifikation der Wissensinhalte und die Vermittlungsformen des Unterrichtsprozesses (
»Vermittlungsrahmen«
)
.
[047:610]
»Klassifikation«
meint die Art, in der das in einer Gesellschaft überhaupt und abstrakt vorhandene Wissen geordnet und in
»Fächer«
,
»Disziplinen«
und
»Bildungswege«
aufgeteilt wird; durch die Klassifikation wird Zusammengehörendes und zu Trennendes definiert, wird Spezialisierung ermöglicht, werden Hierarchien von Lernzielen und Lernschritten inhaltlich festgelegt, werden zugleich die so definierten Wissens-Klassen bestimmten sozialen Positionen und damit auch entsprechenden Bildungskarrieren zugeordnet.
[047:611]
»Vermittlungsrahmen«
nennt Bernstein
»den Kontext, in dem Wissen vermittelt und aufgenommen wird, die spezifische pädagogische Beziehung zwischen Lehrendem und Lernendem«
(Bernstein 1971b, S. 148)
, und zwar nur in einer bestimmten Hinsicht: in Hinsicht auf die klassifizierten Inhalte, die von der institutionellen Vermittlung ausgeschlossen sind. Das betrifft sowohl solche Inhalte, die zwar im Bildungssystem institutionalisiert sind, aber in einem bestimmten Kursus nicht auftauchen dürfen (
»das gehört jetzt nicht in dieses Fach!«
), wie auch solche, die dem Bereich des
»Alltagswissens«
entstammen und nicht in die institutionalisierte pädagogische Beziehung aufgenommen werden (
»das gehört nicht in die Schule!«
).
[047:612] In beiden Dimensionen nun variiert – nach Bernsteins Annahmen – ein Merkmal (Variable), das er für die Klassifikation
»Grenzstärke zwischen Inhalten«
, für den Vermittlungsrahmen
»Grenzstärke zwischen den vermittelten Inhalten und den von der Vermittlung innerhalb der pädagogischen Beziehung ausgeschlossenen Inhalten«
(S. 148)
nennt. Zum Beispiel: Eine für alle Absolventen der Sekundarstufe gleiche Hochschulreife indiziert eine schwächere Klassifikation als eine nach Studienrichtungen spezialisierte Hochschulreife; die Grenzstärke ist im ersten Fall geringer als im zweiten. An den beiden Enden der so gedachten Skala ordnet Bernstein je einen Idealtypus an: Kollektions-Typus nennt er ein curriculares System mit extrem hoher Grenzstärke, Integrations-Typus ein System mit extrem schwacher Grenzstärke. Die Grenzstärke des Vermittlungsrahmens aber muß davon unabhängig gedacht werden: Ein Schulungskurs oder ein programmierter Kursus können sehr wohl dem Integrations-Typus zugehören, d. h. Inhalte aus ver|A3 159|schiedenen Bereichen maximal in sich aufgenommen haben, aber dennoch – durch die Form der pädagogischen Beziehung Lehrender/Lernender bzw. Lehrautomat/Lernender – eine hohe Grenzstärke des Vermittlungsrahmens aufweisen: Wer am Automaten lernt, kann keine Inhalte zur Sprache bringen, die nicht im Programm enthalten sind.
[047:613]
»Damit wird deutlich, daß Klassifikation und Vermittlungsrahmen die Autoritäts- und Machtstrukturen berühren, die die Verbreitung pädagogischen Wissens und die Form seiner Vermittlung kontrollieren. Machtverhältnisse und soziale Kontrollen werden in pädagogischen Vermittlungscodes konkretisiert und beeinflussen durch diese Codes das Bewußtsein«
(Bernstein 1971 b, S. 153)
.
[047:614] Bernstein beansprucht also implizit, mit Hilfe dieser Kategorien die Regeln herausfinden zu können – es handelt sich um ein hypothetisches Modell –, nach denen der Habitus als ein kulturell allgemeines Muster in Bildungswege und in Merkmale der Individuen, d. h. in den Habitus als Lebensform des einzelnen, transformiert wird. So heißt es beispielsweise von der vermuteten Wirkung des Kollektions-Typus:
[047:615]
»Man wird durch diesen Lernprozeß mit zunehmendem Alter immer verschiedener von anderen. Das geschieht natürlich innerhalb jedweder Bildungskarriere, aber innerhalb des spezialisierten Angebots-Systems setzt dieser Prozeß viel früher ein. Deshalb entwickelt sich durch Spezialisierung sehr schnell Unterschiedenheit von anderen im Gegensatz zu Gemeinsamkeiten mit ihnen. Es wird sehr schnell eine bildungsbedingte Identität geschaffen, die eindeutig und fest umrissen ist«
(S. 156 f.)
.
[047:616] Bernstein bringt in diesen Sätzen also ein einzelnes Merkmal des Habitus – unter vielen möglichen anderen – zur Sprache, das, trotz der Spezialisierung der Bildungswege, den so sozialisierten Individuen gemeinsam ist: eine individualistische Konkurrenzorientierung. Sein Gedanke im Hinblick auf die Bestimmung von Curricula läßt sich abgekürzt auch wie auf S. 160 abgebildet darstellen.
[047:617] Je nachdem, an welcher Stelle der Skala ein einzelner Fall eingetragen wird und welche Kombination der Grenzstärken von Klassifikation und Vermittlungsrahmen vorliegt, müssen wir bestimmen können, welche Funktion das Curriculum im Rahmen des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses übernimmt. Das wiederum ist eine empirische Frage, für deren Be|A3 160|
Hier ist ein Schaubild zu Bernsteins⁠ Gedanken im Hinblick auf die Bestimmung von Curricula zu sehen.
antwortung Bernstein hier nur einen Begriffs- und Variablen-Rahmen vorgeschlagen hat, dessen empirische Überprüfung aber noch aussteht. Dieser Vorschlag erscheint uns deshalb besonders beachtenswert, weil er – wie der Begriff des Habitus – ein theoretisches Bindeglied zwischen interaktionistischen, organisationssoziologischen und politisch-ökonomischen Analyse-Rahmen darstellt. Bernstein behauptet ja nichts anderes, als daß die kognitiven Schemata der Individuen durch bestimmte Handlungsstrategien der Erziehungseinrichtungen dem je kulturell dominanten Habitus kongruent gemacht werden. Er lenkt damit unsere Aufmerksamkeit – wenngleich in anderen Begriffen als denen, die wir bisher verwendeten – auf diejenige allgemeine Ebene, auf der Situationsdefinitionen vorentschieden werden, und zwar sowohl im Bereich der Wissensinhalte wie auch im Bereich der Beziehungen und der in ihnen verwendeten interpersonellen Taktiken.
[047:618] Ähnliches haben – für ein ganz anderes Feld pädagogischer Aktivitäten, nämlich für sozialpädagogische Formen der Intervention bei Problemfamilien – Hansen und Hill (1964) versucht. Der an den symbolischen Interaktionismus anschließende und oben knapp dargestellte
»labeling-approach«
postuliert, wie wir sahen, daß der Behandlungsmodus für ein von Individuen oder Gruppen nicht bewältigtes Problem (zum Beispiel Beziehungskonflikte innerhalb einer Familie, die zu Verhaltensauffälligkeiten eines ihrer Mitglieder führen) nicht etwa eine |A3 161|unvermittelte Reaktion auf den Sinn ist, den dieses Ereignis im Rahmen der primären Lebenswelt der Betroffenen hat, sondern daß diese Reaktion bestimmt wird durch die Situationsklassen, die im Behandlungssystem (zum Beispiel öffentliche Jugendhilfe) vorgesehen sind, und durch die Definition derjenigen Merkmale (Auffälligkeiten), die Interventionen dieser oder jener Art erheischen. Hansen und Hill vermuten nun, daß der Reaktionsmodus – also die Art des pädagogischen Handelns – vor allem von folgenden Bedingungen abhängig ist:
Auffällige Ereignisse können, neben anderen Alternativen, danach unterschieden werden, ob sie von der intervenierenden Instanz (Nachbarn, Erziehungsberatung, Jugendamt, Jugendgericht usw.) akzeptiert werden oder nicht. Die Wahrscheinlichkeit des Akzeptierens steigt in dem Maße, in dem die Intervention sich die Orientierungen der Betroffenen zu eigen macht, d. h. den in der primären Lebenswelt vorgenommenen Situationsdefinitionen folgt. Auffällige Ereignisse können ferner danach unterschieden werden, wieweit sie eher positionale, d. h. an Rollen und Institutionen und deren Klassifikationen gebundene, oder personale, d. h. institutionsunabhängige Reaktionen, zur Folge haben. Die beiden Variablen (Akzeptieren versus Nicht-Akzeptieren; positionale versus personale Reaktion) bilden vier logische Typen, die die Autoren
»therapeutische Reaktion«
,
»Wohlfahrtsreaktion«
,
»repressive Reaktion«
und
»Verfolgungsreaktion«
nennen. Sie drücken das in folgender Tabelle aus:
[047:619]
Types of Community Response to Unusal Individual and Family Behavior and Attributes*.
Community Response Type Community Positional Response Community Personal Response
I. Therapeutic Response e.g., to Disaster Victims + +
II. Social Welfare Response e.g., to Illegitimacy + -
III. Repressive Response e.g., to Opponents of a Police State - +
IV. Persecutive Response e.g., to the American Communists - -
* Plus and minus signs indicate general acceptance or rejection of the individual or family
(Hansen/Hill 1964, S. 799)
.
|A3 162|
[047:620] Von diesen Reaktionstypen sind je spezifische Wirkungen zu erwarten, deren Ermittlung Aussagen über die Funktion der Sozialarbeit erlauben. Dieser Interpretationsrahmen ist natürlich, solange noch die empirischen Daten fehlen, die seine Nützlichkeit bestätigen könnten, ziemlich spekulativ.
[047:621] Dennoch soll – jetzt aus dem Bereich der Gemeinwesen- und Stadtteil-Arbeit – ein weiterer Vorschlag zur Klassifikation von Handlungsmustern vorgestellt werden. H. Specht (1971) geht davon aus, daß bei der Gemeinwesenarbeit – also einer Form sozialpädagogischer Tätigkeit, deren Ziel die Aktivierung von sozialen Gruppen ist, um diese instand zu setzen, die problematischen Lagen, in denen sie sich befinden, durch organisierte Initiative selbst zu bewältigen, und zwar unter Einbeziehung der sozialpädagogischen Institutionen – in der Regel eine Differenz der Handlungsorientierungen zwischen den Institutionen und derjenigen Gruppe von Sozialpädagogen zu erwarten ist, die Gemeinwesenarbeit betreiben will, desgleichen auch zwischen den Institutionen und der von der problematischen Lage betroffenen Bevölkerung. Diese Differenzen ergeben sich daraus, daß – wie Cicourel gezeigt hat – die aktuelle Unlösbarkeit eines Problems unter anderem eben mit den
»inadäquaten«
Situationsdefinitionen und Relevanzbestimmungen zusammenhängt, denen die Institutionen folgen. Da diejenigen, die sich anschicken, Gemeinwesenarbeit zu betreiben, dies in der Regel deshalb tun, weil sie das System etablierter sozialpädagogischer Institutionen als mindestens partiell ineffektiv bewerten, sind sie genötigt, die in einer Siedlungseinheit (Gemeinwesen) auftauchenden Probleme wenigstens versuchsweise neu zu definieren, um sich so einen effektiveren Handlungsrahmen zu erarbeiten. Das wiederum wird davon abhängen, wie sie die Ereignisse ihres
»Objektbereichs«
wahrnehmen. Die Ausgangsvermutung ist, daß solche Wahrnehmung und die ihr folgende explizite Problemdefinition mindestens nicht notwendig mit denen der Institution kongruent ist. Die Gemeinwesenarbeit betreibende Gruppe wird unter diesen Bedingungen ihre Intentionen darstellen, ihre Relevanzkriterien und die sich daran anschließenden Handlungsmuster zu erkennen geben. Diese wiederum werden von den Institutionen wie auch von den Betroffenen wahrgenommen, und zwar im Rahmen ihrer je eigenen Definitionen. Es wird nun von der Form der wechselseitigen Wahrnehmung abhängen, welches Handlungsmuster, welche
»Interventionsform«
endgültig gewählt wird.
|A3 163|
[047:622] Specht schlägt nun im Anschluß an solche Überlegungen vor, die Handlungsmuster auf einer Skala anzuordnen, auf der – seinem eigenen praktischen Interesse an sozialstrukturellen Veränderungen folgend – die Intentionen der Gemeinwesenarbeitsgruppe eingetragen werden können, und zwar zwischen den Polen einer auf Mobilisierung verschütteter Ressourcen (rearrangement of resources) und auf Veränderung der grundlegenden Strukturbedingungen (zum Beispiel Bodeneigentumsverhältnisse, Änderung geltenden Rechts, Kompetenzen der Institutionen) gerichteten Handlungsabsicht. Je nachdem, an welcher Stelle der Skala eine bestimmte Aktivität eingetragen werden muß, ist – so lautet die Hypothese – von den Konfliktpartnern ein bestimmtes Verhalten und, als Reaktion auf dieses Verhalten, wiederum eine bestimmte Interventionsform zu erwarten. Was von Specht prinzipiell als kontinuierliche Skala gedacht wird, stellt er tabellarisch als vier Typen dar:
