Die Ursprünge der Sozialpädagogik in der industriellen Gesellschaft [Textfassung A]
Hier ist das Cover der ersten Auflage der Ursprünge der Sozialpädagogik von 1959 zu sehen.
|A 7|

Einleitung: Der Begriff
Sozialpädagogik

1. Die Problematik einer Definition

[005:30] Im Zusammenhang mit den sozialen Umbildungsprozessen seit dem 19. Jahrhundert, mit einer ausdrücklichen Einbeziehung gesellschaftlicher Ziele in der Erziehungsaufgabe und deren Demokratisierung im Sinne einer Erziehung zu bewußter Teilhabe und Verantwortung an dem politisch-gesellschaftlichen Geschehen tauchte in der pädagogischen Diskussion ein neuer Begriff auf1
|A 133|1Der Begriff taucht zum erstenmal bei A. Diesterweg, Wegweiser zur Bildung für deutsche Lehrer, vierte Auflage, Essen 1850, auf. Unter der Überschrift
Schriften über Social-Pädagogik
gibt Diesterweg eine bibliographische Auswahl, in der 5. Aufl. 1873 erweitert, aus pädagogischen Veröffentlichungen, die sich mit der sozialen Frage und den mit ihr entstandenen Erziehungsaufgaben auseinandersetzen (Seite 153 ff.). Vergl. zur weiteren Verwendung des Begriffes: R. Seidel, Sozialpäd. Steiflichter, Hamburg 1887; R. Hochegger, Über Individual- und Sozialpäd., Gotha 1891. Die Verbreitung und Diskussion des Begriffs aber setze erst mit den systematischen Veröffentlichungen Natorps ein: P. Natorp, Religion innerhalb der Grenzen der Humanität, Tübingen 1894; ders., Sozialpädagogik, Stuttgart 1899.
, mit dem eine solche Problematik in das pädagogische Bewußtsein gehoben und das in dieser Bewußtmachung hervortretende pädagogische Anliegen begründet und durchgesetzt werden sollte: der Begriff
Sozialpädagogik
. Es stellte sich jedoch bald heraus, daß von einer Einhelligkeit in der Bestimmung dessen, was unter
Sozialpädagogik
zu verstehen sei, nicht die Rede sein konnte, obwohl doch Motiv und Absicht bei der Verwendung des Begriffes überall gleich zu sein schienen, man also nicht in der Definition, sondern allenfalls in der detaillierteren Aufgaben- und Wegbestimmung voneinander abzuweichen brauchte.
[005:31] Indessen waren solche Divergenzen doch schon im Ansatz garnicht zu umgehen. Der Begriff, als geschichtliche Antwort auf eine bestimmte gesellschaftliche und pädagogische Situation und zugleich als Schlüsselwort zur Bewältigung dieser geschichtlichen Gegenwart barg von vornherein eine Vielzahl unterschiedlicher Intentionen, wie sie sich eben aus der Interpretation eigener Gegenwart ergeben mußten. Das in solchem Begriff zusammengefaßte und pädagogisch zum Ausdruck kommende sozialethische Anliegen konnte nur in formalem Sinne ein und dasselbe sein. Unter dem Anspruch, eine systematische pädagogische Kategorie zu sein, wurde die tatsächlich sehr unterschiedliche Interpretation der
sozialpädagogischen
Aufgabe verdeckt, die dann aber in der Anwendung des Begriffes und seiner Diskussion voll zum Vorschein kam. Übereinstimmungen in der Definition wollen daher wenig besagen. In einer Begriffsanalyse müssen wir infolgedessen auf die hinter solchen Definitionen verborgenen Theorien zurückgreifen.
[005:32] Seit dem ersten Weltkrieg allerdings zeichnete sich eine zunehmende Einhelligkeit in der Verwendung des Begriffes ab. In unreflektierter Übereinstimmung sprach man von
sozial-pädagogischen Aufgaben
,
sozialpädagogischen Einrichtungen
,
sozialpädagogischen Berufen
,
sozialpädagogischer Ausbildung
, oder von
Sozialpädagogen
schlechthin. Die
sozialpäd|A 8|agogische Aufgabe
als eine allgemeine, für alle Erziehungsbereiche geltende pädagogische Gegenwartsaufgabe, spezialisierte und konkretisierte sich in dieser Zeit in den Bereichen der Jugendfürsorge, Jugendpflege und Erwachsenenbildung. Diese Übereinstimmung beruhte auf dem Selbstverständnis einer Generation, die – aus pädagogischer und sozialer Verantwortung in der sozialen Arbeit tätig – diese soziale Praxis als eine
sozialpädagogische Aufgabe
verstand2
2Vergl. G. Herrmann, Die sozialpädagogische Bewegung der zwanziger Jahre, Weinheim 1956.
. Bis heute ist diese Situation im wesentlichen die gleiche geblieben3
|A 133|3Von einer jüngsten Verdrängung pädagogischer Aspekte in der sozialen Arbeit zugunsten soziologischer Gesichtspunkte und psychologischer Verfahrensweisen soll an dieser Stelle noch nicht gehandelt werden. Das Problem kommt im Schlußteil dieser Arbeit zur Darstellung. Als Symptom für den hier angesprochenen Vorgang vergl. H. Lattke, Soziale Arbeit und Erziehung, Freiburg 1955.
.
[005:33] Es würde also – ohne weitere begriffliche Erörterungen – hinreichen, das dort vorausgesetzte Verständnis zum begrifflichen Ansatz dieser Arbeit zu machen. Wir würden uns damit zugleich einem in der Praxis geläufigen Sprachgebrauch anschließen.
[005:34] Ein Blick in die Literatur des letzten Jahrzehnts belehrt uns aber, daß die begriffliche Übereinstimmung offenbar nur eine scheinbare und zudem lediglich im vorwissenschaftlichen Sprachgebrauch der Praxis anzutreffen ist.
[005:35] Bei einer Durchsicht der einschlägigen Lexika und Literatur stellt sich heraus, daß der Begriff in vier verschiedenen Fassungen auftritt, die sich nicht nur in unerheblichen Nuancen, sondern durch einschneidende Unterschiede voneinander abheben:
[005:36] 1. Sozialpädagogik als Terminus zur Charakterisierung und Abgrenzung eines bestimmten pädagogischen Aufgaben- und Arbeitsbereichs, meist mit der speziellen Zielsetzung einer sozialen Eingliederung oder Wiedereingliederung normaler oder abartiger Jugendlicher außerhalb von Elternhaus und Schule4
|A 133|4Vergl.
W. Hehlmann, Wörterbuch der Pädagogik, 4. Auflage Stuttgart 1953, S. 399
: Sozialpädagogik sei die
Lehre von der Erziehung durch die Gesellschaft und ihre Organe (außerhalb von Familie und Schule) ... Heute besteht die Tendenz, die gesamte Sozialarbeit in die Sozialpädagogik einzubeziehen, da auch die Hilfe in sozialen Notständen zunehmend als eine im Grunde pädagogische Aufgabe erkannt wird
.
Vergl. auch Fachwörterverzeichnis für Jugendwohlfahrtspflege und Jugendrecht, Teil I, S. 84
: Heute werde
mit Sozialpädagogik meist der Bereich der Überlegungen, Maßnahmen und Methoden der Erziehung von Jugend mit Schwierigkeiten der sozialen Anpassung, also vor allem der verwahrlosten oder doch gefährdeten Jugend bezeichnet
. Vergl. dazu ferner die gegenwärtige Literatur zur Wohlfahrtspflege, Jugendfürsorge, Jugendpflege, zur sozialen Arbeit wie zur sozialen bzw. sozialpädagogischen Ausbildung.
.
[005:37] 2. Sozialpädagogik als Erziehung durch die Formen des sozialen Lebens. Der Ansatzpunkt einer solchen Begriffsbestimmung ist
der Mensch als Glied von Gemeinschaft und Gesellschaft
5
|A 133|5H. Scherpner, Das Gemeinsame in der Arbeit der sozialpädagogischen Berufe, in Unsere Jugend II, 4, 1951, S. 121.
, der unter der beständigen Einwirkung sozialer Institutionen steht. Den Einfluß solcher Institutionen oder Error: java:org.exist.xquery.XPathException . exerr:ERROR XPTY0004: The actual cardinality for parameter 1 does not match the cardinality declared in the function's signature: kmg-util:quote-marks($rend as xs:string, $filename as xs:string, $mode as xs:string) item()*. Expected cardinality: exactly one, got 0. [at line 1044, column 47, source: /db/apps/sade/modules/kmg/transform.xqm] In function: kmg-util:quote-marks(xs:string, xs:string, xs:string) [1044:25:/db/apps/sade/modules/kmg/kmg-util.xqm] transformKMG:make-quote(node(), xs:string, item()*, xs:string, xs:string*) [733:17:/db/apps/sade/modules/kmg/transform.xqm] local:main(node(), xs:string, xs:string, xs:string, xs:string*) [76:21:/db/apps/sade/modules/kmg/transform.xqm]. XPTY0004: The actual cardinality for parameter 1 does not match the cardinality declared in the function's signature: kmg-util:quote-marks($rend as xs:string, $filename as xs:string, $mode as xs:string) item()*. Expected cardinality: exactly one, got 0.
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zu kontrollieren, bzw. sie so zu organisieren, daß ihre Wirkungen dem Erziehungsgeschäft nicht hinderlich sind, sondern dieses gerade unterstützen, ist Aufgabe der Sozialpädagogik als Error: java:org.exist.xquery.XPathException . exerr:ERROR XPTY0004: The actual cardinality for parameter 1 does not match the cardinality declared in the function's signature: kmg-util:quote-marks($rend as xs:string, $filename as xs:string, $mode as xs:string) item()*. Expected cardinality: exactly one, got 0. [at line 1044, column 47, source: /db/apps/sade/modules/kmg/transform.xqm] In function: kmg-util:quote-marks(xs:string, xs:string, xs:string) [1044:25:/db/apps/sade/modules/kmg/kmg-util.xqm] transformKMG:make-quote(node(), xs:string, item()*, xs:string, xs:string*) [733:17:/db/apps/sade/modules/kmg/transform.xqm] local:main(node(), xs:string, xs:string, xs:string, xs:string*) [76:21:/db/apps/sade/modules/kmg/transform.xqm]. XPTY0004: The actual cardinality for parameter 1 does not match the cardinality declared in the function's signature: kmg-util:quote-marks($rend as xs:string, $filename as xs:string, $mode as xs:string) item()*. Expected cardinality: exactly one, got 0.
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6ø
. Sämtliche Lebensbedingungen werden in den Erziehungsplan mit einbezogen;
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7
Lexikon der Pädagogik in drei Bänden, Bern 1951, S. 670
. Vergl. auch
H. Proesler, Hauptprobleme der Sozialgeschichte, Erlangen 1951, S. 61
: Die Aufgabe der Sozialpädagogik sei:
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.
.
3.
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8
Lexikon der Pädagogik, In vier Bänden, Freiburg 1955, S. 373
; analog zur Religions- oder Kunstpädagogik, sei die Sozialpädagogik eine
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;
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(ebd.)
. Der Begriff umfaßt hier alle Aufgaben einer Sozial- oder Gemeinschaftserziehung, alle pädagogischen Maßnahmen, die es ausdrücklich auf die Bildung eines sozial-verantwortlichen Handelns abgesehen haben, soweit sie als Maßnahmen der Gesellschaft, Unterricht und Familie ergänzend, notwendig geworden sind
9
Vergl. auch J. Harder, Sozialpädagogik, in Evang. Soziallexikon, Stuttgart 1954
: Sozialpädagogik sei die
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. Konkret aber bedeutet das für Harder staatsbürgerliche Erziehung:
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.
.
4. Schließlich findet der Terminus auch Verwendung, um ein sozialethisches Anliegen zu bezeichnen, nicht als immanente Aufgabe jeder vollständigen Erziehung, sondern als die Aufgabe der Pädagogik schlechthin in der Gegenwart. Ein allgemeines Erziehungsziel findet hier in spezieller pädagogischer Terminologie seinen Niederschlag. Die Ausweitung des Begriffes wird denn auch bisweilen ausdrücklich zugegeben
10Vergl. O. Kroh, Revision der Erziehung, S. 176.
. Sozialpädagogik wird damit
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11ebenda
; sie will
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12
Lexikon der Pädagogik, Bern 1951, S. 670
. Sehr deutlichen Ausdruck fand diese Fassung des Begriffs neuerdings bei
Fr. Trost, Erziehung im Wandel, S. 127
: Die
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.
.
Diese Unterschiede
13Das ø Dilemma wird sehr anschaulich an der Arbeit von F. Kehrer, Sozialpädagogik seit 1900. Nach ihren Ursprüngen dargestellt, Diss. Tübingen 1955. Kehrer bringt die unterschiedlichsten Theorien von Verfassern wie Natorp, Rein, Lietz, Oestreich, Kerschensteiner, Nohl, Tews, Litt zur Darstellung, um schließlich eine Synthese Error: java:org.exist.xquery.XPathException . exerr:ERROR XPTY0004: The actual cardinality for parameter 1 does not match the cardinality declared in the function's signature: kmg-util:quote-marks($rend as xs:string, $filename as xs:string, $mode as xs:string) item()*. Expected cardinality: exactly one, got 0. [at line 1044, column 47, source: /db/apps/sade/modules/kmg/transform.xqm] In function: kmg-util:quote-marks(xs:string, xs:string, xs:string) [1044:25:/db/apps/sade/modules/kmg/kmg-util.xqm] transformKMG:make-quote(node(), xs:string, item()*, xs:string, xs:string*) [733:17:/db/apps/sade/modules/kmg/transform.xqm] local:main(node(), xs:string, xs:string, xs:string, xs:string*) [76:21:/db/apps/sade/modules/kmg/transform.xqm]. XPTY0004: The actual cardinality for parameter 1 does not match the cardinality declared in the function's signature: kmg-util:quote-marks($rend as xs:string, $filename as xs:string, $mode as xs:string) item()*. Expected cardinality: exactly one, got 0.
Offending node: TEI/text[2]/body/div[1]/div[1]/p[11]/note/q
in Litts dialektischer Deutung des Erziehungsvorganges zu behaupten. Mit dem Ergebnis, Erziehung sei
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Offending node: TEI/text[2]/body/div[1]/div[1]/p[11]/note/cit/quote
(Seite 163)
, endigt die Untersuchung in dem unausgesprochenen Eingeständnis, daß hier nicht das Problem der Sozialpädagogik, sondern das Verhältnis einer Reihe von Erziehungstheorien seit 1900 zum Problem der Gemeinschaft dargestellt wurde.
gehen auf die theoretischen Auseinandersetzungen seit dem Beginn unseres ø zurück, für deren verschiedene Positionen – eingespannt zwischen einem je besonderen Bildungsideal und der konkreten Erziehungsaufgabe – der Begriff ein Ausdruck der spezifischen pädagogischen Intention war. Angesichts solcher Sachverhalte ist die Naivität einer unkritischen Entscheidung für die eine oder andere Fassung des Begriffes kaum am Platze. Wir müssen daher – vor einer eigenen Definition oder unreflektierten Voraussetzung eines bestimmten Verständnisses von Sozialpädagogik – das Bedeutungsfeld des Begriffes klären, um so, im Rückgang auf das Selbstverständnis der je besonderen theoretischen Konzeptionen, eine systematisch gesicherte Ausgangsposition zu gewinnen.

2.Das Error: java:org.exist.xquery.XPathException . exerr:ERROR XPTY0004: The actual cardinality for parameter 1 does not match the cardinality declared in the function's signature: kmg-util:quote-marks($rend as xs:string, $filename as xs:string, $mode as xs:string) item()*. Expected cardinality: exactly one, got 0. [at line 1044, column 47, source: /db/apps/sade/modules/kmg/transform.xqm] In function: kmg-util:quote-marks(xs:string, xs:string, xs:string) [1044:25:/db/apps/sade/modules/kmg/kmg-util.xqm] transformKMG:make-quote(node(), xs:string, item()*, xs:string, xs:string*) [733:17:/db/apps/sade/modules/kmg/transform.xqm] local:main(node(), xs:string, xs:string, xs:string, xs:string*) [76:21:/db/apps/sade/modules/kmg/transform.xqm]. XPTY0004: The actual cardinality for parameter 1 does not match the cardinality declared in the function's signature: kmg-util:quote-marks($rend as xs:string, $filename as xs:string, $mode as xs:string) item()*. Expected cardinality: exactly one, got 0.
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[005:41] Es ist versucht worden, in dieser Vielfalt nicht sich zu entscheiden für die eine oder andere sozialpädagogische Theorie, sondern auf ein allen gemeinsames Anliegen zurückzugehen, den gemeinsamen Nenner der verschiedenen Begriffsfassungen herauszuarbeiten, um so eine für alle Interpretationen akzeptable Theorie der Sozialpädagogik entwickeln zu können14
14So vor allem von A. Fischer, M. Gritschneider, M. Bamberger, C. Mennicke, F. Kehrer.
. Die einzelnen
sozialpädagogischen Strömungen
wurden als Auffächerung eines
sozialpädagogischen Grundproblems
verstanden, das aber doch, als Voraussetzung der Herausarbeitung eines solchen Ver-Verständnisses, erst bestimmt werden mußte. Statt nun durch eine Analyse des Selbstverständnisses der je sich als
Sozialpädagogik
ausgebenden Theorien beispielsweise auf einen allen gemeinsamen geschichtlichen Grund zu rekurrieren, fixierte man entweder – unausgesprochen durch die Auswahl der behandelten Autoren – von vornherein ein bestimmtes Problem als
das sozialpädagogische Problem
15
|A 134|15 Gritschneider, Der Begriff der Sozialpädagogik ... Diss. München 1920 ; C, Mennicke, Das sozialpädagogische Problem ... Kairos 1926.
, suchte eine allgemeingültige Bestimmung durch formal-psychologische Begründungen, wodurch |A 10|der geschichtliche Charakter dieser Erscheinung vollends aus dem Blickfeld rückte16
|A 134|16A. Fischer, Das Verhältnis der Jugend zu den sozialen Bewegungen und der Begriff der Sozialpädagogik (1924), in Leben und Werk, Bd. III/IV, S. 167 – 262.
– oder man begnügte sich schließlich mit einem Vergleich der verschiedenen in dem Begriff enthaltenen Theorien und gewann damit nichts als die sehr allgemeine und inhaltsleere Fassung einer sozialen pädagogischen Gegenwartsaufgabe17
17F. Kehrer, Sozialpädagogik seit 1900. Nach ihren Ursprüngen dargestellt, Diss. Tübingen 1955.
.
[005:42] So war es nicht einmal der wissenschaftlichen Analyse, die sich ausdrücklich der Untersuchung des Begriffes widmete, möglich, eine zugleich einheitliche und dem Selbstverständnis der einzelnen Theorien angemessene Auffassung zu entwickeln. Weder konnte das
sozialpädagogische Problem
, das die gesellschaftliche Situation aufgab, in einem für alle befriedigenden Sinne beschrieben, noch das Problem einer Sozialpädagogik als systematischer Begriff im erziehungswissenschaftlichen Zusammenhang eindeutig bestimmt werden. Mit der Feststellung, daß Sozialpädagogik
alle diejenigen Lehren (umfaßt), welche die Erziehung des Einzelnen zur Gesellschaft, die Mitwirkung der Verbände am Erziehungsgeschäft und die Umformung der Verbände selber unmittelbar und durch die Folgen der Erziehung zum Ziel haben, so wie jene, welche die Gesellschaft als Mittel der Erziehung betrachten oder endlich die, welche das Soziale in der Erziehung erkenntnismäßig nachweisen
18
|A 135|18 Gritschneider, a. a. O., S. 134.
, ist daher ebenso wenig gewonnen, wie mit der Fundierung aller sozialpädagogischen Theorien in einem bestimmten erzieherischen Grundakt, der
zwar auf den einzelnen bezogen, aber auf die Zone in ihm gerichtet (ist), die als Substanz eines möglichen oder wirklichen Gemeinschaftslebens in Betracht kommt, nicht auf den individualen, sondern auf den sozialen Kern
19
|A 135|19A. Fischer, a. a. O., S. 214.
. Auch das Ergebnis der jüngsten Untersuchung zu diesem Thema, die Sozialpädagogik sehe
den Menschen in der Vielfältigkeit seiner gemeinschaftlichen Beziehungen. Nicht für eine bestimmte Gemeinschaft wollen wir ihn erziehen, sondern gemeinschaftsfähig wollen wir ihn machen
20
|A 135|20F. Kehrer, a. a. O., S. 167.
, bedeutet demgegenüber kaum einen Fortschritt.
[005:43] Die Unzulänglichkeit solcher Bestimmungen beruht auf dem voreiligen Versuch, den Begriff Sozialpädagogik als allgemeingültige Kategorie in die pädagogische Systematik einzuordnen, um ihm so wissenschaftliche Dignität zu verleihen. Der Allgemeingültigkeits-Anspruch der primären21
21Darunter verstehen wir hier und im Folgenden diejenigen Bestimmungen des Begriffes, deren theoretische Durchleuchtung und Klärung sich die gerade angeführten sekundären Theorien zur Aufgabe machten.
sozial-pädagogischen Theorien wurde verwechselt mit deren faktischemø polemischem und mithin geschichtlich bedingtem Charakter. Andererseits mußte das Suchen nach einem allgemeingültigen Kern solcher Theorien deren Eigenart verfehlen. Schließlich aber blieben die Ergebnisse auch deshalb unzureichend, weil schon in der Interpretation der sich selbst als sozialpädagogisch verstehenden Theorien oder Praktiken ein Vorverständnis dessen vorausgesetzt |A 11|wurde, was doch erst der Ertrag einer solchen Untersuchung sein konnte.
[005:44] Auf diese Weise also war kein Boden zu gewinnen. Sowohl die Frage, welche Gestalt das sozialpädagogische Problem der modernen Gesellschaft habe, wie auch die nach der Möglichkeit, den Begriff als Terminus in die erziehungswissenschaftliche Fachsprache einzuführen, bleibt noch zu beantworten. Wir versuchen daher einen anderen Ansatz.

3. Die typischen Fassungen des Begriffes
Sozialpädagogik

[005:45] Da es sich auch bei den primären Bestimmungen des Begriffes dem Anspruch nach um erziehungswissenschaftliche Aussagen handeln soll, haben wir das Recht, zunächst auf dieser Ebene zu fragen und zu analysieren. Die Schwierigkeit, die es von vornherein zu beachten gilt, besteht allerdings darin, daß in der vorliegenden Literatur mit dem Begriff nicht nur systematische Kategorien genannt oder Probleme beschrieben werden, sondern zugleich ein geschichtliches Anliegen akzentuiert wird: die ausdrückliche Berücksichtigung der sozialen Phänomene in der Erziehung. Die Gültigkeit kann diesem Anliegen nicht abgesprochen werden; andererseits aber ist der konkrete Sinn, der ihm durch die je besondere inhaltliche Erfüllung innewohnt, zu untersuchen; schließlich sind die Aufgaben, die unter solchen Voraussetzungen als sozialpädagogische bezeichnet werden, in ihrer Beziehung auf das zugrundegelegte Problem, bzw. auf die aus ihnen erst entwickelte Deutung einer allgemeinen pädagogischen Gegenwartsaufgabe darzustellen.
[005:46] Wir können auf diese Weise drei verschiedene Gruppen sozialpädagogischer Aussagen unterscheiden, in denen dem Begriff Sozialpädagogik je ein spezifischer Bedeutungsgehalt zugesprochen wird22
22Die im ersten Abschnitt genannte zweite und dritte Gruppe werden hier zusammengefaßt, da es sich in beiden Fällen um denselben Aussagetyp handelt.
:
[005:47] 1. Sozialpädagogik als erziehungswissenschaftliche Kategorie zur Bezeichnung eines formalen Problems jeder Erziehung: Die Berücksichtigung und ausdrückliche Einbeziehung des sozialen Phänomens in Ziel und Prozeß der Erziehung; 2. Sozialpädagogik als eine inhaltlich bestimmte Gegenwartsaufgabe in einem umfassenden Sinn, als besondere Gestalt der Erziehung in unserer Zeit, als Bildungsideal; 3. Sozialpädagogik als der Inbegriff durch bestimmte Verhältnisse der gegenwärtigen Gesellschaft notwendig gewordener Aufgabenbereiche.

a) Sozialpädagogik als formaler Begriff

[005:48] Die Vieldeutigkeit und Unbestimmtheit in der Anwendung des Begriffes wird bei näherer Betrachtung offensichtlich. Fast jede |A 12|nur mögliche pädagogische Beziehung, die zwischen dem Einzelnen und einer überindividuellen Gemeinschaft auftreten kann, wurde als
sozialpädagogisch
bezeichnet. So wurde denn auch eine vorläufige Begriffsbestimmung in der Formel zusammengefaßt:
Erziehung für und zur Gesellschaft, durch die Gesellschaft und in ihr, Erziehung ... der Gesellschaft selbst
23
|A 135|23A. Fischer, a. a. O., S. 209.
und schließlich eine Erziehung, in der
das Subjekt der Erziehung sozial gesehen wird, d. h. die Gesellschaft als der Erzieher erscheint
24
|A 135|24a. a. O., S. 210.
. Die letzte Möglichkeit ist besonders von der Schule C. J. Klumkers im Anschluß an die Erziehungstheorie E. Kriecks aufgegriffen worden25
|A 135|25
Vergl. C. J. Klumker, Diskussionsbeitrag in Die Stellung der Wohlfahrtspflege zur Wirtschaft, zum Staat und zum Menschen, Karlsruhe 1931, S. 101
: Der Begriff der Sozialpädagogik sei
am klarsten von Ernst Krieck erfaßt
.
.
Die stärksten entscheidenden Einwirkungen auf den Nachwuchs gehen ohne Absicht der Erziehung von den gesellschaftlichen Gebilden und Gruppen aus
26
|A 135|26ebenda
. Für ein institutionelles Denken, wie es dem Fürsorgetheoretiker naheliegt, ist ein solcher Ansatz bezeichnend, sind doch diejenigen Umstände, die eine Fürsorgebedürftigkeit hervorrufen und zusätzliche Erziehungshilfen erforderlich machen, vorwiegend institutionelle Umweltmängel. Das Interesse der Sozialpädagogen habe sich daher vornehmlich jenen gesellschaftlichen Gebilden zwischen Familie und Staat zuzuwenden,
in denen ... sich das Wesentliche der Erziehung
vollziehe27
|A 135|27
ebd.
; vergl. auch
a. a. O., S. 102:
Diese gesellschaftlichen Erziehungseinrichtungen, dies stärkste Gebiet der Erziehung zu erforschen, ist Sache der Sozialpädagogik
.
Vergl. ferner ders., Familienfürsorge und Kinderfürsorge, in Zentralblatt für Jugendrecht und Jugendwohlf., XIX/11, 1928, S. 285 ff., hier S. 287
:
Die Fülle der Erziehungseinflüsse, die von all den Gebilden zwischen Familie und Gesellschaft ausgehen, kann ebensowenig überschätzt werden, wie ihre Stärke. Ihr Wert liegt eben darin, daß sie ein eigenes Leben führen und daneben, meist unabsichtlich und unbewußt, Erziehungswirkungen ausüben. Wo sie fehlen, müssen gesellschaftliche Zweckgebilde eingreifen, die allein der Erziehungsaufgabe ihr Bestehen verdanken
. So leitet sich bei Klumker die Bestimmung der Fürsorgearbeit als Sozialpädagogik von einer funktionalen Erziehungstheorie ab.
. In diesem Sinne sei
der Mensch als Glied von Gemeinschaft und Gesellschaft
Gegenstand der Sozialpädagogik28
28
Scherpner, Das Gemeinsame in der Arbeit ... in Unsere Jugend, II, 4, 1950, S. 121
.
, vornehmlich aber die
Erziehungseinwirkungen der gesellschaftlichen Gebilde
29
|A 135|29
a. a. O., S. 123
. Die Konsequenz für die sozialpädagogische Ausbildung lautet entsprechend ebd. Im Rahmen einer Ausbildung von Anstaltserziehern müsse
die Gesellschaftslehre in der Form der Sozialpädagogik i. e. S. erscheinen, d. h. als die Lehre von den Erziehungseinwirkungen der gesellschaftlichen Gebilde
. Das aber bedeutet, daß es sich nicht mehr um Erziehungs- sondern um Gesellschaftslehre handelt. Vergl. ähnlich auch
G. Bäumer, Der Anteil der Wissenschaft an der sozialen Berufsbildung, in Internat. Konferenz f. Wohlfahrtspflege und Sozialpolitik, Paris 1928, S. 5
:
Zu den Wissenschaften, die es mit der Erfassung des Menschen und seiner Umwelt zu tun haben (Soziologie, Psychologie), gesellen sich die Wissenschaften von der sozialpädagogischen Wirkung auf den Menschen
. Vergl. ferner das Lexikon der Pädagogik, Bern 1951, in dem S. 670 Campanella, Morus, Rousseau (im Contract social) als Sozialpädagogen bezeichnet werden.
.
[005:49] Diese von der Soziologie her bestimmte Auffassung von Sozialpädagogik wird ergänzt gleichsam durch die Gegenposition: Erziehung des Einzelnen zur Gemeinschaftsfähigkeit. Sie erscheint in den Wendungen:
Bildung des sozialen Gehaltes im einzelnen
30
|A 135|30Fischer, a. a. O., S. 214.
, einer
bestimmten Gestalt der Gemeinschaft und eines dementsprechenden Verhaltens ihrer Glieder
31
|A 135|31Lexikon der Päd., Bern 1951, S. 669.
; die sozialpädagogische Aufgabe bestehe in der
Formung einer solchen ... an Vergeistigung reicheren gemeinschaftsbildenden Kraft
32
|A 135|32
M. Baum, in Die Stellung der Wohlfahrtspflege ... S. 97
; vergl. ferner
S. 98
: Diese
Idee der sozialpädagogischen Arbeit
müsse in die Entwicklung der Wohlfahrtspflege eingebaut werden.
, dadurch erst sei eine
sozialpädagogische Vertiefung
der Wohlfahrtspflege möglich33
|A 135||A 136|33
G. Bäumer, a. a. O., S. 78
. Wir haben hier nur die bisher nicht behandelten
Sozialpädagogen
herangezogen; die gleichlautenden Theorien anderer sind bereits in den zitierten Untersuchungen von Gritschneider und Kehrer dargestellt worden.
.
[005:50] Indessen wird zugegeben, daß damit nichts grundsätzlich Neues gesagt ist.
Der einheitliche Sinn der Bestimmung des Menschen läßt individuale und soziale Bildungsaufgabe als nur zwei Seiten einer immer gleichen, an einem unwandelbaren Bildungsziel orientierten Bildungsaufgabe erscheinen
34
|A 136|34L. H. Ad. Geck, Die sozialpäd. Aufgabe der Gegenwart, in Pädagogisches Zentralblatt, X, 1930, S. 77.
. Dennoch hält man an dem Begriff fest:
Die immer gleiche Aufgabe des Sozialpädagogen ist ... 1. in der menschlichen Gesellschaft zu bilden ... 2. zur menschlichen Gesellschaft zu bilden
35
|A 136|35
a. a. O., S. 79
. Vergl. auch
S. 82
:
Die sozialpädagogische Aufgabe der Gegenwart besteht darin, die gegebenen und noch weiter erforderlichen Bildungswege so zu gestalten, daß durch soziale Erkenntnis im weitesten Sinne ... die Fähigkeit und der Wille geschaffen wird, der menschlichen Gesellschaft gliedhaft zu dienen
; Voraussetzung einer solchen Sozialpädagogik sei die Aufhellung der zwischenmenschlichen Beziehungen durch eine pädagogische Soziologie und pädagogische Sozialpsychologie,
mit deren Hilfe die Sozialpädagogik neu aufzubauen ist
(a. a. O., S. 83)
.
. Das hier angesprochene Problem ist so allgemein, daß es für alle Bereiche der Erziehung seine Gültigkeit behält. Seine Benennung als sozialpädagogisches Problem bedeutet eine Abstraktion, mit deren |A 13|Hilfe ein in aller Erziehung enthaltenes Moment besonders akzentuiert und theoretisch hervorgehoben werden soll36
|A 136|36Daß damit das hier gemeinte Problem von Individuum und Gemeinschaft gerade verfälscht wird, vergl. Abschnitt 5 der Einleitung. Zu dieser Fassung des Begriffs vergl. auch – im Hinblick auf die Einführung des sozialpädagogischen Gesichtspunkts in die Fürsorgearbeit –
E. Wex, Vom Wesen der sozialen Fürsorge, Berlin 1929, S. 36:
Auch zur Sozialpädagogik ergeben sich (von der Fürsorge her, d. Verf.) enge Verbindungslinien, ganz besonders auf dem Gebiet der Jugendfürsorge, die erst daraus ihren eigentlichen Sinn und ihre Würde empfängt
;
S. 41
: Es komme an auf den
sozialpädagogischen Ernst, der in jedem Augenblick sich der Tragweite fürsorgerischer Eingriffe bewußt ist
, insofern diese nämlich die Gemeinschaftsbindungen des Einzelnen betreffen. Im Anschluß an A. Fischer vergl. auch
I. Ottenheimer, Sozialpädagogik im Strafvollzug, S. 5
: Sozialpädagogik sei
ein Prozeß, der in einer bestimmten Sphäre der Persönlichkeit angreift, die sozialen Antriebe des Rechtsbrechers kraft seines eigenen Willens entwickelt und fördert und eine an den objektiven Forderungen der Gemeinschaft orientierte Grundhaltung schafft
.
.
[005:51] Spezifischer schon ist eine Fassung des Begriffes, die damit – in der Kritik an der gegenwärtigen Gesellschaft – die Notwendigkeit hervorheben will, neue Formen des Gemeinschaftslebens zu schaffen. Eine entsprechende Theorie ist besonders bei C. Mennicke zu finden. Sozialpädagogik bedeutet somit soziale Gesinnungsbildung gegen die
destruktiven Tendenzen der gesellschaftlichen Lebensformen
37
|A 136|37C. Mennicke, Das sozialpädagogische Problem in der gegenwärtigen Gesellschaft, in Kairos-Jahrbuch, 1926, S. 333.
, die nur dadurch überwunden werden können,
daß wirklich wieder gemeinsame Verantwortung erfahren wird
38
|A 136|38
a. a. O., S. 335
. Die pädagogische Diskussion beweise,
daß die Gesellschaft mit dem sozialpädagogischen Problem unausgesetzt ringt
(ders., Jugendbewegung und öff. Wohlfahrtspflege, in Päd. Zentralblatt, IV/10, 1924, S. 393)
.
Nur in der willentlichen Einigung mit dem besonderen Schicksal seiner gesellschaftlichen Gruppe, oder, was dasselbs ist, nur in der Teilnahme an der besonderen Verantwortung bzw. der besonderen gesellschaftlichen Gestaltungsaufgabe seiner Gruppe kann der heutige Mensch ein Verhältnis zum Ganzen der Gesellschaft gewinnen
(ders., Das päd. Problem im Zusammenhang mit der Kulturkrise der Gegenwart, 1931, S. 13)
. Auch für Nattermann, Ad. Kolping als Sozialpädagoge, besteht die sozialpädagogische Aufgabe in einer Erneuerung des Volkes (S. 118).
. Ohne aber ein inhaltlich fest umrissenes Ziel angeben zu können, besteht die Aufgabe der Sozialpädagogik in der
pädagogischen Besinnung
, sie muß den
sozialpädagogischen Willen
39
|A 136|39C. Mennicke, Die persönlichen Voraussetzungen ... in Deutsche Zeitschr. für Wohlfahrtpfl., 1925, S. 51.
,
das sozialpädagogische Gewissen wecken
40
|A 136|40a. a. O., S. 52.
. In einer Theorie der Sozialpädagogik aber
muß es sich darum handeln, die Elemente in den Bedingungen eines sozialpädagogisch förderlichen Zusammenlebens bzw. einer pädagogisch förderlichen gegenseitigen Einwirkung der Menschen herauszustellen
41
|A 136|41ebenda
.

b) Sozialpädagogik als inhaltlich bestimmtes Bildungsideal

[005:52] Die Skizzierung der Auffassung Mennickes hat uns in die Nähe einer Theorie der Sozialpädagogik gebracht, die nicht nur ein formales Problem jeder Erziehung zum Gegenstand hat, sondern – ausgesprochen oder unausgesprochen – bestimmte soziale Inhalte als pädagogische Gegenwartsaufgabe, mithin ein
sozialpädagogisches Bildungsideal
vertritt, wie es sich formal in der Forderung einer
Neugestaltung des Volkslebens
42
42Ders., Jugendbew. und öff. Wohlfpfl., in Päd. Zentralblatt, IV, 10, 1924, S. 394.
bei Mennicke schon ankündigt. Es entstand aus sozialkritischer Haltung,
aus dem Nachdenken über die Krankheitserscheinungen des Volkskörpers
43
43M. Offenberg, Wohlfahrtsschule und dt. Volkstum, in Richtlinien für d. Lehrpläne der Wohlfahrtsschulen, 1930, S. 90
und der Polemik gegen die Erziehung, die die soziale Erneuerung des Gesellschafts- und Volksganzen nicht ausdrücklich in die pädagogischen Zielbestimmungen mit einschloß44
44Daher gehe es in der sozialpädagogischen Ausbildung darum,
die eigentümlichen Nöte und Schwierigkeiten unseres gesellschaftlichen Lebens in ihrem vollen Gewicht empfinden zu lassen
(C. Mennicke, Das Seminar für Jugendwohlfahrt ..., in Zentralblatt für Jr. und Jw., 1924, S. 87.)
. Damit wurde Sozialpädagogik nahezu identisch mit dem – wie auch immer weltanschaulich begründeten – Begriff der Erziehung zu einer neuen
Volksordnung
45
|A 137|45Storck in einem
Diskussionsbeitrag in: Die Stellung der Wohlfahrtspflege ..., S. 105
, behauptet,
daß in dem Sammelbegriff der sozialpädagogischen Aufgaben zwei Aufgabengruppen zusammengefaßt sind, die volkspädagogische und staatspädagogische Arbeit
; es müßten
Familienordnung und Volksordnung mit neuer Sinngebung und neuem Geist erfüllt werden
. Vergl. ferner M. Offenberg, a. a. O.:
Es kann den Wohlfahrtsschulen mit dem deutschen Volkstum nur bitterer Ernst sein
(S. 90)
.
Der Glaube an die wachstumsfähige Urkraft unseres Volkes muß als Norm gelten, auf die alle Erziehungsarbeit abgestimmt ist
(S. 91)
.
Eine wirkliche Erziehung zur sozialen Arbeit ist nicht möglich ohne jene letzte Gläubigkeit an das Volk und ohne die klare Kenntnis der Ausdrucksweise gesunden Volkstums
(S. 91)
.
Aus solchem Wissen ginge, wenn es mit den objektiven Erkenntnissen der (Sozial-)Wissenschaft vereinigt würde, eine neue, durchgeistigte Form der Volksschau hervor
(S. 94)
. Vergl. auch
G. Bäumer, Diskussionsbeitrag in: Die Stellung der Wohlfahrtspflege ..., S. 89
:
Zielpunkt
der Sozialpädagogik sei:
Dieses Kind ist Organ und Glied der Volksgemeinschaft
; ferner a. a. O.; Es sei die eigentlich sozialpädagogische Aufgabe der Jugendwohlfahrtspflege,
daß sie ... durch sich und in sich Vorbild und Zelle volksgemeinschaftlicher Arbeit darstellt
(S.89)
.
Die höchst komplizierte Aufgabe des Jugendamtes besteht darin, daß in vorbildlicher Weise an einer Stelle, an der sie vor allem bewahrt werden muß, die bei uns scheinbar so schwach gewordene zusammenführende Kraft sich durchsetzt und belebt, ohne die Volk und Volksgemeinschaft überhaupt nicht aufgebaut werden können
(S. 90)
. Darin bestehe auch die
Gemeinsamkeit der sozialpädagogischen Grundhaltung beider Einrichtungen
, nämlich Schule und Jugendamt
(A. Mosolf, Schule und Jugendamt, in Päd. Zentr. Bl. XI, 1931, S. 7)
.
. Aber auch dort, wo inhaltliche Festlegungen dieser Art vermieden und allgemeine Formeln gesucht wurden, blieb Sozialpädagogik der Inbegriff pädagogischer Maßnahmen, die der
Einführung der Idee in die Wirklichkeit des Menschendaseins
46
|A 137|46
P. Natorp, Religion innerhalb der Grenzen der Humanität, 2. Aufl. 1908, S. 62
. Wir zitieren diese Stelle hier, weil die systematischen Ausführungen Natorps von seinen Zeitgenossen zum großen Teil inhaltlich umgedeutet wurden, obwohl die Ausführungen selbst eine konkrete Inhaltlichkeit in dem hier behandelten Sinne nicht einschließen.
dienen. Gerade durch die polemische Absicht, mit der der Begriff Sozialpädagogik verwendet wird, stellt er sich hier als konkrete, geschichtlich bedingte Erziehungsabsicht heraus, trotz der systematischen Begründung mit Allgemeingültigkeitsanspruch47
|A 137|47Vergl. dazu Natorps Sozialkritik, das in seinen konkreten Erziehungsvorschlägen enthaltene sozialethische, auf die Gestaltung der Gegenwart gerichtete Anliegen, seine Stellung zur sozialen Frage.
Sozialpädagogik
erscheint dann nur als die pädagogisch-systematische Gestalt einer im Übrigen sehr bestimmten und konkreten Intention. Vergl. ferner F. Trost, Erziehung im Wandel, der in dem Begriff der
Lebenseinigung
(S. 127)
eine allgemeingültige Begründung versucht. Ferner auch A. Salomon, Die deutsche Volksgemeinschaft, die sich ausdrücklich der Theorie Natorps anschließt:
Der Mensch wird zum |A 138|Menschen allein durch die menschliche Gemeinschaft ... Der Einzelne ist nicht losgelöst von sozialen Bindungen zu denken
(S. 1)
; entscheidend sei
die innere Haltung des einzelnen zur Gemeinschaft
, und die nähere Bestimmung:
Keine Ordnung wird sicher begründet, wenn sie nicht von der Gesittung des Volkes getragen wird
; schließlich: es gehe um den
neuen deutschen Volksstaat
, jeder solle zu
verantwortlicher Teilnahme an der Gestaltung des Volksschicksals
herangezogen werden
(S. III)
.
. Es handelt sich bei dieser Gruppe sozialpädagogischer Begriffsfassungen mithin um eine Antwort auf eine gesellschaftliche Situation, welche als Kulturverfall, als Volks|A 14|zerstörung, als soziale Auflösung interpretiert wird und der man mit einem neuen Typus pädagogischer Grundhaltung zu begegnen vorgab. Der
Geist sozialpädagogischer Verantwortung
48
|A 138|48C. Mennicke, Das Seminar f. Jugendwohlfahrt ..., in Zentralblatt f. Jr. und Jw., 1924, S. 87.
, war der Audsruck für den sozialethischen Willen, die kritisch gedeutete Gegenwart zu überwinden49
|A 138|49In dieser Hinsicht besteht besonders die immer wiederholte Berufung solcher Theoretiker auf Fichte zurecht.
.

4. Die
sozialpädagogischen Aufgaben

[005:53] Neben dem formalen und dem inhaltlichen, als Bildungsideal gemeinten Begriff von Sozialpädagogik nannten wir einen dritten Typus: den Inbegriff bestimmten Gegenwartsproblemen gegenüber notwendig gewordener spezieller pädagogischer Aufgabenbereiche und Institutionen. Sozialpädagogik in dieser Hinsicht bedeutet durchaus verschiedene und mitunter kaum einander berührende Maßnahmen wie Arbeiterbildung, Erwachsenenbildung, Berufserziehung, Einheitsschule, Erziehungsfürsorge, Jugendwohlfahrt, Jugendpflege oder staatsbürgerliche Erziehung.50
50Vergl. dazu die erwähnten Arbeiten von Fischer, Gritschneider und Kehrer. Ferner: E. Weniger, Sozialpädagogik, in Enzyklopädisches Handbuch des Kinder Schutzes und der Jugendfürsorge. Auf eine eingehendere Darstellung und Nachweisung können wir an dieser Stelle verzichten, da das von den genannten Untersuchungen bereits geleistet worden ist.
[005:54] Die Vieldeutigkeit des Begriffes weitet sich damit offenbar ins Uferlose aus. Jede Gruppe beanspruchte ihn für sich; er selbst scheint eo ipso zu inhaltsleerer Bedeutungslosigkeit herabgesunken, seine Wissenschaftliche Brauchbarkeit und selbst seine Anwendbarkeit zur Bezeichnung eines pädagogisch-praktischen Vorhabens korrumpiert zu sein.
[005:55] Indessen dürfen wir doch vor aussetzen, daß die Wahl des Begriffes in einer bestimmten geschichtlichen Situation nicht zufällig ist. In jedem Falle drückt sich in ihm ein pädagogisches Anliegen aus, dergestalt, daß gerade mit Hilfe dieses Begriffes deutlich gemacht werden soll, es handele sich bei der in einem einzelnen Fall als sozialpädagogisch bezeichneten Aufgabe um eine und zwar je besondere praktische Antwort auf ein im Übrigen allgemeines Problem. Die einzelne sozialpädagogische Aufgabe oder Maßnahme gilt so als die Spezifizierung der sozialpädagogischen Aufgabe, die allgemein durch die geschichtliche Situation gestellt war.
[005:56] Nach dem Selbstverständnis der jeweiligen
sozialpädagogischen Theorien
bedeutet der Begriff überdies ein Transzendieren des eigenen begrenzten Arbeitsfeldes. Die praktisch-pädagogische Teilaufgabe, die es in den verschiedenen, als
sozialpädagogische
bezeichneten Institutionen jeweils zu lösen gilt, wird so in eine umgreifende Problematik und Aufgabe integriert, die als spezifisch nicht für diesen begrenzten Bereich, sondern als spezifisch für die Situation der modernen Gesellschaft gehalten wird.
[005:57] Der wesentliche Unterschied zu derjenigen Position, die durch den Begriff
Sozialpädagogik
ein bestimmtes Bildungsideal zur Dignität eines wissenschaftlichen Terminus erheben will, besteht |A 15|darin, daß sich in solcher Auffassung zwar bisweilen auch ein soziales Ideal mit dem Begriff verbindet, daß dieser im Übrigen aber eine Gruppe von pädagogischen Institutionen und Maßnahmen umschließt, die sich in der gesellschaftlichen Situation als notwendig erwiesen und die darin ihre gemeinsame Verantwortung erfahren. Der Begriff bezeichnet ein neues pädagogisches Phänomen, das sich im Wechsel von praktisch-pädagogischer Erfahrung und Selbstinterpretation zunehmend aufhellte. Er hob damit den Sinn eines neuen Arbeitsbereiches ins pädagogische Bewußtsein51
|A 138|51Dieser Vorgang wird vor allem an den sozialpädagogischen Aufsätzen Nohls, Wenigers und Mennickes deutlich.
.
[005:58] In diesem Sinne konnte auch das
sozialpädagogische Problem
präzisiert werden, von dem her sich die Einheit und Eigenständigkeit
sozialpädagogischer
Aufgaben und Einrichtungen dem Selbstverständnis erschließt. Man erkannte nämlich, daß mit der Auflösung der sozialen Formen und Zuordnungen der alten Gesellschaft, der zuverlässigen traditionellen Erziehungsgemeinschaften, daß mit diesen
veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen auch das sozialpädagogische Problem in ein ganz anderes Stadium getreten
war52
|A 138|52
C. Mennicke, Das sozialpädagogische Problem, ... S. 321
.
, genauer: sich überhaupt erst ergab. Die Gesellschaft befindet sich somit in einer
sozialpädagogischen Verlegenheit
53
|A 138|53a. a. O., S. 331.
, insofern sie nämlich nicht imstande ist, die durch die sozialen Veränderungen, den Vorgang der
Volkszerstörung
54
|A 138|54E. Weniger, Jugendpflege und Jugendfürsorge als sozialpäd. Aufgaben, in Erziehung, III, 1928, S. 146.
, hervorgerufenen Lücken mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln zu schließen. So entstanden, vereinzelt und allmählich sich zu einem gemeinsamen Verständnis zusammenschließend, die verschiedensten pädagogischen Maßnahmen als notwendige Kompensation einer strukturellen und für sie charakteristischen Eigentümlichkeit der modernen Gesellschaft. Erich Weniger hat diesen Vorgang an Hand der Jugendpflegeentwicklung exemplarisch verdeutlicht.
Die deutsche Jugendpflegebewegung ist hervorgerufen durch die Tatsache der Volkszerstörung, die nach ihrer geistig-kulturellen wie nach ihrer sozial-wirtschaftlich-politischen Seite erfahren wird, also durch Kulturkrisis, soziale Frage und dann auch die staatlichen Umwälzungen
55
|A 138|55ebenda
. Aus der Vielfalt zunächst noch zerstreuter Gegenwirkungen sei allmählich
ein einheitliches System
entstanden56
|A 138|56
ebenda
. Da aber alle
sozialpädagogischen
Einrichtungen sich in ähnlicher Situation befanden57
57
Diese Entwicklung teilt die Jugendpflegebewegung mit allen sozialpädagogischen Arbeitsgebieten, die in gleicher Weise... zu den eigentlichen Ursachen vorgedrungen sind und allmählich wirksame Gegenmittel herausgebildet haben
(a. a. O., S. 147)
.
, haben sie so ihre
wechselseitige Verbundenheit
58
|A 138|58a. a. O., S. 146.
in Verursachung, Zielsetzung, Verantwortung und Haltung erfahren können59
59Vergl. E. Weniger, Sozialpädagogik, in Enzyklopädisches Handbuch des Kinderschutzes und der Jugendfürs.
.
[005:59] Es ergab sich für diesen Bereich sozialer Gegenwirkungen die Aufgabe, die Herman Nohl, diese Entwicklung in Kritik und Deutung begleitend60
60Vergl. H. Nohl, Jugendwohlfahrt, Sozialpädagogische Vorträge, Leipzig, 1927; ders. , Die pädagogische Bewegung in Deutschland ... Frankfurt a/M. 1949, 3. Aufl.; ders., Pädagogik aus dreißig Jahren, Frankfurt a/M. 1949.
, immer wieder herausgestellt hatte: diesen Bereich einer neu entstandenen und sich entwickelnden sozialen Arbeit, insbesondere aber
die öffentliche Jugendhilfe und weiter doch auch die gesamte Wohlfahrtspflege ... zu pädagogisieren, |A 16|d. h. also auf die Weckung der Kräfte und des Willens zur Selbsthilfe beim einzelnen wie bei der Familie und bei der Gemeinde einzustellen
61
|A 138|61H. Nohl, Päd. aus dreißig Jahren, S. 184.
, denn sie stehe
unter der einen autonomen sozialpädagogischen Idee, deren inhaltlicher Kern ... Erziehung zur Kraft und Mut zur Selbsthilfe in der Gemeinschaft ist
62
|A 138|62a. a. O., S. 188.
.

5. Kritik der dargestellten Begriffsfassungen und begrifflicher Ansatz der folgenden historischen Untersuchung

[005:60] Wir konnten drei typische Fassungen des Begriffs unterscheiden: Sozialpädagogik als Begriff für den formalen Sachverhalt einer Erziehung zur oder durch die Gemeinschaft; Sozialpädagogik als Terminus für ein inhaltlich bestimmtes Bildungsideal; Sozialpädagogik als Inbegriff einer Gruppe von neuen pädagogischen Maßnahmen und Einrichtungen als Antwort auf typische Probleme der modernen Gesellschaft. Diese drei Begriffe gilt es auf ihre Verwendbarkeit als erziehungswissenschaftliche Termini zu prüfen. Das Selbstverständnis der einzelnen Theorien müssen wir dabei überschreiten. Die Kriterien für die begriffliche Entscheidung ergeben sich aus der Erziehungswissenschaft.
[005:61] 1. Die erste Fassung des Begriffes – Erziehung im Wechselverhältnis zu den sozialen Gebilden, vorbewußte Erziehung durch sie und bewußte Erziehung zu ihnen – bezeichnet, wie wir sahen, einen pädagogischen Sachverhalt, der seit je in aller Erziehung eine zentrale Rolle spielt. Die erziehungswissenschaftliche Theorie kann ihn der Sache nach in keinem Falle außer acht lassen63
63In der Erziehungstheorie Schleiermachers ist das prägnant herausgestellt:
Die Erziehung ... soll den Menschen abliefern als ihr Werk an das Gesamtleben im Staat, in der Kirche, im allgemeinen freien geselligen Verkehr und im Erkennen und Wissen
(Fr. Schleiermacher, Pädagogische Schriften, Bd. I, S. 28)
. Ihn – der darin die Aufgabe der Erziehung schlechthin sieht – als Sozialpädagogen zu bezeichnen, ist eine tautologische Behauptung.
. So verständlich daher das Bedürfnis ist, mit Hilfe des Terminus
Sozialpädagogik
den Erziehungsvorgang nach einer Seite hin zu akzentuieren, trägt dessen Einführung in den wissenschaftlichen Sprachgebrauch in diesem Sinne höchstens zur Verunklärung der pädagogischen Sachverhalte bei. Überdies wird mit dem Begriff – in dieser Weise verwendet – der dialektische Charakter jeder Erziehung verdeckt, gleichgültig, ob nun der gesamte Erziehungsvorgang so bezeichnet oder eine abstrahierende Entgegensetzung von
Sozial-
und
Individualpädagogik
vorgenommen wird. Der Begriff wäre demnach entweder eine Tautologie oder eine Entstellung.
[005:62] 2. Sozialpädagogik als begrifflicher Ausdruck eines inhaltlichen Bildungsideals würde bedeuten, daß mit ihr ein historischer Bildungs- und Erziehungstypus bezeichnet wird, vergleichbar den geschichtlich bedingten Typen einer Nationalerziehung, philantropischen Erziehung, Aufklärungspädagogik etc. Der Begriff würde demnach in einer Geschichte der Pädagogik seinen legitimen Ort haben. Er weist – im Unterschied zum erstgenannten – |A 17|zwar auf eine neue geschichtlich entstandene pädagogische Haltung hin, gehört in dieser seiner Eigenschaft aber gerade nicht in die Reihe der Termini einer erziehungswissenschaftlichen Systematik, da mit ihm keine gültigen, sondern nur sehr begrenzte, geschichtlich bedingte Sachverhalte beschrieben werden können. Der Versuch, in ihm ein geschichtliches Anliegen zur Allgemeingültigkeit eines wissenschaftlichen Begriffes zu erheben, muß daher von der Erziehungswissenschaft zurückgewiesen werden.
[005:63] 3. Es bleibt uns die Theorie des dritten Typus. Mit seiner Verwendung als Bezeichnung einer neuen Gruppe von pädagogischen Einrichtungen, die in bestimmten gesellschaftlichen Konstellationen notwendig werden, unterscheidet er sich von dem ersten dadurch, daß mit ihm tatsächlich ein neuer pädagogischer Sachverhalt genannt ist, der erst in einem bestimmten geschichtlichen Zeitpunkt in der Erziehungswirklichkeit aufgetaucht war64
64Insofern müssen wir auch die Inanspruchnahme des Begriffs für schul-reformerische Bestrebungen ablehnen.
. Von dem zweiten Begriff unterscheidet er sich durch den Verzicht auf die Einbeziehung eines geschichtlich bedingten weltanschaulichen Anliegens. Mit ihm ist ein konkreter Sachverhalt der Erziehungswirklichkeit genannt, begründet und gedeutet. Er zeichnet sich durch eine dreifache geschichtliche Abhängigkeit aus: durch die Deutung der jüngeren Sozialgeschichte als eines Vorganges der
Volkszerstörung
, die Übernahme pädagogischer Theorien zur sozialen Erneuerung und durch den Hintergrund einer pädagogischen Praxis als neu entwickelter Erziehungshilfen, die sich so um theoretische Fixierung ihrer Situation und ein angemessenes Selbstverständnis bemüht65
|A 138||A 139|65Insofern ist auch die Fassung des Begriffes im Handbuch der Pädagogik, hersg. von H. Nohl und Ludwig Pallat, Bd. 5, unzureichend; das Selbstverständnis der
sozialpädagogischen Bewegung
drückt sich in dieser Formel nicht aus. Vergl.
a. a. O., S. 3
: Der Begriff Sozialpädagogik
bezeichnet nicht ein Prinzip... sondern einen Ausschnitt: alles was Erziehung, aber nicht Schule und nicht Familie ist.
. Dieser Begriff bildet den Ausgangspunkt der folgenden Untersuchung66
|A 139|66Anmerkung zur folgenden historischen Darstellung Was in der Arbeit bisweilen nacheinander dargestellt werden mußte, ist in Wahrheit ein Neben- und Ineinander. Die komplexen sozialpädagogischen Aussagen mußten oft – durch ihre Vielschichtigkeit bedingt – jeweils unter anderem Aspekt in neuen Zusammenhängen vorgetragen werden. Daher war nicht immer eine scharfe Trennung der Bereiche und Probleme möglich. Pestalozzi und Wichern wurden nicht behandelt, da der vorhandenen Sekundär-Literatur über unser Problem nichts Wesentliches hinzugefügt werden konnte. Dessen unbeschadet stellen sie die bedeutendsten sozialpädagogischen Erscheinungen dar, in denen die hier behandelten Vorgänge und Probleme beispielhaft hervortreten. Sie markieren indessen den Ausgangs- und Endpunkt der von uns dargestellten Epoche. Eine Reihe der zu Wort kommenden Autoren fühlte sich als Pestalozzi-Schüler oder doch in dessen Nachfolge. Die sozialpädagogischen Gedanken Pestalozzis aber sind derart innig mit all seinem Nachdenken über Erziehung verwoben und eher in allen Teilen allgemein-pädagogische Aussagen, daß ihre gesonderte Darstellung in Gefahr wäre, ihre Eigentümlichkeit zu verfehlen. Wichern gab – nach Ende des ersten experimentellen Stadiums – eine erste zusammenfassende Deutung sozialpädagogischer Praxis. Er schloß damit aber nur an das an, was in den ersten 4 – 5 Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts in Ansätzen schon überall entwickelt worden war. Schließlich lag es nicht in der Absicht dieser Arbeit, pädagogische Einzelleistungen zu Wort kommen zu lassen, sondern die sozialpädagogischen Anfänge in ihrer Breitenwirkung deutlich zu machen. Auf beständige Hinweise auf das Werk Pestalozzis und Wicherns, was an nahezu jeder Stelle dieser Arbeit möglich wäre, wurde verzichtet.
. Die Aufgabe einer sozialpädagogischen Theorie aber bestünde u.a. darin, die in diesem Begriff noch enthaltenen sozial-weltanschaulichen Leitideen herauszusondern und ihn so allein in seinem sachlichen Gehalt zu bestimmen.
[005:64] Die im letzten Begriff angesprochene sozialpädagogische Aufgabe und das ihr zugrunde liegende sozialpädagogische Problem nun sind älter als ihre Formulierungen, älter als der Begriff
Sozialpädagogik
. Der Rückgriff auf die Geschichte – und das wird im Folgenden zu erweisen sein – zeigt, daß die pädagogisch gedeutete Beziehung von Mensch und Gesellschaft und die daraus resultierenden spezifischen Maßnahmen, wie sie uns in der sozialpädagogischen Literatur entgegentreten, ihren Ursprung in der sozial- und geistesgeschichtlichen Situation des beginnenden 19. Jahrhundert haben. Er zeigt ferner, wie hier eine bestimmte Form der pädagogischen Verantwortung aufging, die seitdem nicht mehr verstummt ist und deren Verständnis sowohl für Geschichte |A 18|und Theorie, wie auch für die konkreten Gegenwartsaufgaben einer Sozialpädagogik und sozialen Arbeit unerläßlich ist.
[005:65] So wird auf diesem Wege einerseits die Einheit aller sozialen Arbeit nachzuweisen sein, andererseits aber die Möglichkeit gewonnen werden, den spezifisch erzieherischen Ansatz des sozialpädagogischen Handelns von den benachbarten Maßnahmen der Fürsorge, der Sozialpolitik, der psychologischen Erziehungshilfe zu unterscheiden. Die Rechtfertigung einer Arbeit wie der vorliegenden ergibt sich u. a. auch aus der Tatsache, daß zwar sozialgeschichtliche Bedingungen der Sozialpädagogik und deren aktuelle Bedeutung erkannt worden sind, daß uns die vorhandene Literatur aber lediglich Hinweise und sehr allgemeine Aussagen, nicht aber wissenschaftliche Darstellungen zu diesem strukturellen Zusammenhang bietet. Sie ist ferner auch damit gegeben, daß, – den gegenwärtigen Anforderungen an alle soziale Hilfeleistung entsprechend – psychologische und soziologische Intentionen einen immer größeren Raum beanspruchen und legitimerweise auch beanspruchen müssen, daß demgegenüber aber der ursprünglich und eigentümlich pädagogische Kern des als Sozialpädagogik zu bezeichnenden Arbeitsfeldes dem Blick zu entschwinden droht.
|A 19|

I. Teil: Die Bedingungen der Sozialpädagogik67
|A 140|67Die pädagogischen Quellen, auf die sich die ganze folgende Untersuchung stützt, sind bisher noch nicht Gegenstand wissenschaftlicher Darstellungen geworden. Es handelt sich überdies um eine Literatur, die sich weder ihrer Qualität noch ihrem Anspruch nach auf der Ebene wissenschaftlicher Aussagen bewegt, sondern im wesentlichen vorwissenschaftlicher Art ist, in unmittelbarer Auseinandersetzungen mit den Problemen der Praxis entstanden, von dieser berichtend und für diese nach neuen Formen, nach neuer Formulierung der Aufgaben suchend. Ihr aktueller Charakter brachte es mit sich, daß in ihr pädagogische, religiöse, soziale, politische Probleme ineinander übergehen; der Gedankengang bewegt sich häufig und scheinbar zwingend von einer Frage zur anderen, um das
sozialpädagogische
Problem der gesellschaftlichen Situation in seinen verschiedenen Aspekten in den Blick zu bekommen. Die pädagogischen Schriften enthalten so immer auch Sozialkritik, die kriminalpädagogische Literatur wesentliche Aussagen zum Problem der Verwahrlosung, der Volkserziehung, der vorbeugenden Jugendhilfe usw.. Nach Ansatz und Absicht aber lassen sich indessen bestimmte Literatur-Gruppen unterscheiden: 1. Ansatz bei der
sozialen Frage
: Die Veröffentlichungen der Deutschen Vierteljahrsschrift, Riehl, Thiersch, Frantz, L. v. Stein; 2. Berichte über die pädagogisch-institutionelle Situation: Jahrbücher des Preußischen Volksschulwesens, Jahrbücher der Straf- und Besserungsanstalten, Fliegende Blätter des Rauhen Hauses, Hitzigs Annalen der Strafrechtspflege, die Veröffentlichungen von Julius, Dobschall, Wirth, die Jahresberichte von Erziehungsanstalten; 3. Darstellungen der Praxis in den speziellen Bereichen der Gefängniserziehung: die Schriften von Arnim, Bergsträßer, Lotz, Moll, Riecke, Spangenberg, Wagnitz – oder der Verwahrlostenerziehung: Kapff, Ristelhueber, Schlipff, Schmidtlin, Völter, Wirth; 4. Literatur mit der Intention einer pädagogisch-kritischen Deutung und pädagogischen Theoriebildung: Falk, Hagen, Hirscher, Mittermaier, Moll, Ristelhueber, Wessenberg, Weiß, Völter; 5. allgemeine pädagogische Literatur, in der sich die Erkenntnis des sozialpädagogischen Aufgabenbereiches ankündigt, vorbereitet, oder in der sich erste praktische Anfänge spiegeln: Diesterweg, Fröbel, Schleiermacher, Wessenberg. Schließlich findet auch die Tatsache, daß die geannten Autoren in einer Periode geistes-geschichtlicher Übergänge wirkten, einen auffallend symptomatischen Niederschlag. Terminologie und intendierte Theorie sind oft nicht zur Deckung gebracht worden; Ideen der Aufklärung, der Romantik, des Pietismus, der Historischen Schule, der nationalen Bewegung sind in den genannten Schriften auf Schritt und Tritt oft nebeneinander nachweisbar.