[047:623]
Wenn die relevanten Problemlösungen definiert werden als (z. B.): ... werden die darin intendierten gesellschaftlichen Veränderungen wahrgenommen als: ... ist die Reaktion: ... ist die Interventionsform:
1. Störungen im Beziehungssystem Wiederherstellung der Ressourcen Zustimmung Kooperation
2. Störungen im System der Güterverteilung Umverteilung der Ressourcen Vorbehalt Konkurrenz-Kampagne
3. Strukturelle Störungen im Verhältnis sozialer Gruppen zueinander (z. B. Schichten, Klassen) Veränderung der Status-Beziehungen Ablehnung Disruption
4. Störungen deren Quelle in einer
»Gesamtpathologie«
der Gesellschaft gesehen wird
Rekonstruktion des gesamten gesellschaftlichen Systems Aufstand Gewalt
(abgewandelt nach Specht, in: Müller/Nimmermann 1971, S. 211)
|A3 164|
[047:624] Eine Warnung ist hier angebracht. Die hier behaupteten Kovarianzen sind keine Ergebnisse empirischer Prüfungen. Sie stellen – wie im Falle Bernsteins und Hansen/Hills, in ihren Bestandteilen nur noch schlechter definiert – eine Hypothese dar. Wir können nicht ausschließen, daß – obwohl Specht und andere gelegentlich solche Erfahrungen gemacht haben mögen – bei genauerem Zusehen, und d. h. eben durch eine empirisch angelegte Untersuchung, diese Vermutungen sich nicht bestätigen lasssen. Bis dahin handelt es sich um nichts anderes als eine praktische Faustregel mit relativ hohem Irrtumsrisiko. Aber der Ansatz ist für uns interessant; er versucht die theoretische wie praktische Aufmerksamkeit auf diejenigen Handlungsspielräume zu lenken, die zwischen den beiden nicht mehr sozialpädagogisch legitimen und effektiven Polen liegen. Diese beiden Pole sind
»die Rekonstruktion des gesamten gesellschaftlichen Systems«
mit der Interventionsform
»Gewalt«
auf der einen und dem gleichsam an der Null-Stelle einzutragenden Fall, in dem keinerlei Änderungsintentionen auftreten, auf der anderen Seite: unter diesen letzteren Umständen käme die Idee, Gemeinwesenarbeit zu betreiben, gar nicht erst auf – unter dem erstgenannten Fall handelte es sich nicht mehr um Sozialpädagogik. Wichtiger noch als der Hinweis auf die Handlungsspielräume ist indessen der zweite Gedanke dieses Ansatzes: Jedes über eine individuelle interpersonelle Beziehung hinausgehende und darin allgemeine Handlungsmuster, noch dazu unter institutionellen Bedingungen, hat es mit zwei Arten von Interaktionen zu tun: als pädagogisches Handlungsmuster etabliert es eine bestimmte Art der Interaktion mit den
»Adressaten«
, strukturiert deren Lernfeld; als institutionalisiertes Muster mit Anspruch auf generalisierte Geltung über einen individuellen Fall hinaus ist es ein gesellschaftliches Ereignis, das in Interaktion mit anderen institutionalisierten Mustern tritt.
[047:625] Eine bestimmte Intervention, da sie als Ereignis gesellschaftlicher und nicht nur individueller Interaktion angesehen werden muß, gewinnt deshalb ihre besondere Bedeutung nach Maßgabe des historischen Kontextes; nicht in jeder beliebigen Lage wird ein den Beobachtungsdaten nach vielleicht gleiches Ereignis auch auf die gleiche Weise interpretiert und definiert. Außerdem muß im Prozeß der Gemeinwesenarbeit ein Wechsel zwischen verschiedenen Interventionsformen möglich sein, je nachdem, wie die Definition der Probleme von den Konfliktpartnern im Verlauf und als Folge der Interaktion verändert wird:
|A3 165|
[047:626]
»Das heißt, daß das, was heute noch als Umverteilung der Ressourcen definiert wird, morgen schon als Reform der Besitzverhältnisse re-definiert werden könnte, und daß eine Intervention, die zu einem bestimmten Zeitpunkt als Kampf angesehen wurde, zu einem anderen Zeitpunkt als Konkurrenz-Kampagne wahrgenommen wird. Mietstreiks und Mieter-Boykotts sind Beispiele für Taktiken, die je nach Zeit, Ort und Anlaß zwischen Kampf und Kampagne fluoreszieren. Widersätzlichkeit und Widerstand werden auf ähnliche Weise als Disruption oder Gewalt wahrgenommen, je nachdem, in welchem sozialen Klima und unter welchen speziellen Vorzeichen sie benutzt werden. Schließlich arbeiten alle an einem Konflikt beteiligten Parteien in aller Regel mit den gleichen Wahrnehmungskategorien, Reaktionen und Interventionsformen, weil diese Elemente das Ergebnis gemeinsamer gesellschaftlicher Interaktionen sind. Der Rebell wird von der Regierung als Außenseiter wahrgenommen; aber der Rebell nimmt seinerseits die Regierung als illegale Institution wahr, die ohne legitimes Recht auf die Autorität regiert, die sie sich angemaßt hat. Die Wirkungen, die Unterschiede in Wahrnehmung, Reaktion und Interventionsformen auf die sozialen Interaktionen haben, bilden eine bedeutsame Fragestellung für Untersuchungen der Praxis zeitgenössischer Gemeinwesenarbeit«
(Specht, in: Müller/Nimmermann 1971, S. 212)
.
[047:627] Die Verwendung solcher Forschungsparadigmen – ich betone noch einmal, daß es sich dabei nicht um empirische Forschungsresultate handelt – ist in der Erziehungswissenschaft ungewöhnlich. Es scheint, als entfernten sie sich vom pädagogischen Gegenstand in zwei Richtungen: Einerseits stellen sie Fragen auf einer Ebene von Allgemeinheit, die den konkreten pädagogischen Interaktionen in der Familie, der Peer-Group, der Subkultur, der Schulklasse gegenüber abstrakt bleibt; vor allem im letzten Beispiel der Interventionsformen von Gemeinwesenarbeit scheint eher die Ebene politischer Auseinandersetzungen und weniger die des pädagogischen Handelns angesprochen zu sein. Zum anderen scheint es, als würde pädagogische Psychologie – wenn wir mit diesem Namen die Erforschung der unter institutionalisierten Erziehungsbedingungen ablaufenden psychischen Prozesse (Motivation, Kognition, Lernen usw.) bezeichnen wollen – hier gänzlich übersehen und als überflüssig betrachtet. Dieser Vorwurf könnte seine Begründung darin finden, daß wir im wesentlichen die Fragen der Strukturierung des Erziehungsfeldes erörtert, aber den detaillierten Nachweis der Wirkungen bestimmter Strukturen auf das Verhalten von heranwachsenden Individuen nahezu völlig außer acht bzw. im Bereich von Plausibilitäten gelassen haben. Diese Einseitigkeit unserer Darstellungen – in der kriminologischen und soziologischen Forschung |A3 166|wird sie von den ätiologisch orientierten Wissenschaftlern den Vertretern des
»labeling approach«
vorgehalten (Opp 1972; Sack 1972) – soll am Beispiel des in der Erziehungswissenschaft geläufigen Begriffs des
»Erziehungsstils«
noch kurz erläutert werden.
[047:628] Es hätte nahegelegen, die verschiedenen unter dem Namen
»Erziehungsstil«
zusammengefaßten Forschungsrichtungen darzustellen (vgl. Weber 1970). Die Verwandtschaft dieses Begriffes mit den in diesem Kapitel erörterten Problemen liegt auf der Hand. Die sozialpsychologische Führungs- und. Unterrichtsstilforschung, die im Anschluß an Lewins Unterscheidung der drei Typen des
»demokratischen«
,
»autokratischen«
und
»laissez-faire«
-Stils (Lewin/Lippit/White 1939) sich entwickelt hat, geht von Fragen aus, die der unseren gewiß vergleichbar sind. So kann der von Anderson entwickelte
»Integrations-Dominations-Quotient«
, mit dem gemessen wird, auf welchem Punkt einer Skala zwischen
»dominativem«
und
»integrativem«
Unterrichtsstil das Verhalten eines Lehrers einzuordnen ist, als ein Versuch bezeichnet werden, die willkürlich oder unwillkürlich vorgenommenen Situationsdefinitionen bestimmen und in ihrer Wirkung abschätzen zu können (Anderson 1939). Bernsteins
»Grenzstärke des Vermittlungsrahmens«
soll zwar keine Dominanz messen, aber ließe sich durchaus den Untersuchungen dieser Art zuordnen, da beide Regelmäßigkeiten in der Lehrender-Lernender-Interaktion zu ermitteln suchen, die in Begriffen individuellen Lehrerverhaltens formuliert werden und von denen angenommen wird, daß sie Lernperspektiven für den Schüler strukturieren. Das gleiche gilt für Gordons Unterscheidung verschiedener
»Integrationstypen«
, die sich aus der Orientierung des Lehrers am äußeren (institutionelle Aufgabe der Schule als Ganzes) oder inneren System (Lehrer-Schüler-Beziehung innerhalb der Klassengruppe) ergeben und – den Pattern Variables von Parsons folgend – in den
»instrumentalen«
,
»expressiven«
und
»instrumental-expressiven«
Typus differenziert werden. Die geringe Prognosefähigkeit dieser und ähnlicher Konzepte für das zu erwartende Schülerverhalten führte indessen zunehmend mehr dazu, solche Typenbildungen als zu global zu verwerfen und eher mit vieldimensionalen Untersuchungsansätzen zu arbeiten (Herrmann 1966; Nickel 1968; Tausch 1965).
[047:629] Eine ähnliche Konsequenz deutet sich in der Erforschung von
»Sozialisationsstilen«
an. Auch hier zeigt sich, daß die ursprüng|A3 167|lich als sinnvoll erschienenen Konzepte zum Beispiel des
»Sozialcharakters«
oder der
»Unterschicht-Sozialisation«
in dieser allgemeinen Form nicht haltbar sind, wenn mit ihnen beansprucht wird, Persönlichkeitsentwicklungen und individuelle Bildungsprozesse zu prognostizieren. Der extreme Testfall der Devianz-Forschung macht dagegen mindestens gleich wahrscheinlich, daß Bildungsprozesse als Folgen von Zuschreibungen verstanden werden müssen; das bedeutet theoretisch, daß wir mit einer
»Interaktion«
zwischen den Daten der sozialen Herkunft und den Daten der sozialen Definitionsprozesse zu rechnen haben. Für den kulturanthropologischen Erziehungsstilvergleich gelten zwar vermutlich günstigere Ausgangsbedingungen für die Forschung: es handelt sich in der Regel um dem Umfang nach kleine und der inneren Differenziertheit nach homogene Gesellschaften; kulturspezifische
»Patterns of child rearing«
oder
»Child training practices«
zeigen aber auch hier, was generell von den bisher konstruierten
»Erziehungsstilen«
zu gelten scheint: ihr prognostischer Wert für die Bildung bestimmter Persönlichkeitsmerkmale ist gering (Thomae 1972).
[047:630] Die Forschung kann in dieser Situation – um den praktischen Problemen einer institutionalisierten Erziehung nahe zu bleiben – in zwei Richtungen fortschreiten. Sie kann einerseits – und das geschieht meines Erachtens gegenwärtig mit besonderem Erfolg in der pädagogisch-linguistischen Forschung – die Interaktion der vielen Variablen genauer aufzuklären suchen, die wir für eine interpersonelle pädagogische Beziehung annehmen müssen. Sie kann andererseits ihre Analyse auf einer Ebene ansetzen, auf der gesellschaftliche Strategien der Organisation des Erziehungsfeldes diskutierbar werden, und zwar so, daß sie dem pädagogisch Handelnden eine Reflexion seiner Abhängigkeiten und Handlungsspielräume erlauben. Das leistet aber weder die Psychologie noch eine Analyse, die nur noch an den
»politisch-ökonomischen Implikationen«
des Erziehungswesens interessiert ist. Paradigmen wie die von Bourdieu, des
»labeling approach«
, von Bernstein, Hansen/Hill und ähnliche Ansätze scheinen mir gerade diese Vermittlungsaufgabe zwischen dem einzelnen pädagogisch-kommunikativen Akt und dem gesellschaftlich Allgemeinen anzuzielen. Ob sie wissenschaftlich so leistungsfähig sind, wie sie versprechen, vermögen wir heute noch nicht zu sagen. Eine Prüfung wäre zugleich die Probe darauf, ob eine dem Paradigma des symbolischen Interaktionismus folgende Erziehungswissenschaft möglich ist.
|A3 168|