I. Der gesellschaftliche Strukturwandel und das soziale Bewußtsein

[005:66] 1860 erschien in der Deutschen Vierteljahrsschrift ein Aufsatz mit dem Titel
Drei Generationen
68
|A 140|68W. Kiesselbach, Drei Generationen, in Deutsche Vierteljahrsschrift 23. Jg. 1860, Heft 3, S. 1 ff.
. In ihm wird eine Analyse der gesellschaftlichen Veränderungen versucht, die sich in dem Zeitraum von 1770 bis 1860 vollzogen haben, wobei sich als entscheidendes Ergebnis herausstellte, daß das politisch-gesellschaftliche Bewußtsein, soweit es außerhalb ökonomischer Verhältnisse in die Gesellschaft planend und lenkend eingriff, weitgehend hinter der Entwicklung der Realverhältnisse zurück geblieben war. Namentlich an der
zweiten Generation
– die erste wird nur zum Vergleich herangezogen – trat dieses Phänomen nach Ansicht des Verfassers hervor.
Weil in Deutschland Wirtschaftspolitik und Staatspolitik völlig voneinander getrennt blieben, und die Gliederung der Gesellschaft gar nicht beachtet ward, deswegen schweiften alle staatlichen Zukunftspläne im Blauen umher, und die Reaktion, die Partei der Interessen aus der alten Zeit, hatte den Vorkämpfern der Reorganisation Deutschlands gegenüber ein verhältnismäßig leichtes Spiel
69
|A 140|69a. a. O., S. 40.
. Was hier von der Politik gesagt wird, das wird an anderer Stelle70
|A 140|70a. a. O., S. 25 f.
auch der Pädagogik vorgeworfen.
[005:67] Eine solche Stellungnahme ist dadurch charakterisiert, daß sie schon einer weiteren Entwicklungsstufe angehört als die, die zu beschreiben sie unternimmt. Die erste, noch darzustellende Reaktion auf den gesellschaftlichen Strukturwandel war einer analytischen Betrachtungshaltung gewichen. Die sozialen Veränderungen hatten sich als irreversibel erwiesen und ließen für die weitere Gestaltung des sozialen Lebens eine wissenschaftliche Erforschung unumgänglich erscheinen.
[005:68] Das gesellschaftlich unrealistische Verhalten, das der Verfasser des genannten Aufsatzes konstatiert und kritisiert, war in der Tat ein wesentliches Kennzeichen dieser ersten Periode der industriellen Entwicklung. Im Suchen nach einer möglichen, und zwar humanen Lösung der durch die neue Situation gestellten sozialen und sittlichen Probleme lag das Eigentümliche der Anfänge sozialpädagogischen Handelns und Denkens, gleichgültig, ob es sich dabei um die liberale Gewerbepädagogik oder um pietistische Erziehungsprinzipien handelte.71
|A 140|71Mit Pietismus bezeichnen wir im Folgenden ausschließlich den württembergischen und badischen Neu-Pietismus der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts.
Um aber das so entstehende soziale Bewußtsein als Reaktion auf die gesellschaft|A 20|liche Umstrukturierung zu verstehen, ist es erforderlich, zunächst die wesentlichen Veränderungen darzustellen, die sich im gesellschaftlichen Raum vollzogen hatten.

1. Die Veränderungen in der sozialen Wirklichkeit72
|A 140|72Diesem Kapitel liegen die sozialgeschichtlichen Veröffentlichungen folgender Autoren zugrunde (soweit im Text nicht zitiert): Ad. L. Geck, H. Herkner, Fr. A. Lange, E. Michel, G. Schmoller, W. Sombart, F. Tönnies (Vergl. Literaturverzeichnis).

[005:69] Aufs Ganze gesehen, war in der gesellschaftlichen Gliederung Deutschlands vor den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts, vor Ausbreitung des Maschinenwesens und der Entwicklung der Metallindustrie, wenig von bemerkenswerten und schon manifest gewordenen Veränderungen zu verspüren. Wo solche in den Formen wirtschaftlicher Neuerungen auftauchten, wurden sie im wesentlichen von einem problemlosen Fortschritts-Optimismus getragen. Das Problem aber kündigte sich an in Erscheinungen am Rande der Gesellschaft und in bestimmten Schwierigkeiten, die in den kleineren sozialen Gruppen auf tauchten oder mit der zunehmenden Verarmung der unteren Volksschichten im Zusammenhang standen. Solche Tatbestände erwiesen sich daher zunächst auch nur als Mangelerscheinungen, denen gegenüber man die berechtigte Hoffnung hegen konnte, sie würden eines Tages wieder behoben sein. Um als erste Anzeichen einer gesellschaftlichen Umbildung gewertet zu werden, fehlte ihnen noch die reale Überzeugungsgewalt. Aber schon in die sen Anfängen sind zwei typische Reaktionsweisen im pädagogischen Bereich deutlich zu unterscheiden: die realistische Aufnahme neuer Tendenzen in ein entsprechendes pädagogisches Programm und die Bekämpfung von Erziehungsnotständen aus dem Geiste eines konservativen Sozialethos.
a) Das Handwerk
[005:70] Sehr früh schon tauchten im Handwerkerstande zur Zeit der Einführung der Gewerbefreiheit die ersten sozialen Schwierigkeiten von grundsätzlicher gesellschaftlicher Bedeutung auf, durch deren Auswirkung auf die Sozialformen dieses Standes bis dahin selbstverständlich gewesene Funktionen in Frage gestellt wurden. Um 1800 war das Lehrlingswesen – wie sich in den zeitgenössischen Statistiken feststellen läßt – noch kein Problem im eigentlichen Sinne73
|A 140|73Karl Abraham, Der Strukturwandel im Handwerk, S. 8.
. Aber schon im zweiten, besonders aber im dritten Jahrzehnt gab es zum erstenmal eine ausgesprochene Lehrlings- und Berufsproblematik. Die überlieferten sozialen Ordnungsgefüge gerieten im handwerklich-häuslichen Bereich ins Wanken.
Dieser wahrhaft revolutionäre Prozeß hat eine Erschütterung aller früheren gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen bewirkt und einen großen Teil von ihnen beseitigt
74
|A 140|74a. a. O., S. 9.
. Die Veränderung ging so schnell vor sich, daß noch vor der Jahrhun|A 21|dertmitte
Inhalt und Form seiner (des Handwerks) damaligen Ordnung dem Gesamtstil jener Epoche nicht mehr gemäß waren
75
|A 140|75a. a. O., S. 42.
. Das bedeutet aber, daß der grundsätzliche Charakter jener partiellen Veränderungen vom Handwerk nicht erkannt war, daß man hingegen – auf Grund eines konservativen Selbstverständnisses – die alten Ordnungen aufrecht zu erhalten bestrebt war und sich
auf die Mächte der Beharrung
stützte76
|A 140|76
Stadelmann-Fischer, Die Bildungswelt des dt. Handwerkers, S. 234
.
.
[005:71] Neue, im traditionellen Sinne handwerksfremde Kräfte, die nicht imstande waren, die standesethische Tradition fortzusetzen oder gar an die nachfolgende Generation weiterzureichen, strömten in diesen Stand ein77
|A 140|77
Abraham, a. a. O., S. 51
.
. Die Zahl der in einem Betriebe beschäftigten unselbständigen Gesellen und Lehrlinge stieg. Nach 1830 erreichte dieser Anstieg
einen solchen Intensitätsgrad, daß durch ihn eine tiefgreifende Veränderung des Sozialgefüges des Handwerks verursacht wurde
78
|A 140|78
Abraham, S. 53
. Da die Zahl der Meister parallel zur Gesamtbevölkerung anstieg, ist das relative Anwachsen der Handwerksbevölkerung allein auf die Zunahme an Unselbständigen zurückzuführen.
.
[005:72] Diese Vergrößerung des handwerklichen Hauswesens zusammen mit der Wohnraumnot hatte eine Familienentfremdung der Lehrlinge und Gesellen zur Folge. Die sozialen Rangunterschiede zwischen der Meisterfamilie und den angestellten Arbeitskräften nahmen zu. Während das Zivilisationsniveau der selbständigen Gewerbetreibenden stieg, sank der soziale Status der Unselbständigen79
79a. a. O., S. 66 f.; vergl. auch Kiesselbach S. 31, S. 40.
. So waren zunächst die Gesellen die eigentlichen Leidtragenden80
80Rudolf Stadelmann, Soziale und politische Geschichte der Revolution von 1848, S. 13.
. Die sozialen Ordnungen lockerten sich und ließen nach in ihren erzieherischen und sittenbildenden Kräften81
|A 140|81Das wurde von pädagogischen Kritikern schon sehr deutlich gesehen. Vergl. dazu L. Völter, Beiträge ... S. 29.
. Seit dem Mittelalter wurden die versorgungs- und hilfsbedürftigen Mitglieder des Standes durch dessen korporative Struktur mitgetragen. Ein Rückhalt fehlte nur denjenigen Gewerbetreibenden, die zu keiner Innung oder Korporation gehörten. Die Zahl dieser aber mußte mit der Einführung der Gewerbefreiheit und dem Fabrikwesen steigen82
82Abraham, S. 13.
. Das bedeutete, daß sich der sozial, und damit in bestimmter Hinsicht auch pädagogisch nicht erfaßte Teil der Bevölkerung vergrößerte; er stand mithin den gesellschaftlichen Gefährdungen besonders ungeschützt gegenüber.
[005:73] In einem zeitgenössischen Kommentar erscheint die ganze Schwierigkeit dieser Situation in gedrängter Kürze. Die entscheidende Ursache des sozialen Problems, besonders des
Pauperismus
, wird hier gesehen
in der völligen Auflösung der früheren Organisation der Arbeit nach Zünften, Innungen und Corporationen. Die Privilegien, Monopole und das Kastenwesen hätten verschwinden müssen, aber das gesellschaftliche Band zwischen denselben Gewerbsgenossen, die Gewerbsehre und Disziplin hätten erhalten werden sollen
. Eine Reform wäre
ebenso möglich als leicht gewesen; aber man hatte den Mut gehabt, die alten Institutionen zu zerstören, nicht die Kraft, neue zu schaffen
83
|A 140|83
W. S. , Theorie und Praxis zur Bewältigung des Pauperismus, in: Deutsche Vierteljahrs Schrift, 1848, S. 64
.
.
|A 22|
[005:74] Da hingegen aber im allgemeinen eine angemessene Erkenntnis der eigenen Situation noch kaum zu erwarten, die Möglichkeit zu sachlicher Analyse noch nicht vorhanden war, mußte jede Hoffnung auf neue Institutionen verfrüht sein. Mit dem Schwinden der alten Institutionen drohte ein Stand seine Stabilität zu verlieren. In diesem Sinne schreibt Schmoller später:
Das Schwinden des Mittelstandes untergräbt unsere politische wie unsere soziale Zukunft
84
|A 141|84
G. Schmoller, Geschichte des Kleingewerbes, S. 677
. Schon in dem genannten Aufsatz (Anm. 17) findet sich die Klage über
eine fortschreitende Zerstörung des Mittelstandes
,
a. a. O., S. 65
.
.
b) Das Fabrikwesen
[005:75] Die unauflösliche Verflochtenheit solcher Entwicklungen mit Gewerbefreiheit und wirtschaftlichem Liberalismus weist daraufhin, daß die Erscheinungen im Handwerk in dem Zusammenhang weiträumiger sozialer Veränderungen gesehen werden müssen. Die Handwerker waren nur die
ersten Leidtragenden der
industriellen Revolution
85
|A 141|85Schnabel, Geschichte des 19. Jahrhunderts, III, S. 421.
. Bisher Träger der gewerblichen Kultur, wurden sie mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt. Das Fabrikwesen – an sich älter als die neue soziale Entwicklung – wurde der große Konkurrent des Handwerks und einer der wesentlichsten Faktoren der Sozialgeschichte.
[005:76] Für unseren Zusammenhang ist es wichtig, daß sich die neue fabrikarbeitende Bevölkerung vornehmlich aus handwerksfremden Schichten rekrutierte86
|A 141|86Michel, Sozialgeschichte der industriellen Arbeitswelt, S. 62. Conze, Vom Pöbel zum Proletariat, S. 335.
. Meister und Gesellen sind nur in unerheblichem Umfange abgewandert87
|A 141|87
Abraham, S. 68
.
. So füllten sich Fabriken und Städte – in dieser Periode
industriellen Ausbaus
88
|A 141|88Mit dem Terminus
industrieller Ausbau
wird die für Deutschland typische Periode vor Einführung der Dampfmaschine und Schwerindustrie bezeichnet, vor allem aber die Entwicklung der rheinisch-westfälischen Kleineisen- und Textilindustrie, ferner die frühe Entwicklung in Böhmen, Schlesien und Sachsen.
Vergl. Conze, a. a. O. , S. 334
.
zunächst noch in begrenztem, aber durchaus schon sozial spürbarem Ausmaße – mit einer Menschengruppe, die zum größten Teil der landarbeitenden Bevölkerung entstammte und an der bereits alle Symptome eines industriell-groß städtischen Lebens zu beobachten waren.
Geschlechtliche Frühreife infolge der Arbeitsverhältnisse und der Massenzusammenballung, frühe Heirat, Auflösung der Familienbindungen bewirkten ... eine starke Bevölkerungszunahme
89
|A 141|89
Michel, a. a. O. , S. 66
; Conze a. a. O. , S. 337 ff.; Stadelmann-Fischer, a. a. O., S. 58.
, die in dieser Unterschicht allerdings schon im ausgehenden 18. Jahrhundert einsetzte90
|A 141|90Conze, a. a. O., S. 337.
.
[005:77] Das Problem des
Pauperismus
und des
Proletariers
91
91Der Begriff
Proletarier
entwickelte sich in Deutschland in seinem neuen, klassengesellschaftlichen Sinne in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts. Besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang den sozialtheoretischen Schriften Franz v. Baaders zu, für den das Proletariat, die
Proletairs
, den durch die Schuld der
Vermögen besitzenden Klassen
und die Bedingungen der industriellen Produktionsweise sozial nicht integrierte Volksteil darstellen. Vergl. besonders
Fr. v. Baader, Über das dermalige Mißverhältnis der Vermögenslosen oder Proletairs ..., Sämmtliche Werke, Bd. VI, S. 125-144
, Lorenz v. Stein definiert:
Proletarier ist der Arme, der von der Idee seiner Persönlichkeit aus Anspruch auf eine höhere Stellung und damit auf ihre Bedingung, den Besitz, macht
(L. v. Stein, Sozialismus und Communismus; in „Deutsche Vierteljahrsschrift, 1844, S. 41)
. Fr. Harkort dagegen versteht unter dem Proletarier den sittlich und intellektuell Unerzogenen, Ungebildeten, der sich den traditionellen Sozialformen des privaten wie des Wirtschaftslebens nicht einfügt, ein Begriff, in dem das ideologische Moment am deutlichsten hervortritt (Fr. Harkort, 9. offener Brief, abgedruckt in W. Schulte, Volk und Staat, Münster 1954; vergl. ferner ders. , Bemerkungen über die preußische Volksschule und ihre Lehrer, Hagen 1842; ders., Zweiter Bürger- und Bauernbrief, Elberfeld 1852).
drang in die zeitgenössischen Publikationen ein und bezeichnet uns den Beginn der
sozialen Frage
. Dem liberalen Optimismus, durch die faktische wirtschaftliche Entwicklung scheinbar gerechtfertigt, stand eine zunehmende Verschärfung der sozialen Probleme gegenüber.
An die Stelle des wohlhabenden Mittelstandes
– so lesen wir in einem Aufsatze aus dem Jahre 1838 – habe das Fabrikwesen
den Reichtum Weniger
gestellt,
die ein Heer von aussichtslosen Proletariern umringt
92
|A 141|92
Bühlau, Pauperismus; DV 1838, S. 87
.
. Das bedeutet aber, daß durch die industrielle Entwicklung
der natürliche Entwicklungsgang gestört und den Volkskräften manche falsche |A 23|Bahn angewiesen
sei93
|A 141|93
ebenda
Ein im Grunde konservativer Pädagoge beschreibt die Situation folgendermaßen:
Indem so nun auf der einen Seite der Gewinn den Händen der kleinen Gewerbetreibenden immer mehr entschwindet und bei den Fabrikherrn zu großen Reichtümern sich anhäuft, wächst die Zahl der Familien immer mehr, welche in die untersten Volksklassen, in den Stand der besitzlosen Proletarier, hinabgestoßen werdenø und die Kluft zwischen den höhern und niedern Ständen, welche durch die Gewerbetreibenden ausgefüllt war, klafft immer tiefer und weiter. Wir nähern uns jenem mittelalterlichen Zustand der Gesellschaft immer mehr, wo es außer dem besitzenden Adel nur noch besitzlose Leibeigene gab, nur daß dieser Gegensatz jetzt in anderer Form wiederzukehren droht – dort der landbesitzende, hier der Geldaristokrat, dort der bäurische, |A 141|hier der industrielle Proletarier.
(L. Völter, Geschichte und Statistik der Rettungsanstalten; S. 40)
. An anderer Stelle beschreibt der nämliche Verfasser die Folgen für das Handwerk:
So sehr auch der Fabrikindustrie ihr junger Flor zu gönnen ist, ihre bedenkliche Seite hat sie unläugbar. Wir erinnern nur daran, wie sehr durch sie der Segen des kleinen Gewerbes beeinträchtigt und bedroht ist. Hatte sonst der kleine Handwerker sein Gewerb selbständig für eigene Rechnung betrieben und sich so ... ein bescheidenes Vermögen sammeln, hatte er seine Familie zum Mitbetrieb des Handwerks in allerlei Nebenarbeiten brauchen und sie so unter der Aufsicht seines väterlichen Auges beisammen halten können; jetzt wird ihm der Betrieb seines Geschäfts in Folge der Fabrikkonkurrenz immer schwerer, zuletzt unmöglich, er muß sich mit seiner Familie entschließen, durch Arbeit in der Fabrik sein Brot zu suchen
(a. a. O. , S. 39
). Vergl. auch
Hagen, Proletariat und Communismus, 1844; S. 190
:
In dem Handwerkerstande mehrt sich von Tag zu Tag das Proletariat. Viele, welche von vornherein sehen, daß damit nichts zu erreichen sei, gehen als Arbeiter in die Fabriken
. In einem anonymen Aufsatze,
Die Zwangserziehungshäuser, in: Deutsche Vierteljahrsschr., 1844, S. 2
, lesen wir:
Was die Furcht erregt, ist der Zustand der unteren Klassen, die maßlose Vermehrung, die Steigerung der Bedürfnisse, die halbe Bildung, die nur Verachtung der gegenwärtigen Lage und Sehnen nach Veränderung gebiert, – die Rastlosigkeit der Wünsche, welche an die Stelle der früheren Einfachheit der Sitten getreten, der Drang nach Begebenheiten, die Auflockerung der Familienbande, – kurz das Proletariat
.
. Der Übergang von der ständischen zur Klassengesellschaft war im Gange. Dieser Prozeß, dessen geistesgeschichtliche Wurzeln wesentlich weiter zurückreichen, fand jetzt seinen deutlichen gesellschaftlichen Niederschlag94
|A 142|94In diesem Sinne spricht Conze von einer zweiten,
allgemeinen Aufklärung
, durch welche die geistige und soziale Emanzipation jetzt auch die unteren Volksschichten erfaßte;
Conze, a. a. O., S. 352 f.
.
[005:78] Durch die Trennung von Arbeits- und Lebensstätte, durch Kinder- und Frauenarbeit wurde die Stabilität des alten
Hauswesens
erschüttert. Der innerfamiliäre Zusammenhalt der betroffenen Volksschichten verschwand zugleich mit der ständischen Geborgenheit. Nichts füllte die Lücke aus. Auch die kirchliche Gemeinde konnte kaum noch eine sozial-erzieherische Funktion erfüllen. So wuchsen weite Kreise der Jugend in einer Umwelt heran, die sie den Gefährdungen des gesellschaftlichen Lebens ohne jede institutionelle Sicherung auslieferte95
95Vergl. dazu wiederum
Völter, a. a. O., S. 39
:
Mit der steigenden Verarmung steht das Überhandnehmen des Fabrikwesens im Zusammenhang, welches wir als eine weitere Ursache des zunehmenden Zerfalls der Erziehung bezeichnen müssen.
S. 40:
Jedenfalls beschenkt uns diese Klasse mit einem Nachwuchs, der jeden Denkenden mit den ernstesten Besorgnissen erfüllen muß.
.
c) Die Auflösung überlieferter Gemeinschaftsformen
[005:79] Die zeitgenössische Sozialkritik – besonders wenn sie mit einem pädagogischen Anliegen verbunden war – richtete sich nicht nur auf die Phänomene des Pauperismus und des Proletariats. Vornehmlich dort, wo sie pädagogische Kritik war, brachte sie auch die Formen gemeinschaftlichen Lebens, Familie, Gemeinde, Volkssitte und Stand, zur Sprache96
|A 142|96Durch den Vorrang der Wirtschaftsgeschichte sind diese Probleme in sozialgeschichtlichen Darstellungen bisher weniger untersucht worden.
. Obwohl, was die kritisierten faktischen Veränderungen betrifft, solchen Äußerungen nur ein bedingt objektiver Charakter zugesprochen werden kann, müssen wir sie hier doch heranziehen, da ja nicht der Umfang dieser Erscheinungen, sondern vornehmlich ihre, für einen Entwicklungstrend symptomatische Qualität an dieser Stelle von Bedeutung ist.
[005:80] Parallel zu einer immer besseren Organisation des Wirtschaftslebens beobachtete man gleichzeitig eine Desorganisation und Orientierungslosigkeit im sozialen Leben des Volkes.
Die Verwaltung ist vollkommener organisiert, das Volksleben ist in vielen Teilen desorganisiert worden, besonders durch die Lockerung der Familienverhältnisse, des kirchlichen Gemeindeverbandes, des gutsherrlichen Nexus, des weltlichen Gemeindewesens, des Corporationslebens, der Ständeverschiedenheit
97
|A 142|97Bühlau, DV 1838, S. 88.
. Zur gleichen Zeit, als die bürgerliche Familie sich angesichts der neuen Entwicklungstendenzen und
infolge der politischen Reaktion und polizeistaatlichen Bevormundung ... in geistigmusische Beschaulichkeit
flüchtete98
|A 142|98
H. Mitgau, Gemeinsames Leben, S. 12
.
, als sie im Biedermeier jene Binnenkonsolidierung vollzog, die u. a. durch die Auflösung der alten Großfamilie erst ermöglicht wurde und in der sich eine intime Familienkultur entfalten konnte – da war ein damals schon beträchtlicher Volksteil der ganzen Gefährdung dieses sozialen Umbildungsprozesses ausgesetzt. Was in jenen Kreisen einen Gewinn bedeutete, das war in diesen ein entschiedener Verlust99
|A 142|99Vergl. Schmoller, Kleingewerbe, S. 182 f.
.
|A 24|
[005:81] Die
Berufs- und Erwerbsverhältnisse sind so kompliziert geworden, daß sich der Vater der häuslichen Erziehung seiner Kinder gar nicht mehr widmen kann
100
|A 142|100Riehl, Familie, S. 138.
. Die Familie als Erziehungsgemeinschaft verlor diese Funktion vor allem aber gegenüber den Dienstboten und den Angestellten des häuslichen Betriebes. Überhaupt begann der Begriff des
Hauswesens
allmählich gegenstandslos zu werden; ihm entsprach nicht mehr die in seiner ursprünglichen Fassung intendierte soziale Wirklichkeit, da – wie wir bereits feststellten – die sozialen und ökonomischen Verhältnisse, das erwachende Selbständigkeitsbewußtsein von Dienstboten, Gesellen und anderen Angestellten des Hauses die alte soziale Einheit zu erschüttern begannen. Individualismus war nicht mehr nur eine Bewußtseinshaltung der Gebildeten, sondern drang als Orientierungs-Vorstellung und Verhaltensweise auch in die unteren sozialen Schichten ein.
Die moderne Zeit kennt leider fast nur noch die
Familie
, nicht mehr das Haus
101
|A 142|101
a. a. O., S. 164
. Vergl. auch Kiesselbach, DV 1860, S. 13; Fischer-Stadelmann, S. 58 f. ; Vergl. auch J. Hoffmann: Die
Hausväterliteratur
und die
Predigten über den christlichen Hausstand
... Diss. Göttingen 1954 (Maschinenschr.)
. Der
Zerfall des häuslichen Lebens
ist ein Thema, das in nahe zu jeder sozialkritischen Schrift jener Jahrzehnte angesprochen wird.
Es fehlt an den wahrhaft erhaltenden Kräften
, da nämlich den hergebrachten Formen keine Verbindlichkeit mehr inne wohnt, ein Rückzug auf kulturelle Innerlichkeit – wie in der bürgerlichen Biedermeier-Familie – nicht möglich und der Zeitpunkt für eine neue Orientierung in Richtung der Gesamtentwicklung noch zu früh ist;
und so fehlt zuletzt auch der Mut, sich den Pflichten und Lasten eines geordneten Hauswesens zu unterziehen
102
|A 142|102Völter, Geschichte und Statistik, S. 37.
. Und etwas später, aber durchaus als die Wiederholung einer dann schon alten Klage, ist zu lesen:
Wie aber die Familienhäupter unter den wohlhabenden Klassen durch die Herrschaft des materiellen Zeitgeistes auf eine für das Wohl ihrer Familie gefährlichen Richtung gebracht sind, so wirkt derselbe Despotismus des materiellen Zeitgeistes nachteilig auf das Familienleben der armen Leute. Nur mit dem Unterschiede, daß die Reichen aus Geld- und Ehrgeiz, aus Eitelkeit und Habsucht die heiligsten Pflichten der Eltern – die für eine gute Erziehung der Kinder, hintansetzen, während die Armen durch die Not dazu gezwungen werden
103
|A 142|103103 Freiburger katholisches Kirchenblatt vom 28.11.1857.
. Aber nicht nur die gewerblichen und familiären Sozialformen offenbarten diese neue Problematik. Auch auf der Ebene des Gemeindeverbandes vollzog sich Ähnliches. Klagen über die verfallende Volkssitte in Festen, Feiern und christlichem Leben wurden laut. Gerade hier lag einer der Akzente, die die ersten
Sozialpädagogen
ihren Bemühungen gaben. Die alten Formen der Geselligkeit verloren einer neuen gesellschaftlichen Wirklichkeit gegenüber in vielen Kreisen an Kraft104
|A 142|104Vergl. Teil II, Kapitel II, 2; vergl. ferner W. H. Riehl, Land und Leute, S. 89 ff. und 111 ff.; als pädagogisch-konservative Gegenmaßnahme besonders die Bemühungen Kolpings.
. Durch die Schrumpfung der alten Großfamilie und durch das Schwinden eines gemeindlichen Gemeinschaftsbewußtseins – be|A 25|sonders deutlich in den wachsenden Städten – wurde in der gesellschaftlichen Gliederung das Verkümmern der Zwischenglieder zwischen Staat und Familie stark empfunden. Das Ende der ständischen Gesellschaft, die Problematik der christlichen Gemeinde (vor allem vom württembergischen Pietismus aufgegriffen) und das erwachende Vereinswesen hängen in dieser Hinsicht eng zusammen105
|A 142||A 143|105Wir haben es hier mit gegenläufigen, aufeinander bezogenen Entwicklungsrichtungen zu tun, von denen die eine – die Auflösung alter Formen – als rein gesellschaftlicher Entwicklungstrend, die andere dagegen als pädagogische Antwort in Richtung auf eine soziale Erneuerung erkennbar wird.
. Die Versammlungen des Pietismus – so schreibt ein Kritiker – seien daher Symptome des gleichen Bedürfnisses: nämlich eben jenes, das
auch auf anderen Gebieten des Lebens ein so allgemeines Bedürfnis ist, sich in Massen und Vereinen zusammen zu tun
106
|A 143|106A. Frantz, Blicke in die Schattenseiten unserer Zeit, 1843, S. 35.
. Die Zeit sei
atomistisch
und jeder Versuch willkommen, diesem neuen Zustand entgegenzuwirken107
|A 143|107a. a. O., S. 35; vergl. auch S., Die organische Verbindung des Volks, DV 1844, S. 249 ff.; Riehl, a. a. O.; Kiesselbach a. a. O., S. 11; Stein, Die Selbstverw., DV 1845, S. 131.
.
[005:82] Parallelen solcher Erscheinungen wurden auch auf dem Gebiete der Verwaltung beobachtet. Die Distanz zwischen Staat, dessen abstrakter Bürokratie, und Volk habe sich vergrößert, die soziale Regsamkeit des Volkes aber sei zurückgegangen, obwohl sie doch zur Bewältigung dieser Distanz sich gerade hätte verstärken müssen108
108Mit solchen Feststellungen aber wird deutlich, daß ein angemessenes Verständnis der Ursachen weiter zurückgreifen muß, als nur bis zu den sozial-ökonomischen Veränderungen.
.
Es sind Institute109
109Gemeint sind an dieser Stelle vornehmlich sozial-fürsorgerische Einrichtungen.
, welche früher der Boden des Volkslebens trug, vom Staate gleichsam verschlungen ... Was sonst im Begriffe des Volkes wurzelte, hat jetzt seine Basis im Begriffe der Regierung
110
|A 143|110A. Frantz, a. a. O., S. 12.
. Das Gesellschaftliche entbehrte damit immer mehr der konkreten Anschaulichkeit, denn
im Bilde der Gemeinde ahnt und begreift das Volk erst den Staat
111
|A 143|111
W. H. Riehl, Land und Leute, S. 115
; vergl. auch Frantz, a. a. O., S. 19.
. Es handele sich vorwiegend um den
Mangel an einer Konstitution der Gemeinde, ... so daß die Regierung, statt den Interessen größerer Vereine, nur noch partikularen Interessen und individuellen Ansichten
gegenüberstehe112
|A 143|112
W. S. , Theorie und Praxis zur Bewältigung des Pauperismus, DV 1845, S. 66
; in dem geschilderten Tatbestand sah der Verf. u.a. die Ursache des
Pauperismus
.
. Die Gemeinde sei
in ihrem konstitutiven Prinzip vernichtet, und durch bedingungslose Zulassung Aller, die an ihr teilnehmen wollen, sei das Wesen der gemeindlichen Assoziation zerstört worden
113
|A 143|113ebenda
; man habe
den Mut gehabt, die alten Institutionen zu zerstören, nicht die Kraft, neue zu schaffen
114
|A 143|114
a. a. O., S. 64
. Vergl. auch d. Reformen d. Frh. v. Stein.
.
[005:83] Die Bemühungen Lorenz von Steins um das Problem der Gemeinde und ihrer Selbstverwaltung setzen an dieser Stelle ein: für den Entwicklungsverlauf bedeuten seine Arbeiten einen ersten geistesgeschichtlichen Einschnitt: die soziale Problematik lag für Stein schon offen zutage, die Voraussetzungen für eine objektiv-analytische Betrachtung waren geschaffen.