3. Kapitel
Erziehung als Reproduktion

[047:631] Wir haben den Erziehungsvorgang als ein symbolisch vermitteltes kommunikatives Handeln zu beschreiben versucht. Dabei zeigte sich, daß mit zunehmender Offensichtlichkeit der gesellschaftlichen Relevanz pädagogischer Handlungsebenen dieses Handeln Mustern folgt, deren Möglichkeitsbedingung zwar in der Struktur der symbolischen Interaktion vorgegeben ist, die aber unter der Bedingung ihrer Institutionalisierung dazu tendieren, anderen als den für kommunikatives Handeln zu postulierenden Regeln zu folgen bzw. eine Komponente des kommunikativen Prozesses – die Antizipation erwarteter Reaktionen von
»Alter«
nach Maßgabe der Erfahrungen, und d. h. unter anderem der kognitiven Schemata von
»Ego«
– zu hypostasieren. Das geschieht historisch dadurch, daß im Erziehungsprozeß die Einflußchancen von Ego und Alter ungleich verteilt sind und der damit ermöglichte Definitionsvorsprung zugleich einen Vorteil an Macht bedeutet, der in der Form der symbolischen Organisation, die wir Erziehungssystem nennen, institutionalisiert ist. Dies ist die Stelle, an der Erziehungstheorie in Gesellschaftstheorie übergehen, sich mit ihr verknüpfen oder – im günstigsten Fall – enthüllen kann, daß sie selbst (wenngleich an einem anderen Punkt beginnend als Ökonomie und Soziologie) schon ein Stück Gesellschaftsanalyse und nicht nur Reproduktion des praktisch etablierten dominanten Habitus, also Ideologie, ist.
[047:632] Der bisher durchlaufene Gedankengang nun erweckt mindestens den Anschein, als würde er den genannten
»günstigsten Fall«
nicht einlösen. Es scheint, als fördere er eine Betrachtungsweise, die sich zwar in die Details der pädagogischen Kommunikation zu vertiefen anschickt, aber unbeachtet läßt, wo die Quellen ihrer Formbestimmtheit liegen könnten. Die Diskussion der Zuschreibungsprozesse leistet das nur scheinbar, auf einer mittleren und darin noch nicht zureichend bestimmten Ebene: Danach könnte es scheinen, als handle es sich dabei um nichts als zwar disparate, aber durchaus hinreichend als normativ-strukturiert zu beschreibende Handlungszusammenhänge. Die Frage nach nicht-normativen, nicht mehr phänomenologisch-interaktionistisch aufklärbaren Bedingungen der pädagogischen Kom|A3 169|munikation unterbleibt. Die Disparitäten je subjektiven bzw. relativen Sinns von Lebenswelten werden zwar diskutierbar, auch noch ihre je unterschiedlichen gesellschaftlichen Durchsetzungschancen; es bleibt aber offen, wieweit die Frage nach der historischen Funktion von symbolischen Systemen und damit die Frage danach, ob es ein historisch organisierendes Prinzip gibt, das das Entstehen bestimmter symbolischer Systeme und ihre Zuweisungsregel erklären könnte, auch sinnvoll ist.

Eine pädagogisch-interaktionistische Täuschung?

[047:633] Es scheint also, als sei unser Gedankengang einer genuin pädagogischen Täuschung erlegen. Diese Täuschung – wenn es eine ist – könnten wir in Verbindung bringen mit einer notwendigen Eigenart des Erziehungsvorgangs selbst: Der praktisch Erziehende ist – was den unmittelbar,
»phänomenologisch«
gegebenen Zusammenhang seiner Erfahrungen betrifft – auf kommunikative Prozesse verwiesen. Er sieht sich selbst als Akteur, der der Variation seines eigenen Handelns mächtig ist. Erziehung ist ihm zunächst als Interaktion und als sonst nichts gegeben. Zumal wenn er mit frühen Altersstufen zu tun hat, erscheint ihm die Kommunikation mit dem Kind als ein soziales Phänomen, das sich nur den kommunikativen Regeln und der individuellen Fähigkeit der Partner verdankt. Oder in einer Metapher formuliert: Er vermeint, daß hinter seinem und des Educandus Rücken nichts geschieht, was die pädagogische Kommunikation wesentlich beeinträchtigen könnte; was dort allenfalls angenommen wird, erscheint ihm als ein Bündel marginaler, modifizierender Faktoren; es konstituiert nicht das, was geschieht.
[047:634] Diese von uns als Täuschung vermutete Eigenart pädagogischer Praxis kann sich in der Theorie wiederholen, die gerade dann naiv und unkritisch bliebe, wenn sie nicht wenigstens die Frage nach der historischen Konstitution auch der Formen pädagogischer Kommunikation stellen und damit eine zweite Reflexion durchlaufen würde. Die erste Reflexion betraf – wir haben sie im ersten Kapitel unter dem Namen
»Diskurs«
abgehandelt – die transzendental-hermeneutische Bedingung pädagogischen Handelns, die im Begriff des Diskurses explizierbare normative Unterstellung bzw. Antizipation. Diese ist die erste deshalb, weil jede historische Kritik sie unerläßlich zur Voraussetzung |A3 170|hat. In diesem Sinne konnten wir sagen, daß der historische Regelfall
»verzerrter Kommunikation«
überhaupt erst zum Problem werden kann, wenn unverzerrte Kommunikation als ein konkreter Begriff gedacht oder durch das Leiden, das verzerrte Kommunikation erzeugt, sinnlich erfahren wird. Daraus ergibt sich – aber eben als der zweite Schritt der Reflexion – die Nötigung zu der Frage, wo denn solche Verzerrung der Kommunikation jeweils ihren historischen Ursprung hat und wieweit sie sowohl in die einzelnen Interaktionen wie auch in unsere Auffassungsweise von solchen Interaktionen hineinwirkt. Wir können das Problem auch so ausdrücken: Die Frage nach verzerrter Kommunikation ergibt sich in einem transzendental-hermeneutischen Gedankengang; die Antwort ergibt sich indessen nur in einer Analyse, die nach den historischen Konstitutionsbedingungen von Interaktionen fragt.
[047:635] In diese Richtung zielt der Einwand Haferkamps gegen die Gefahren des
»labeling approach«
am Beispiel der wissenschaftlichen Behandlung von Problemen des abweichenden Verhaltens:
[047:636]
»Vertreter dieses Ansatzes sehen zwar, daß es nicht ausreicht, einfach Bedingungen abweichenden Handelns auszumachen, sondern sie fragen nach den Prozessen der Zuschreibung. Solche Zuschreibung ist möglich aufgrund gesellschaftlich geteilter Definitionen. Hier bricht aber die Argumentation dieses Ansatzes einfach ab, und es bleibt die wichtige Frage nach den Bedingungen dieser Definitionen und dieses Definitionssystems offen«
(Haferkamp, in: Kriminologisches Journal 1972/1, S. 66 f.)
.
[047:637] Theoretisch klarer und schon die Richtung andeutend, in der die Erweiterung der Theorie unerläßlich ist, bringen dieses Problem von der Beek/Keckeisen mit Bezug auf Cicourel zur Sprache. Ein phänomenologisch-interaktionistisches Verfahren enthalte insofern einen unausgesprochenen Begriff von Gesellschaft, als es soziale Handlungsfelder, zum Beispiel verschiedene Lebenswelten und Institutionen, nur
»als Ensemble disparater, normativ strukturierter Handlungszusammenhänge«
analysiert. Diese Handlungszusammenhänge würden zwar unter der Bedingung solchen Verfahrens als voneinander abhängig, als sich wechselseitig beeinflussend gesehen, die Frage nach der Einheit bei aller Verschiedenheit der Erscheinungen unterbleibe jedoch. Diese Frage aber muß mindestens gestellt werden. Von der Beek/Keckeisen postulieren als den Weg zur Beantwortung der Frage eine Verbindung des interaktionistischen Ansatzes mit |A3 171|einer
»historisch gerichteten Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung«
, einer Theorie, die die Formen und Inhalte pädagogischer Kommunikation nicht in den Regeln der Interaktion, sondern im
»materiellen gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß unter den historischen Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft«
fundiert. Auf abweichendes Verhalten angewendet, aber auf alle Definitionsregeln
»im pädagogischen Kontext«
anwendbar, bedeutet das:
[047:638]
»Unter dieser Perspektive erweist sich ein relativistischer Delinquenzbegriff –
delinquent ist, was als delinquent definiert wird
– insofern als ideologisch, als er das materielle Sustrat abweichenden Verhaltens zugunsten der Hypostasierung von Bewußtseinsleistungen (Interpretations- und Entscheidungsprozessen) ausblendet. Der
objektive Sinn
von Anpassung ist eben nicht Anpassung an (kodifizierte) Normen, sondern Integration in den gesellschaftlichen Produktionsprozeß, zu dessen Sicherung Recht und Rechtsvollzug erst subsidiär in Funktion treten«
(von der Beek/Keckeisen 1972, S. 264, in: Zeitschrift für Pädagogik 2/72)
.
[047:639] Der Begriff des Habitus verfällt, wie mir scheint, diesem Verdikt nicht. Er beansprucht gerade, in terms von Interaktionen den Modus zu bestimmen, mit dem mikropädagogische Betrachtung (Interaktionsanalyse) mit makropädagogischer Betrachtung (gesellschaftliche Funktion pädagogischer Ereignisse) sich verknüpft. Bourdieu, dessen Arbeiten wir ja den Begriff Habitus entnommen haben, formuliert sein wissenschaftliches Interesse deshalb auch so:
[047:640]
»Will sich die Wissenschaft von der ideographischen und somit ideologischen Betrachtung von Fällen befreien, deren Sinn sich nicht unmittelbar von ihnen selbst her erschließt, solange sie singulariter betrachtet werden, hat sie das System der Fälle zu konstruieren, das zugleich seinen eigenen Interpretationsschlüssel mit einschließt und nur darum die Wahrheit des betreffenden Falles enthüllen kann«
(Bourdieu 1970, S. 29)
.
[047:641] Der Ausdruck
»System der Fälle«
bedeutet, daß nicht eine Pluralität der Fälle angenommen werden dürfe, die gegeneinander beliebig relativierbar wären, sondern daß sie alle einer bestimmbaren gemeinsamen Regel folgen.
»Wahrheit des betreffenden Falles«
bedeutet die Bestimmung des konkreten Sinns, den ein einzelnes pädagogisches Ereignis hat, und zwar nach Maßgabe jenes
»Systems der Fälle«
; das System aber liegt in den Reproduktionsprinzipien der bürgerlichen Gesellschaft.
|A3 172|
[047:642] Wenn wir dies – mindestens als mögliche und sinnvolle Frage – akzeptieren, dann müssen wir zu ermitteln suchen, von welcher Art diese Prinzipien sind. Wir müssen das in einer Erziehungstheorie deshalb tun, weil hier ja behauptet wird, daß die Bedeutung pädagogischer Kommunikation erst dann erschlossen werden kann, wenn jene Prinzipien bekannt sind.

»Materialistische«
Erziehungswissenschaft?

[047:643] Wie jedermann weiß, ist es die historisch-materialistische Reflexion, die beansprucht, eben diese Aufgabe lösen zu können.
»Die materialistische Untersuchung der Geschichte zielt auf Kategorien der Gesellschaft, die gleichermaßen den realen Lebensprozeß wie die transzendentalen Bedingungen der Konstitution von Lebenswelten bestimmt«
(Habermas 1968 a, S. 42)
. Das heißt: sie zielt auf Kategorien, die nicht nur die historisch-konkreten Lebensweisen, in unserem Fall die Inhalte und Formen des Lernens bestimmen, wie das zum Beispiel für gesellschaftliche Formen der Privilegierung von sozialen Gruppen, für Selektionsmechanismen des Bildungswesens, für die konkreten Lern- und Lebensperspektiven derjenigen Population, die sich von Handarbeit im Unterschied zu der, die sich von Kopfarbeit ernährt, usw., nachgewiesen werden kann. Sie zielt darüber hinaus auch auf die Erklärung von Auffassungsweisen für die gesellschaftliche Realität, und d. h. auf die Weise, in der sich für das Individuum Sinn konstituiert, auf seine Relevanzkriterien und Denkformen. Als den Inbegriff dieser Kategorien behauptet Marx die gesellschaftliche Arbeit. Auf sie als die – um den Preis des Überlebens – notwendige Bedingung der Existenz der Menschengattung, auf die
»materielle Produktion«
müsse alles Denken und Handeln, alles was der Mensch ist, zurückgeführt werden:
[047:644]
»Die ihre materielle Produktion und ihren materiellen Verkehr entwickelnden Menschen ändern mit dieser ihrer Wirklichkeit auch ihr Denken und die Produkte ihres Denkens. Nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewußtsein«
(Marx 1953, S. 349)
.
[047:645] Diese Produktion
»ist nicht bloß nach der Seite hin zu betrachten, daß sie die Reproduktion der physischen Existenz der Individuen ist. Sie ist vielmehr schon eine bestimmte Art der Tätigkeit dieser Individuen, eine bestimmte Art, ihr Leben zu äußern, eine bestimmte Lebensweise |A3 173|derselben. Wie die Individuen ihr Leben äußern, so sind sie. Was sie sind, fällt also zusammen mit ihrer Produktion, sowohl damit, was sie produzieren, als auch damit, wie sie produzieren. Was die Individuen also sind, das hängt ab von den materiellen Bedingungen ihrer Produktion. Diese Produktion tritt erst ein mit der Vermehrung der Bevölkerung. Sie setzt selbst wieder einen Verkehr der Individuen untereinander voraus. Die Form dieses Verkehrs ist wieder durch die Produktion bedingt«
(a. a. O., S. 347)
.
[047:646] Wir haben also eine eigentlich paradoxe Behauptung: Voraussetzung für die Produktion, als des einen Momentes für gesellschaftliche Arbeit, sei der Verkehr der Menschen untereinander, also Verständigung über Arbeitszwecke und Normen, das was wir Kommunikation und – auf dem anderen Extrempunkt institutionalisierter Beziehungen – Produktionsverhältnisse nennen. Andererseits aber sei die je besondere Art, in der die Menschen miteinander kommunizieren – ihre Verkehrsformen bzw. Produktionsverhältnisse –
»bedingt«
durch die Form der materiellen Produktion. Was heißt hier
»bedingt«
? Verstehen wir den Ausdruck
»bedingt«
so, daß mit ihm eine Determination der Verkehrsformen durch die historisch besondere Form der Produktion behauptet werden soll, dann müßte in der Tat das Substrat aller sozialen Phänomene der Prozeß der Produktion sein, müßte die Erziehung begriffen werden als nichts denn als Integration in diesen Prozeß.
[047:647] Von dieser Auffassung gehen denn auch die meisten der neueren marxistischen Ansätze im Bereich der Erziehungswissenschaft aus. Vor allem drei Gesichtspunkte sind es, unter denen eine Revision der bisherigen Erziehungsforschung nach Maßgabe einer Orientierung am materiellen Substrat der Geschichte versucht wird:
[047:648] 1. Der ätiologische Gesichtspunkt. Er soll zum Vorschein bringen, daß das konkrete Verhalten von Individuen – also zum Beispiel die in der Interaktion verwendeten Mittel und Inhalte der Selbstdarstellung und der Kommunikation (Sprachverhalten, Sozialbeziehungen, Handlungsorientierungen,
»abweichende«
Verhaltensmuster usw.) – nicht in einem Paradigma zureichend erklärt und angemessen bewertet werden kann, das den primären Interaktionszusammenhang als unabhängige Variable unterstellt. Vielmehr könne von zureichender Erklärung nur dann die Rede sein, wenn die unter den analytischen Begriff
»Klassenlage«
subsumierbaren je historisch-empirischen Merk|A3 174|male der materiellen Situation – d. h. Lokalisierung der Individuen im System gesellschaftlicher Arbeit – als die unabhängigen Variablen angenommen werden, die ihrerseits die konkreten Lebensformen der sozialen Gruppen und Individuen bestimmen. Daß dabei unter dem Namen der Klassenlage häufig nur von den manuell tätigen Lohnabhängigen die Rede ist, ist eine unter gegenwärtigen Verhältnissen willkürliche Beschränkung, die ohne Verlust des Paradigmas aufgegeben werden kann, vermutlich sogar aufgegeben werden muß, wenn der Anspruch auf realhistorische Analyse aufrecht erhalten werden soll.
[047:649] 2. Der Gesichtspunkt einer Analyse, die nach den historischen Funktionen pädagogischer Ereignisse fragt. Hier geht es darum, daß die aus der materiellen Produktion und der Verfügungsgewalt über sie (Produktionsverhältnisse) folgenden Reproduktionserfordernisse nicht im Rahmen kulturell-normativer (symbolischer) Systeme, sondern im Rahmen der
»Reproduktion der Ware Arbeitskraft«
, speziell ihrer Qualifikation, ermittelt werden. In diesem Paradigma wird unterstellt, daß alle pädagogischen Ereignisse (die Erziehungsleistung der Familie, die Etablierung der Gesamtschule, die Behandlung von jugendlichen Dissozialen, die Einführung therapeutischer Methoden, die Bildungstechnologie, die Erwachsenenbildung so gut wie die Berufsausbildung im engeren Sinne) sich in ihrer sozialen Funktion, d. h. ihrer Wirkung auf Bestand oder Veränderung des gesellschaftlichen Gesamtsystems, nur erschließen lassen, wenn sie unter dem Gesichtspunkt der Arbeitskraftqualifikation und ihrer normativen Sicherung analysiert werden. Was dem nicht unmittelbar subsumiert werden kann – zum Beispiel die Bildung von symbolischen Kommunikationsmitteln (Sprache); der Erwerb moralischer Handlungsorientierungen; die Bildung von differenzierten kognitiven Schemata (etwa mathematische Problemlösungen), die im Hinblick auf unmittelbare Verwertung in der Produktion unspezifisch sind – wird, der prinzipiell gemeinten Unterstellung folgend, entweder als fungibel für die Systeminteressen der Klassenherrschaft oder als Form ideologischer Absicherung solcher Interessen interpretiert. Die von uns diskutierten Zuschreibungsregeln und Klassifikationen im Erziehungssystem (schulreif, begabt, delinquent, pathologisch usw.) gehören in diesen Zusammenhang: Es ist hier jeweils zu fragen, welche Funktion eine bestimmte Zuschreibung im Hinblick auf die Reproduktion des Kapitalverhältnisses hat.
|A3 175|
[047:650] 3. Der ideologiekritische Gesichtspunkt. Analysen, die durch ihn geleitet sind, richten sich vornehmlich auf die Formen von Legitimationswissen, durch welche die Reproduktion der etablierten Produktionsverhältnisse und darüber hinaus alle sie stützenden Verkehrsformen der Menschen untereinander gesichert werden. Sofern Erziehung Erwerb von symbolisch organisierten Orientierungsdaten ist, wird hier gefragt, durch welche Muster des Auffassens, Handelns und Sich-Orientierens den Individuen der Erwerb einer angemessenen, d. h. auf die Formen der materiellen Produktion und die Produktionsverhältnisse bezogenen Erkenntnis der gesellschaftlichen Situation, in der sie sich befinden, erschwert oder verhindert wird. Nach Maßgabe einer solchen Fragerichtung wird jedes pädagogische Ereignis verdächtig, das seine Stellung zu dem materiellen Substrat der Geschichte nicht offen zu erkennen gibt. In diesem Sinne kann dann von Familienideologie, Bildungsideologie, Ideologie der Konsum-Orientierungen, Ideologie der Leistungsschule, Ideologie der Chancengleichheit bis hin zu
»Technik und Wissenschaft als Ideologie«
gesprochen werden.
[047:651] Die Schwierigkeit der an solchen Gesichtspunkten sich orientierenden und zugleich auf Erkenntnis pädagogischer Sachverhalte zielenden Verfahren besteht darin, daß sie unterstellen, was in all diesen Fällen doch immer neu zu erweisen ist: daß das Substrat des Geschichtsverlaufs und also aller gesellschaftlichen Praxis einerseits die materielle Produktion ist und andererseits die Gesamtheit der pädagogischen
»Erscheinungen«
auch wirklich erreicht. Das Paradigma nämlich – da es sich am Produktionsprozeß orientiert – legt bereits eine Beschränkung auf
»relevante«
Phänomene nahe. Indessen können doch die Kriterien für Relevanz erst durch die Analyse des Erziehungsgeschehens gesichert werden. Zudem handelt es sich dabei um empirische Fragen, die sich auch empirischen Einwänden stellen müssen: Sind die unter dem analytischen Begriff
»Klassenlage«
zusammengefaßten Phänomene derart empirisch konsistent, daß der Begriff spezifische pädagogische Vorgänge zu erklären vermag? Kann nicht die Gefahr bestehen, daß die Analyse von
»Funktionen«
pädagogischer Ereignisse, um Eindeutigkeit im Sinne des materialistischen Erkenntnisinteresses herzustellen, Alternativen und Funktionsambivalenzen ignoriert, d. h. die Komplexität der Wirklichkeit reduziert? Ist ein ideologiekritisches Verfahren, das sich am Begriff eines sub|A3 176|stantiell richtigen Bewußtseins orientiert, nicht genötigt, für alle pädagogischen Ereignisse zu unterstellen, daß für sie überhaupt die Alternative von richtigem und falschem Bewußtsein in dieser Eindeutigkeit nicht nur eine sinnvolle, sondern auch in allen Fällen eine operationable und damit prüffähige Dimension der Analyse ist?
[047:652] Angesichts solcher Schwierigkeiten neigt die materialistische Forschungspraxis dazu, eine Verschiebung im Objektbereich der Erziehungswissenschaft vorzunehmen, d. h. sich vorzüglich solchen Untersuchungsgegenständen zuzuwenden, deren Bezug zur materiellen Basis der gesellschaftlichen Reproduktion plausibel ist: Materialistische Curriculum-Kritik fragt nach den im engeren Sinne gesellschaftstheoretischen (Sozialkunde) und produktionsrelevanten (Arbeitslehre, Berufsausbildung, Qualifizierung von Arbeitskraft) Bestandteilen des Curriculums; Devianz-Forschung stellt in den Vordergrund diejenigen Merkmale von Devianz, die sich plausibel mit Kapitalverwertungsinteressen verknüpfen lassen (bestimmte Formen von Eigentumsdelikten, arbeitsrelevante Verhaltensmerkmale, jugendrechtsprozessuale Merkmale für Ungleichverteilung von Verurteilungschancen usw.); Sozialisationsforschung mit marxistischem Anspruch legt den Akzent auf die
»unabhängige Variable«
Arbeitsplatz bzw.
»Klassenlage«
. Im Extremfall wird Bildungsforschung zur Kritik der Bildungsökonomie und verliert die Probleme der unmittelbaren pädagogischen Kommunikation völlig aus dem Blickwinkel ihrer Aufmerksamkeit.
[047:653] Gegen eine an solchen Gesichtspunkten sich orientierende Wissenschaftspraxis gibt es indessen – so weit ich sehe – keine stichhaltigen Einwände, die deren Wissenschaftlichkeit oder Erkenntnisrelevanz überhaupt betreffen. Gerade diejenigen Funktionen, die ein Erziehungssystem im Hinblick auf die Aufrechterhaltung etablierter Formen von Herrschaft erfüllt, ihre integrative Wirkung, kann wohl nur auf diese Weise ermittelt werden. Gleichwohl aber stellen wir die Frage, ob damit wirklich der Anspruch einer
»materialistischen«
Erziehungswissenschaft eingelöst wird oder ob nicht vielmehr die Gefahr besteht, daß, statt eine
»materialistische«
Erziehungswissenschaft zu entwickeln, lediglich die im engeren Sinne ökonomischen Implikationen des Erziehungsgeschehens zum wissenschaftlichen Gegenstand werden. Es wäre dann nicht mehr von der Gesamtheit der konkreten Kommunikationen im pädagogischen Handlungszusammenhang die Rede, sondern nur noch von deren materiellen |A3 177|Voraussetzungen bzw. integrationistischen Folgen. Eine solche Konsequenz jedoch ergibt sich keineswegs zwingend aus der materialistischen Methodologie, ja es ist überhaupt kein methodologisches Problem, sondern lediglich eine Frage der Wahl von Forschungsgegenständen. Wie also müssen wir unsere Fragen wählen, wie muß das erkenntnisleitende Paradigma beschaffen sein, um eine interaktionistisch orientierte Phänomenologie der Erziehungsvorgänge
»materialistisch«
zu fundieren?