2. Die zeitgenössische Deutung der sozialen Situation

a) Der ideologische Charakter der Deutungsversuche
[005:84] Wir haben schon verschiedentlich darauf hingewiesen, daß in der ersten Hälfte des Jahrhunderts die sozialen Umbildungsprozesse lediglich in Ansätzen zu finden sind. Von neuen sozialen Lösun|A 26|gen, von konkreten und absehbaren neuen Gliederungs- und Gruppierungsformen einer industriellen Gesellschaft war man noch weit entfernt. Erst nach Einführung der Dampfmaschine, der Eisenbahn und der Schwerindustrie erhielt die Entwicklung jenes beschleunigte Tempo, als dessen Folge die Möglichkeiten neuer Gestaltungen plastisch hervortreten konnten115
|A 143|115Vergl. die zitierte Untersuchung von Abraham, Conze, Stadelmann-Fischer.
. Wenn daher die ökonomisch-sozialen Veränderungen bei weitem noch nicht ihre spätere Wucht entfaltet hatten, so gewannen die ideologischen Komponenten der Entwicklung umso mehr an Bedeutung. Es scheint geradezu, als habe der Spielraum, der dieser Generation zwischen den ersten Anzeichen des Neuen und dessen unausweichlicher Gegenwart verblieb, einer ideologischen und utopischen Denkweise besonderen Vorschub geleistet116
|A 143|116
Vergl. Stadelmann, S. 21:
Nur auf dem Umweg über die Ideologie
seien
die sozialen Ursachen der Revolution von Gewicht
geworden.
.
[005:85] Unser Interesse muß sich daher diesen Deutungsversuchen der sozialen Gegenwart, deren Werten und Unwerten, deren Herkunft und Entwicklungsaussicht zuwenden, da ja alles soziale Handeln und damit eben auch alle Sozialpädagogik sich solchermaßen in der sozialen Wirklichkeit zu orientieren sucht. Wie gerechtfertigt ein solches Unternehmen ist, und welche Bedeutung es auch für das Verständnis der gegenwärtigen Sozialpädagogik hat, das beweisen die vielfachen ideologischen Bestandteile in aller sozialpädagogischen Theorie-Bildung, das beweisen ebenso eine Vielzahl von Praktiken und Methoden bis in die jüngste Vergangenheit hinein117
117Als Beispiele seien hier nur bestimmte Formen der Jugendpflege oder auch die oft noch an alten Leitbildern orientierte Berufserziehung in der Fürsorgeerziehung genannt.
.
[005:86] Die Ideen der französischen Frühsozialisten und die Vorgänge der industriellen Revolution in England wurden in Deutschland bekannt, noch ehe die soziale Frage hier zu einem realen und brennenden Problem wurde. Wir dürfen daher annehmen, daß sie nicht wenig zur Entstehung eines
sozialen Bewußtseins
, einer nachdenklichen Haltung und kritischen Reflexion gegenüber der sozialen Entwicklung im eigenen Lande beigetragen haben. Die geschichtliche Vorwegnahme, die diese Ideen bedeuten mußten, veranlaßte von vornherein deren Ablehnung; die soziale Situation selbst schien sie zu widerlegen.
Kommunismus
und
Sozialismus
wurden – lange vor dem Anbruch der deutschen Arbeiterbewegung – zum Schreckgespenst der Biedermeier-Zeit. Wenn daher auch die Inhalte des französisch-sozialistischen Gedankengutes in Deutschland kaum eine nennenswerte Bedeutung und tiefere Wirkung hatten – von Außenseitern wie Weitling abgesehen – so sind sie doch aus der Reihe der Impulse zur Auseinandersetzung mit der sozialen Problematik nicht wegzudenken.
[005:87] Anders war es mit dem Ideengut der deutschen Romantik und der Historischen Schule118
|A 143|118Vergl. dazu P. Kluckhohn, das Ideengut der dt. Romantik; H. Freyer, Die Romantiker; E. Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme, Gesammelte Schriften, Bd. III, S. 277 ff.
. Hier lag eine, sich auf die geschichtliche Tradition berufende Soziallehre vor, die den neuen Tendenzen gegenüber ein normatives Gegengewicht bildete, um |A 27|die drohende soziale Orientierungslosigkeit aufzuhalten, bzw. die deren erste Anzeichen zu überwinden versprach. Der vernehmlichste Sprecher dieser weit verbreiteten Theorien wurde Wilhelm Heinrich Riehl. Die merkwürdige Stellung zwischen ständischer und Klassengesellschaft, in einer Situation, in der der ständische Aufbau zwar im Schwinden, aber doch noch vorhanden und wirksam war, war für eine solche Theoriebildung besonders günstig. So bot sich als Antwort auf die durch die Entwicklung geweckte Frage nach dem Strukturgesetz der Gesellschaft die ständische Gliederung an.
[005:88] Das Verblassen der alten Ordnung aber machte wiederum deren Idealisierung möglich, nämlich
in ihr das Strukturgesetz des gesellschaftlichen Organismus überhaupt zu erblicken
119
|A 143|119H. Freyer, a. a. O., S. 86.
. Diese Soziallehre war organologisch. Der organische Aufbau der Gesellschaft und die darin begründete Stellung der einzelnen Glieder zueinander und zum Gesamtorganismus wurde nicht historisch relativiert, sondern als allgemeingültige Sozialnorm verstanden. Folgerichtig wurden die neuen Entwicklungstendenzen als Verfallserscheinungen gewertet; die Klassengesellschaft nämlich war mit der Organismus-Vorstellung nicht mehr zur Deckung zu bringen120
|A 143|120a. a. O., S. 94. Dafür ist bezeichnend der Versuch Riehls, den
vierten Stand
und das mit ihm aufgegebene soziale Problem durch eine ständische Re-Integration zu bewältigen. Die Aufgabe bestehe darin, dem vierten Stand eine Geschichte zu schaffen, eine Heimat, eine
soziale Schranke
,
und das alles findet sich von selber, wenn man ihm eine Familie
, eine patriarchalische Arbeits- und Lebensform schaffe
(Riehl, Die bürgerliche Gesellschaft, S. 358)
.
.
[005:89] Das war der sozialtheoretische Ansatz der sozialpädagogischen Literatur des hier behandelten Zeitraums. Er wurde noch gestützt durch wesentliche Übereinstimmungen mit der christlichen Interpretation sozialer Phänomene, die in den Forderungen einer patriarchalischen Familie, im Charakter der kirchlichen Gemeinde und im Begriff des christlichen Volkes seinen Ausdruck, in den Bemühungen des sozialpädagogisch sehr regsamen Pietismus zudem eine pädagogische Entsprechung fand121
|A 143||A 144|121Vergl. dazu auch
E. Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Gesammelte Schriften, Bd. I, S. 844 ff.
: Ohne die Bedeutung der gesellschaftlichen Realität, des
Unterbaues
, und die Notwendigkeit dessen sozialer Neugestaltung zu erkennen, habe man
von der Allgemeinheit eine Änderung des Geistes und der Gesinnung
verlangt, dabei aber im Grunde
die alten, seit der Patristik fortgeschleppten christlichen Gesellschaftstheorien
beibehalten; diese enthielten eine Ethik,
die im günstigsten Falle für die Individualethik und für die Familie etwas bot, dagegen in der Sozialethik nur die Beruhigung bei allen bestehenden Institutionen und Verhältnissen zu lehren wußte, sehr zur Befriedigung aller herrschenden Gewalten
. Die gesellschaftliche Angemessenheit dieser alten christlichen Sozialphilosophie aber war mit dem Beginn der industriellen Entwicklung dahin (vergl. a. a. O., S. 965 f.). Zur Herkunft und Kritik des Organismusgedankens vergl. ferner E. Rothacker, Logik und Systematik der Geisteswissenschaften, München 1927, S. 85 ff.
.
[005:90] Bezeichnenderweise ist es gerade diese ideologische Position, die zu einer sozialpädagogischen Praxis führte. Die Gegenseite – etwa im Gefolge der liberalen Gewerbepolitik – kannte diese spezifische Art der sozialen Verantwortung nur in Ausnahmen und betrieb die Erziehung zu neuen Aufgaben in Beruf und Gesellschaft mit den Mitteln einer fortgesetzten Aufklärung. So sind auch die fürsorgerischen Anfänge der Berufserziehung namentlich von jenen Kreisen getragen worden122
|A 144|122Vergl. Magdeburg, Handwerkserziehung, S. 37, S. 42. Die Stellungnahmen Falks können in dieser Hinsicht als typisch gelten.
Nimmer aber lassen sich die höheren und niederen Richtungen vertauschen, und man wird die geforderte Aufklärung unserer Tage als einen Fluch der Zeit ansehen müssen, wenn sie die Scheidungen der Stände auflösen, die verschiedenen untergeordneten Lebenszwecke vergessen und das mit Besonnenheit zu richtende Streben in eine vage, blinde Irrfahrt nach erträumter Gleichheit verwandeln wollte
(Falks Erziehungsschriften, S. 40)
. An anderer Stelle:
Dem Maschinenwesen kann wohl niemand abgeneigter sein als ich
; diese
Ertötung aller individuellen Tätigkeit
könne nur
in Sklaverei, nicht aber in Freiheit ihr Ende nehmen
; Falk sah die neuen Baumwollspinnmaschinen,
jede individuelle Tätigkeit nicht beachtend, im grandiosen Umschwung alle kleinen Spinnräder ... in Stücke schlagend, sich im toten Mechanismus einer Total-Wirkung gefallen
(zit. bei T. Reis, J. Falk, S. 36)
.
. Diese ideologische Seite der sozialpädagogischen Ursprünge aber verlieh der Bewegung einen sozial-polemischen Charakter, der aller Sozialpädagogik im Laufe ihrer Entwicklung mehr oder weniger eigen gewesen ist.
b) Der Gesellschaftsbegriff
[005:91] Durch Romantik und Historismus, durch die Auseinandersetzung mit den Ideen der französischen sozialen Bewegung und den neuen gesellschaftlichen Tatsachen öffnete sich der Blick für das soziale |A 28| Phänomen der Gesellschaft im eigentlichen Sinne. Staat und Gesellschaft rückten in der begrifflichen Fixierung auseinander.
Die Teilnahme für das Staatsleben, das Verfassungsleben, die eigentlich politische Politik ist lahm geworden gegenüber der gewaltigen Aufregung, mit welcher Europa in Zagen und Hoffen den Entwicklungen des sozialen Lebens folgt
123
|A 144|123
Riehl, Die bürgerliche Gesellschaft, S. 12
. An anderer Stelle lesen wir:
Es ist schon so oft und vielfach ausgesprochen worden und kann nicht genug wiederholt werden, daß die gewaltigen Zuckungen, die die ganze europäische Welt durchbeben, Symptome nicht eines politischen, sondern eines sozialen Kampfes sind
(Fliegende Blätter des Rauhen Hauses, Jg. 1848)
. Oder: Die sozialen Fragen gehören
ohnstreitig zu den wichtigsten der Zeit ... Ja es scheint sogar, als ob die Tendenzen und Hoffnungen des Jahrhunderts, welche auf den bisher eingeschlagenen Bahnen nicht realisiert werden konnten, nur diesen Ausweg noch übrig hätten, um zur Verwirklichung zu gelangen
(Hagen, Fragen der Zeit, S. 181)
.
Nun warf man sich mit derselben Hast und demselben Eifer, mit welchem man bisher die Besprechung politischer Fragen betrieben hatte, auf die Untersuchungen über die Zustände der Gesellschaft, über Pauperismus und Proletariat
(a. a. O., S. 183)
.
.
[005:92] Riehl forderte daher, daß der Begriff der
bürgerlichen Gesellschaft
von dem der
politischen Gesellschaft
zu trennen sei124
|A 144|124Riehl, a. a. O., S. 5.
. Die soziale Problematik trat in den Vordergrund und schien die im engeren Sinne politische zu verdrängen.
Was dem Mittelalter die Furcht vor dem Posaunenschalle des jüngsten Gerichtes war, das ist dem 19. Jahrhundert die Furcht vor der großen sozialen Umgestaltung
125
|A 144|125a. a. O., S. 12.
, da
der gesamten historischen Gesellschaft das Messer an der Kehle sitzt
126
|A 144|126a. a. O., S. 13.
.
[005:93] Im Wechselverhältnis zwischen sozialer Entwicklung und den Versuchen ihrer theoretischen Bewältigung begannen so die begrifflichen Mittel der sozialen Erkenntnis sich zu differenzieren. Neben die Lehre vom Staat trat die Lehre von der Gesellschaft127
127Vergl. L. v. Stein, Die Gesellschaftslehre, S. 1 – 51.
. Aus dem
Bedürfnis der Gesellschaft
, und zwar der historischen, seien die Maßstäbe für deren institutionelle Gestaltung zu gewinnen128
|A 144|128
Gervinus, Einleitung in die Geschichte des 19. Jahrhunderts, S. 169
.
. Erst damit wurde es möglich, die sozialen Probleme in ihrer ganzen Tiefe zu erfassen und die
negative Auffassung der Gesellschaft ... welche von ihr nur soviel sieht, als nötig ist, um den Maßregeln der Regierung ihre Aufgabe anzuweisen
, zu überwinden129
|A 144|129
L. v. Stein, a. a. O., S. 23
.
.
[005:94] Diese Sensibilität für spezifisch gesellschaftliche Phänomene, deren Unterscheidung von Staat und Volkswirtschaft, hatte – wenn wir darin Lorenz von Stein folgen dürfen – zweifellos in den Störungen der alten Gesellschaftsordnung ihre Ursprünge130
|A 144|130a. a. O., S. 25.
. Sie hatte aber auch zur Folge, daß die erzieherische Aufgabe gegenüber den Leidtragenden solcher Störungen tiefer, ja überhaupt erst eigentlich erfaßt und entsprechend angegangen werden konnten.
c) Soziales Bewußtsein und soziale Verantwortung
[005:95] Die begriffliche Fassung des Phänomens Gesellschaft steht aber schon am Ende einer Auseinandersetzung, die von dem Bewußtsein der sozialen Problematik getragen warø und deren Anfänge mindestens in die Jahre nach den napoleonischen Kriegen zurückreichen.
Als der Bauer vom Kampfe zurückkehrte zu seinem Pfluge, hatte er zum ersten Mal sein Leben eingesetzt für eine Idee; zum ersten Mal hatte er neben den Ständen gestanden ... Wer kann nachweisen, was er sich gedacht, und was er seine Kinder denken gelehrt? ... Es war dem deutschen Volk in seinem staatlichen Bewußtsein ein neues Element gewonnen
131
|A 144|131L. v. Stein, Sozialismus und Communismus, DV 1844, S. 44.
.
|A 29|
[005:96] Dieses
neue Element
wird uns am Verhalten gegenüber den verschiedensten sozialen Phänomenen deutlich; es konstituierte sich geradezu in der Kenntnisnahme und Erkenntnis dieser Phänomene als Denkmittel zur Deutung der eigenen Gegenwart; es stellte sich daher auch im Zusammenhang unterschiedlicher und entgegengesetzter weltanschaulicher Positionen dar.
[005:97] Auf der einen Seite wurde die Lösung des Problems in einer konsequenten Durchbildung des gewerblich-industriellen Lebens erblickt, und die gesellschaftlichen Schäden wurden nur als vorübergehende Übergangserscheinungen gedeutet. Dieser Position verwandt waren die revolutionär-sozialistischen Ideen insofern, als beide mit der Tradition radikal zu brechen bereit waren. Im Gegensatz dazu wollte die restaurative Gruppe die Grundlagen der alten ständischen Gesellschaft keinesfalls aufgeben.
Die Einen nämlich sind reaktionär und möchten Alles auf frühere, ihnen in idealistischem Lichte erscheinende Zustände zurückführen. Die Andern sind revolutionär und möchten eine ganz neue Basis des Gewerbslebens einführen
132
|A 144|132Bühlau, Pauperismus, DV 1838, S. 89.
. Eine vierte Gruppe – neben der liberalen, revolutionären und restaurativen – richtete ihren Blick weniger auf die sozial-ethischen oder die Verhältnisse der gewerblichen Produktion, sondern sah die wesentlichsten Aufgaben in einer Reform der gesellschaftlichen Organisation. Für sie rückten daher die Fragen des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft, der Selbstverwaltung, einer neuen, aus den alten Formen entwickelten Gliederung des gesellschaftlichen Aufbaus in den Vordergrund133
133Als typische Vertreter dieser Gruppe – obwohl untereinander sehr verschieden – bezeichnen wir L. v. Stein, Riehl und Völter.
. Gerade dieser Ansatz aber – allerdings in Verbindung mit einer konservativ-sittlichen Bewertung der neuen sozialen Mangelerscheinungen134
|A 144|134Völter wendet sich ausdrücklich gegen jene, die
die auf innerer Notwendigkeit beruhende Entwicklung der Zeit aufhalten
wollen und
somit reaktionär
seien
(Gesch. u. Stat., S. 50)
.
– hat sich pädagogisch als der fruchtbarste erwiesen. Er verband realistische Erkenntnis der Situation mit Stellungnahme und konkreter Entscheidung.
[005:98] Das konnte jedoch nicht verhindern, daß gerade von den pädagogisch Verantwortlichen und Tätigen immer wieder auf die Orientierung an einer, wenigstens am ständischen Vorbild ausgerichteten Gesellschaft zurückgegriffen wurde. Die sozialen Verhältnisse, denen die in sozialpädagogischen Einrichtungen betreuten Zöglinge entstammten, boten ja keine Möglichkeit, Maßstäbe für ein soziales Erziehungsziel zu liefern, und auch die Situation der Gesamtgesellschaft war für den offenen Blick erzieherisch kaum beruhigend.
Der unläugbare Mangel an politischer Bildung, die so schrecklich gestrafte Hemmung der nationalen Entwicklung des öffentlichen Lebens, die Zerrissenheit des Vaterlandes, die durchgebildete Opposition von Beamten und Volk, sowie die zugleich heraufsteigende Not der s.g. arbeitenden Klassen, kurz, die verkümmerten politischen und sozialen Verhältnisse im Bunde mit jenen überwiegenden sittlichen Notstän|A 30|den
135
|A 144|135A. Frantz, Blicke in die Schattenseiten unserer Zeit, Brandenburg 1843, S. 12.
: so erschien die Gesellschaft demjenigen, der doch für diese Gesellschaft erziehen, bzw. die aus solcher Situation erwachsenen Notstände beheben sollte. Der Weg zur Bekämpfung der Not war daher im wesentlichen an konservativen Leitbildern orientiert. Völter äußert, indem er in der
christlichen Liebe
den einzig sinnvollen Grund einer in solcher Lage noch möglichen Erziehung sieht:
Sie ist, wie jedes wahre Heilmittel, einerseits konservativ, sie geht nicht auf Umsturz, sondern auf Reform der bestehenden Verhältnisse aus; sie will nicht die Stände egalisieren und nivellieren, läßt sich aber zu den niedrigsten herab... sie bezweckt nicht äußerliche Gütergemeinschaft, sieht aber auch das Ihre nicht als ausschließliches Eigentum an ... Sie ist aber auch radikal; sie begnügt sich nicht mit äußerlichen Palliativen und mit symptomatischen Kuren, sie geht dem Übel an die Wurzel und sucht den inneren geistigen, sittlich-religiösen Zustand zu heben
136
|A 144|136L. Völter, Geschichte und Statistik ... S. 51.
.
[005:99] Die inhaltlichen Formulierungen der sozialen Problematik sind also weniger auf die faktische Veränderung der gesellschaftlichen Situation zurückzuführen; wir müssen sie vielmehr als einen Versuch ansehen, da die der gesellschaftlichen Wirklichkeit bisher zugeschriebene normative Überzeugungskraft nachließ, einen Ausweg aus diesem sozialen Dilemma zu finden137
137Diese Feststellung wird deutlich illustriert durch die Antworten, die die zeitgenössische Literatur auf die Frage nach den Ursachen der sozialen Mißstände, vor allem im Zusammenhang mit den Problemen |A 145|des Proletariats, der Verwahrlosung und der Kriminalität gibt. Vergl. dazu Kapitel III, 2 des ersten Teils dieser Arbeit.
. Das soziale Leitbild formte sich daher nicht an den sozialen Tatsachen, sondern in der Polemik gegen die in ihnen wirksamen Geistesrichtungen, mit den Schlagwörtern
Radikalismus
,
Kommunismus
,
Liberalismus
,
Indifferentismus
,
Mammonismus
etc. belegt und diskriminiert.
[005:100] Aus dieser oppositionellen Haltung heraus werden dann auch die sozialen Zustände gedeutet, wobei christliche Sozialethik und romantisch-ideologische Rechtfertigungen in der Sozialkritik, in den Bemühungen um die unteren Volksschichten, um gefährdete Einzelne und verwahrloste Jugendliche zusammengehen.
[005:101] So haben die ideologischen Auseinandersetzungen einen entscheidenden Anteil an dem Ruf nach Besserung der Zustände, nach Umgestaltung des Armenwesens, Bekämpfung von Kriminalität und Verwahrlosung, Hilfe für die gestörte Erziehung der Jugend138
138Eine ähnliche These vertritt Stadelmann im Hinblick auf die Revolutionsursachen:
Nicht der gesellschaftliche Notstand an sich, wohl aber das Durchdrungensein von dem Bestehen eines Notstandes hat revolutionierend gewirkt. Und dieses Aufmerksamwerden auf ein soziales Problem hat sich nicht zuerst bei den Betroffenen, sondern bei den Betrachtenden gerührt
(Soziale und polit. Gesch. d. Revol. von 1848, S. 21)
. Die soziale Erkenntnis
ist weit mehr das Resultat der Theorie und der europäischen Zeitströmung als der lokalen Erfahrung und Beobachtung gewesen
(a. a. O., S. 20)
.
. Indessen wäre es durchaus unzutreffend, wollte man mit Bezug auf die Anfänge der Sozialpädagogik von einer ideologischen Verblendung sprechen. Die reale Not wurde sehr wohl erkannt, und auch die soziale Situation im Ganzen wurde nicht selten mit aller erdenklichen Vorurteilslosigkeit beurteilt. So gab es immer wieder Stimmen, die sich energisch gegen eine Abwertung der Gegenwart verwahrten.
Fürs Erste nun ist die Entsittlichung einer Zeit, und wäre sie noch so furchtbar, keineswegs ein unbezweifelter Beweis von einer folgenden noch größeren |A 31|Verdorbenheit oder gar eines gänzlichen Versinkens: ja, sie kann sogar der Verbote einer neuen schöneren Entwicklung sein. Wenigstens finden wir, daß jeder großen Epoche der Menschheit eine gewaltige Demoralisation voranging, eine Auflösung beinahe aller göttlichen und menschlichen Ordnung der Dinge, eine fast unheilbare Verwirrung aller Verhältnisse
139
|A 145|139
Hagen, Über die angebliche Entartung und Hoffnungslosigkeit unserer Zeit, in: Fragen der Zeit, Bd. I, S. 52
. Weiter heißt es dort:
Die alte Richtung verliert ihre Kraft, ihre Bedeutung, ihre Bestimmungsfähigkeit: die neue Richtung ist noch nicht so konsolidiert, so verbreitet, so allgemein, daß man sie an die Stelle der alten setzen könnte; während man also das Eine verloren hat, besitzt man noch nicht ein Anderes, an das man sich halten könnte
. Dieser Zustand erzeuge
Unentschiedenheit, Halbheit, Indifferentismus
; der Mensch denke
bei dieser Auflösung aller höheren leitenden Ideen nur an sich selbst: so gelangt er zum Egoismus und zu allen daraus hervorgehenden Lastern
(a. a. O., S. 54)
. Diese Stellungnahme erinnert sehr stark an die Analyse Fichtes in den
Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters
, der den Charakter der Übergangszeit vor der Periode der Vernunft-Ordnung in demselben Sinne beschreibt (J. G. Fichte, Grundzüge).
. Andere sprachen von einer, trotz vieler
betrübender Erscheinungen
– womit speziell auf die Jugendverwahrlosung hingewiesen wurde -,
sich aufs Neue verjüngenden Zeit, welche nicht nur alle Verhältnisse des äußerlichen Lebens gegeneinander in Aufruhr gebracht hat, sondern auch die sittlichen Begriffe wunderlich untereinander gemischt und verwirrt
habe140
|A 145|140
Dobschall, Nachrichten ... S. 9
. Ferner:
... und überall, wohin sich nur ein Blick richtet, bemerkt man den wunderherrlichen Anblick einer jugendlichen Lebensfrische, welche gegen den historischen Anblick der letzten Vergangenheit höchst vorteilhaft absticht. Glaubt ihr denn, daß diese lieblichen Erscheinungen, ... Erzeugnisse einer sich fortwährend vergrößernden Immoralität sind?
(a. a. O., S. 10)
.
. Sehr treffend wird die Situation in dem Bericht eines Frankfurter Parlaments-Ausschusses im Hinblick auf die Revolutionsursache beschrieben; diese sei
die plötzlich in’s Bewußtsein übergegangene Erkenntnis, daß die seither als fest und sicher angesehenen politischen und sozialen Verhältnisse mit einem Male in ihrer ganzen Hohlheit in die Erscheinung traten, ohne zugleich die Richtung anzuzeigen, in welcher durch allmählichen Übergang eine neue gesicherte Gestaltung herbeigeführt werden könnte
141
|A 145|141An das deutsche Volk, Bericht über die Wirksamkeit des Fünfziger-Ausschusses, o. J. (1848), S. XI.
.
[005:102] Wenn man sich auch auf eine solche Situationsanalyse hätte einigen können, provozierte doch eben jenes Krisenbewußtsein die genannten Entwürfe sozialer Leitideen, in denen eine
gesicherte Gestaltung
vorweggenommen wurde, sei es nun als Rückgriff auf angeblich Bewährtes, sei es als erprobender Vorgriff auf neue Möglichkeiten. Da sich aber die Struktur der modernen Gesellschaft bis ins 20. Jahrhundert hinein zunehmend aufhellte, können wir die Entwicklung der Sozialpädagogik aus dieser Ursprungssituation heraus auch als eine fortschreitende Befreiung von den ideologischen Vorurteilen in Richtung auf eine Erkenntnis der realen Zustände und eine ihnen angemessene Erziehung, als einen Weg zu ihrer Eigenständigkeit betrachten.