»Tauschabstraktion«

[047:654] Folgen wir dem materialistischen Paradigma, demzufolge die
»Basis«
der gesellschaftlichen Vorgänge in der Produktion als dem materiellen Substrat der sozialen Verkehrsformen angenommen wird, dann stellt sich für die pädagogische Kommunikation als einem Sektor jener Verkehrsformen die Frage, auf welche Weise die Vermittlung der pädagogischen Kommunikation mit jener Basis gedacht werden muß. Diese Frage kann zureichend nur beantwortet werden, wenn aus dem Ensemble pädagogischer Phänomene nicht willkürlich eine bestimmte Klasse von Ereignissen herausgegriffen wird zugunsten anderer: höhere Altersstufen auf Kosten der niedrigeren, Erwachsenensozialisation im Betrieb auf Kosten der Vorgänge in Subkultur und Familie, institutionell stark ausgeprägte organisierte Lernprozesse auf Kosten der nur schwach oder gar nicht institutionalisierten, Probleme der integrativen Disziplinierungsleistungen pädagogischer Handlungsfelder auf Kosten der Probleme kindlicher Spielfelder, Fragen des kognitiven Lernens im engeren Sinne auf Kosten der emotionalen Komponenten von Interaktion usw. Das heißt also, daß die Frage nach der Vermittlung von pädagogischer Kommunikation und materiellem Substrat im Hinblick auf das Ganze der pädagogischen Vorgänge gestellt werden muß. Jede Beschränkung auf bestimmte Gegenstände auf Kosten anderer impliziert ja ein begründetes Prinzip oder doch wenigstens irgendeinen Gesichtspunkt der Beschränkung. Interessiere ich mich zum Beispiel im Bereich der Familienerziehung nur für die Probleme der Abhängigkeit einiger Merkmale des Sozialisationsmilieus von der Stellung des Ernährers im Produktionsprozeß, dann unterstelle ich, daß es für die erziehungswissenschaftliche Analyse nicht nur sinnvoll, sondern auch hinreichend ist, die historisch besondere Gestalt |A3 178|der Produktion zu untersuchen, um Vorhersagen über die Erziehungsverhältnisse zu machen; ich unterstelle eine unmittelbare kausale Abhängigkeit. Das aber ist – im Hinblick auf den Erkenntniswert – ein riskantes Unternehmen. Gleiches gilt, wenn Verteilung und Verfügung über Bodeneigentum so behandelt wird, als sei es – im Verein mit der Stellung sozialer Gruppen im Produktionsprozeß – das Schlüsselproblem zur Erklärung der Probleme von Sozialisation und pädagogischem Handeln im Rahmen sozialpädagogischer Strategien. Solche Annahmen und die ihnen folgende Wissenschaftspraxis sind zwar als Teile der erziehungswissenschaftlichen Forschung unerläßlich; es gibt überhaupt keinen Grund, auf sie zu verzichten; die Resultate solcher Forschung werden schon erweisen, in welchem Rahmen und Ausmaß sie Bedeutung beanspruchen können. Dies aber sind nur
»Momente«
dessen, was eine materialistische Konzeption von Erziehungswissenschaft sein könnte; sie betreffen noch nicht das entscheidende Problem. Dieses ist vielmehr die Frage, ob in der pädagogischen Beziehung selbst – und zwar nicht nur in einigen extremen Fällen – sich ein Prinzip Geltung verschafft, von dem behauptet werden kann, daß es einerseits die Struktur der Interaktion organisiert, andererseits aber auch zurückgeführt werden kann auf die historische Gestalt einer Gesellschaft, deren materielles Substrat die bürgerlich-kapitalistische Produktionsweise und ihre Verkehrsformen sind.
[047:655] Schon der Augenschein scheint zu lehren, daß dieses Prinzip nicht in der materiellen Produktion selbst, desgleichen nicht in den ökonomischen Beziehungen der Kapitalverwertung liegen kann: Mit beidem hat zum Beispiel die frühe Mutter-Kind-Beziehung unmittelbar nichts zu tun. Ebenso aber zeigt der Augenschein – denken wir zum Beispiel an die Bedeutung der Berufstätigkeit von Müttern für ihre Beziehung zu ihren Kindern –, daß sehr wohl unmittelbar ökonomische Verhältnisse im Spiel sein können. Es muß also gezeigt werden, auf welche Weise auch die pädagogische Beziehung mit der materiellen Basis von Geschichte und Gesellschaft verknüpft ist. Es kann sich dabei nur um ein Prinzip handeln, das sowohl der konkreten pädagogischen Kommunikation wie auch der materiellen Produktion und dem Kapitalverhältnis gegenüber abstrakt ist. Es muß ein Prinzip sein, das das Allgemeine des gesellschaftlichen Konstitutionszusammenhanges in jede einzelne Interaktion hineintragen kann, in ihre kognitiven Schemata, die |A3 179|emotive Dimension der Beziehungen, die Muster des Handelns und Produzierens. Solche Funktionen erfüllen Symbole, wie wir schon bei der Analyse von Interaktion gesehen haben. Derjenige Begriff nun, der innerhalb der materialistischen Theorie diese Funktion der Verknüpfung des gesellschaftlich Allgemeinen mit der je einzelnen Existenz, dem konkreten pädagogischen Handeln erfüllt oder doch diesen theoretischen Anforderungen am ehesten entspricht, ist der Begriff der Tauschabstraktion.
[047:656]
»Von allem Anfang an war die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise einerseits ein ökonomischer, andererseits ein intellektueller Prozeß, und beides in anscheinend zufälliger, aber in Wahrheit notwendig bedingter geschichtlicher Gleichzeitigkeit. Als Resultat der kommerziellen Revolution, die dem Feudalismus das Ende und für den Kapitalismus den Anfang schuf, fand sich die Produktion vor Aufgaben gestellt, die nur durch Lösungen gesellschaftlichen Ausmaßes bewältigt werden konnten. Sie gingen dem mittelalterlichen Handwerksmeister als individuellem Einzelproduzenten nicht nur über seine ökonomischen Ressourcen, sie gingen ihm im wörtlichen Sinne auch über den Kopf. Für die Technik der Feuerwaffen, des erweiterten Bergbaus, der Metallurgie, des Stadtbaus, der Hafenanlagen, der Hochseeschiffahrt etc. reichten die Hilfsmittel der persönlichen Einheit von Hand und Kopf, die Hilfsmittel des Augenmaßes, so wenig aus wie die physischen Kräfte der individuellen Einzelarbeit. Die persönliche Einheit von Hand und Kopf zerbrach und machte ihrer gesellschaftlichen Spaltung Platz. Die Handarbeit wurde zur kooperativen, in wachsendem Maß vergesellschafteten Arbeit, die die
Subsumtion unter das Kapital
erheischte. Die Kopfarbeit machte die Entwicklung zur quantifizierenden Methode der exakten Wissenschaften durch, d. h. die Entwicklung zur Erkenntnisweise eines vergesellschafteten Kopfes. Der kapitalistische Produktionsprozeß der vergesellschafteten Arbeit und die Wissenschaft des vergesellschafteten Denkens entwickelten sich pari passu, kraft eines Wesenszusammenhangs, dessen Geheimnis in den Formen und Funktionen der zugrundeliegenden gesellschaftlichen Synthesis steckt«
(Sohn-Rethel 1970, S. 21 f.)
.
[047:657] Dieser
»Wesenszusammenhang«
stellt sich freilich nicht nur im Produktionsprozeß einerseits und in den Wissenschaftsprozessen andererseits dar. Dies sind nur gleichsam die Extrempunkte seiner Ausprägung. Wenn es zutrifft, daß alle Verkehrsformen tendenziell von ihm erfaßt werden, dann müssen wir unterstellen, daß er auch in allen Interaktionen im pädagogischen Feld entdeckt werden kann; anders würde es sich ja nicht um das Prinzip der gesellschaftlichen Synthesis handeln können, sondern um ein Prinzip, das nur Teilbereiche des gesellschaft|A3 180|lichen Prozesses betrifft. Unter den Bedingungen der kapitalistischen Produktion – so behauptet Sohn-Rethel in seiner Marx-Interpretation – ist dieses Prinzip die Warenabstraktion. Das Verhalten, in dem diese Abstraktion konkret wird, das dieser Abstraktion entspricht, ist der Tausch. Das Ding, in dem diese Abstraktion zugleich konkretisiert und symbolisiert wird, ist das Geld.
[047:658] Da Arbeit unter kapitalistischen Bedingungen im Produzieren von Waren für den
»abstrakten«
Markt besteht, d. h. im Schaffen eines Tauschwertes, kann selbst ihr Wert nicht mehr als konkret angesehen werden – wie es zum Beispiel bei einer unmittelbar einen Gebrauchswert schaffenden nützlichen und konkreten Arbeit der Fall wäre –, sondern sie fungiert als Äquivalent auf dem Waren tauschenden Markt; das Austauschverhältnis macht die Arbeit abstrakt. Indem die Menschen
»ihre verschiedenartigen Produkte einander im Austausch als Werte gleichsetzen, setzen sie ihre verschiedenen Arbeiten einander als menschliche Arbeit gleich«
(Marx, Kapital, S. 88)
. In der Formulierung Sohn-Rethels:
»Die Arbeit abstraktifiziert sich nicht selber. Der Sitz der Abstraktion liegt außerhalb der Arbeit in der bestimmten gesellschaftlichen Verkehrsform des Austauschverhältnisses«
(Sohn-Rethel 1970, S.38 f.)
. Diese gesellschaftliche Verkehrsform – wir können auch sagen: diese Interaktion der tauschenden Waren- bzw. Geldbesitzer (als Besitzer eines abstrakten Tauschwertes) macht tendenziell alle Verkehrsformen der Gesellschaft abstrakt nach Maßgabe der Tauschabstraktion. Wie ist das – etwas anschaulicher – zu denken?
[047:659]
»Der Austausch der Waren ist abstrakt, weil er von ihrem Gebrauch nicht nur verschieden, sondern zeitlich getrennt ist. Tauschhandlung und Gebrauchshandlung schließen einander in der Zeit aus. Solange Waren Gegenstände von Tauschverhandlungen sind, also sich auf dem Markt befinden, dürfen sie nicht in Gebrauch genommen werden, weder von den Verkäufern noch von den Kunden. Erst nach vollzogener Transaktion werden die Waren für die letzteren zum Gebrauch verfügbar. Auf dem Markt, in den Läden, Schaufenstern etc. stehen die Waren still, bereit für eine einzige Art der Handlung, d. h. ihren Austausch«
(Sohn-Rethel 1970, S. 39 f.)
.
[047:660]
»Aber während der Gebrauch der Waren derart aus den Handlungen der Interessenten während der Zeit der Tauschhandlungen ausgeschlossen ist, ist er doch durchaus nicht aus ihren Gedanken verbannt. ... Dennoch dient die Demonstration der Waren auf dem Markt nur der gedanklichen Instruktion und Urteilsbildung der Kunden... und ist haargenau geschieden von der Praxis des Gebrauchs selbst. ... Die |A3 181|Praxis des Gebrauchs ist aus der öffentlichen Sphäre des Marktes verbannt und gehört ausschließlich in den Privatbereich der Warenbesitzer. Im Markt bleibt der Gebrauch der Dinge für die Interessenten
bloße Vorstellung
«
(S. 40 f.)
. Das heißt,
»daß jedermann, der Münzen in der Tasche trägt, ganz bestimmte begriffliche Abstraktionen im Kopfe haben muß«
(S. 74)
.
[047:661] Ich habe diese Passagen so ausführlich zitiert, weil mir daran liegt, zu zeigen, daß eine materialistische Konzeption von Erziehungswissenschaft nur dann möglich ist, wenn es gelingt, denjenigen Punkt der marxistischen Theorie aufzufinden, wo diese unmittelbar für Interaktion bedeutsam wird. Das ist in der Tauschhandlung der Fall. Wir wollen sehen, ob ein solcher Weg tatsächlich die Details pädagogischer Beziehungen erreichen kann, die – nach Meinung vieler Skeptiker – mit dem materiellen Substrat der Geschichte anscheinend schlechterdings in kein sinnvolles Verhältnis gesetzt werden können.
[047:662] Daß die Tauschhandlung abstrakt ist, bedeutet also, daß in ihr von den Merkmalen möglichen Gebrauchs der Waren abgesehen wird. Das hat nichts mit den denkbaren Motivationen zu tun, die die Tauschenden zum Tausch veranlassen könnten. Vielmehr soll es heißen, daß die Tauschenden sich während des Tauschaktes vornehmlich für die abstrakte Äquivalenz
»interessieren«
; täten sie das nicht, käme schwerlich ein Tausch zustande, der nach den Regeln des kapitalistischen Marktes noch
»rational«
genannt werden könnte.
[047:663] Von dieser durch den Markt notwendig erheischten Struktur der Tauschbeziehung nun wird unterstellt, daß sie tendenziell – also in der Geschichte der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft zunehmend ausgeprägter – alle Interaktionen der Menschen erfaßt: sie wird zu einem bestimmten historischen Habitus. Sohn-Rethel bezeichnet diesen Habitus als den
»praktischen Solipsismus«
:
[047:664]
»Entsprechend seiner Verankerung im Privateigentum, als Verkehrsform gemäß den Regeln des Privateigentums, untersteht der Warenaustausch in jedwedem Einzelfall dem Prinzip der privaten Entgegensetzung der beiderseitigen Eigentumsbereiche. Mein – also nicht dein; dein – also nicht mein: ist das Prinzip, das die Logik des Verhältnisses beherrscht. Dieses Prinzip ergreift jegliche Einzelheit in dem Maße, als sie für die Transaktion Relevanz gewinnt. Es bewirkt auch das Verhältnis jedes der Kontrahenten zu den Gegenständen, die zum Austausch stehen. Daß sein Interesse an denselben sein Interesse und nicht das des anderen ist, seine Vorstellung von ihnen eben die seinige, daß die Bedürfnisse, Empfindungen, Gedanken, die im Spiele sind, |A3 182|polarisiert sind darauf, wessen sie sind, ist das, was zählt, während die Inhalte zu monadologisch oder solipsistisch unvergleichbaren Realitäten für die Tauschpartner einander gegenüber werden. Der Solipsismus, demzufolge unter allen jeder für sich der Einzige (solus ipse) ist, der existiert, und wonach ferner alle Daten, soweit sie Tatsächlichkeit besitzen, privat die seinigen sind – der Solipsismus ist die genaue Beschreibung des Standpunktes, auf dem im Warenaustausch die Interessenten zueinander stehen. Richtiger gesagt, ihr tatsächliches Verhalten zueinander im Warenaustausch ist praktischer Solipsismus, gleichgültig was sie selbst über sich und ihr Verhalten denken«
(Sohn-Rethel 1970, S. 48)
.
[047:665] Methodologisch gesehen ist der
»praktische Solipsismus«
ein aus der materialistischen Theorie der Gesellschaft deduziertes Konstrukt. Beanspruchen wir für dieses Konstrukt, daß es erfahrungswissenschaftlich relevant ist, muß geprüft werden, ob und wieweit es sich in der Analyse von Erziehungsvorgängen, d. h. in empirischen Operationen, bewährt. Das kann im Rahmen dieses Buches nicht mehr geschehen.
»Materialistische Erziehungswissenschaft«
ist deshalb vorerst auch nicht mehr als ein Programm. Die aus dem Begriff der Tauschabstraktion folgenden Gesichtspunkte legitimieren sich allerdings nicht nur aus der gesellschaftstheoretischen Komponente unseres Gedankenganges, sondern auch aus der transzendentalhermeneutischen: Wenn der Begriff
»verzerrte Kommunikation«
vor dem Hintergrund der idealen Unterstellung der Kommunikationsgemeinschaft (vgl. dazu das erste Kapitel) sich als notwendige Kategorie zur Analyse des Historisch-Faktischen erweist, dann ist der
»praktische Solipsismus«
die materialistische Antwort auf die Frage, in welcher Richtung eine Analyse zu suchen hätte, die es auf die Bedingungen von Verzerrung abgesehen hat.