II. Volkserziehung und Nationalidee

1. Der Begriff
Volkserziehung

[005:103] Neben der durch die sozialen Fakten und das soziale Bewußtsein geschaffenen Situation müssen wir ein geistesgeschichtliches Phänomen erwähnen, das zwar nicht von ebenso weitreichender Wirkung für Entstehung und Entwicklung der Sozialpädagogik war, das aber doch für einzelne Probleme und besonders für den weltanschaulichen Hintergrund vieler theoretischer Begründungsversuche unseres Jahrhunderts große Bedeutung gewann. Die sozialpädagogische Literatur nahm Ideen auf, die, wenn sie auch nicht |A 32|ihrem eigentlichen Bereich entstammten, doch ihre Eigenart und ein sozialpädagogisches Denken mitbestimmten, zumal sie in diesem Falle eine Antwort auf die Frage nach der Lösung gesellschaftlicher Notstände zu enthalten schienen. Es sind dies alle jene Tendenzen, die auf die höchste soziale Einheit abzielen, wie sie dem Bewußtsein jener Zeit in dem Bilde der Nation gegeben war als das übergreifende soziale Ganze. Wir fassen daher unter dem Begriff Volkserziehung hier die verschiedensten pädagogischen Intentionen zusammen, die sich aber alle darin gleichen, daß sie eine wie auch immer geartete Zersplitterung – sei sie nun ständisch, national oder industriell bedingt – durch ein Erziehungsziel überwinden wollen, das die soziale Einheit des Volkes als wesentliches Moment enthält.
[005:104] Eine solche Übereinstimmung war das Ergebnis einer Entwicklung, die sich aus sehr verschiedenen Quellen herleitet. Die merkantilistische Nationalerziehung des absolutistischen Kleinstaates, die Nationalerziehungs-Idee der französischen Revolution, die in Pestalozzi repräsentierte Idee der Volkserziehung und das nationalpädagogische Gedankengut der Deutschen Bewegung enthalten in sich selbständige und entschieden voneinander abweichende Theorien. Indessen sind nur die letzten beiden Richtungen für den hier behandelten Zusammenhang von Belang. Ihre Bedeutung liegt in der besonderen Weise, in der sie sozialgeschichtlich charakteristisch wurden, sich gegenseitig ergänzten und annäherten und so auf die Entwicklung der Sozialpädagogik einen wesentlichen Einfluß ausübten. Das geschah vor allem dadurch, daß einerseits in die Intention einer Erziehung des niederen Volkes die in der Deutschen Bewegung entwickelte Idee der Erziehung zu nationaler Einheit, die sich auf den als ursprünglich und wesenhaft verstandenen
National-Charakter
oder
Volksgeist
gründete142
|A 145|142Vergl. dazu besonders die Darstellungen von O. Fr. Bollnow, Die Pädagogik der deutschen Romantik, Stuttgart 1952; E. Haccius, Die pädagogische Bewegung in Herders Reisejournal, Langensalza 1939; A. Flitner, Die politische Erziehung in Deutschland. Geschichte und Probleme 1750 – 1880, Tübingen 1957.
, aufgenommen wurde; andererseits aber durch eine Entwicklung, die die sozialen Tatsachen und deren Deutung in die Wege geleitet hatten.
[005:105] Die im 19. Jahrhundert durchaus noch geläufige Bedeutung des Begriffes
Volk
als Inbegriff der niederen und unterständischen Volksschichten legt es nahe, zwischen Volkserziehung und Nationalerziehung streng zu unterscheiden und im Sinne unserer Absicht nur die ausgesprochen nationalerzieherischen Gedanken zu berücksichtigen. Seit aber der
Pöbel
in Bewegung geriet und der Gesellschaft ein immer dringender werdendes Problem aufgab, gewann auch der Begriff
Volkserziehung
eine neue Perspektive. Die Notstände erschienen als Symptom eines gesamtgesellschaftlichen Problems. Die volkserzieherische Aufgabe wurde als eine Aufgabe der und an der Gesellschaft überhaupt empfunden. |A 33|Die Zwielichtigkeit des Begriffes als caritative erzieherische Hinwendung zum
Pöbel
einerseits und als notwendiger Bestandteil gesellschaftlicher Regeneration andererseits charakterisiert zugleich die gesamte Situation, in der die Sicherheit der Stände-Gesellschaft verschwand und neue Sozial- und Verfassungsformen noch nicht gefunden waren143
143Conze, Vom Pöbel zum Proletariat, S. 336.
; denn
im Pauperismus wurde mit Erschrecken eine neue Erscheinung gesehen, die etwas grundsätzlich anderes war als die Armenfrage oder das Dasein der Besitzlosen und Dienenden im herkömmlichen Sinn
144
|A 145|144ebenda
. Die Erziehungsbedürftigkeit des Volkes wurde nicht mehr allein aus der überlegenen Perspektive der höheren Stände gesehen, sondern sie wies zurück auf die Unfähigkeit eben dieser Führungsschicht, auf ihre ethisch indifferente Haltung,
die entfesselte Richtung auf den Genuß des Irdischen
, ihren
praktischen Atheismus
145
|A 145|145
E. v. Ketteler, Predigten, Bd. II, S. 185, 187
. Vergl. auch Kapitel III, 2 dieses Teiles.
.
[005:106] Wurden aber die sittlichen Zustände des Proletariats und das kapitalistische Verhalten der höheren Stände auf dieselben Wurzeln zurückgeführt, dann mußte auch über kurz oder lang der Begriff Volkserziehung eine umfassende soziale Erneuerung implizieren. In dem Maße als der
Pöbel
zum
Proletariat
wurde, verlor der Begriff seinen rein ständisch bestimmten Charakter. Die Erziehung der unteren Volksschichten war dann nur noch ein Komplex besonders exponierter Maßnahmen, den man im Übrigen als Teil einer nationalen Aufgabe verstand.

2. Die Nationalerziehung

[005:107] Dieser neuen Färbung des Begriffes
Volkserziehung
aber gingen jene Ideen voraus, in denen – vom Idealismus, der sog. nationalen Erhebung und der Romantik herkommend – mit
Nationalerziehung
von vornherein ein anderer Ansatz bezeichnet war. Nicht die Unerzogenheit der niederen Volksschichten gab hier das pädagogische Problem auf, sondern das soziale Gefüge der Nation unter dem Gesichtspunkt einer allgemeinen Menschenbildung. In der Idee der Nationerziehung war sowohl die soziale wie die territoriale Zersplitterung überwunden und in der nationalen Einheit aufgehoben. Sie bedeutete zugleich eine totale Erziehung, die alle Lebensbereiche und -Abschnitte nach dem gleichen Prinzip umgreift und gestaltet146
|A 145|146Fichte, Reden... S. 23 ff. Jahn, Volkstum, S. 141, 144. Arndt, Werke, Band IX, S. 165, 179; Vergl. auch die Darstellung von Arndts Sprachauffassung und deren Beziehung zum Begriff
Volk
und
Volksgeist
, Bollnow, Die Pädagogik der deutschen Romantik, S. 98 ff.
. Darüber hinaus enthalten die nationalpädagogischen Ideen eine Kultur- und Sozialkritik, die sich zwar noch nicht auf die industrielle Entwicklung als Gegner richten konnte, die mit ihrer ethischen Radikalität aber, den sozialpädagogischen Anfängen wesentliche Argumente lieferte.
[005:108] Die Erziehungshilfe für die niederen Schichten des Volkes, für Verwahrloste und Kriminelle, konnte damit eine Sinngebung erfahren, die über die rein caritativ-pädagogische Hinwendung |A 34|hinaus ging und die erzieherische Tätigkeit des Einzelnen einer umgreifenden, und zwar nicht kirchlich-christlich vorgedeuteten Ordnung einfügte: die Erneuerung der Nation. Die Tatsache, daß die Hauptvertreter dieser deutschen
Nationalerziehung
147
147Eine Ausnahme machen lediglich Fichte und Fröbel. Die Intention einer nationalen Erneuerung war so dominierend, daß die möglichen sozialpädagogischen Ansätze in unserem Sinne, die pädagogische Hilfe in konkreten Situationen einzelner Notstände, als unwesentlich diesem |A 146|Aspekt verborgen blieben. Zudem liegen die Veröffentlichungs-Daten der wichtigsten nationalpädagogischen Schriften vor dem Beginn einer eigentlichen Entwicklung der Sozialpädagogik: Fichte, Reden an die deutsche Nation (1800); Arndt, Fragmente über Menschenbildung (1805); Jahn, Deutsches Volkstum (1810).
selbst kaum je den ausgesprochen sozialpädagogischen Bereich erwähnen, braucht dabei nicht zu befremden. Denn abgesehen von dem Hinweis, den wir schon in Fichtes148
148
J. G. Fichte, Reden an die deutsche Nation, Bd. VII der Gesamtausgabe von I. H. Fichte, S. 189
:
Wende man sich ... in Gottes Namen und mit voller Zuversicht an die armen Verwaisten, an die im Elende auf den Straßen Herumliegenden, an alles, was die erwachsene Menschheit ausgestoßen und weggeworfen hat ... Reißen wir sie nur plötzlich und gänzlich heraus aus demselben (d. h. ihrem vorigen Zustande), und bringen sie in eine durchaus neue Welt; lassen wir nichts an ihnen, das sie an das Alte erinnern könnte, so werden sie ihrer selbst vergessen und dastehen, als neue, soeben erst erschaffene Wesen. ... Es wird ein für alle Nachwelt warnendes Zeugnis sein, über unsere Zeit, wenn gerade diejenigen, die sie ausgestoßen hat, durch diese Ausstoßung allein das Vorrecht erhalten, ein besseres Geschlecht anzuheben
.
Reden an die deutsche Nation
finden, öffnete gerade die Intention einer alle Lebensbereiche umfassenden Erziehungsorganisation den Ausblick auf das, was heute mit einem modernen Terminus als Jugendpflege bezeichnet wird. Wenigstens für diesen Bereich der Sozialpädagogik wird es möglich sein, direkte Entwicklungslinien nachzuzeichnen149
149Vergl. den dritten Teil dieser Arbeit, III, 3.
.
[005:109] Für ein derart in die Zukunft gerichtetes Programm wie das einer nationalen Erneuerung lag es nahe, die Erziehung der Jugend als Mittel zur nationalen und sozialen Regeneration besonders hervorzuheben150
|A 146|150Daß eine kulturkritische Haltung pädagogische Bemühungen intensivieren kann und mit Vorliebe zum Mittel einer geschlossenen Anstaltserziehung greift, hat in anderem Zusammenhange Fritz Wüllenweber nachgewiesen (Dessau und Ifferten, Eine Strukturstudie zur Theorie der pädagogischen Internate, Diss. Göttingen, Langensalza (1932)). Es gehöre zum Wesen der Internate,
daß sie sich als Keimzellen eines neuen Geschlechts ... fühlen
(S. 92)
. Indessen wären diese Feststellungen Wüllenwebers an dieser Stelle nicht weiter erwähnenswert, wenn nicht – entgegen seiner Behauptung, es habe
durch das ganze 19 . Jahrhundert hindurch keine eigentliche Weiterentwicklung in dieser Hinsicht stattgefunden
(ebd.)
– in den Erziehungsanstalten für Verwahrloste eine ähnliche Haltung, jetzt allerdings mit der wesentlichen Variante einer sozialen Kritik, Gestalt gewonnen hätte.
. Hand in Hand mit solcher Intention und den darin enthaltenen kulturkritischen Tendenzen151
|A 146| 151Vergl. Arndt, Geist der Zeit, Werke VI-IX; Jahn, Volkstum; Fichte, Reden an die deutsche Nation; Vergl. ferner Bollnow, Die Päd. d. Romantik, S. 25 ff.
ging das Mißtrauen gegen die überlieferten erzieherischen Institutionen, vor allem aber gegen eine Erziehung, die sich in den verschiedenen Formen des nur darbietenden Unterrichtes, der Wissensvermittlung erschöpfte. Die Polemik gegen die rein intellektuelle Bildung – auch als Kritik an der Aufklärung zu verstehen – war hier u.a. die Voraussetzung für die soziale Neuordnung des nationalen Lebensraumes. Damit aber traten die Forderungen einer Erziehung zur Gemeinschaft, Gesittung und Charakterbildung entschieden in den Vordergrund152
152Es handelt sich dabei um ein allgemeines Charakteristikum der Epoche.
, mit deren Hilfe schon im Jugendalter die künftige soziale Ordnung erzieherisch dargestellt werden sollte153
|A 146| 153In diesem Zusammenhang ist auch auf den Freiherrn vom Stein hinzuweisen, der – im Unterschied zu seinen Zeitgenossen realistisch unmittelbar an die gegenwärtigen Zustände anschließend – durchaus in den Kreis der Theoretiker einer Nationalerziehung mit einzubeziehen ist. Jugenderziehung war für ihn ein notwendiges Glied seines Reformwerkes:
Es ist nicht hinreichend, die Meinung des jetzigen Geschlechts zu lenken, wichtiger ist es, die Kräfte des folgenden Geschlechts zu entwickeln
(G. H. Pertz, Das Leben des Ministers Freiherr vom Stein, VI Bände, Berlin 1849/54, Bd. II, S. 431)
. Auch für ihn steht das kulturkritische und sittliche Anliegen einer Nationalerziehung im Vordergrund. Die Entwicklung der sittlichen Kräfte
würde vorzüglich kräftig geschehen durch Anwendung der Pestalozzischen Methode, die die Selbsttätigkeit des Geistes erhöht, den |A 147|religiösen Sinn und alle edlern Gefühle des Menschen erregt, das Leben in der Idee befördert und den Hang zum Leben im Genuß mindert und ihm entgegenwirkt
(ebd.)
. So wird auch von Stein
Erziehung
gegen
Wissenvermittlung
ausgespielt, vor allem aber die pädagogische Bedeutung des öffentlichen Lebens der rein schulischen Erziehung gegenübergestellt. In Übereinstimmung mit seiner Ansicht über die erziehenden Kräfte eines geordneten Gemeinwesens, der Verfassungen, denen selbst eine nationalerzieherische Aufgabe zukomme, schreibt er:
Nach meiner Überzeugung wirkt öffentliches Leben mehr als Universitäten und Gymnasien ... auf die Vollendung der Erziehung eines Volkes
(a. a. O., Bd. VI, 2, S. 715)
; in der Selbstverwaltung sieht er
eine große nationale Erziehungsanstalt
(a. a. O., Bd. VI, 1, S. 366)
, denn in ihr wird vorwegnehmend der dem neuen Staat- und Nation-Begriff entsprechende Zustand eines schon erzogenen Volkes repräsentiert. Die unterständischen Schichten allerdings waren aus seiner Konzeption ausgeschlossen. Schließlich wird auch der Zweck der Gesellschaft, in scharfer Ablehnung einer merkantilistischen Nationalerziehung, pädagogisch bestimmt:
Nicht mögliche Produktion von Lebensmitteln und Fabrikmaterialien ist der Zweck der bürgerlichen Gesellschaft, sondern religiös sittliche und geistige Veredelung des Menschen, und auf jenen einseitigen Zweck dürfen Einrichtungen, die den Beruf eines großen Teiles des Volkes umfassen, nicht berechnet sein
(a. a. O. , Bd. VI, 1, S. 196 f.)
. Gerade in dem Nebeneinander von konservativer Grundhaltung, realistischer Erkenntnis der gesellschaftlichen Situation und der Intention einer sozialen Neuordnung hat er mit den ersten Trägern sozialpädagogischer Ideen und Einrichtungen vieles gemeinsam. Vergl. dazu auch G. Ritter, Stein – Eine politische Biographie; W. Dilthey: Die Reorganisatoren des preuß. Staates, Ges. Schr. Bd. XII, S. 37 ff. ; A. Flitner, Die politische Erziehung in Deutschland, Tübingen 1957, S. 76 ff.
. Um diese neuen Ziele zu erreichen, wurden neue Mittel erforderlich; die Schulerziehung reichte nicht mehr aus. In Gegensatz zu einer Argumentation aber, wie sie vom Problem der Verwahrlosung ausgehend geführt wurde, ergaben sich hier die Konsequenzen aus Überlegungen, die dem pädagogischen Prozeß immanent blieben154
|A 147| 154Vergl. den dritten Teil, III, 2 und 3.
.
[005:110] Für die Entwicklung der Sozialpädagogik ist dieses Ideengut in zweierlei Hinsicht bemerkenswert. Es lieferte neben der religiös-sozialen nun auch eine säkulare Begründung der neuen Erziehungsaufgaben, in denen der außerschulischen und -familiären Erziehung eine bevorzugte Stelle angewiesen wurde; die Startchancen für neue pädagogische Institutionen auf sozialpädagogischem Gebiet mußten sich damit erhöhen. Zum anderen aber fand in ihm ein Denken seinen Niederschlag, in dem die Nation mit allen ihren Gliedern als Organismus interpretiert wurde. Wenn damit die Sorge für Erziehungsnotstände der caritativen Sphäre entzogen und der Verantwortung der Nation anheimgestellt wurden, |A 35|so wurde doch auch andererseits – durch ein derart den bald darauf entstehenden gesellschaftlichen Verhältnissen unangemessenes Denken – auf diese Weise einem pädagogischen Verhalten Vorschub geleistet, das, statt an konkreten gesellschaftlichen Aufgaben, sich an sozialen oder nationalen Wunschbildern orientierte155
|A 147| 155Vergl. H. Freyer, Die Romantiker, S. 85.
.
[005:111] Der konkrete Ansatz indessen, den die in solcher Einstellung enthaltene Intention einer sozialen Neuordnung des Volksganzen in den entstehenden sozialpädagogischen Einrichtungen tatsächlich fand, ist nicht zu übersehen. Die nationalpädagogische Idee verband sich mit der Hilfe für die sozial gefährdete Jugend, sie glaubte in ihr sogar einen Verbündeten gefunden zu haben, da sich – wie aus dem Fichte-Zitat hervorging156
|A 147| 156Vergl. Fußnote 148.
– ihrer Durchsetzung an bestehenden Erziehungsstätten für die normale Jugend zu viele Hindernisse in den Weg gestellt hätten.
[005:112] Damit wurde der nationalpädagogische Gedanke auch von den Sozialpädagogen aufgegriffen.
Bei der Jugend muß die Wiedergeburt des Volkes anfangen
, schrieb Falk157
|A 147| 157
Falks Erziehungsschriften, S. 144.
; ein anderer: mit der Erziehung der Verwahrlosten habe sich die Gesellschaft
des wichtigsten Abschnittes der Volkserziehung bemeistert
158
|A 147| 158Die Zwangsarbeitshäuser, DV 1844, S. 6.
. Die Erziehungs- oder Rettungsanstalt bot überdies eine scheinbar ideale Möglichkeit, die neuen Ideen zu verwirklichen. Was schon in der kulturkritischen Tendenz philanthropischer Internate enthalten war159
|A 147| 159Vergl. Wüllenweber, a. a. O., S. 92 f.
, was Fichte gefordert hatte160
|A 147| 160
Fichte, Reden ... S. 153
:
Was aber unsern höhern Begriff einer Nationalerziehung anbelangt, so sind wir fest überzeugt, daß diese, besonders bei den arbeitenden Ständen, im Hause der Eltern, und überhaupt ohne gänzliche Absonderung der Kinder von ihnen, durchaus weder angefangen, noch fortgesetzt, oder vollendet werden kann... Dies ist auch eine der Voraussetzungen, die bei der Ausführung unseres Plans unbedingt ist, und auf keine Weise zu erlassen
.
, wurde nun auch zu einem positiven Rechtfertigungsgrund für eine isolierte Anstaltserziehung verwahrloster Kinder und Jugendlicher. Am deutlichsten fordert Fellenberg die Isolierung der Jugend von den schädigenden Einflüssen der verdorbenen Gesellschaft:
das einzig zuverlässige Mittel einer neuen Volkserziehung besteht in der Abscheidung der aufwachsenden Generation von der Verdorbenheit unserer Zeit, und sofort hauptsächlich in ihrer Erziehung zu einer würdigen Erfüllung der Bestimmung
161
|A 147|161E. v. Fellenberg, Hofwyl, S. 7.
. Da die kritisierten sozialen Zustände ihre augenfälligsten Symptome in Verwahrlosung und Kriminalität zeitigten, hätte es ohne diesen sozialpädagogischen Ansatz
an jeder wahren Basis der Verbesserung des Volkscharakters
gefehlt162
|A 147| 162
E. Spangenberg, Über die sittliche und bürgerliche Besserung der Verbrecher, o. J., S. 184
.
. Zugleich – um zu einer volkserzieherischen Breitenwirkung zu kommen – sollte der Gesellschaft die neue Volks- und Sozialordnung an den Modellen der Erziehungs- oder Rettungsanstalt, des Erziehungsvereins, des Gemeinde- und Volksfestes vorgeführt werden163
|A 147| 163
Vergl. dazu Völter, Gesch. u. Stat., S. 235
:
Die Rettungsanstalten bieten ferner dem Volke die Anschauung eines reinlichen geordneten Hauswesens und verständiger Erziehung dar
.
S. 236
:
Es sind namentlich die Jahresfeste der Anstalten, an welchen sich dieses Gemeinschaftsbewußtsein (der Gemeinde nämlich) beson|A 148|ders lebhaft ausspricht und durch welche es Nahrung bekommt. Sie haben sich, wie die Missionsfeste immer mehr zu eigentlichen christlichen Volksfesten ausgebildet
.
Fröbel, Aufruf an die deutschen Männer (Hoffmann, S. 129)
: Durch die Einrichtung vorbildlicher Erziehungsvereine würde
eine des Deutschen würdige, echte Nationalerziehung möglich, und diese würde die Bewahrung aller deutschen Tugenden und Gesittung sichern.
Briefwechsel Fröbel-Hagen, S. 11
:
Die Wirkungen solcher Vereine müßten für die Volks- und Nationalerziehung auf das höchste wichtig sein; bildende Volksfeste und erziehende Spiele... müßten sich daraus entwickeln
. Fellenberg will durch das Vorbild seiner Schule die Eltern veranlassen,
auch ihren Kindern eine bessere Erziehung zu geben
(a. a. O. , S. 33)
. Desgl.
Lange, a. a. O., S. 13
: Die Einrichtung der von ihm vorgeschlagenen Armen-Kolonien als großangelegte Erziehungsanstalten in Anlehnung an die Wehrli-Anstalt in Hofwyl sei eine Aufgabe für den
wahren Volks- und Vaterlandsfreund
; es gehe dabei um eine
versittlichende, gesunde Religion versichernde, industrielle und wissenschaftliche Bildung zu befördernde Nationalerziehung
. Falk (zit. nach
T. Reis, J. Falk als Erzieher verwahrloster Jugend, S. 65)
:
Die Zeit ist gekommen, wo Weimar ... auch der Mit- und Nachwelt durch das lebendige Beispiel einer neuen Erziehung und Volksbildung vorleuchten soll
.
.
[005:113] Wir bemerken hier also, nur in umgekehrtem Sinne, den gleichen Vorgang einer Vereinigung von national- und sozialpädagogischen Ansätzen, den wir bereits im Hinblick auf die Erweiterung des alten Volkserziehungs-Begriffes feststellen konnten. In jenem Falle wurde das niedere Volk zu einem gesamtgesell|A 36|schaftlichen Problem, seine Erziehung eine die innerständische Problematik überschreitende volkserzieherische Aufgabe. Hier hingegen bediente sich die
Nationalpädagogik
zum Zwecke ihrer Durchsetzung der Einrichtungen zur Erziehung eben dieses niederen Volkes und gab damit von sich aus der älteren
Volkserziehung
einen sozial höheren Rang, indem die volkserzieherische Aufgabe nun zu einer nationalen Aufgabe an den niederen und gefährdeten Schichten, deren Erziehung ein notwendiger Bestandteil der Erneuerung der Nation wurde.

3. Nationale und religiöse Erneuerung

[005:114] Wenn auch in solchen Gedankengängen Spuren der Idee einer merkantilistischen Nationalerziehung164
|A 148| 164Vergl. K. Höber, Die merkantilist. Nationalerz., Diss. Göttingen 1925.
nicht zu übersehen sind165
|A 148| 165Besonders bei Lange, a. a. O. und Riecke, Armenanst. ...
, so wird doch andererseits deutlich, daß diese in einem neuen Zusammenhang eine untergeordnete Bedeutung gewonnen hatten. Nicht die rationale Überlegung eines territorial begrenzten Wirtschaftsgewinns, die bürgerliche Brauchbarkeit des Untertan, war der entscheidende Impuls, sondern die Idee einer sozialen Einheit und Gesittung der Nation, die, sollte sie realisiert werden können, in der Erziehung vorweggenommen werden mußte. Diese Wendung aber ist nicht nur in den für Romantik und Idealismus in besonderer Weise charakteristischen Äußerungen unmittelbar einsichtig, sondern auch bei Verfassern, die ihre sozialpädagogischen Maßnahmen und Gedanken vor dem Hintergrund oder in Verbindung mit christlich-missionarischen Motiven verstanden wissen wollen.
[005:115] Eine Verbindung des nationalen und christlichen Motivs trat schon bei Falk mit aller Deutlichkeit hervor:
Man schwätzt von Deutschheit, aber das Wollen, das hartnäckige eiserne Wollen, was nimmer los läßt, was es für gut und edel erkannt, das fehlt. Es fehlen mutige, unverzagte Seelen,
lutherische Eisbären
, die nicht mit superfeiner Skeptik, nicht mit haarscharfer Dialektik, sondern durch Festlegung auf ein uraltes, zwar verklärtes, aber keineswegs zerstörtes historisches Fundament
handelnd eingreifen166
|A 148| 166Brief vom 7.7.1818, zit. nach
T. Reis, a. a. O., S. 15
.
. Er betrachtete seine Anstalt sowohl als Mittel zu einer
christlich praktischen Volkserziehung
167
|A 148| 167
Falk, Aufruf ... S. 12.
, wie auch als
ein echt patriotisches Unternehmen
168
|A 148| 168zit. nach
T. Reis, a. a. O. , S. 67
.
Vergl. auch Reinthaler, Schüler Falks und Gründer des Martinsstiftes in Erfurt, in Statut des Martinsstiftes, 1852, S. 4
:
... eine Anstalt für christliche Volkserziehung
;
. Der nationale Gedanke bleibt damit ein Bestandteil der für die weitere Entwicklung der Sozialpädagogik so wichtig gewordenen Inneren Mission, darüber hinaus aber überhaupt des von der evangelisch-lutherischen Haltung bestimmten sozialpädagogischen Sektors. Die Verknüpfung von nationaler Idee und christlichem Gemeindeleben wird geradezu in das Programm jener Kreise mit auf genommen:
Wir glauben fest an die Zukunft der evangel. Kirche, wir glaube eben |A 37|so fest an die Zukunft unseres Volkes und an das Wachstum des neuerwachten Nationalbewußtseins
169
|A 148|169Die Bedeutung des Nationalen im religiösen Leben, DV 1843, S. 174.
; somit müsse der Bund von Kirche und Nation ein
wechselseitiger
sein170
|A 148| 170
a. a. O., S. 170
.
. Auch in diesem Zusammenhang wurde das Volksfest erwähnt als ein soziales Geschehen, in dem die nationale und religiöse Einheit repräsentiert werden sollte, als pädagogische Mittel zum Ziele einer neuen Volksordnung.
In diesem Sinne wünschen wir besonders kirchlich geweihte Nationalfeste und überhaupt Verknüpfung der wahrhaft bedeutsamen und in dieser Beziehung fähigen Akte des Nationallebens mit dem Kirchlichen
171
|A 148|171a. a. O., S. 171.
. Denn
wenn so die Nationalität im christlichen Leben überhaupt ihre Bedeutung hat, so muß es sie auch in der Gemeinschaft haben, in welcher dieses Leben sich gesetzmäßig und organisch darstellt
172
|A 148| 172
a. a. O., S. 164
. Vergl. auch
Fliegende Blätter des Rauhen Hauses, Jg. 1847, S. 35
:
Es fehlt so ziemlich allen unseren deutschen Unternehmungen der inneren Mission die große nationale Basis ... trotz des begeisterten Singens E. M. Arndtscher Vaterlandslieder
.
, d. h. in allen Funktionen des gesellschaftlichen Lebens.
[005:116] Für die sozialpädagogischen Einrichtungen gewann diese Ideenverbindung eine grundlegende und weitreichende Bedeutung. In der sozialen Hilfstätigkeit der Inneren Mission setzte sich die alte Tradition christlicher Liebestätigkeit173
|A 148| 173
J. H. Wichern, Gesammelte Schriften, Bd. III, S. 161
:
Nichts ist patriotischer, als das Christentum, denn es birgt den Keim und die Kraft zur inneren Vollendung der Nationalität
; ders., Der Standpunkt der Inneren Mission gegenüber dem kirchlichen, politischen und nationalen Interesse, a. a. O. , S. 173–183; ferner A. Kolping, Der Gesellenverein, Köln und Neuß 1849, S. 12 ff.
fort. Sie verband sich mit der von Pestalozzi herkommenden erzieherischen Hinwendung zu den sozial benachteiligten Schichten und der jungen Idee einer umfassenden Volkserneuerung. Die sektenhaften Neigungen, besonders in der Rettungshausbewegung des Pietismus, wurden damit wesentlich eingeschränkt. Das für neue Institutionen so notwendige Selbstbewußtsein wurde, über die christliche und pädagogische Verpflichtung hinaus, entschieden gestärkt und schließlich der Boden bereitet, das Phänomen der Verwahrlosung in jenem vielschichtigen Sinne zu deuten, der ihm die für diese Epoche so bezeichnende erzieherische Tragfähigkeit verlieh.

III. Phänomen und Problematik der Verwahrlosung

1. Der Begriff – Verwahrlosung als die Formulierung eines sozialpädagogischen Problems

[005:117] Der Komplex von Bedingungen der Entstehung einer Sozialpädagogik, der im Folgenden zu behandeln sein wird, ist nicht in demselben Sinne ein geschichtliches Ereignis wie industrielle Entwicklung oder Nationalerziehung. Es handelt sich bei ihm im wesentlichen um ein neues begriffliches Phänomen, einerseits in der Auseinandersetzung mit den neuen geschichtlichen Sachverhalten entstanden, andererseits eine neue Erkenntnis dieser Sachverhalte begründend oder vorantreibend. Die gesellschaftlichen Veränderungen schufen neue soziale Tatsachen, mit denen die Erziehung rechnen mußte; der Gedanke der Volkserziehung, wie wir ihn darstellten, setzte diesen Tatsachen neue Ziele und Wert|A 38|vorstellungen entgegen. Von der Verwahrlosung indessen gilt weder das eine noch das andere in gleichem Maße. Verwahrloste, Arme, Hilfsbedürftige waren keine spezifische Begleiterscheinung der industriellen Entwicklung, wofür u.a. die Geschichte der caritativen Einrichtungen von der Arbeit katholischer Orden und Kongregationen bis zur Armenbehörde der Aufklärung ein eindrucksvolles Zeugnis ablegt174
|A 148| 174Vergl. dazu C. J. Klumker, Vom Werden deutscher Jugendf. Berlin 1931, ders., Fürsorgewesen, Leipzig 1918, W. Liese, Geschichte der Caritas, 2. Bd. , Freiburg 1922; M. Rehm, Das Kind in der Gesellschaft, München 1925. O. Schell, Das badische Fürsorgewesen in seiner gesch. Entwicklung, Bruchsal 1927. G. Uhlhorn, Die christliche Liebestätigkeit, Stuttgart 1890.
. Es läßt sich also weder behaupten, daß es sich dabei um eine grundsätzlich neuartige Erscheinung handele, noch daß diese Erscheinung erst im 19. Jahrhundert erkannt und ernst genommen worden sei. Wenn dennoch hier die Verwahrlosung für die Entstehung der Sozialpädagogik als wesentliches Phänomen und grundlegender Begriff vorausgesetzt und nachgewiesen werden soll, so aus einem anderen Grunde. Sie wurde nämlich erst jetzt zu einer schwerwiegenden Frage des Pädagogen; und zwar so, daß sie in der ganzen Breite der erzieherischen Praxis – das höhere und Fortbildungsschulwesen ausgenommen – an immer zentralere Stelle rückte, verstanden als erzieherisches Problem und nicht nur als eine Frage christlicher Liebestätigkeit oder gesellschaftlicher Organisation, und mehr noch: daß nämlich von ihr bestehende Bereiche und Institutionen mit einem pädagogischen Sinn erfüllt oder neue geschaffen werden konnten.
[005:118] Der Mangel an statistischem Material macht gültige Aussagen über eine effektive Zunahme von Verwahrlosungserscheinungen unmöglich. Die Klage über die Verwahrlosung jedenfalls scheint deren Faktizität bei weitem überstiegen zu haben. Aber gerade diese Tatsache ist es, die hier Beachtung verdient als Symptom für eine Bewußtseinshaltung, die ein sozialpädagogisches Denken und Handeln hervorbrachte. Völlig zutreffend charakterisierte daher Völter die Situation:
Daß es in unserer Zeit mehr verwahrloste Kinder gebe, als in jeder früheren, kann schwerlich behauptet, noch schwerer nachgewiesen werden. Wenigstens sind unsere Rettungsanstalten noch kein Beweis dafür. Ihr Dasein beweist nur, daß ein regerer christlicher Sinn unter uns erwacht ist, dem die Augen aufgegangen sind über einem Schaden, den man früher nicht zu bemerken schien
175
|A 148| 175L. Völter, Geschichte und Statistik der Rettungsanstalten, S. 31.
. W. H. Riehl interpretierte die Situation ähnlich, wenn er sagte, das
soziale Elend
beginne nicht mit einem faktischen Mangel, sondern mit dem Unvermögen, in einer bestimmten sozialen Stellung die Befriedigung zu finden176
|A 148| 176W. H. Riehl, Die bürgerliche Gesellschaft, S. 299.
.
Der Arbeiter bricht zuerst mit seiner Sitte und nachher fühlt er sich arm, nicht aber umgekehrt bricht er darum mit seiner Sitte, weil er sich jetzt erst arm fühlte, denn arm ist er immer gewesen, meist sogar früher viel ärmer
177
|A 148|177a. a. O., S. 363.
. Auf unser Problem übertragen heißt das: erst dadurch, daß soziales Leitbild und soziale Wirklichkeit auseinander|A 39|klafften, wurde
Verwahrlosung
eine pädagogische Kategorie und stellte dem Erzieher eine spezifische Aufgabe.
[005:119] Daß die Triebfeder einer solchen neuen pädagogischen Blickrichtung wesentlich auf einen
regeren christlichen Sinn
, wie wir bei Völter lasen, zurückzuführen sei, muß bezweifelt werden. Viel entscheidender war die Tatsache, daß man das Verhältnis des Einzelnen zur Gruppe, vor allem zu Gemeinde und Gesellschaft nicht mehr als eines betrachtete, das lediglich von rationalen Zwecken her seinen Sinn empfängt und demzufolge auch einer rationalen Gestaltung unterworfen ist, sondern als ein organisches Verhältnis, dessen Gestalt in Erlebnis, Sitte und Atmosphäre wächst. Fehler in einem solchen organischen Prozeß müssen daher auch in anderer Weise pädagogisch ernst genommen werden, sie sind nicht mehr in einem rein rationalen Sinne reparabel. Verwahrlosung ist daher – so wurde interpretiert – eine Störung dieses Wachstumsprozesses. Der
christliche Sinn
aber, von dem die Rede war, ist in diesem Falle bereits eine Deutung jenes primären geistesgeschichtlich bedingten Aspekts178
|A 149| 178Damit soll allerdings nicht bezweifelt werden, daß sich in solcher neuen Blickrichtung auch ein ursprünglich christliches Anliegen verwirklichen konnte.
.
[005:120] Damit war für Verwahrlosungsphänomene eine spezifische pädagogische Sensibilität erwacht.
Wohin wir also in dem Zustände der Gesellschaft unsere Blicke richten, in die Kirche, in den Staat, in das Haus, in das Leben, in das Herz, – überall sehen wir dasselbe. Es ist ein Schade da, und diesen Schaden kann die Gesellschaft selbst aus ihren Mitteln und mit ihren Kräften nicht bessern; und je größer der Schade ist, desto offenbarer wird das Unvermögen und die vergebliche Bemühung der Selbsthilfe; und je länger und tiefer wir hineinschauen in diese Risse, Brüche und Wunden der Gesellschaft, desto deutlicher wird es uns, daß aus ihnen selbst jene Verbrecher hervorkommen, welche die Gesellschaft dann von sich ausstößt ... weil sie selbst es nicht heilen und die krankhafte Bildung nicht zurückbilden kann in die geordnete Gliederung eines gesunden Leibes
179
|A 149| 179
C. B. Moll, Die Besserung der Strafgefangenen, Bln. 1841, S. 59
. Vergl. auch C. Weiß, Über Beurteilung, S. 1.
.
[005:121] Diese Wendung des Bewußtseins und des Wissens um die Verwahrlosung als pädagogisches Problem spiegelt sich deutlich in der Art und Weise der Verwendung des Begriffes, sowohl in grammatikalischer Hinsicht180
|A 149| 180
Verwahrlosen
wurde ursprünglich nur transitiv verwandt im Sinne von
jemanden verwahrlosen
; mhd. verwahrlosen = unachtsam behandeln.
wie auch in seiner inhaltlichen Beschreibung. Die Entstehung einer neuen Deutung findet in der Literatur ihren augenfälligen Niederschlag und läßt sich darin verfolgen. Im ganzen gesehen wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter Verwahrlosung im wesentlichen eine subjektive Entsprechung der Auflösung alter Sozialordnungen verstanden. Zwei Bedeutungsgehalte aber begannen sich deutlich auszugliedern: während der eine eher die Abhängigkeit des Einzelnen von überindividuellen Ordnungsgefügen bezeichnete, wies der andere auf eine bestimmte psychische oder sittliche Verfas|A 40|sung des Subjektes hin. Beide Aspekte treten in der hier behandelten Literatur nebeneinander, oft miteinander verbunden auf. Bei dieser Differenzierung war aber der normativ-soziale Bestandteil ohne Frage der ältere. Der neue psychologisch-analytische Aspekt dagegen setzte sich erst allmählich durch und fand seine Konsequenz in der psychologischen Fassung des Verwahrlosungsbegriffes seit der Jahrhundertwende181
|A 149| 181Vergl. die Definitionen bei A. Gregor u. Else Voigtländer, Die Verwahrlosung, Berlin 1918; W. H. Gruhle, Die Ursachen der Jugendlichen-Verwahrlosung und -Kriminalität, Berlin 1912; Reicher, Die Theorie der Verwahrlosung, Wien 1908; W. Runge und O. Rehm, Über die Verwahrlosung Jugendlicher, Berlin 1926; H. Többen, Die Jugendverwahrlosung und ihre Bekämpfung, 2. Aufl. , Münster, 1927, Wenn auch, wie etwa bei Runge-Rehm, die normative Qualität des Begriffs als Abhängigkeit von gesellschaftlichen Verhaltensmaßstäben mitgenannt wird, bleibt der damit angesprochene Sachverhalt durch das Übergewicht psychologischer Erkenntnismittel doch theoretisch ungeklärt.
.
a) Verwahrlosung als Mangel an sozialer Bewahrung
[005:122] Wird die Verwahrlosung an einem Begriff sozialer Ordnung gemessen, bedeutet sie mithin ein Versagen dieser Ordnung in einem konkreten Fall, nämlich dem eines solcherart verwahrlosten Kindes, dann enthält ihre Feststellung zugleich einen Vorwurf an die erziehende Generation, gleichgültig, ob dabei die Aufgabe der Bewahrung in institutioneller, religiöser oder moralischer Hinsicht unerfüllt blieb.
Die sittlich verwahrlosten Kinder sind, wenn vielleicht auch nicht ohne Eltern dem Leibe nach, so doch umso mehr ohne Eltern dem Geiste nach. Sie sind Waisen, aber in der Regel die unglücklichsten und hilfsbedürftigsten aller Waisen
182
|A 149| 182J. B. Hirscher, Die Sorge f. sittl. verw. Kinder, Freiburg 1856, S. 6.
. An anderer Stelle werden die Verwahrlosten als solche bezeichnet,
denen durch fremde Verwahrlosung (!) und eigene Schuld der moralische Untergang droht
183
|A 149|183Die Zwangsarbeitshäuser, DV 1844, S. 35.
.
[005:123] Die Aufgabe einer Verwahrlostenerziehung wurde entsprechend bestimmt. Sie besteht darin,
die Kinder so zu verwahren, daß das Böse nicht zur Herrschaft in ihnen gelange. Wo diese Seite der Erziehung vernachlässigt wird, da entsteht Verwahrlosung, und verwahrloste Kinder sind solche, welche ohne Verwahrung vor dem Bösen aufwachsen ... die auch in solchen Verhältnissen leben, daß das Böse von außen in seiner ganzen Macht auf sie einwirken kann
184
|A 149|184
Völter, Gesch. u. Statist., S. 14
; Vergl. auch Weiß, Über Beurteilung ... S. 22 ff., S. 39; Ristelhueber, Über die Notwendigkeit ... S. XIX; Moll, Besserung ... S. 4; Freib. kath. Kirchenblatt v. 20.1.1858.
. Folgerichtig klassifizierte man die Zöglinge in den Rettungsanstalten auch nach Grad und Art der entbehrten
Verwahrung
; in Vollwaisen, Halbwaisen, uneheliche Kinder, Kinder von Soldaten, Tagelöhnern, Armen, Fabrikarbeitern, Bettlern, Gefangenen185
|A 149|185Völter, a. a. O., S. 129.
. In allen diesen Fällen war es
der Mangel einer gesicherten Existenz
186
|A 149|186Hagen, Fragen der Zeit, Bd. II, S. 194.
, von dem her man sich die Verwahrlosungserscheinungen verständlich zu machen suchte, und gegen den auch
der Brave, der Wackere, der Redliche und Arbeitsame durch alle diese Eigenschaften allein sich nicht durchzuhelfen vermag
187
|A 149|187a. a. O., S. 195.
.
[005:124] Verwahrung und Verwahrlosung aber waren keine soziologischen Begriffe, mit denen lediglich ein sozialer Sachverhalt beschrieben werden sollte, denn Verwahrloste nannte man eben jene
Unglückliche, welchen die Verwahrung vor dem Bösen durch Andere nicht, wei sie nach göttlicher und menschlicher Ordnung sollte, zu Teil geworden ist
188
|A 149|188Weiß, Über Beurteilung ... S. 29.
. Diese Begriffe enthielten einen theologisch-|A 41|anthropologischen Aspekt. Die verwahrende Ordnung nämlich, die allein für fähig galt, eine drohende Verwahrlosung zu verhüten, war die christliche Gemeinschaft als Familie, Werkstätte, Gemeinde und Kirche. Verwahrlosung wurde daher immer auch als religiöse Verwahrlosung verstanden, da die in allen entsprechende Äußerungen enthaltene christliche Soziallehre als allein verbindliche vorausgesetzt wurde189
|A 149|189Vergl. Falk, Aufruf, S. 5, der den Umfang der Verwahrlosung an dem Nachlassen der Hausgottesdienste zu messen vorschlug.
[005:125] In diesem Sinne gab es keine Ordnung außerhalb der christlichen Gemeinde. Damit wird auch die außerordentliche Regsamkeit gerade betont christlicher Gruppen auf dem Gebiet der Sozialpädagogik verständlich, da diese sich in besonderer Weise von der Verantwortung betroffen fühlten und die Aufgabe nicht nur als eine pädagogische an ihren Kindern, sondern zugleich als eine umfassende Erziehung der ganzen Gemeinde ansahen. Es erklärt ferner, wieso die Klage über die Verwahrlosung des Volkes so große Ausmaße annehmen konnte, da nämlich immer größere Gruppen – durch die sozialgeschichtliche Entwicklung bedingt – sich der kirchlichen Sorge und Pflege entzogen, mithin von der als allgemeingültig interpretieren verwahrenden Ordnung nicht mehr umfaßt werden konnten.
b) Verwahrlosung als personale Fehlentwicklung
[005:126] Dieser inhaltlichen Fassung des Begriffes Verwahrlosung verband sich jene zweite, die in erster Linie den personalen Zustand eines Einzelnen bezeichnete und im Laufe des Jahrhunderts fortschreitend an Bedeutung und Verbreitung gewann, gerade in dem Maße, in dem die Überzeugungskraft der alten Sozialordnung nachließ und die soziale Frage aus dem Stadium ideologischer Polemik in das einer analytisch-wissenschaftlichen Betrachtung überging. Sie fand ihren literarischen Ausdruck vornehmlich in den allgemeinen Begriffen einer religiösen, moralischen oder sittlichen Verwahrlosung, die sowohl auf das Versagen verwahrender Ordnungen wie auch auf eigenen schuldhaften Anteil des Verwahrlosten zurückgeführt wurde. So wurden
böse Neigungen
190
|A 149|190Ristelhueber, Über die Notwendigkeit ... S. XIX.
,
Unsittlichkeit
191
|A 149|191ebenda
,
eigene Schuld
192
|A 149|192Die Zwangsarbeitshäuser, DV 1844, S. 35.
,
moralischer Untergang
193
|A 149|193ebenda
,
tief eingewurzelte und verbreitete ... Verderbtheit
194
|A 149|194Weiß, Über Beurteilung ... S. 38.
,
angeborene Verderbnis
195
|A 149|195Völter, Gesch. ... S. 14.
als Kennzeichen genannt, mit denen auf das Wesen der Verwahrlosung hingewiesen werden sollte. Auch in den Begriffen
Besserung
oder
Correction
– für die entsprechenden Anstalten verwandt – drückt sich dieser Aspekt auf das Phänomen aus, der besonders in der Literatur zur Erziehung straffällig gewordener Kinder und Jugendlicher seinen Niederschlag gefunden hatte196
|A 149|196Die Äußerung zum Problem der Kriminalität gehören in diesen Zusammenhang, da die nach damaligem Recht mit dem Strafgesetz in Konflikt gekommenen Jugendlichen nur zu einem geringen Teil als kriminell im modernen Verstande anzusprechen sind.
ø
[005:127] Daß aber neben einer solchen, lediglich wertend-konstatierenden, auch ein Ansatz für eine echt verstehende Betrachtungsweise |A 42|vorhanden war, beweisen die Schriften Weiß’, Völters und Molls. Doch schon in dem
Aufruf
Falks aus dem Jahre 1818 findet sich implizite die Forderung nach Verstehen und Analyse von Erscheinung und Ursache, wenn er schreibt:
Die Seele hat ihre Krankheiten so gut, wie der menschliche Leib, und oft von einer ebenso verwickelten Beschaffenheit
197
|A 149|197Falk, Aufruf, S. 26.
.
[005:128] Die Wendung von apodiktischer Wertung zu einem, dem Phänomen und seinen Ursachen nachgehenden Verstehen spricht sich am deutlichsten in der Feststellung einer spezifischen Andersartigkeit des Verwahrlosten aus198
|A 149|198
Weiß, a. a. O. , S. 103
, vergleicht das verwahrloste Kind mit den schlechten Schülern und stellt fest:
Diesen nämlich steht es noch nicht einmal gleich; es steht entweder tiefer als sie, oder doch anders
, es habe
seine bisherige Unwissenheit ... nicht so, wie jene, durch Unachtsamkeit und Trägheit ... verschuldet
.
. Es komme
auf die richtige Würdigung des Zustandes an
, nicht die Symptome seien entscheidend, sondern der ihnen zugrunde liegende psychische Zustand des Subjekts199
|A 149| 199
a. a. O. , S. 39
. Daraus ergibt sich für Weiß
(S. 105)
folgende Konsequenz:
Es mag ein wohlgemeinter Irrtum sein, aber es ist ein großer Irrtum, daß verwahrloste Kinder von reiferem Alter, wenn ihnen der Unterricht im Christentume vorher nicht gemangelt hat, nun zunächst |A 150|nur durch die christliche Lehre von der Buße und Bekehrung auf den Weg wahrer Sinnesänderung gebracht werden müßten
.
, die Bedingungen, die einen solchen Zustand hervorgerufen haben.
[005:129] Auf die Grenze dieses Aspekts hat aber 1841 schon B. Moll hingewiesen. Er konstantierte zwei Fehldeutungen des Verwahrlosungsphänomens: 1. Die Radikalisierung des rousseauschen Ansatzes von der Güte des Menschen und der ausschließlichen Bestimmung der Verwahrlosungsursachen als Milieu-Faktoren; 2. die kausale Erklärung dieses Phänomens aus rein psychischen Bedingungen. In beiden Fällen handele es sich um ein
Verstehen
, das nicht mehr die Kraft einer überzeugenden Wertsetzung besitze.
Der richtige Gedanke, daß die Sünde der menschlichen Natur ursprünglich fremd sei, verstellt sich sofort in den Wahn der Schuldlosigkeit des geschichtlichen Individuums, dessen zufälliges Unglück es sei, dieser grauenhaften Macht mit Notwendigkeit verfallen zu sein
200
|A 150|200Moll, Besserung, S. 8.
. Ebenso kritisierte er die psychologischen Erklärungsversuche:
In jene andere Wendung, welche die Schuld der Sünde in den psychologischen Zusammenhang der Neigungen, Ansichten und Triebe schiebt und darin verschwinden läßt ... sind besonders diejenigen Beobachter verliebt, welche gebildet genug sind, um den weit greifenden Einfluß dieser inneren Vorgänge auf das ganze Leben eines Menschen anzuerkennen und ihren Spuren nachgehen zu können bis zu ihrem Anfange und Keim, aber ... kein Maß für die Beurteilung des sittlichen Wertes und der religiösen Bedeutung derselben haben
201
|A 150|201ebenda
.
[005:130] So bildeten sich, in steter Konfrontation mit den auftretenden Erziehungsschwierigkeiten, die Mittel zu deren Verständnis und Deutung. Mit Hilfe solcher Differenzierung konnte jetzt auch eine klare Unterscheidung von Waisenkindern und Verwahrlosten getroffen werden, von Armen und Verwahrlosten, die sich begrifflich bis dahin kaum unterschieden. Für die pädagogische Praxis bedeutet das die pädagogisch-methodische Begründung einer eigenen Verwahrlostenerziehung und deren grundsätzliche Trennung von den Maßnahmen der bloßen Versorgung.
|A 43|
c) Die Verbindung der beiden Aspekte
[005:131] Die Darstellung wäre unzulänglich, wenn sie sich mit der isolierten Herausarbeitung der genannten zwei Aspekte begnügen wollte, bekommt doch die Fassung des Verwahrlosungs-Begriffes erst dadurch ihre eigentliche Bedeutung, daß beide verbunden wurden und so ein verstehendes Eindringen in das ganze Phänomen ermöglichten, wenn auch nicht in einem wissenschaftlichen und endgültigen Sinne, so doch in dem Bereich vorwissenschaftlicher theoretischer Klärung als Bedingung der Möglichkeit angemessenen erzieherischen Handelns auf diesem Gebiet. Die Theorie freilich war der Praxis um einiges voraus.
[005:132] Ein ungenannter Verfasser definiert:
Verwahrlost überhaupt nenne ich ein Kind, dessen leibliche und geistige Bedürfnisse, wie sie sein Wesen als Mensch und Christ, als Kind und heranwachsender Staatsbürger erheischt, in seinem Hause nicht befriedigt worden sind, ja das an Leib oder Seele oder an beiden zugleich infolge gewissenloser Vernachlässigung seiner Eltern so großen Schaden gelitten hat, daß es notwendig erscheinen muß, ein solches Geschöpf seinem Ruin zu entreißen und gegen die ihm drohenden Gefahren sicher zu stellen
202
|A 150|202Freib. kath. Kirchenblatt v. 24.10.1857.
. Es wird hier deutlich unterschieden zwischen Ursachen und Folgen, dem Mangel an verwahrender Ordnung und dessen subjektiver Entsprechung. In dieser Ordnung ist eine mögliche Harmonie von objektiven Anforderungen und subjektiven Bedürfnissen vorausgesetzt, die die Erziehung herzustellen bzw. zu bewahren hat. Verwahrlosung ist daher immer auch unterlassene oder verfehlte Erziehung.
[005:133] Hirscher konnte unter dieser Voraussetzung die verschiedenen Grade der Verwahrlosung nicht nur nach der Art der
Anlagen
, sondern auch nach dem Maße genossener Erziehung bestimmen: Er unterschied gutartige Kinder ohne Erziehung; nicht bösartige, aber bösartig beeinflußte infolge schlechter Erziehung; bösartige
von Natur
und infolgedessen unter erfolglosen erzieherischen Einflüssen;
von Natur
bösartige und zugleich ohne jede Erziehung203
|A 150| 203Hirscher, Die Sorge f. sittl. verw. Kinder, S. 15. Eine solche Differenzierung hat freilich weniger sachlichen, als vielmehr nur historisch-symptomatischen Wert.
. Es stellte sich damit heraus, daß die Erziehung als eine Funktion menschlicher Ordnung für die Verwahrlosung von entscheidender Bedeutung ist. Völter – im Blick auf diesen Sachverhalt – trieb die Analyse wesentlich voran, wenn er positive und negative Verwahrlosung unterschied, ein Zuviel an angeblicher Erziehungseinwirkung, das
in Verziehung und Verfügung umschlägt
im ersten, ein Zuwenig an erzieherischer
Verwahrung
im zweiten Falle204
|A 150| 204Völter, Gesch. u. Stat., S. 14.
. Angesichts der dauernden Gefährdung müsse die
Erziehung
eigentlich schon vor der Geburt beginnen, woraus folge,
daß auch die Verwahrlosung schon im Mutterleib, ja schon bei und vor der Zeugung anfangen könne
205
|A 150|205ebenda
, womit nichts anderes gesagt ist, als daß nur eine schon vor der Geburt |A 44|des Kindes sich als intakt erweisende Ordnung auch eine die Verwahrlosung verhütende Erziehung garantieren kann.
[005:134] Die beiden Aspekte auf das Verwahrlosungs-Phänomen – als soziale Mangelerscheinung und deren subjektive Entsprechung – finden sich bei Weiß in einer anderen Formulierung als Aspekt des Staates und des Erziehers wieder206
|A 150| 206
Weiß, Über Beurteilung ... S. 22 ff.
. Das pädagogische Problem tritt hier am deutlichsten hervor. Die objektive und subjektive, soziale und individuale Seite des Phänomens werden dialektisch interpretiert. Im Aspekt des Staates werde die Verwahrlosung vom Begriff des
guten Bürgers
, seiner Loyalität her bestimmt. Verwahrlost sei, wer eines Deliktes für schuldig befunden und daher,
um des allgemeinen Rechtszustandes
und
um der künftigen Sicherheit willen
, ausgesondert oder bestraft wird. Die
Besserung
, d. h. Erziehung als solche könne daher nicht Zweck dieser Maßnahme sein207
|A 150|207
a. a. O., S. 23
.
. Auch der Erzieher sei in dieser Einsicht Beamter des Staates und habe damit in dessen Auftrag zu verfahren208
|A 150|208
a. a. O., S. 30
.
. Als Erzieher aber müsse er das Wesen der Verwahrlosung vom einzelnen Kinde her denken. Er stehe dann in einer grundsätzlich anderen Verantwortung; die von der Gesellschaft konstatierten Verwahrlosungssymptome seien ihm nur Hinweis auf versäumte oder hier und jetzt geforderte erzieherische Aufgaben, nicht aber selbst Gegenstand der Verurteilung.
Für den Staat sind verwahrloste Kinder Correctionairs für die Schule und das Haus209
|A 150| 209Weiß spricht aus den Erfahrungen des Lehrers.
... Sie sind diejenigen Unmündigen, welche, sowohl wegen verübter als wegen von ihnen ... zu besorgender Verbrechen, vom Staate in polizeiliche Obhut genommen werden. Von den nicht verwahrlosten Kindern unterscheiden sie sich der Art nach ... Für den Erzieher ... können verwahrlosete Kinder ... von den übrigen – denn mit Erwachsenen findet keine Vergleichung statt – nicht der Art sondern nur dem Grade nach unterschieden werden
210
|A 150|210a. a. O., S. 36.
.
[005:135] Durch die deutliche Trennung der beiden Aspekte war es Weiß auch möglich, das Problem der Verwahrlosung tiefer zu erfassen als der größte Teil seiner Zeitgenossen. Verwahrlosung wurde von ihm als psychischer Fehler, als Verhaltensstörung verstanden, hervorgerufen durch Ordnungsmängel im Milieu des Betroffenen, dem bestimmte pädagogische Maßnahmen,
Heilmittel
211
|A 150|211a. a. O., S. 130.
entsprechen. Indem Ungläubigkeit oder
Religionslosigkeit
hier nicht als Ursache212
|A 150|212Vergl. im ersten Teil III, 2.
, sondern als Symptom angesehen wurde und die Verwahrlosung als ein durch persönliches Schicksal213
|A 150|213
a. a. O., S. 22, 49, 100 ff.
, Erziehungsfehler und Umwelt bedingter Zustand des Einzelnen verstanden, wurde ein erster Schritt zur Entideologisierung dieses Problems getan und der Weg zu einem pädagogischen Verständnis im eigentlichen Sinne freigelegt.
|A 45|
[005:136] Aus den hier vorgelegten Darstellungen des Begriffes Verwahrlosung erhellt nun aber ein für die Entwicklung und Bestimmung der Sozialpädagogik recht bedeutsamer Tatbestand. Es wurde schon darauf hingewiesen, daß die Verwissenschaftlichung des Begriffes zu einer einseitig psychologischen Bestimmung hin tendierte. Wenn auch auf diese Weise erst ein eigentliches Wissen von der Verwahrlosung sich konstituierte und den erzieherischen Maßnahmen wesentliche Voraussetzungen geliefert wurden, so müssen wir doch feststellen, daß in solcher Entwicklung zugleich ein Verlust sich bemerkbar machte. Zwar wurden die bewahrenden sozialen Ordnungen nicht in ihrem geschichtlich bedingten Charakter erkannt, sondern als naturgegebene oder gottgewollte als allgemeingültig angesehen, damit zugleich bestimmte Erscheinungen abwertend beurteilt, die gerade in der sozialen Übergangssituation jener Jahrzehnte keinesfalls mit Sicherheit als Verwahrlosungserscheinungen zu fixieren gewesen wären; der richtige Ansatz aber, daß nämlich Verwahrlosung nur zu bestimmen ist im Hinblick auf konkrete Ordnungen einer geschichtlichen Situation und Individuallage, war hier enthalten. Verwahrlosung als Diskrepanz zwischen Gegebenem und Aufgegebenem214
|A 150|214Paul Moor, Verwahrlosung; in Internat. Zeitschr. für Erziehungswissenschaft, Vol. I, 1955, S. 209 – 217.
, als Anforderung, die die soziale Ordnung an den Einzelnen stellt – und Verwahrlosung als pädagogisch hilfsbedürftiger Zustand andererseits: das ist das Schema, das den dargestellten Äußerungen zu diesem Problem zugrunde liegt und sich unter dem Eindruck der drohenden Auflösung alter Sozialformen herausbildete und ins Bewußtsein gehoben wurde.