»Charaktermaske«

[047:666] Nun mag diese Antwort spekulativ erscheinen. Wir wollen deshalb noch einmal wenigstens die Notwendigkeit der Fragestellung erörtern. Die Pädagogik hat sich im Laufe ihrer Tradition – und das ist die Tradition der bürgerlichen Gesellschaft – daran gewöhnt, die Bedingungen für verzerrte Kommunikationen nicht im Kontext von Begriffen zu diskutieren, die das materielle Substrat der Geschichte betreffen, sondern in solchen Begriffen, die dem kulturell-normativen System ent|A3 183|nommen sind. Verzerrung erscheint unter solchem Gesichtspunkt dann als kommunikativ nicht legitimierte Autorität; als Verwendung von Erziehungsmitteln, die den Spielraum für Verhaltensalternativen des Educandus einschränken; als dogmatische Vorgabe von Erziehungszielen; als Merkmale charakterlicher Deformation des Erziehenden; als Einschränkung des kommunikativen Handelns durch Rollen und Institutionen; als Störungen, die durch eingespielte und schwer korrigierbare besondere Interaktionsregeln immer neu erzeugt werden; als Erwartungen, die Lernwege formal und/oder inhaltlich verkürzen und damit Lernperspektiven und Handlungsspielräume beschränken, Konflikte erzeugen, die vom Individuum nicht mehr rational bewältigt werden können, usw.
[047:667] Im Zusammenhang solcher Versuche, die Quellen der Störung pädagogischer Beziehungen zu ermitteln, spielt die Psychoanalyse eine besondere Rolle, versucht sie doch, den subjektiven Bedingungen verzerrter Kommunikation nachzuforschen. Im Lichte des materialistischen Paradigmas aber muß auch sie, wenngleich eine besonders radikale Form der Reflexion von Phänomenen des menschlichen und speziell des pädagogischen Umgangs, als eine Verkürzung erscheinen, die von der gleichen Art ist wie die strikte Beschränkung auf interaktionistische Fragestellungen. Ja, die Anrufung des materialistischen Paradigmas an dieser Stelle ist nicht einmal erforderlich, um auf das Dilemma hinzuweisen: Es gibt überhaupt keinen theoretischen Grund, mit dem gerechtfertigt werden könnte, warum subjektive Schicksale von Individuen oder der Zustand von Institutionen als letzte Erklärungsebene genommen werden müßten. Im Gegenteil nötigt die wissenschaftliche Reflexion sogar dazu, weiter hinter solche Bedingungen
»zurückzufragen«
, solange nicht zweifelsfrei feststeht, daß ein solches Bemühen erfolglos ist. Dies aber ist beim vorliegenden Problem mit Sicherheit nicht der Fall. Deshalb fordert beispielsweise Lorenzer (Lorenzer 1971) eine Psychoanalyse, die sich
»als kritische Theorie der Subjektivität versteht«
. Ein solcher Versuch aber könne nur gelingen,
»wenn die originär-psychoanalytische Erfahrung einer
Auseinandersetzung mit innerer Natur
sich fassen läßt in einen psychoanalytischen Symbolbegriff, der zugleich die Bestimmtheit durch die objektiv-historische Lage der Auseinandersetzung mit äußerer Natur erkennen läßt«
(S. 10)
. Mit anderen Worten: Hinter die Bedingungen der in der Interaktion sich darstellenden, in ihr erscheinenden Subjektivität kommen wir nur, wenn |A3 184|wir in dem entscheidenden Medium der Interaktion, den Symbolen, die Dimensionen ermitteln, in denen das Prinzip gesellschaftlicher Synthesis auch in die intimsten Interaktionen hineingerät. Damit entsteht für die Psychoanalyse das gleiche Problem wie für die Erziehungswissenschaft. Für beide nämlich ist die Aufmerksamkeit für das Verhältnis Erzieher-Autorität/Educandus konstitutiv. Für beide gilt, daß ihr Gegenstand gar nicht gedacht werden kann unabhängig von der Tatsache, daß es sich um symbolisch vermittelte Interaktionen handelt. In beiden Fällen kann diese Beziehung in ihrer historisch-besonderen Gestalt als ein Herrschaftsverhältnis verstanden werden. In beiden Fällen aber brechen auch die Versuche,
ȟber
Herrschaft
hinaus zu denken und von den psychoanalytisch (bzw. pädagogisch, K. M.) festgestellten Verstümmelungen den Bezug bis zu den Produktionsverhältnissen zu nehmen«
, immer wieder ab
(Lorenzer 1971, S. 21)
. Diese besondere Frage lag nun allerdings außerhalb des Marxschen Interesses, aber – und das soll im folgenden noch einmal umrissen werden – nicht schlechterdings außerhalb der Möglichkeiten einer materialistischen Theorie.
[047:668] Marx hat diese Frage mit Hilfe eines Ausdrucks angesprochen, der heute mißverständlich wirken kann, da er als wertendes Urteil und nicht als analytischer Begriff genommen werden könnte. Die Form, in der Warenbesitzer auf dem Markt interagieren, nennt er
»Charaktermaske«
. Sie ist der Inbegriff der objektiven Komponenten des Rollenhandelns, und zwar in Situationen oder Institutionen, in denen Waren in ihrem Tauschwert erscheinen, Privateigentümer sich deshalb wechselseitig in den Formen von Käufern und Verkäufern definieren. Das ist jedoch nicht so zu verstehen, daß die Privateigentümer sich zwar in der Regel so verhalten, sich indessen aber auch, wenn sie wollten, ganz anders verhalten, ihre Rollen auch ganz anders definieren könnten. In diesem Typus des Rollenhandelns nämlich folgen sie notwendig einer Regel, die ihrerseits notwendig gesetzt ist. Denn diese Rollenbeziehung erscheint als Rechtsverhältnis, zwar als ein
»Willensverhältnis«
, aber eben als ein solches,
»worin sich das ökonomische Verhältnis widerspiegelt«
(Marx, Kapital, S. 99)
. Sie können zwar die Rollen tauschen, die Masken wechseln, die Form ihrer Beziehung aber bleibt allemal die gleiche. Der Ausdruck
»widerspiegeln«
meint hier deshalb auch keine zufällige Beziehung, sondern eine Gleichartigkeit von
»Verhältnissen«
– in denen Verschiedenes |A3 185|zueinander in Beziehung gesetzt ist –, die einen gemeinsamen Grund haben. Dieser Grund liegt in der
»bestimmten«
, d. h. historisch besonderen Form der Produktion, die als das materielle Substrat allen Beziehungen der Wareneigentümer untereinander – aber nicht nur diesen – ihre besondere Form vorschreibt. In der bürgerlichen Gesellschaft ist diese bestimmte Produktion durch das Kapital gesetzt. Da jedes Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft Warenbesitzer ist – und sei es auch nur als Besitzer der Ware
»Arbeitskraft«
–, werden tendenziell die Beziehungen der Individuen untereinander diejenige Form annehmen, die im Hinblick auf das Kapitalverhältnis funktional ist und die, in der Tauschsituation, sich als praktischer Solipsismus darstellt. Allerdings – und das kann mit Marx gegen Sohn-Rethel eingewendet werden – darf das nicht dazu verführen, die Zirkulationssphäre, also denjenigen Bereich gesellschaftlicher Beziehungen, in dem der Austausch von Waren geschieht, für den Grund der Formbestimmtheit menschlicher Beziehungen zu nehmen, d. h. also die Beziehungen auf dem Markt als
»Basis«
zu erklären. Gerade dies würde heißen, ein einzelnes
»Moment«
fälschlicherweise als das Ganze zu betrachten. Denn:
»Der Austausch erscheint (Hervorhebung von mir, K. M.) nur unabhängig neben, indifferent gegen die Produktion in dem letzten Stadium, wo das Produkt unmittelbar für die Konsumtion ausgetauscht wird«
(Marx, Grundrisse, S. 20)
.
[047:669] Mit dem Begriff der
»Charaktermaske«
tritt Marx also zwei bürgerlichen Täuschungen entgegen: Die eine Täuschung besteht darin, diejenige Form der menschlichen Beziehungen, die in den bürgerlich-rechtlichen Institutionen ihren Ausdruck finden und das Verhältnis von Eigentümern zueinander bestimmen, als Datum für sich zu nehmen, ohne es als eine Erscheinungsform auf die in Wechselwirkung stehenden Momente Produktion, Zirkulation und Konsumtion zugleich zurückzubeziehen. Die andere Täuschung besteht darin, die beobachtbaren,
»empirischen«
Merkmale des Verhaltens von Individuen in Interaktionen, wie sie innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft erscheinen, einer
»Individualität«
zuzuschreiben und sie damit nur noch als Merkmale des Individuums, nicht aber auch als Merkmale des sozialen Systems zu begreifen.
[047:670]
»Diese bestimmten sozialen Charaktere entspringen also keineswegs aus der menschlichen Individualität überhaupt, sondern aus den Austauschverhältnissen von Menschen, die ihre Produkte in der bestimmten Form der Ware produzieren. Es sind so wenig rein individuelle |A3 186|Verhältnisse, die sich im Verhältnis des Käufers und Verkäufers ausdrücken, daß beide nur in diese Beziehung treten, soweit ihre individuelle Arbeit verneint, nämlich als Arbeit keines Individuums Geld ist. So albern es daher ist, diese ökonomisch-bürgerlichen Charaktere von Käufer und Verkäufer als ewig gesellschaftliche Formen der menschlichen Individualität aufzufassen, ebenso verkehrt ist es, sie als Aufhebung der Individualität zu betränen. Sie sind notwendige Darstellung der Individualität auf einer bestimmten Stufe des gesellschaftlichen Produktionsprozesses «
(Marx, Zur Kritik, S. 95 f.)
.
[047:671] Reichelt interpretiert dazu:
»Die bestimmte Form der Charaktermaske ist also lediglich Ausdruck beschränkter Existenzbedingungen, und nur so lang wesentlich zu ihrer Persönlichkeit gehörend, wie sie ihre Persönlichkeit, ihre Individualität nur unter dieser Form der Beziehung entfalten kann«
(Reichelt 1970, S. 230)
.
[047:672] Was die Erziehungswissenschaft betrifft, ist damit eher eine Frage aufgeworfen als beantwortet. Der Begriff der
»Charaktermaske«
bzw. des
»sozialen Charakters«
ist ja nur im Kontext einer politisch-ökonomischen Analyse gewonnen. Marx selbst wählt seine Beispiele ausschließlich aus der Sphäre der ökonomischen Beziehungen im engeren Sinne. Aus dem Anspruch dieser Analyse als einer, die die Totalität eines gesellschaftlichen Systems begreifen will, folgt jedoch das mindestens heuristische Postulat, daß die gewonnenen Gesichtspunkte prinzipiell auf alle Formen der Kommunikation, also auch der pädagogischen, angewendet werden können. Zwar sind die von Marx und Sohn-Rethel beschriebenen Formen der menschlichen Beziehungen als
»ökonomische Charaktermasken«
bezeichnet, die
»nur die Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse sind«
(Marx, Kapital, S. 100)
; der Anspruch aber geht dahin, die
»Widerspiegelung«
dieser Verhältnisse auch in den feinsten Details menschlicher Kommunikation und deren Theorie aufzusuchen. Entsprechend den genannten
»bürgerlichen Täuschungen«
müßte also eine materialistisch-erziehungswissenschaftliche Analyse pädagogischer Kommunikation in zwei Richtungen voranschreiten: Sie müßte auf der Ebene der Erscheinungen eine Phänomenologie derjenigen Beziehungen im pädagogischen Feld erstellen, für die hypothetisch unterstellt werden kann, daß sie der Tauschabstraktion unterworfen sind; dabei wären zunächst diejenigen Dimensionen pädagogischer Kommunikation auszumachen, in denen sich die Fruchtbarkeit jenes heuristischen Prinzips erweisen könnte. Sie müßte zweitens die ermittelten Formen der Kommunikation im Hinblick auf ihre Genese im Kontext von Produktion, Zirkulation und Konsumtion prüfen. Mir scheint, daß die zweite Aufgabe nicht vor der |A3 187|ersten bewältigt werden kann. Was Laing die
»Verdinglichung interpersoneller Beziehungen«
nannte, wird dann vielleicht – dem bisher noch uneingelösten Anspruch nach – in seiner über den singulären pädagogischen Akt hinausgehenden gesellschaftlichen Bedeutung aufgeklärt werden können.