2. Das Phänomen – Verwahrlosung als Zeiterscheinung und Notstand

[005:137] Wenn wir nach der Feststellung des Begriffes unser Augenmerk nunmehr auf die konkreten Erscheinungen richten, die mit diesem Begriff bezeichnet wurden, mithin die jeweils gemeinten Inhalte als typische Verfalls- oder Mangelerscheinungen darstellen, dann fällt sofort die außerordentliche Verschiedenheit der unter dem Terminus begriffenen Sachverhalte auf, die sich nicht auf bestimmte – etwa soziale – Verhaltensweisen einschränken lassen; der Begriff umfaßt vielmehr alle nur mögliche Kritik an der zeitgenössischen Form gesellschaftlichen und individuellen Lebens. Zunächst scheint das eine Erweichung und Vernebelung einer klaren, brauchbaren und i. e. S. bezeichnenden Fassung des Begriffs zu bedeuten; in Wahrheit aber erhöht – wie wir noch sehen werden – gerade diese Tatsache dessen Bedeutsamkeit.
[005:138] In der Auswahl der als Verwahrlosung benannten Erscheinungen, die von den verschiedenen Autoren getroffen wurde, macht sich |A 46|eine Deutung bemerkbar, indem solche Auswahl nämlich Einschätzung und Bewertung, wie auch Hinweise auf ein Verständnis der Ursachen enthält. Wir können daher mit dem Folgenden nicht beabsichtigen, faktisches Ausmaß und detaillierte Form der Verwahrlosungserscheinungen zu bestimmen, sondern müssen uns darauf beschränken, eine Darstellung der Interpretation bestimmter Phänomene als kritische Stellung des Menschen zu seiner Zeit zu geben. Solche Beschränkung ergibt sich zugleich als notwendige Folge des Verwahrlosungsbegriffes, dessen inhaltliche Fassung nicht anders als in historisch-gesellschaftlicher Besonderung möglich ist, und der nur als kritischer Korrektur-Begriff auf der Voraussetzung einer wertenden Stellungnahme zur jeweiligen Gegenwart gedacht werden kann. Es ist daher für alle derartigen Stellungnahmen bezeichnend – von wenigen Ausnahmen abgesehen – daß sie sich, von dem Erweis eines individuellen Befundes ausgehend, zu allgemeineren Aussagen sozial- und kulturkritischer Art ausweiten, dadurch, daß sie versuchen, die allgemeinsten Ursachen solchen Befundes und damit die umfassendsten Möglichkeiten seiner Überwindung aufzudecken.
[005:139] Mit solchen Deutungen wurde die Betrachtung der sogenannten Verwahrlosung in jeweils besonderer Weise akzentuiert. Bestimmte Ursachen-Komplexe und ihnen zugeordnete Verwahrlosungserscheinungen traten in den Vordergrund, andere wurden als weniger bedeutsam nur gestreift oder gänzlich verschwiegen, sodaß scheinbar eine durchaus verschiedene Bewertung der sozialen Tatbestände zu konstatieren wäre. So wurden, je nach den Standpunkten der Verfasser, allgemeine sittliche und religiöse Entartung, unverantwortliche Lebensweise der sozial führenden Schichten, Laxheit und Liberalität, Standesegoismus, soziale Entfremdung der unteren Volksschichten genannt, Auflösung der Familien, großstädtische Gefahren, sittenverderbende Kumulation sozial ungeborgener Bevölkerungskreise in den Fabriken, mangelhafte Erziehung durch Schule und Elternhaus, uneheliche Geburten, schlechte Entlohnung der handarbeitenden Schichten, schließlich auch mangelhafte Gesetzgebung, Verlust sittebildender Bodenständigkeit oder rationalistische Aufklärung. Die Fülle einschlägiger Äußerungen indessen läßt sich im wesentlichen nach zwei Akzenten ordnen: Verwahrlosung als Funktion des gesellschaftlichen Zustandes – und Verwahrlosung als Funktion eines fehlerhaften Familienwesens und einer entsprechenden Erziehung. Hinter den meisten Äußerungen aber taucht schließlich immer wieder das sittlich-religiöse Problem auf, ein Vorwurf, mit dem man die gesamte Gesellschaft zu treffen beabsichtigte und von dem aus jene Äußerungen erst als sekundäre Erklärungen galten.
|A 47|
a) Der gesellschaftliche Aspekt
[005:140] Die Versuche, Verwahrlosung als Folge gesellschaftlicher Verhältnisse zu deuten, treten vor allem im Umkreis kriminalpolitischer und -pädagogischer Literatur hervor. So finden wir bei N. H. Julius eine weitgeführte Kritik der zeitgenössischen Erwerbsverhältnisse, die in der These gipfelt,
daß das, was man gewöhnlich Zivilisation nennt, eher eine Zu- als Abnahme der Verbrechenszahl bewirkt
habe215
|A 150|215
N. H. Julius, Gefängniskunde, S. CXXIII
.
. Für ihn wie auch für Arnim216
|A 150| 216A. H. v. Arnim, Bruchstücke über Verbrechen und Strafen. Vergl. auch
Jahrbücher d. Preuß. Volksschulwesens, Bd. V, S. 11
: Man müsse fragen,
ob nicht in den bestehenden allgemeinen Einrichtungen und Verhältnissen der gegenwärtigen Zeit im Vergleich zu denen der ehemaligen Zeiten Ursachen entdeckt werden könnten, aus welchen das zunehmende sittliche Verderbnis sich erklären ließe
.
erschien als wesentliches Symptom der Zivilisation die durch die neuen gesellschaftlichen Zustände bedingte Normenlosigkeit sozialen Verhaltens.
Müßiggang, Neigung zum Wohlleben und Hand zur Unordnung sind daher die Motive der mehrsten Verbrechen
217
|A 150|217Arnim, a. a. O., Bd. II, S. 33.
. Auch Mittermeier stimmte mit den Vorgenannten überein, denn Zivilisation in diesem Sinne sei
ohne moralischen Grund
, sei
die zu eng gefaßte Zivilisation, welche sich losreißt von allen moralischen und religiösen Grundlagen, während die wahre Zivilisation in einer harmonischen Ausbildung des Geistes und des Gemütes ihre Aufgabe findet
218
|A 150|218K. J. Mittermeier, Beiträge zur Criminalstatistik; in Hitzigs Annalen, Bd. VIII, 1830, S. 204.
. Die Ursachen im einzelnen seien der steigende Luxus, die Verminderung der Erwerbszweige, die Unangemessenheit des Arbeitslohnes, die Vermehrung der Armen, die Zahl der Vagabunden, das System indirekter Steuern, schließlich sogar eine zu strenge Strafgesetzgebung219
|A 150| 219Mittermeier, Der franz. Compte general; in Hitzigs Annalen, Bd. III, 1828, S. 359ff.
A. a. O. , S. 168
, referiert Mittermeier die verschiedenen zeitgenössischen Deutungen. Sie seien vor allem in vierfacher Weise geläufig,
je nachdem 1. Einige die Ursache nur in der schlechten Strafgesetzgebung finden, über den erbärmlichen Mangel an Strenge der Strafe überhaupt klagen ... 2. Andere suchen in äußeren Umständen, in der steigenden Not, in der Vermehrung des Luxus, in der Strenge gegen Wilddiebe, in den Lockungen des Lotto etc. den Grund, während 3. Andere auf den tieferen Grund der Erscheinungen zurückgehen, und im Zusammenhange mit der Zivilisation das Steigen der Verbrechen betrachten, oder 4. in dem Sinken der moralischen Bildung der Menschen die wahre Ursache suchen
.
. Ganz allgemein allerdings stellte er fest:
Unverkennbar gehören zur Verübung der Verbrechen: 1. gewisse Neigungen, 2. gewisse äußere Versuchungen und Anlockungen, 3. gewisse Gelegenheiten, welche die Verübung der Verbrechen erleichtern
220
|A 150|220Mittermeier, in Hitzigs Annalen Bd. XVIII, S. 204.
. Die Zeit aber sei eben dadurch gekennzeichnet, daß der zweite Komplex der eigentlich gesellschaftlichen Ursachen unverhältnismäßig bedeutsamer geworden sei.
[005:141] Der Begriff
Ursache
allerdings wäre hier, im strengen Sinne jener Kritiker, schon ungenau.
Der Mangel an Erziehung, die schlechte Gesellschaft, die Drangsal und Not, die Unwissenheit, das Vorurteil, die Leidenschaft
galten nicht als
die Ursache, sondern die Veranlassung und die Bedingungen
der Verwahrlosung221
|A 150|221
Moll, Besserung, S. 24
.
. Die Zunahme der Verarmung, das
allmähliche Verschwinden eines kernhaften Bauern- und Arbeiter Standes
222
|A 150|222a. a. O., S. 42.
,
die Verschärfung der Klassengegensätze
223
|A 150|223ebenda
schienen als Erklärungen nicht hinreichend zu sein. Man suchte nach grundlegenderen Ursachen.
Daß eine Zeit, welche so viele Bedingungen physischer und geistiger Wohlfahrt in sich trägt, an einem moralischen Übel von solchem Umfang und solcher Bedeutung krankt, ist allerdings eine auffallende Erscheinung, welche ihren Grund nicht bloß in vorübergehenden und sporadischen Zufälligkeiten, sondern in dem gesamten Komplex der Zeitrichtungen haben muß
224
|A 150|224Völter, Gesch. u. Stat., S. 33.
. Die Kritik |A 48|an der Verwahrlosung erweiterte sich damit zur Kulturkritik, die den
Zeitgeist
für das Versagen gegenüber der Erziehungsaufgabe verantwortlich machte. Die Ursachen seien in der
jetzt herrschenden Überschätzung der natürlichen Kräfte des Menschengeistes
, überhaupt in dem Unfug, der mit dem Worte
Geist
getrieben würde, zu suchen225
225
Moll, a. a. O., S. 48 f.
; darin, daß
ein unverhältnismäßiges Gewicht auf das bloße Wissen und Verstehen gelegt und die einseitige intellektuelle Ausbildung begünstigt
würde226
|A 150|226
a. a. O., S. 49
.
; vornehmlich aber – als Folge des Liberalismus – in der schrankenlosen Emanzipation der Individuen, der kulturellen Teilgebiete und sozialen Gruppen,
denn was hat sich, seitdem jene Bewegung angegangen, nicht alles empanzipieren wollen?
227
|A 150|227a. a. O., S. 51.
Kurz, man müsse
in dem Sinken der moralischen Bildung der Menschen die wahre Ursache suchen
228
|A 151|228Mittermeier, Der franz. Compte general; in Hitzigs Annalen, Bd. III, 1828, S. 168, S. 359.
. Es kann aber kein Zweifel sein, daß die so apostrophierte moralische Bildung jenes sittlich-soziale Verhalten bedeutet, das die Norm einer vorindustriellen Gesellschaft und zugleich die einer christlich-ständischen Soziallehre erfüllte.
b) Familie und Erziehung
[005:142] Für den Erzieher aber lag es näher, weniger auf die entfernteren Bereiche gesellschaftlicher Ursachen zu blicken, als vielmehr die Bedeutung des engeren Kreises von Familie und Gemeinwesen in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen zu rücken. Die entsprechenden Äußerungen nehmen daher auch einen weit größeren Raum in der sozialpädagogischen Literatur ein.
Aus der frühesten Lebensperiode wächst der gestreute Same empor, zum Guten wie zum Bösen, und das elterliche Haus ist die Wiege dafür und der erste Schauplatz. Herrschte dort rechter Verstand und Einfalt der Sitte, so würde man nach verwahrloseten Kindern vergebens fragen. Aber so ist es nicht; vielmehr in den meisten Fällen haben die Eltern oder Versorger der Kinder den ersten Grund zu nachherigen Vergehungen derselben selbst gelegt
229
|A 151|229Weiß, Über Beurteilung ... S. 164.
[005:143] Diese mangelnde Bewahrungs- und Erziehungsfähigkeit wurde zurückgeführt auf die Auflösung der Großfamilie, ein Nachlassen der ehelichen Bindungen, den Verlust des
Hausgeistes
, das gelockerte Verhältnis von Meister und Gesellen im Handwerkerhaushalt, den Autoritätsschwund, in letzter und grundsätzlicher Hinsicht aber auf die – wie man meinte – verloren gegangene christliche Fundierung des Familienlebens und seiner Formen230
|A 151|230Vergl. Bergsträßer, Strafanstalten, S. 137 ff. ; ferner J. Hoffmann, Die
Hausväter-Literatur
, S. 302 ff. Besonders das Problem des unehelichen Kindes gewann in diesem Zusammenhang eine entscheidende Bedeutung. In ihm schien sich der Verlust der alten Sozialnormen am anschaulichsten zu konzentrieren. Eine in den
Fliegenden Blättern des Rauhen Hauses, Jg. 1848, S. 75 f.
abgedruckte Statistik sieht folgendermaßen aus:
Folgende Zusammenstellung der unehelich und ehelich geborenen Kinder wird das allmähliche Verschwinden der ehelichen Geburten und die Zertrümmerung der Ehe besonders in unserem Vaterlande anschaulich machen
:
In Magdeburg ist immer 1 uneheliches Kind unter 9 Kindern
Berlin
7, 8
Stettin
7, 1
Gotha
7
Frankfurt
6, 9
Dessau
5, 9
Lübeck
5, 8
Mecklenburg
5, 6
Hamburg und Königsberg
5, 2
Leipzig
4
Augsburg
3
Wien
2 1/3
München
2.
.
Wo das Familienleben noch am zartesten blüht, wo das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern ein reines ist, wo die Heiligkeit der Ehen geachtet wird ... da erfreut man sich zugleich der sichersten Bürgschaft, daß Verbrechen seltener werden
231
|A 151|231Mittermeier, Beiträge, in Hitzigs Annalen Bd. XVIII, S. 207.
, diese Bürgschaft aber könne die Gesellschaft nicht mehr geben. |A 49|Julius beschreibt die Folgen solchen Verlustes im Einzelnen: An die
fehlerhaften Verhältnisse
in der Gesamtgesellschaft schließe sich
die mit der mangelnden häuslichen Erziehung Hand in Hand gehende, immer mehr zunehmende Auflockerung der Familienbande an, die nicht allein die Blutsverwandtschaft, sondern auch die Verhältnisse des Lehrherrn zum Lehrling, des Hausvaters zum Gesinde umfassen sollen. Aus eben dieser Auflockerung ... entspringt die durch Abschaffung der Kirchenzucht und durch Zerbrechung der wohltätigen, in den Zünften erhaltenen Schranke, ins Beispiellose vermehrte Zahl der unehelichen Geburten ... Auf gleiche Weise führt die Erschlaffung und Sprengung der ersten und heiligsten Menschen-Verbindung, der Familie, das Davoneilen des Hausvaters, das Zerstieben der Blutsfreunde, das Verwahrlosen des Gesindes, zu jener, eine merkwürdige Eigentümlichkeit der gegenwärtigen Zeit darbietende Schaulust und Genußgier, für deren niemals gesättigte Befriedigung unbedenklich Verbrechen begangen werden
232
|A 151|232Julius, Gefängniskunde, S. CXXXII f..
. Bei solchen Betrachtungen rücken mitunter die Familienverhältnisse derart in den Vordergrund, daß den Eltern geradezu die Hauptlast der Verantwortung für Verwahrlosungserscheinungen zugesprochen wird233
|A 151|233Schlipf, Erziehungsanstalt, S. 54.
, sodaß schließlich in einer Rettungsanstalt die Zöglinge sogar nach der Art elterlichen Verhaltens klassifiziert wurden234
|A 151|234ebenda
.
[005:144] Immer wieder aber führen die Überlegungen zurück auf die kirchliche Bindung, deren Verlust alle anderen, die Verwahrlosung bedingenden und charakterisierenden Erscheinungen erst zur Folge habe.
Es ist ein trauriges Zeichen von dem in unserer Zeit überhand nehmenden Zerfall des häuslichen Lebens, daß der Hausgottesdienst, der in früherer Zeit fast allgemeine Sitte und wenn auch nur Sitte, doch noch ein Segen war, eine Ausnahme geworden und mit ihm der religiöse Sinn aus den Wohnstuben gewichen ist. Religion aber ist die Stütze der Familien, wie der Staaten; wo sie fehlt, da fehlt es am Haussegen und an der Hauszucht ... Uneinigkeit, Hausstreit, eheliche Untreue, außerhäusliche Vergnügungssucht, Zerstreuung, Spiel, Trunkenheit, Verarmung und Not nehmen überhand. Es fehlt an den wahrhaft erhaltenden geistigen Kräften und so fehlt zuletzt auch der Mut, sich den Pflichten und Lasten eines geordneten Hauswesens zu unterziehen
235
|A 151|235
Völter, a. a. O. , S. 37
. Vergl. auch
Freib. kath. Kirchenblatt vom 28.11.1857
:
Allein bei der materiellen Richtung unserer Zeit glaubt gewöhnlich der Familienvater, seine Haupt- und einzige pflichtschuldige Aufgabe sei nur, durch gewinnbringende Geschäfte und dienstliche Stellung für seine Familie viel zu erwerben, und während er in seinem materiellen und äußeren Geschäftsleben für den Wohlstand der Familie sorgt, hält er sich berechtigt, das ganze Hauswesen samt der Kindererziehung der Familienmutter zu überlassen; da diese aber von der nämlichen materiellen Richtung der Zeit infiziert ist, freilich in einer anderen Weise, und viele Zeit für Putz, Gesellschaften, leere Reden, oberflächliche Lektüre usw. zu verwenden hat, so erübrigt nichts, als die Kinder in Institute zu schicken, und wir müssen es loben, wenn unter Umständen dies nur noch geschieht
.
. Den gleichen Zusammenhang von Ursachen und Wirkungen konstatierte Falk 30 Jahre früher. Um einen Maßstab für das Ausmaß der Verwahrlosungserscheinungen zu gewinnen, empfiehlt er festzustellen:
1. Wie viele Hausgottesdienste, mit ihren Kindern und Gesinde gehalten, sind ohne Spur in den letzten zwanzig bis dreißig (!) Jahren in Deutschland untergegangen? 2. Wie viel neue Resourcen, Bäder, Schießhäuser, Schenken, wo die Jugend oft bis spät in die Nacht ohne elterliche Aufsicht |A 50|schwelgt, schwärmt oder tanzt, sind dagegen angelegt und eröffnet worden? 3. Wie viel neue Komödienhäuser? Wie viel neue Branntweinsladen? 4. In welchem Maßstab hat die Zahl der unehelichen Kinder zugenommen?
236
|A 151|236Falk, Aufruf, S. 5.
[005:145] Was hier immer wieder kritisiert wurde, ist in erster Linie ein Funktionsverlust der Familie als Institution. Ihre bewahrende, gewöhnende, Sitte und Gesittung bildende Kraft schien nachzulassen. Sie verlor durch die Veränderung ihrer inneren Struktur ihren Charakter als gesellschaftlicher und sittlicher Stabilitätsfaktor. Der Ausfall bis dahin selbstverständlicher Verhaltensweisen und Einrichtungen wurde als beklagenswerte Lücke empfunden, dergestelt, daß das so durchbrochene soziale Gewohnheitsgerüst die Verwahrlosung des nunmehr ungeschützten Einzelnen zur notwendigen Folge haben müsse.
[005:146] Indessen ist es nicht nur diese institutionelle Seite des Problems, die Frage der
funktionalen
Familienerziehung, die die Sorge der Pädagogen wachrief. Auch die bewußte, auf die Kinder in bestimmten Maßnahmen ausdrücklich gerichtete Erziehung wurde, wie die Familie, deren Aufgabe sie ist, in den ganzen Ursachen-Komplex der Verwahrlosung mit einbezogen.
Alle jugendlichen Verbrecher haben gemeiniglich eine schlechte Erziehung genossen
237
|A 151|237Ristelhueber, Über die Nothwendigkeit ... S. 388.
;
die individuelle Gestaltung der menschlichen Sündhaftigkeit
– Verwahrlosung und Kriminalität nämlich – sei wesentlich auf den
Mangel an Erziehung
zurückzuführen238
|A 151|238
Moll, Besserung, S. 24
.
. Dabei wurde nicht nur das faktische Vorhandensein einer guten Erziehung in Frage gestellt, sondern die Erziehungsfähigkeit der Eltern wurde angezweifelt, teils weil die neuen Aufgaben, die durch die gesellschaftliche Entwicklung der Familienerziehung gestellt wurden, von den Eltern nicht mehr bewältigt werden konnten, teils weil man der Meinung war, die Familie in ihrem kritisierten Zustand sei schlechthin nicht in der Lage, eine geordnete Erziehung des Nachwuchses zu gewährleisten. Es
haben sich die Verhältnisse des gesellschaftlichen Lebens mehr und mehr vervielfacht, die Bedürfnisse sich vermehrt, und die Berufsarten sind schwieriger und verwickelter geworden
239
|A 151|239Zeller, Lehren der Erfahrung ... S. 12.
; infolgedessen erfordere auch die
häusliche Erziehung
eine neue Einstellung und neue Mittel, die aber der erziehenden Generation nicht zur Verfügung stünden, da sie
in früheren Zeiten allgemeiner Einfachheit
aufgewachsen sei240
|A 151|240
ebenda
, Vergl. ferner
ebd.
:
Viele Eltern haben auch nicht Lust und Liebe zur Erziehung ihrer Kinder ... Gar vielen Eltern fehlt es an Vermögen, Zeit und Gaben, ihre Kinder recht zu erziehen
.
.
[005:147] Auch die Armut wirkte sich als Verwahrlosungsursache erst auf dem Umweg über die Erziehung aus. Wenn sie daher in solchem Zusammenhange genannt wurde, dann nur in eben diesem Sinne. Nur so war es zu erklären, daß die Armut plötzlich zu einem die Gesellschaft ernstlich beunruhigenden Phänomen wurde. In der Erziehung nämlich trat das in die Erscheinung, was an |A 51|moralischer Substanz in einer Gesellschaft oder Gesellschaftsschicht noch verfügbar war.
Nur mittelbar kann die Armut, insofern sie nämlich die Ursache einer vernachlässigten Erziehung ist, mit Recht zu den Ursachen der Verbrechen gerechnet werden. Denn Vernachlässigung oder gänzliche Verwahrlosung, Mängel und Fehler in der Erziehung sind in den meisten Fällen der eigentliche Grund zur sittlichen Entartung
241
|A 152|241Bergsträßer, Strafanstalten, S. 137.
. Darin zeigte sich auch, daß das Problem des
Pauperismus
ein grundsätzlich anderes war, als die Armenfrage der vorangegangenen Epochen242
|A 152|242Vergl. Conze, Vom Pöbel zum Proletariat, S. 336.
. Das Nachlassen der ständischen Stabilität sollte durch Erziehung kompensiert werden. Während der Arme bis dahin lediglich als der gesellschaftlich schlecht Integrierte galt, war er jetzt in besonders exponierter Weise einer Verwahrlosung ausgesetzt, die auf Grund des
materiellen Zeitgeistes
alle Schichten der Gesellschaft bedrohte243
|A 152|243Vergl. dazu
Freib. kath. Kirchenblatt v. 28.11.1857
:
Wie aber die Familienhäupter unter den wohlhabenden Klassen durch die Herrschaft des materiellen Zeitgeistes nachteilig auf eine für das Wohl ihrer Familien gefährliche Richtung gebracht werden, so wirkt derselbe Despotismus des materiellen Zeitgeistes nachteilig auf das Familienleben der armen Leute
.
.
c) Die kollektive Verwahrlosung
[005:148] Ob nun die Verwahrlosung als Folge sozialer Mißstände, ob sie im Zusammenhang mit Familie und Haus, ob sie als das Ergebnis einer mangelhaften Erziehung betrachtet wurde, immer wurde dieser Begriff im Vorangegangenen angewandt zur Bezeichnung eines wie auch immer abnorm gearteten Zustandes eines einzelnen Menschen, dessen Abnormität gerade darin bestand, sich den bestehenden sozialen Ordnungen nicht einzufügen oder nicht einfügen zu können, bzw. dessen Verhalten dem sozialen Leitbild der erziehenden Generation nicht entsprach. In letzterm kündigt sich eine Doppelseitigkeit des Begriffes an, deren Problematik keineswegs auf jene geschichtliche Situation beschränkt ist, sondern in der Natur der Sache liegt und bis in unsere Tage ihre Gültigkeit bewahrt hat. Indem die Fixierung dessen, was Verwahrlosung sei, nicht nur auf die geschichtlich-konkreten Ordnungsgefüge bezogen wurde, sondern auf eine leitbildhafte Vorstellung ehemals besserer, künftig zu erstrebender oder allgemeingültig gedachter Ordnungen menschlichen Zusammenlebens, ist in dem Begriff immer auch eine Interpretation jeweiliger Gegenwart enthalten. Im individuellen Bereich bedeutete Verwahrlosung daher sowohl die Manifestation gesellschaftlicher, erzieherischer oder subjektiv-psychischer Mängel, wie auch ein Mißverhältnis zu jenen, als realisierbar angenommenen Leitbildern.
[005:149] Die doppelte Bezogenheit auf die konkrete soziale Situation und die in den Leitbildern niedergeschlagenen sozialen Wertvorstellungen hatte zur Folge, daß der Begriff Verwahrlosung über den individuellen Tatbestand hinaus erweitert wurde. Gerade so, wie die Verwahrlosung eines Einzelnen eine Diskrepanz zur konkreten |A 52|sozialen Ordnung bedeutete, wurde daher auch die Diskrepanz zwischen Leitbild und konkreter Situation auf der Ebene der Gesellschaft als Verwahrlosung des Kollektivs empfunden. Die Verwahrlosung des Einzelnen mußte daher als unausweichlich erscheinen, solange und in dem Maße die sozialen Zustände nicht der Norm des Leitbildes entsprachen.
[005:150]
In demselben Maße, in welchem die Fähigkeit zum Lehren zugenommen hat, hat die Fähigkeit zum Erziehen abgenommen und es steht heute zum Teil die Wirksamkeit der Schule als Lehrmeister im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Wirksamkeit als Erziehungsanstalt. Es ist dies das Resultat der materialistisch-formalistisch-rationalistischen Richtung, welche die Pädagogik seit J. J. Rousseau genommen hat
244
|A 152|244Völter, Gesch. und Stat., S. 42.
. Im Zusammenhang einer umfassenden Polemik gegen die
verwahrloste Gesellschaft
wird hier das Erziehungswesen und mit ihm die weltanschauliche Grundlage, wie Völter sie meint bestimmen zu müssen, als Symptom einer verwahrlosten Volks-Gesittung charakterisiert. Der organologischen Soziallehre entsprechend, betrachtete man das Volk als Individuum, dessen verwahrloster
Volkscharakter
der
sittlichen Verbesserung
bedürftig sei245
|A 152|245
Spangenberg, Über d. sittl. und bürgerl. Besserung ..., S. 184
.
. Schule, Kirche und Staat wiesen alle Symptome einer solchen kollektiven Verwahrlosung auf246
|A 152|246Völter, a. a. O., S. 42, 45, 47.
.
Diese Untergrabung aller Dämme der Volkserziehung mußte natürlich eine Sündflut zur unvermeidlichen Folge haben
247
|A 152|247Falk, Aufruf, S. 8.
.
[005:151] Da die gesellschaftlichen Krisenerscheinungen so auf einen moralisch und religiös minderwertigen Zustand des Volkes zurückgeführt wurden, erschien schließlich die Überwindung der Volksverwahrlosung als die vordringliche und entscheidende Aufgabe.
Unstreitig sind die Ursachen des Pauperismus mehr in der Verwilderung der Sitten zu suchen, als in der relativen Unzulänglichkeit der Erwerbsgelegenheiten. Wer der ersteren entgegenwirkt, arbeitet an einem stärkeren Damm, als derjenige, welcher die Erscheinung durch organische oder materielle Mittel bekämpfen will. Wir halten den Pauperismus für eine moralische Krankheit des Volkes, und betrachten Rohheit und Verwilderung, wie sie sich in Landstreicherei, Faulheit, Bettel, Trunksucht und Prostitution aussprechen, als Kennzeichen seines Vorhandenseins wie als Bedingungen seines Wachstums
248
|A 152|248Die Zwangsarbeitshäuser, DV 1844, S. 15 f.
. Ein
Hauptgrund des Unheils
liege
in dem Verwittern der innern Stützen moralischer Kraft des Volkslebens
249
|A 152|249Bühlau, Pauperismus, DV 1838, S. 104.
.
[005:152] Das Register der einzelnen Erscheinungen solcher Volksverwahrlosung umfaßte alle nur möglichen Mängel der Zivilisation, der industriellen und geistesgeschichtlichen Entwicklung:
Rationalismus
,
Indifferentismus
,
moralische Lauheit
250
|A 152|250A. Frantz, Schattenseiten, S. 6.
, Diskrapanz von intellektuellem Wissen und Sittlichkeit251
|A 152|251a. a. O., S. 6; Julius, Gefängniskunde, S. CV ff.
, der
Kult |A 53|der Vernunft
252
|A 152|252Kolping, zit. bei Nattermann, Kolping, S. 123.
,
Gleichgültigkeit gegen das Heilige
253
|A 152|253Frantz, a. a. O., S. 7.
,
offenbare Lasterhaftigkeit
254
|A 152|254ebenda
, Mangel des
religiösen Prinzips
255
|A 152|255a. a. O., S. 37.
,
Geiz und Stolz der Reichen
256
|A 152|256a. a. O., S. 15.
, Gewinnsucht257
|A 152|257a. a. O., S. 16.
, Schnellebigkeit258
|A 152|258a. a. O., S. 26.
;
wie im Volke, so in den höhern Ständen denkt alles nur auf den Tag und die Gegenwart
259
|A 152|259Falk, Aufruf, S. 8.
.
[005:153] Es ist offensichtlich, daß diese Werturteile – denn um solche und keineswegs um objektiv analysierte Fakten handelt es sich – sich auf dieselben Sachverhalte beziehen, die bereits als Veränderungen in der sozialen Struktur dargestellt wurden. Die besondere geschichtliche Situation der Gesellschaft spiegelt sich in der Stellungnahme des verantwortlichen Sozialpädagogen jener Zeit als ein Zustand der Verwahrlosung. Wenn auch die Bewertung der sozialen Prozesse aus der zwiespältigen geschichtlichen Situation verstanden werden muß – denn daß es sich bei weitem nicht in allen Fällen um Prozesse der Verwahrlosung, der Zerstörung oder des Verfalls handelte, Begriffe die sich an geschichtlich früheren Sozialformen orientieren, während es sich in Wahrheit um eine Um- und Neubildung handelte, deren negativer oder positiver Sinn durch derartige begriffliche Fixierungen vorweggenommen wurde, erhellt aus der weiteren geschichtlichen Entwicklung260
|A 152| 260Vergl. die in Fußnote 72) genannte Literatur, ferner A. Gehlen und H. Schelsky, Soziologie, Düsseldorf 1955.
– trotz solcherart bedingter Bewertungen drückt sich hier ein Charakteristikum der Struktur sozialpädagogischen Denkens aus: Die Beunruhigung durch konkrete Notstände des Einzelnen, der Rückgriff auf gesellschaftliche Ursachenkomplexe, die Besinnung auf deren Veränderung und die Prävalenz sozialer Verhaltensweisen und Institutionen gegenüber den inhaltlichen Fragen der Bildung.
|A 54|

II. Teil: Die Ansätze einer sozialpädagogischen Theorie

I. Die Diskrepanz von Individuum und Gesellschaft als sozialpädagogisches Problem

[005:154] In den dargestellten Tatsachen und Vorgängen wird ein Prozeß offenbar, der sich in der Geistesgeschichte seit einigen Jahrhunderten, spätestens seit der Aufklärung anbahnte: die Auflösung einer religiös sanktionierten Lebensordnung. Dieser Prozeß – bis dahin nur als geistige Emanzipation zutage getreten – setzte sich nun auch in die Wirklichkeit des gesellschaftlichen Lebens hinein fort;
das Auseinandertreten von Mensch und Lebensordnung
261
|A 152| 261Theodor Litt, Das Selbstverständnis des gegenwärtigen Zeitalters, Beilage IV, 57 zur Wochenzeitung
Das Parlament
, Jg. 1957, S. 58.
wirkte sich im konkreten sozialen Bereich aus und schuf für die Pädagogik eine neue Situation. Diese Diskrepanz zwischen den Ordnungen der Gesellschaft und dem Einzelnen hatte zur Folge, daß die Erziehungsleistungen der erziehenden Gemeinschaften und die Erziehungsforderungen, die für den Einzelnen aufzustellen waren, nicht mehr zur Deckung gebracht werden konnten. Die erziehenden Gemeinschaften erlitten – in Ansätzen zunächst, im Laufe der Entwicklung bis in die Gegenwart aber immer deutlicher hervortretend – einen pädagogischen Funktionsverlust, der vorerst nicht ausgeglichen werden konnte und der sich vornehmlich in akuter Gefährdung, Verwahrlosung und Kriminalität der Jugend auswirkte.
[005:155] Im Grunde tauchte damit ein altes pädagogisches Problem in neuer Gestalt auf: das Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft und Gesellschaft, sein Hineinwachsen in die vorgefundenen Sozialformen der älteren Generation. Es würde sich also bei unserem Problem um nichts anderes handeln, als um einen Beitrag zur Allgemeinen Pädagogik, um die, mit einer bestimmten sozialen Situation gegebene historische Variante eines Themas, das aus keiner systematischen Pädagogik mehr fortzudenken ist. Es wäre daher auch nicht einzusehen, inwiefern für diesen Sachverhalt ein neuer Begriff, wie der der Sozialpädagogik einzuführen sein sollte. Es würde genügen, der durch die geschichtlichen Tatsachen ergangenen Aufforderung zu einem neuen Durchdenken und tieferen und genaueren Erfassen nachzukommen.
[005:156] Dennoch handelt es sich um ein neues Problem, wenn auch freilich in einem anderen als dem eben bezeichneten Sinne. Diese neue Version eines im Grunde alten Problems schaffte nämlich einen pädagogischen Aufgabenbereich, der mit der geschichtlichen Situation, in der er aufgegeben wurde, untrennbar verknüpft ist, |A 55|der aber vor allem pädagogische Institutionen hervorbrachte, die sich von den traditionellen Einrichtungen wesentlich unterschieden, dergestalt, daß sie eine akute oder drohende soziale Abwegigkeit zum Objekt des pädagogischen Handelns machten und die soziale Eingliederung oder Wiedereingliederung zum ausdrücklichen und zentralen Anliegen erklärten. Die sozialpädagogischen Institutionen füllten daher die Lücke, die durch die Unzulänglichkeit der den einzelnen Sozialformen zugehörigen Erziehungsleistungen offen gelassen wurde. Das Entstehen der Sozialpädagogik ist daher abhängig von bestimmten Schwierigkeiten, die im allgemeinen pädagogischen Zusammenhang auftauchten: von der Unzulänglichkeit der schulischen Erziehung, der Familienerziehung, der pädagogischen Leistungen der Berufswelt; von der mangelhaften sozialen Bindung, dem Auftreten eines unkontrollierten Raumes im Leben der Jugend, den auftretenden Erziehungsschäden. Die Gesamtheit der institutionellen Mittel, die bereitgestellt wurden, um diese Diskrepanz auszugleichen, ihren praktischen und theoretischen Zusammenhang, nennen wir somit die Sozialpädagogik, da diese mit der durch eine bestimmte und besonders zugespitzte soziale Problematik – der der industriellen Gesellschaft nämlich – charakterisierten geschichtlichen Situation notwendig verbunden war und ist, von ihr ihren Anfang nahm und ihre Aufgaben erhielt. Es verändert diesen unseren Begriff von Sozialpädagogik nicht, wenn wir feststellen, daß die pädagogischen Probleme, deren Erörterung das Entstehen sozialpädagogischer Institutionen begleitete, allgemeine Probleme der Pädagogik überhaupt sind. Vielmehr bestätigt sich gerade dadurch der pädagogische Zusammenhang in allen Bereichen als im Grunde ein und derselbe, ohne daß damit die Konstituierung eines neuen Bereiches pädagogischer Wirksamkeit auf Grund einer besonderen geschichtlichen Zuspitzung bestimmter Grundprobleme geleugnet werden müßte.