Zusammenfassung

[047:673] An dieser Stelle nun konvergieren interaktionistische und materialistische Theorie. Ja, eine materialistische Theorie der Erziehung erscheint als die historisch bestimmte Form eines allgemeinen interaktionistischen Postulates. Wie G. H. Mead forderte, alle Interaktionen des Individuums nicht aus einer unterstellten
»Natur«
des menschlichen Organismus zu deduzieren, sondern im Rahmen der Formen seiner Vergesellschaftung zu bestimmen (Mead 1968, S. 45), so behauptet auch Lorenzer für die Psychoanalyse, daß dort nicht primär
»Verhaltensweisen eines Handelnden«
erfaßt und auf frühe Sozialisationserfahrungen zurückgeführt werden dürften, sondern
»zugleich und vor allem Interaktionsstrukturen«
, also vergesellschaftende Formen menschlicher Beziehungen, ermittelt werden müßten.
»Worum es geht, ist nicht der Akteur in seinem Spiel«
, das wäre eine nur am einzelnen Individuum orientierte und damit auf der Ebene bloßer Erscheinung verweilende Phänomenologie,
»sondern das Spiel gesehen durch den Akteur«
(Lorenzer 1971, S. 43)
. Das hieße für die Erziehungswissenschaft, daß ihr Gegenstand nicht die lernenden Individuen sind – gerade dies wäre jene zweite bürgerliche Täuschung –, sondern die Regeln, denen die pädagogische Kommunikation historisch-faktisch folgt, und die besondere Form von Vergesellschaftung, die in solchen Regeln am Werke ist.
[047:674] Wie mir scheint, erfährt der Ansatz des theoretischen Versuchs in diesem Buch nun von seinem Ende her eine Rechtfertigung. Im Lichte der Frage nach den materiell-historischen Konstitutionsbedingungen von Erziehung ergab sich die Nötigung, nach einem tertium comparationis zwischen Pädagogik und politischer Ökonomie zu suchen. Diese zwischen beiden vermittelnde Kategorie ist die
»Tauschabstraktion«
; die Klasse von Interaktionsereignissen, die durch sie strukturiert wird, ist der
»Warentausch«
. Er ist eine Operation, in der Individuen zweierlei leisten: Sie beziehen sich, ihr Verhalten, ihre Eigentümlichkeit, |A3 188|ihre Reaktionen wechselseitig aufeinander (Kaufer – Verkäufer), und sie beziehen die Beziehung zugleich auf den über-situativen Kontext einer Institution, eines Marktes, eines Herrschaftsgefüges, des Kapitalverhältnisses. Die erste Leistung können wir erfahrungswissenschaftlich sichern: Kommunikation zwischen Individuen ist empirisch nicht möglich ohne eine Form der symbolischen Vermittlung, die die Reziprozität von menschlichen Beziehungen auch dem Bewußtsein prinzipiell verfügbar macht (symbolische Interaktion). Die zweite Leistung ist nur durch eine kritische Hermeneutik der Symboloperationen, der Sprachspiele, zu entschlüsseln; zu diesem Zweck müßte es gelingen, die Transformationen zu ermitteln, durch die die materiellen Grundlagen eines historisch-besonderen sozialen Systems in die einzelne pädagogische Interaktion hineinwirken (Reproduktion). Dazu haben wir in der Reihe Tauschabstraktion – Charaktermaske – Habitus – Lebenswelt – Situation einen Vorschlag gemacht. Für die pädagogische Kommunikation überhaupt gilt, daß die Bedingung ihrer Möglichkeit in der normativen Unterstellung oder
»kontrafaktischen Antizipation«
des Diskurses angenommen werden muß (Kommunikationsgemeinschaft). Diese Annahme ist nicht ein allgemeines und abstrakt-normatives Postulat, sondern sie konstituiert die Tatsache, daß alle Erziehung sich legitimieren muß, daß es überhaupt Nachdenken über und Kritik von Erziehung gibt, geschehe dies in welcher Form auch immer.
[047:675] Das pädagogische Feld strukturiert sich also nach Maßgabe der drei Komponenten symbolische Interaktion, gesellschaftliche Reproduktion und Kommunikationsgemeinschaft; sie betreffen die Phänomenologie der pädagogischen Vorgänge, die Soziogenese dieser Erscheinungen und die Zieldimension des pädagogischen Geschehens. Im Hinblick auf die Praxis können wir auch sagen, sie sind die begriffliche Form der Tatsache, daß Erziehung immer Interaktion, Reproduktion und Legitimation
»ist«
, und zwar sowohl in der Dimension interpersoneller Beziehungen wie auch in der Dimension des instrumentellen Handelns. Das tertium comparationis der Tauschabstraktion erscheint mir als die vor allem zwischen Reproduktion und Interaktion vermittelnde Kategorie deshalb, weil auch sie im Grunde und unter dem Gesichtspunkt ihrer formalen Merkmale ein kognitives Schema ist und weil dieses Schema in Symbolen zur objektiven Darstellung kommt: Tauschabstraktion und, aus ihr folgend,
»Charaktermaske«
sind Begriffe, mit denen ein be|A3 189|
Hier ist ein Schaubild zur Strukturierung des pädagogischen Feldes nach den drei Komponenten symbolische Interaktion, gesellschaftliche Reproduktion und Kommunikationsgemeinschaft zu sehen.
|A3 190|stimmtes kognitives Schema – Dinge werden als Waren, Menschen und d. h. Interaktionen unter dem Gesichtspunkt ihrer Stellung zu den Waren aufgefaßt – bezeichnet werden soll. Dieses Schema, das Marx ganz nach interaktionistischer Art als überindividuelle Form der Reziprozität beschreibt –
»Um diese Dinge als Waren aufeinander zu beziehen, müssen die Warenhüter sich zueinander als Personen verhalten, deren Willen in jenen Dingen haust, so daß der eine nur mit dem Willen des anderen, also jeder nur vermittelst eines, beiden gemeinsamen Willensaktes sich die fremde Ware aneignet, indem er die eigne veräußert«
(Marx, Kapital, S. 99)
–, findet seine symbolische Darstellung im Geld, als dem
»Wertding«
, das zugleich auch die Form der durch den Warentausch notwendig gewordenen Beziehung zwischen Personen bedeutet. Dieser Sachverhalt aber ist der Menschen
»gesellschaftliches Produkt so gut wie die Sprache«
(Marx, Kapital, S. 88)
. Sofern die Sprache als gesellschaftliches Produkt, sofern die Performanz der Symbolverwendung in die einzelnen Interaktionen der pädagogischen Beziehung hinein trägt, was der Sphäre gesellschaftlicher Reproduktion zugehört, d. h. aber Sprache als Medium der Kommunikation, der Sinnverständigung von Personen
»verzerrt«
wird, fungiert sie wie das Geld: sie sorgt dafür, daß der Educandus aus dem historisch gesetzten Funktionskreis von Produktion, Zirkulation und Konsumtion nicht ausbricht; sie besorgt seine
»Anpassung«
. Das geschieht über die Transmissionsinstanzen auf den verschiedenen Ebenen des pädagogischen Handlungsfeldes: in Situationsdefinitionen, Zuschreibungen, Topoi, institutionalisierten Handlungsmustern, in den Curricula, im Habitus. Sprache bzw. symbolische Interaktion ist aber immer auch mehr als solche Transmission. Sie ist immer auch die Bedingung dafür, daß dem Subjekt eine Reflexion dieses Funktionszusammenhanges überhaupt möglich, Komplexität wiederhergestellt, Verdinglichung instrumentalisierter Beziehungen aufgehoben werden kann; kurz: sie ist die notwendige Bedingung dafür, daß Erziehung als kommunikatives Handeln überhaupt möglich wird.
|A3 191|

Literaturverzeichnis

1. Systematische Empfehlungen

[047:676] Das vorliegende Buch ist keine Einführung in die Pädagogik in dem Sinne, daß es eine Übersicht über die dort diskutierten Probleme, Forschungsstrategien und Forschungsresultate gibt. Es beansprucht nur, unter einem bestimmten Gesichtspunkt, neben dem andere möglich sind, erziehungswissenschaftliche Fragestellungen aufzuwerfen, ohne die jeweils denkbaren Alternativen zu diskutieren. Dieser Einseitigkeit entspricht auch die folgende bibliographische Übersicht. Sie setzt einen bestimmten Akzent.
[047:677] Die im Text zitierte Literatur ist im alphabetischen Literaturverzeichnis aufgeführt. In dieser Übersicht sollen lediglich einige Titel im Sinne einer einführenden Empfehlung hervorgehoben und andere zusätzliche Anregungen gegeben werden.

Erstes Kapitel: Erziehung als kommunikatives Handeln

[047:678] Mir scheint der altertümliche Ratschlag immer noch gerechtfertigt, sich Zeit für eine Lektüre der pädagogischen Vorlesungen Schleiermachers zu nehmen; es genügt dazu der allgemeine Teil (notfalls auch nur die Einleitung) der Vorlesungen von 1826. Diese Beschäftigung wird indessen so recht ertragreich erst, wenn man parallel beispielsweise die
»Deutsche Ideologie«
von Marx und Engels und Siegfried Bernfelds
»Sisyphos«
liest. Das soll nicht ausschließen, sich mit einer der gegenwärtigen Einführungen in die Erziehungswissenschaft bzw. die pädagogische Forschung zu befassen. So findet sich zum Beispiel in dem Fischer-Taschenbuch
»Erziehungswissenschaft«
(3 Bände) von Klafki u. a. oder in der
»Pädagogischen Anthropologie«
Heinrich Roths nahezu alles für den Anfang Wissenswerte, was in diesem Buche nicht behandelt wurde.
[047:679] Die
»Struktur des pädagogischen Feldes«
, da es sich dabei um theoretische Paradigmen handelt, impliziert natürlich wissenschaftstheoretische Fragen. Mit Literatur dieser Art steht es in der Erziehungswissenschaft schlecht. Meine eigene Position habe ich hier auch nur andeutungsweise skizziert; das Buch Brezinkas
»Von der Pädagogik zur Erziehungswissenschaft«
entfaltet eine andere. Als Einführung in den gegenwärtigen Stand der Diskussion zu diesen Fragen scheint am besten der Aufsatz Klafkis
»Erziehungswissenschaft als kritisch-konstruktive Theorie: Hermeneutik – Empirie – Ideologiekritik«
geeignet. Hilfreich ist auch der Sammelband von Uhlich
»Theorie und Methode der Erziehungswissenschaft«
. Eine originale Kenntnis dieser Diskussion erhält man, wenn man die letzten Jahrgänge der
»Zeitschrift für Pädagogik«
, der
»Pädagogischen Rundschau«
und der
»Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik«
durchblättert. Mir selbst scheint am ergiebigsten, wenngleich – weil nicht auf pädagogische Sachverhalte bezogen – vielleicht mühseliger, die Erörterungen aus dem Bereich sozialwissenschaftlicher Theorie zu studieren, zum Beispiel: Habermas/Luhmann
»Theorie der Gesellschaft«
, Apel |A3 192|u. a.
»Hermeneutik und Ideologiekritik«
, Habermas
»Erkenntnis und Interesse«
, Cicourel
»Methode und Messung«
.
[047:680] In pädagogische Fragestellungen kann man sich nicht nur mit wissenschaftlicher Literatur einarbeiten. Gerade dem in diesem Buch vorgetragenen Ansatz würde es sehr gut entsprechen, zu studieren, wie sich Lern- und Handlungsperspektiven für das Individuum darstellen, wie sich Lebenswelten für das Bewußtsein der Subjekte strukturieren, wie Relevanzkriterien sich darstellen im Prozeß der Auseinandersetzung mit Interaktionserfahrung und sozialen Situationen. Dafür stellt die autobiographische Literatur, stellen literarisch-realistische Beschreibungen von besonderen Lebenssituationen, stellt an lernrelevanten Ereignissen orientierte erzählende Literatur ein Material zur Verfügung, in dem Probleme exponiert werden und das häufig sogar – da es sich ja um die Darstellung und Anwendung kognitiver Schemata handelt – wichtige Beiträge zur Erkenntnis liefert. Um nur einige aus der Fülle wahllos herausgegriffene Exempel zu nennen: der Brief Franz Kafkas an seinen Vater, A. Döblins
»Berlin Alexanderplatz«
, die aus dem 18. Jahrhundert stammende Autobiographie
»Anton Reiser«
von Philipp Moritz,
»Die Wörter«
von Sartre,
»Die Herren des Strandes«
von Amado,
»Die Kinder von Sanchez«
von Lewis, Salingers
»Der Fänger im Roggen«
usw. Unerläßlich erscheint mir die Lektüre Bert Brechts; der in seinem Werk enthaltene Realismus des Lernens ist einer der wichtigsten Beiträge zu einer politisch relevanten Didaktik, die der sogenannten wissenschaftlichen Literatur meines Erachtens in nichts nachsteht.

Zweites Kapitel: Erziehung als Interaktion

[047:681] Als eine im Text zwar nicht zitierte, für den Anfänger aber besonders lohnende Einführung in Grundprobleme auch einer
» pädagogischen Anthropologie«
und des Interaktionismus erscheint mir – neben der freilich etwas schwerer lesbaren Arbeit von G. H. MeadBerger/Luckmann
»Die gesellschaftliche Konstruktion der Realität«
; der Pädagoge sollte sich durch den Untertitel (Eine Theorie der Wissenssoziologie) nicht von der Lektüre abhalten lassen. Das gleiche gilt von Watzlawicks Buch
»Menschliche Kommunikation«
, dessen partielle Schwierigkeiten durch besondere Anschaulichkeit der Beispielsfülle wettgemacht werden. Über spezielle Aspekte des Interaktionsgeschehens informiert man sich am besten bei Goffman und Strauss. Wissenschaftstheoretische Fragen des Interaktionismus werden von P. Winch in
»Die Idee der Sozialwissenschaft«
diskutiert. Auf Freud, der an sich in unserem Zusammenhang hätte auftauchen können, haben wir nur indirekt und andeutungsweise Bezug genommen; indessen sollten Pädagogen doch einiges von ihm kennen.
[047:682] Als Einführung in Theorien wie in forschungsstrategische Probleme zur Sozialisation, mit der es dieses Kapitel ja zu tun hat, sind gegenwärtig am empfehlenswertesten das
»Handbook of Socialization Theory and Research«
, herausgegeben von Goslin, und der Band 7 des Handbuchs der Psychologie (
»Sozialpsychologie«
). Eine Zusammenfassung der theoretischen Probleme und zugleich eine eigene Position präsentiert Habermas in dem als Raubdruck vertriebenen Manuskript |A3 193|seiner Vorlesung
»Thesen zur Theorie der Sozialisation«
. Einen Überblick über die Sozialisationsforschung und viele ihrer Resultate gibt
»Familienerziehung, Sozialschicht und Schulerfolg«
.
[047:683] Mit den Details forschungspraktischer Konsequenzen des interaktionistischen Ansatzes wird man gut bekannt durch A. Cicourel
»The Social Organization of Juvenile Justice«
. Zugleich handelt es sich bei diesem Buch um eine Erörterung speziell der Probleme abweichenden Verhaltens, die unter gleichem Aspekt in dem Sammelband von Rubington/Weinberg
»Deviance. The Interactionist Perspective«
dokumentiert sind. In solche, unter dem Stichwort
»labeling approach«
diskutierten Fragen wird auf knappem Raum auch eingeführt durch das Heft 1, Jg. 1972 des Kriminologischen Journals, durch den im Text zitierten Aufsatz Quensels oder durch Bonstedts
»Organisierte Verfestigung abweichenden Verhaltens«
.
[047:684] Mit den konkreten Problemen des Habitus und der Lebenswelt befaßt man sich gegenwärtig noch am besten durch das Studium von Felduntersuchungen, in denen subkulturelle Phänomene bei möglichst großer Wahrung ihrer Komplexität ermittelt werden. Die kulturanthropologische Forschung (zum Beispiel M. Mead, Boas, Kluckhohn) bietet dafür viele Beispiele, wenngleich die Gesellschaften, die dort untersucht wurden, der aktuellen Probleme unserer Schichtungs- und Klassendifferenzen entbehren. Im ganzen ist auch hier die angelsächsische Literatur der deutschen weit voraus. Immer noch lesenswert scheint mir W. F. Whites
»Street Corner Society«
, besonders aber das zum ersten Kapitel zitierte Buch von Lewis
»Die Kinder von Sanchez«
, auch die im alphabetischen Verzeichnis aufgeführten Arbeiten von Jackson/Marsden und Willmott/Young. Als Einführung in den
»Habitus«
der Arbeiterfamilie eignet sich das 2. Kapitel in H. Ortmann
»Arbeiterfamilie und sozialer Aufstieg«
(dort auch weitere Literatur). Auch für dieses Problem ist die Lektüre autobiographischer Literatur nützlich; so wäre zum Beispiel der Vergleich zwischen Arbeiterbiographien und Biographien aus dem sogenannten Bildungsbürgertum (etwa Paul Löbe und Ludwig Curtius), zwischen Gymnasiastenberichten und Reports aus der Sphäre der Fürsorgeerziehung (etwa Musils
»Zögling Törleß«
und Lampels
»Revolte im Erziehungshaus«
) sicher lohnend.

Drittes Kapitel: Erziehung als Reproduktion

[047:685] Da es eine Literatur, die in die Probleme einer materialistischen Erziehungswissenschaft einführt, gegenwärtig noch nicht gibt, bleibt zunächst nichts übrig, als die Quellen selbst zu lesen; so zum Beispiel aus der Gesamtausgabe der Werke von Marx und Engels
»Die deutsche Ideologie«
; den ersten Teil bis einschließlich des Abschnitts zur Methode der politischen Ökonomie der
»Grundrisse der politischen Ökonomie«
; im
»Kapital«
den ersten Abschnitt des ersten Buches; die
»Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie«
und
»Die Lage der arbeitenden Klasse in England«
.
[047:686] Zur neueren Diskussion eines historisch-materialistischen Erkenntniskonzeptes erscheinen mir die im Text zitierten Arbeiten von Sohn-Rethel und Reichelt wichtig; ferner das erste Kapitel in Habermas |A3 194|
»Erkenntnis und Interesse«
, von Zeleny
»Die Wissenschaftslogik und
Das Kapital
«
. Als erste Beispiele für den Versuch, historisch-materialistische Methode auf pädagogische Gegenstände anzuwenden, können für die Didaktik Becker/Jungblut
»Strategien der Bildungsproduktion«
, für die Sozialpädagogik
»Gefesselte Jugend«
und für die Bildungsökonomie Altvater/Huisken (Hg.)
»Materialien zur politischen Ökonomie des Ausbildungssektors«
gelten.
[047:687] In die Fragen, die sich unter solchen Gesichtspunkten an ein interaktionistisches Konzept von Erziehungswissenschaft stellen, führen beispielsweise die Aufsätze von Giegel
»Reflexion und Emanzipation«
, Lorenzer
»Symbol, Interaktion und Praxis«
und Von der Beek/Keckeisen
»Phänomenologie sozialer Kontrolle«
ein. Parallel zu solchen Studien wird sich – so abwegig das an dieser Stelle scheinen mag – die intensive Beschäftigung mit dem Erkenntnisbegriff Piagets lohnen. Seine Epistemologie steht dem historisch-materialistischen Erkenntniskonzept näher, als manche meinen mögen. Eine gute Einführung dazu gibt H. G. Furth
»Intelligenz und Erkennen«
.

2. Alphabetisches Literaturverzeichnis

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    [047:689] Altvater E./Huisken, F. (Hg.): Materialien zur politischen Ökonomie des Ausbildungssektors, Erlangen 1970
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    [047:739] Habermas, J.: Erkenntnis und Interesse, Frankfurt 1968 a
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Register

    [047:828] Abhängigkeit 12, 14, 23, 103, 128, 183
    [047:829] Antizipation 15, 17, 18, 23, 42, 61, 65, 80, 85, 90, 99, 101, 146, 156, 167, 188
    [047:830] Arbeit 10, 19, 25, 42, 172, 173, 174, 175, 177, 178, 180, 185
    [047:831] Autonomie 19, 21, 60, 98, 100
    [047:832] Beziehung 73, 75, 84, 86, 90, 93 ff., 103, 108, 111, 123, 129, 184
    [047:833] Bildungseinrichtungen 19, 91, 95, 106, 115, 124, 125, 131, 138, 145, 148, 150, 152, 156, 157, 158, 161, 168, 172, 174
    [047:834] Bildung 60 ff., 71, 77, 78, 100, 102, 120, 144 ff., 149
    [047:835] Biographie 35, 93, 114, 136, 172
    [047:836] Chancen 30, 31, 59, 67, 68, 69, 89, 131, 135, 148, 151, 168
    [047:837] Code 111, 141, 146, 147, 148, 158
    [047:838] Curriculum 15, 46, 71, 150, 151
    [047:839] Definition 23, 24, 30, 31, 33, 66, 82, 105, 107, 109, 123, 125, 128, 129, 130, 135, 143, 146, 168
    [047:840] Delinquenz 32, 74, 90, 105, 139, 141, 144
    [047:841] Deprivation 29, 30, 36 ff., 59, 91
    [047:842] Diskurs 15, 33, 42, 53, 56, 62 ff., 80 ff., 101, 121, 137, 169
    [047:843] Emanzipation 50, 51, 67, 94, 121
    [047:844] Entwicklung 26, 78, 129, 147
    [047:845] Erwartungen (Erfahrung) 30, 48, 58, 82, 85, 88, 90, 91, 94, 101, 103, 109, 110, 127, 130, 170
    [047:846] Erziehungsfeld 12, 13, 17 ff., 41, 165, 188
    |A3 200|
    [047:847] Familie 19, 38, 47, 102, 109, 131, 174
    [047:848] Funktion (d. Erziehung, symbol. Systeme) 145, 152, 159, 169, 174, 175
    [047:849] Generation 14, 19, 102, 129
    [047:850] Gesellschaft 10, 11, 25, 26, 42, 44, 61, 80, 88, 93, 104, 114, 128, 138, 150, 164, 170, 171, 172, 174, 175, 179, 182, 187, 190
    [047:851] Herrschaft 9, 12, 19, 25, 30, 36, 53, 61 ff., 71, 72, 91, 105, 113, 118, 121, 125, 128, 129, 137, 138, 139, 140, 142, 144, 145, 150, 151, 157, 164, 168, 174, 176, 183, 188
    [047:852] Identität 84, 86, 87, 100 ff., 102, 104, 105, 107, 121, 135, 136, 139, 141, 143, 144, 145, 149, 150, 153
    [047:853] Ideologie (-kritik) 11, 42, 47, 61, 124, 144, 168, 174, 175
    [047:854] Individualität 10, 18, 19, 51, 57 ff., 59, 62, 63, 77, 79, 81, 85, 86, 88, 89, 90, 91, 97, 100, 101, 104, 114, 115, 122, 124, 127 ff., 137, 139, 140, 151, 169, 172, 173, 174, 175, 183, 185, 187, 188
    [047:855] Institution (Konvention, totale I., Institutionalisierung) 10, 11, 17, 47, 48, 55, 64, 67, 73, 74, 75, 91, 102, 109, 112, 114, 117, 120, 129, 130, 137, 140 ff., 147, 154, 161, 162, 185
    [047:856] Intention 15, 17, 21, 24, 27, 28, 63, 65, 72, 120, 121, 135
    [047:857] Interaktion 23, 31, 33, 35, 41, 63, 76, 82, 84 ff., 86, 88, 89, 90, 91, 92, 94, 95, 96, 106, 111, 120, 127, 164, 168, 169, 173, 181, 187, 188
    [047:858] Interaktionismus, symbolischer 56 ff., 90, 92, 101, 109, 111, 122, 134, 160, 167
    [047:859] Intersubjektivität 7, 11, 28, 29, 30, 31, 58, 63, 84, 111 ff., 124, 128, 134, 137, 144, 167, 188
    [047:860] Kapitalverwertungsprozeß 11, 64, 105, 174, 176
    [047:861] Klasse 10, 27, 51, 59 f., 80, 83, 114, 129, 134, 154, 173 f.
    [047:862] Kognition 38, 58, 71, 76 ff., 82, 85, 88, 100, 123, 129, 153, 160, 168, 174, 188
    [047:863] Kommunikationsgemeinschaft 35, 56, 58, 63, 68, 135, 188
    [047:864] Kompetenz 71 f., 76, 91, 100 ff., 121
    [047:865] Komplexität 28, 29, 175, 190
    [047:866] Konflikt 57, 74, 95, 123, 145
    [047:867] Konsensus 42 f., 54, 65, 82, 127, 130
    [047:868] Kultur 11, 43, 44, 61, 63, 78, 80, 106, 111, 146, 150, 155, 183
    [047:869] Legitimität 13, 14, 38, 39, 47, 48, 49, 53, 56, 58, 61, 65 ff., 80, 82, 101, 109, 175, 182, 183, 188
    [047:870] Lernen 32, 35, 39, 46, 47, 55, 69, 72, 77, 80, 100, 101, 105, 120, 128, 134, 144, 149, 158, 164, 172
    [047:871] Medien 23 f., 64, 71, 129, 173, 190
    [047:872] Metakommunikation (Metaintentionalität) 64, 82, 94, 120, 121
    [047:873] Natur 26, 42, 77, 81, 85, 104, 122, 183, 187
    [047:874] Norm (normativ) 42, 43, 45, 50, 51, 53, 55, 63, 64, 66, 70, 77, 82, 153, 173, 174, 183
    [047:875] Paradigma 7, 41, 71, 80, 84, 90, 92, 99, 101, 128, 165, 167, 173, 174, 177
    [047:876] Produktionsverhältnisse 173, 174, 175, 177, 179, 180, 184
    [047:877] Qualifikation 10, 47, 48, 53, 58, 59, 60, 62, 64, 156, 174
    [047:878] Rationalität 13, 31, 57, 61, 123, 181
    [047:879] Reflexion 55, 56, 64, 121, 167, 169, 172, 183, 190
    [047:880] Reproduktion 18, 19, 32, 48, 138, 154, 171, 174, 175, 176, 188, 190
    [047:881] Rolle 12, 30, 31, 56 ff., 60, 63, 86, 87, 90, 102, 108, 114, 137, 138, 161, 183, 184
    [047:882] Solidarität 10, 15, 100, 149
    [047:883] Sozialisation 11, 47, 48, 56 ff., 59, 90, 93 ff., 95, 100, 102, 110, 111, 128, 130, 146, 166, 167, 176
    [047:884] Spielraum 29, 31, 38, 62, 90, 100, 128, 130, 138, 164, 183
    [047:885] Spontaneität 19, 30, 114, 121, 130, 136
    [047:886] Sprache 61 ff., 69, 71, 81 ff., 102 ff., 126 ff., 150 ff., 173 f., 183, 188, 190
    [047:887] Sprechakt (Sprechsituation) 65, 108, 109, 116, 117
    [047:888] Stigma (Stigmatisierung) 141, 143, 147, 150, 153, 155
    [047:889] Struktur 17 f., 25, 77, 88, 90, 97, 100, 106, 113, 121 f., 129, 144
    [047:890] Subjekt (-ivität) 8, 59, 65, 84, 88, 101, 128, 183
    [047:891] Subkultur 39, 96, 105, 114, 144, 148, 154
    [047:892] Taktik, interpersonelle 102, 125, 129, 130, 139, 141, 143, 160
    [047:893] Tauschprinzip (-abstraktion) 42, 75, 179, 180, 186, 187, 188
    [047:894] Tradition 19, 35, 43, 44, 149, 182
    [047:895] transzendental (-hermeneutisch) 18, 19, 42, 169, 170, 182
    [047:896] Verdinglichung (Entfremdung) 17, 59, 75, 97, 104, 115, 121, 128, 153, 190
    [047:897] Vernunft 18, 19, 94
    [047:898] Ware 180, 184, 185, 186, 187, 190
    [047:899] Wahrnehmung 33, 58, 99, 122, 136, 153, 162
    [047:900] Ziele (der Erziehung, Lernziele) 10, 17, 21, 24, 39, 42 ff., 46, 48 ff., 55, 56, 58, 64 f., 73, 80, 120 f., 134 f., 147, 150, 156, 158, 188
    [047:901] Zuschreibung 138, 139, 149, 150, 153, 155, 168, 169, 174