1. Die Unzulänglichkeit der vorgefundenen Erziehung

[005:157] Da unter dem Druck akuter Erziehungsnot die praktischen Fragen der Einrichtung und Durchführung neuer Institutionen im Vordergrund standen, sind die rein theoretischen Auseinandersetzungen nur sehr geringen Umfanges. Aber schon die Entstehung solcher Einrichtungen enthielt eine unausgesprochene Kritik am Überlieferten, sodaß wir die wenigen theoretischen Äußerungen als Selbstbestätigungen eigenen praktischen Handelns verstehen können, zwar nachträglich erst formuliert, als Impuls und Motiv erzieherischen Handelns aber schon vorher wirksam. Der, gemäß der Entwicklung nächstliegende, Angriffspunkt waren die aus |A 56|Mittelalter und Aufklärung überlieferten Formen der Fürsorge. Der Kritiker stellte fest, daß es sich dabei zwar um soziale Hilfsmaßnahmen handelte, die sich aber nur in der Form reiner Fürsorge abspielten262
|A 152| 262Völter, Gesch. u. Stat., S. 31.
. Überdies handelte es sich hier um eine Gruppe von Bedürftigen, die in ihrer Art, wenn auch nicht dem Umfange nach, keineswegs neu war: die Armen und Waisen. Die Institute zu ihrer Betreuung konnten daher auch nicht geeignet sein, die Notstände der Gegenwart zu beheben.
Aber was für Anstalten mußten, wenn geholfen werden sollte, getroffen werden? Etwa Errichtung von Armenschulen? Dies reichte nicht zu
263
|A 152| 263a. a. O., S. 5.
. Auch die gerade so hoffnungsvoll begrüßten Industrieschulen264
|A 152| 264Vergl. dazu K. Iven, Die Industrie-Pädagogik d. 18. Jahrh. , Langensalza 1929.
seien im Hinblick auf die gestellten Aufgaben nicht leistungsfähig265
|A 152| 265Völter, a. a. O., S. 5.
. Diese nämlich bestünden nicht nur darin,
diese Kinder arbeits- und erwerbsfähig zu machen. Soviel auch damit, namentlich für ihre bürgerliche Stellung, gewonnen sein kann, wesentlich ist auf diesem Wege nicht geholfen
266
|A 152| 266ebenda.
. Die Kritik an den bis dahin praktizierten sozialen Hilfsmaßnahmen verband sich – wie wir bereits sahen – mit einer Kritik an dem sittlichen Zustand der Gesellschaft. Anstelle der Forderung nach Fürsorge und Versorgung, in denen eine intakte bestehende Ordnung immer schon vorausgesetzt wird, trat die Forderung nach Erziehung und neuen entsprechenden Einrichtungen.
[005:158] Ein bevorzugtes Objekt jener sozialpädagogischen Kritik aber war die Schule und jede Form reinen Unterrichtes.
In demselben Maß, in welchem die Fähigkeit zu Lehren zugenommen hat, hat die Fähigkeit zum Erziehen abgenommen und es steht h. z. T. die Wirksamkeit der Schule als Lehranstalt im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Wirksamkeit als Erziehungsanstalt. Es ist dies das Resultat der materialistisch-formalistisch-rationalistischen Richtung, welche die Pädagogik seit J. J. Rousseau genommen hat
267
|A 152| 267
a. a. O., S. 42
. Wir interpretieren dieses schon aufgeführte Zitat hier in anderem Zusammenhang noch einmal.
. Solche Kritik richtete sich gegen die Ausschließlichkeit einer Verstandesbildung und eines Erwerbsdenkens, das in dem merkantilistischen Ideal bürgerlicher Brauchbarkeit und Erwerbsbefähigung seinen Ausdruck fand; und sie fühlte sich zugleich als Anwalt einer sittlichen Bildung, die allein aus der sozialen Not der Gegenwart herausführen könne.
[005:159] Die Schule also müsse diese Aufgaben erkennen und ihre Funktion entsprechend erweitern. Nur so könne, im Bereich der Schule, den sittlichen Verfallserscheinungen vorgebeugt werden. Die Schule allein aber sei dazu nicht imstande. Es bedürfe ergänzender Einrichtungen, vor allem aber des Rückgriffs auf die Familie als ureigenem Ort der sittlichen Bildung.
Hier muß folglich der Lehrer, wenn er seiner Aufgabe genügen will, sich des Zusammenwirkens der häuslichen Erziehung mit seinen Bestrebungen zu versichern suchen; und wenn dies, wie gewöhn|A 57|lich, nicht oder nicht genugsam gelingt, so muß er seine Erziehungsmittel so wählen und gebrauchen, daß durch sie die Keime des Guten in dem Kopfe und Herzen jener Kinder nicht nur erweckt und gepflegt, sondern daß sie auch bald stark genug gemacht werden, um den sie störenden Einwirkungen von außen, welche in den Erziehungsanstalten größtenteils wegfallen, zu widerstehen
268
|A 152| 268Weiß, Bemerkungen ... S. 3.
.
[005:160] Erziehung und Unterricht wurden gegeneinander ausgespielt. Es bestehe
ein großer Unterschied zwischen Erziehung und Unterricht. Dieser macht nur einen Teil von jener aus, und man kann die dem letzten gewidmeten Stunden häufen, und doch im Ganzen wenig für die Erziehung getan haben
269
|A 152| 269Wagnitz, Ideen ... S. 64.
.
Man kann viel Bildung und dennoch keine Erziehung haben
270
|A 152| 270Heinroth, Erziehung und Selbstbildung, S. 2.
.
Man gibt solchergestalt der Jugend Waffen in die Hand, ohne sie über den zweckmäßigen Gebrauch derselben zu belehren
271
|A 152| 271Spangenberg, Über d. sittl. und bürgerl. Besserung ... S. 42.
, d. h. ohne
Ausbildung des Herzens
272
|A 152| 272a. a. O., S. 41.
.
Nun gehört Unterricht wohl zur Erziehung, bildet aber nur den einen, nicht einmal den wichtigsten Teil
273
|A 152| 273Freib. kath. Kirchenblatt, v. 20.1.1858.
.
[005:161] So wird dem Unterricht eine durchaus untergeordnete Stellung zugewiesen, besonders als eine Maßnahme im Zusammenhang der Erziehung Verwahrloster274
|A 152| 274
Vergl. J. B. Hirscher. Die Sorge für sittl. verw. Kinder, S. 22:
Es genügt auch in der Tat vollkommen, wenn diese Kinder lesen und schreiben können
.
S. 26
:
Wozu das viele Schulehalten? Bei den Kindern, die hier in Rede sind, hat das Erlernen all der sieben Sachen, welche man die gewöhnlichen Kinder in den gewöhnlichen Schulen lehrt, so viel als keinen Wert ... Diese intellektuelle Beschäftigung läßt vielmehr die Sinnlichkeit, Weichlichkeit, Lüsternheit, Lahmheit, Verschrobenheit etc. ganz unangefochten stehen
.
Vergl. ferner Riecke, Über Armenerziehungsanstalten ... S. 20
:
Der Unter|A 153|richt ist auch hier (in einem Rettungshaus, d. Verf.) mehr Nebensache
.
Freib. kath. Kirchenblatt vom 20.1.1858
:
Rettungshäuser sollen nicht bloß Unterrichts- sondern vorzügliche Erziehungshäuser sein
.
Falk, Aufruf, S. 4
:
Aber wie, wenn Schule, wenn Unterricht überhaupt nur Mittel, nie Zweck an sich wäre?
a. a. O., S. 5
:
Was in aller Welt nützen oder frommen dem Staate Spitzbuben, die lesen, Spitzbuben, die schreiben, Spitzbuben, die rechnen können?
a. a. O., S. 27
:
Aber drei- oder vierstündiger täglicher Unterricht von ein paar wackeren Männern ist noch lange – keine Erziehung!
. Zweifellos spricht sich darin eine entschiedene Abwendung von der Aufklärung aus, ein Vorgang, der besonders auch in den Äußerungen zum Verhältnis von Sittlichkeit und intellektueller Bildung deutlich wird.
Die Masse des Schulunterrichts, wenn damit nicht sittliche und religiöse Erziehung verbunden ist, macht die Menschen wohl klüger, gewerbefleißiger und liebenswürdiger in den Augen der feinen Welt, aber nicht besser
275
|A 153| 275Mittermeier, Der franz. Compte general, in Hitzigs Annalen 1828, S. 173.
. Nur
die sittliche Bildung
bewahre den Staat
wahrhaft vor Verbrechen
276
|A 153| 276
a. a. O., S. 174
.
Vergl. auch Bergsträßer, Strafanstalten, S. 145:
Im Ganzen aber führt die Unwissenheit und der Mangel an Schulkenntnissen an und für sich ebenso wenig zum Verbrechen, wie auf der andern Seite das bloße Wissen und der Besitz dieser Kenntnisse an und für sich vor dem Verbrechen schützt
. Vergl. ferner a. a. O. , S. 93, S. 130; Julius, Gefängniskunde, S. CXI, CXXIV.
. Die Erziehungsschwierigkeiten, die jetzt in das Blickfeld der Öffentlichkeit traten, waren – das ist in solchen Aussagen enthalten – nicht mehr mit schulischen Institutionen, mit den Mitteln einer
Aufklärung
zu beheben. Die Situation gab kein neues didaktisches, unterrichtsmethodisches Problem auf, sondern ein sittlich-soziales. In allen Bereichen der einsetzenden Sozialpädagogik stand damit die Frage des gemeinschaftlichen Zusammenlebens und einer entsprechenden Gestaltung der pädagogischen Institutionen im Vordergrund. Auf die Leistungsunfähigkeit der gesellschaftlichen Gruppen antwortete der Erzieher mit neuen sittlich-sozialen Anstrengungen, um den Funktionsverlust der vorgefundenen gesellschaftlichen Institutionen dadurch wettzumachen, daß er sein sozialethisches Leitbild in pädagogischen Einrichtungen zu realisieren versuchte.
|A 58|

2. Die pädagogische Bedeutung der Umwelt

[005:162] Mit der Kritik an den traditionellen Erziehungseinrichtungen und der Betonung der sittlichen gegenüber der intellektuellen Bildung war eine besondere Beachtung, die man nun auch der Umwelt zollte, in die der Einzelne und seine spezielle Erziehung eingebettet ist, eng verbunden. Die Skepsis der Gesellschaft gegenüber, ihrer Fähigkeit, aus sich heraus positive Erziehungssituationen zu schaffen, war aber so groß, daß man ihr solche Leistungen nicht glaubte zutrauen zu dürfen, solange sie nicht selbst einen Prozeß sittlicher Erneuerung durchlaufen hatte. Den stabilsten Rest innerhalb der gesellschaftlichen Ordnungen und gleichsam die soziale Urzelle nun vermeinte man in der Familie gefunden zu haben. Als naturgegebene und göttlich sanktionierte Gruppe galt sie als die schlechthin positive Umwelt, die alle Bedingungen einer dem Erziehungsideal entsprechenden Erziehung erfüllen konnte.
[005:163] Die Struktur der Familie aber, der man die positiven, alle Erziehungsschäden und vor allem die Diskrepanz von Individuum und Gesellschaft beseitigenden Erziehungsleistungen zutraute, war ihrerseits eine Idealvorstellung. Der Kritiker nämlich konnte nicht umhin festzustellen, daß ja gerade die in seiner Gegenwart vorgefundenen konkreten Familien jene Leistungen zu erfüllen nicht mehr imstande waren. Damit aber schien der Beweis für die Notwendigkeit einer den Einflüssen der Gesellschaft entzogenen
Pädagogischen Provinz
und der Einrichtung von besonderen Erziehungsanstalten erbracht.
Die besondere Tatsache, daß es an Familien fehlt, welche zur Erziehung verwahrloster Kinder tauglich und willig sind, läßt uns keine Wahl übrig und ist sattsamer Beweis für die Notwendigkeit von Rettungsanstalten. Diesem faktischen Beweis verdanken auch wesentlich mehrere unserer Rettungsanstalten ihre Existenz
277
|A 153| 277Völter, Gesch. u. Stat., S. 61.
.
[005:164] Da andererseits die Familienstruktur geglaubtermaßen die beste Umwelt- und Erziehungssituation schuf, wurde sie weitgehend zum Leitbild für die Organisation der neuen Einrichtungen, sowohl für die Verwahrlostenerziehung, wie auch für die übrige Jugendhilfe278
|A 153| 278Vergl. dazu besonders Kolping, Der Gesellenverein.
. Die negativen und dem Menschenbild der erziehenden Generation entfremdenden Umwelteinflüsse der Gesellschaft sollten so ausgeschaltet werden und an ihre Stelle eine Institution treten, die schon in ihrer sozialen Struktur das künftige Verhalten, die Überwindung der Verwahrlosung des Einzelnen und der Gesellschaft, vorwegnahm. Die Erziehungsanstalt mußte dementsprechend eine
neue Welt
sein, so eingerichtet, daß der Zögling
darin den Familiengeist fände, dessen Segen er noch nicht kennt, und daß er diesen Segen zuerst in der Ruhe und |A 59|Sicherheit, in der Ordnung und Gemeinsamkeit, welche er verbreitet, erfahren und schützen lernte
279
|A 153| 279
Weiß, Über Beurteilung ... S. 166
.
Vergl. auch Völter, Gesch. und Stat., S. 6
:
Es müssen also eigene neue Familien gerade nur für sie (die Verwahrlosten, d. Verf.) gebildet werden ... Es sind also Anstalten nötig ... welche ihnen mit einem Wort Familie und Schule zugleich sind
.
. Und wenn solche Intention in der Formel
häusliches Gemeinwesen
280
|A 153| 280Weiß, Über Beurteilung ... S. 166.
zusammengefaßt wurde, so war darin beides enthalten: die Familie als Grundschema der Erziehungsgemeinschaft und ihre Funktion als Vorwegnahme der sozialen und sittlichen Grundverhältnisse auch der größeren gesellschaftlichen Ordnungen.
[005:165] Abgesehen aber von den familiären Verhältnissen wurde die Umwelt in einem allgemeineren Sinne als Faktor erkannt, der sowohl Verwahrlosung verursachen wie auch eine schon eingetretene beheben kann. Die relative Isolierung der Jugend und ihr Schutz vor den schädigenden Einflüssen der Öffentlichkeit können wir daher als eine Maxime bezeichnen, die vom Beginn der Entwicklung an in der Sozialpädagogik eine bestimmende Rolle gespielt hat.
Sobald ein Erzieher ein verwahrlostes Kind zur Behandlung erhält ... muß dasselbe gleichsam in eine neue Welt eintreten
; es sei
eine völlige Umkehrung seiner Verhältnisse und seines Lebens darin ... unerläßlich
281
|A 153| 281a. a. O., S. 101.
.
Dies kann freilich nur in eigenen Erziehungsanstalten für verwahrloste Kinder vollständig bewirkt werden
282
|A 153| 282
a. a. O., S. 102
.
Vergl. auch Jahrb. d. Preuß. Volksschulw., Bd. V, S. 8
: Es sei notwendig,
daß auf die früheren Lebensverhältnisse ... zurückgegangen und die Schuld der Verwahrlosung oder Nachlässigkeit, welche etwa Eltern, Vormünder, Pflege-Eltern, Dienstherrschaften, Schulvorstände, Polizeibehörden, Lehrer und Geistliche treffe, ermittelt, die Personen, welchen dabei etwas zur Last falle, zur strengen Verantwortung gezogen
würden.
A. a. O., S. 18
: Auf
die benommene Gelegenheit zum Bösen
komme es
überall an, wenn verwilderte Gemüter verbessert werden sollen
.
A. a. O., S. 61
: Es sei wesentlich,
daß sie gleichsam in eine ganz neue Welt versetzt werden, in welcher sie von ihren bisherigen Gewohnheiten nichts wiederfinden
.
. Aber nicht nur im Hinblick auf Erziehungsanstalten und Gefängnisse, für deren Begründung nun nicht mehr nur die Sicherung der Gesellschaft, sondern im Zusammenhang mit dem Besserungszweck auch die Isolierung von einem schädigenden Milieu genannt wird283
|A 153| 283Vergl. Arnim, Bruchstücke... Bd. I, S. 124, IIø S. 33. Spangenberg, Besserung S. 46, S. 50. Vergl. ferner III. Teil, I (Kriminalpädagogik).
, findet diese Maxime ihre Anwendung. In der Erziehungshilfe für die normale, unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen aber als umweltgefährdet angesehene Jugend geschah das Gleiche, wenn man versuchte, in solchen Gruppen wie Gesellen- und Jünglingsvereinen eine starke Binnenkonsolidierung zu schaffen, sodaß sie entweder durch eine familienähnliche Sozialstruktur oder durch gesellige Bindungen die Konkurrenz mit den Einflüssen der Öffentlichkeit aufnehmen konnten284
|A 153| 284Vergl. III. Teil, III.
.
[005:166] Dieses Problem war erst möglich, nachdem in den konkreten Lebensverhältnissen die Fraglosigkeit der sozialen Bindungen verloren war und die soziale Integration eine Schwierigkeit bedeutete, deren Bewältigung nicht mehr gesellschaftlichen Gruppen vertrauensvoll überlassen, sondern nur noch durch bewußte und geplante erzieherische Einrichtungen geleistet werden konnte. Die andere Voraussetzung aber lag in der Tatsache, daß im gesellschaftlichen Raum neue Verhaltensformen auftauchten, die mit dem geltenden Erziehungsideal nicht in Einklang zu bringen waren. Und besonders diese Diskrepanz war es, die zu einer Kritik der Gesellschaft und der Umweltverhältnisse führte, um gegen den sozialen Entwicklungstrend die erzieherische Intention durchzusetzen. Einsicht in die Unzulänglichkeit der vorgefundenen |A 60|Erziehungseinrichtungen und Bewußtsein von der Funktion, die die Umwelt im pädagogischen Zusammenhang erfüllt, können daher als Symptome dieser geistesgeschichtlichen Situation gelten, in der die Sozialpädagogik anhob und sich in ihrem ersten Stadium sowohl in einer Reihe von Grundproblemen wie auch in verschiedenen Institutionstypen entfaltete.

II. Die sozialpädagogischen Grundprobleme

[005:167] Der umfassende Vorgang der sozialen Entwicklung, des gesellschaftlichen Strukturwandels, fand seinen Niederschlag – wie wir sahen – in einer Fülle von Einzelphänomenen, die an den verschiedensten Stellen des sozialen Lebens auftauchten, einen für das Zeitbewußtsein problematischen Charakter annahmen und als Notstände in Erscheinung traten. Das erwachende soziale Bewußtsein, von diesen konkreten Veränderungen mitbedingt und in der Reflexion sich auf sie zurückwendend, suchte den symptomatischen Charakter solcher Notstände zu erfassen, das heißt seine Intention ging auf deren Deutung im Rahmen gesellschaftlicher, politischer, ökonomischer, religiöser und anderer Gesamtkonzeptionen. Jedes einzelne als Notstand empfundene Faktum war so ein möglicher Ansatz zu umfassenderen sozialen Theorien, es konnte als Schlüsselphänomen für die problematische Situation fungieren, in der sich die Gesamtgesellschaft befand. Das gilt auch und besonders für die Perspektive des Pädagogen. Auf die pädagogische Relevanz bestimmter sozialer Zustände wurde schon hingewiesen. Der einzelne Notstand erschien nur als detaillierte Konkretion des sozialpädagogischen Problems, das die Gesellschaft im ganzen dem Erzieher aufgab; es konnte daher, auch Anlaß und Ansatz weitgehender, nicht auf dieses Einzelphänomen beschränkter Theoriebildung sein. Die Vielzahl der theoretischen Äußerungen aber, statt durch die Mannigfaltigkeit sozialer Wirklichkeit sich ins Uferlose und jedem systematischen Zugriff Unzugängliche zu verlieren, läßt sich auf eine Reihe von Grundproblemen reduzieren, die immer wieder Ausgang, Kernstück oder Ziel sozialpädagogischen Nachdenkens waren. Es sind dies: das Verhältnis des Einzelnen zu den Formen der Gemeinschaft, der Problemkreis Beruf und Arbeitsordnung, der Mangel einer umgreifenden Lebensordnung und die Stellung des Einzelnen als Bürger zu Gemeinde und Staat285
|A 153| 285Es kann sich hierbei nicht um die Frage der staatsbürgerlichen Erziehung im engeren Sinne handeln, sondern nur um die mit der Entfremdung von Einzelnem und Gemeinde gegebenen Eingliederungsschwierigkeiten und die entsprechenden speziellen sozialpädagogischen Aufgaben, ohne daß der eigentlich politische Bereich damit schon berührt wäre.
.
[005:168] Je weiter nun aber die theoretische Erörterung sich von ihrem konkreten sozialgeschichtlichen Ansatz in Richtung auf systematische, allgemeingültige Aussagen entfernte, desto mehr verschwand der im eigentlichen Sinne sozialpädagogische Charakter des praktischen wie theoretischen Ausgangspunktes286
|A 153| 286An dem Verhältnis Fröbels sog.
Keilhauer Schriften
zu seiner
Menschenerziehung
wäre das exemplarisch zu verdeutlichen.
. Aufgabe |A 61|der Interpretation muß es daher bisweilen sein, diese konkrete sozialgeschichtliche Verknüpfung von theoretischen Aussagen und faktischen Anlässen und Bedingungen aufzudecken, um auf diese Weise die sozialpädagogischen Probleme in der ganzen Breite ihrer Entstehung und Wirkung deutlich zu machen. Die Ursache für diese Schwierigkeit ist darin zu suchen, daß die Erfahrung im sozialpädagogischen Aufgabenbereich eben als pädagogische Erfahrung auch nach einer Einordnung und Deutung im allgemeinen pädagogischen Zusammenhang verlangt.

1. Das Verhältnis des Einzelnen zu den Formen der Gemeinschaft

a) Der Gemeinschaftsbegriff
[005:169] Gemeinschaft als erzieherische Aufgabe kann im eigentlichen Sinne erst dann in das Bewußtsein treten, wenn das Verhältnis von Individuum und überindividueller Gruppe problematisch wird, wenn dieses Verhältnis nicht mehr ein fragloser Bestandteil sozialen Lebens ist, sondern an irgendeiner Stelle als ein gestörtes erlebt wird. Erst in einer solchen Situation werden Begriffe wie
das Gemeinsame
,
das Gesellige
,
gemeinschaftlich
,
Gemeinschaft
pädagogisch bedeutsam. Das Gemeinschaftliche wird, von den konkreten Gesellungsformen unabhängig, als ein Wert verstanden286a
|A 153| 286aDiese Übergangssituation spiegelt sich deutlich etwa in dem Gemein|A 154|schaftsbegriff Schleiermachers; vergl. besonders Schleiermacher, Pädagogische Schriften, hrsg. von E. Weniger, Bd. I, S. 142. Vergl. ferner Schleiermachers Begriff der Geselligkeit im Versuch einer Theorie des geselligen Betragens, hersg. von H. Nohl in: Schleiermachers Werke, hrsg. von O. Braun und Joh. Bauer, Leipzig 1913, II. Bd.
.
[005:170] In dem hier behandelten Zeitraum begannen solche Begriffe, soweit sie nicht überhaupt als Nova in der Literatur auftraten, ihren rein statisch-beschreibenden Charakter zu verlieren und wiesen damit, im Gegensatz zu ihrer früheren Verwendung als Termini für soziale institutionelle Sachverhalte, an denen die Erziehung sich zu orientieren hatte, auf einen spezifischen Erlebniszusammenhang hin, mit dessen Hilfe die als mangelhaft empfundene soziale Gegenwart in Richtung auf eine neue soziale Integration verändert werden sollte. Einer solchen Intention konnten denn die realen Gesellungsformen als Maßstab nicht mehr genügen, da sie offenbar nicht ausreichten, um dem Einzelnen genügend Halt zu bieten, ihn sozial in die Gesellschaft zu binden.
[005:171] Aber nicht allein dieses Problem, das sich aus der sozialen Situation ergab, setzte die Bemühung um einen neuen Gemeinschaftsbegriff in Gang. Auch die neu entwickelte Vorstellung von Gesellschaft, Staat und Volk als Organismen vertrug sich nicht mit der lediglich auf das Institutionelle und die gesellschaftlichen Organisationsformen abzielenden Begriffswelt der vorangegangenen Epochen.
[005:172] So kam es, daß auch in der sozialpädagogischen Literatur sich Tendenzen abzeichneten, das Problem der Gemeinschaft, das |A 62|Verhältnis und die Erziehung des Einzelnen zu ihr neu zu fassen, jedoch ohne schon den pädagogischen Weg in klarer methodischer Gliederung und präzis formulierten Mitteln beschreiben zu können. Das prinzipiell Neue, das sich so lediglich in Andeutungen und fragmentarischen Hinweisen, in Einwendungen oder unbeholfenen Forderungen ankündigte, ist die Betonung, mit der das persönliche, auf Stimmungen und Neigungen, Gefühl und Vertrauen gegründete Verhältnis der Glieder einer Gruppe zueinander hervorgehoben wird287
|A 154| 287Eine parallele Erscheinung liegt in der Bedeutung, die die emotionalen Bindungen für Familie und Ehe gewannen. Vergl. dazu E. Michel, Die Ehe; Wurzbacher, Leitbilder ...; Schelsky, die Wandlung der deutschen Familie.
, ist die darin enthaltene Meinung, daß Gemeinschaft – nicht als Institution in den Formen von Familie, Werkstätte oder Gemeinde, sondern als formales Prinzip des Miteinander-Lebens – vor den Gemeinschaftsformen der realen Gesellschaft eine primäre Erziehungsaufgabe darstelle. Das war gemeint, wenn man davon sprach, die Erziehung solle
das Gefühl der Gemeinsamkeit, das Bewußtsein, einem größeren Ganzen anzugehören
ø erwecken288
|A 154| 288
Hagen, Über nat. Erz., S. 134
.
, denn nur so werde sich ein neues
Gemeinschaftsbewußtsein
entwickeln289
|A 154| 289
Völter, Gesch. und Stat., S. 236
.
. Um die soziale Zersplitterung zu überwinden,
müssen die Menschen die Vorteile der Gemeinschaft immer erfahrungsmäßig kennen lernen; sie müssen diese an sich selbst erleben, und zwar so frühe als möglich, ehe sie der Gewohnheit der Isolierung verfallen sind
290
|A 154| 290W. S., Theorie und Praxis des Pauperismus, DV 1845, S. 48.
.
[005:173] Die neu entstehenden Erziehungsvereine, die verschiedenen Ansätze zur Neuerweckung des Gemeindelebens, die nationalpädagogischen Bestrebungen und die Rettungshausbewegung sind sich einig in diesem Bewußtsein, damit neuen Phänomenen gegenüberzustehen. So gehört für Völter die
freie christliche Liebestätigkeit
, die
ein Band brüderlicher Vereinigung um alle christlich tiefer erregten geschlungen
habe, in denselben Zusammenhang, wie
das Streben nach freien Vereinen, das sich auf allen Lebensgebieten kundtut
und das
eines der am meisten charakteristischen Merkmale unserer Zeit
sei291
|A 154| 291
Völter, a. a. O., S. 236
.
.
[005:174] In solchen Andeutungen handelte es sich im Grunde um das Eindringen eines neuen Bildungsideals in einen speziellen Bereich, in diesem Falle um das Ideal einer die institutionellen Schwächen überwindenden Gemeinschaftlichkeit. Die Distanzierung von Aufklärern und Philanthropen geschieht denn auch bisweilen ausdrücklich:
Wir meinen keineswegs damit (mit einer
lebendigen
Erziehung, d. Verf.), wie die Basedowsche Methode, die bloße Abrichtung für das, was einmal einen materiellen Nutzen bringen könnte, sondern wir fassen das Leben in einem höheren Sinne, weshalb denn auch die Anforderungen, die dasselbe macht, von einer anderen Natur sind. Das Leben hat eine dreifache Beziehung: die Familie, die Gesellschaft und den Staat oder die Nation. Diesen drei Beziehungen soll der wahre Mensch genügen
292
|A 154| 292Hagen, Über nationale Erziehung, S. 132.
. Der für unser Problem entscheidende Begriff in diesem |A 63|Zitat ist
das Leben
. In ihm nämlich konzentriert sich das, was die hier darzustellende Gemeinschaftsauffassung begründete293
|A 154| 293Diese Begrifflichkeit enthält überdies einen Hinweis auf den Zusammenhang mit der Romantik und den Anfängen der Lebensphilosophie.
Vergl. dazu E. Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme, Gesammelte Schriften, Bd. III, S. 282
: Kritische Einzelforschung und Organismusidee seien in der
Historischen Schule
miteinander verbunden worden;
Es ist der Begriff des Lebens an Stelle des Hegelschen Idee; des anschaulichen an Stelle des konstruierten Werdens; eine vitalistische Entwicklungsidee verbunden mit den entsprechenden Werthaltungen
.
. Die wesentlichen Anforderungen, die das Leben stellt, sind hier als soziale Anforderungen formuliert. Der ganze Bereich gesellschaftlich-zweckhafter Gemeinschaftsformen ist bezeichnenderweise außer acht gelassen, und zwar völlig bewußt, denn gegen eine Begründung der Erziehungsprinzipien auf eine konkrete Zweckhaftigkeit, gegen den
materiellen Nutzen
, wurde ja gerade polemisiert. Der soziale Charakter des Lebens vor jeder und über jede Institutionalisierung hinaus galt offenbar als anthropologisches Grundaxiom294
|A 154| 294Vergl. Fröbels Begriff der
Lebenseinigung
.
. Damit entfernte sich der Gemeinschaftsbegriff von den realen geschichtlichen Gemeinschaftsformen – denn Familie, Nation und Staat wollen in diesem Sinne über- oder vorhistorisch verstanden werden – und beanspruchte allgemeine Gültigkeit, da er sich ja nicht an den Zwecken einer je geschichtlichen Gesellschaft orientierte, sondern eine interpersonale Erlebniswelt bezeichnete, von der her der
Sondergeist
gesellschaftlicher Interessengruppen und sozialer Zersplitterung295
|A 154| 295Riehl, Die bürgerliche Gesellschaft, S. 18.
überwunden und eine entsprechende neue Erziehung begründet werden sollte.
b) Das Gemeinschaftsproblem in der sozialpädagogischen Praxis
[005:175] Die dargestellten Ansätze eines neuen Gemeinschaftsbegriffes, konzipiert im Zusammenhang der Bemühungen um Erziehungsformen, die den neuen Aufgaben angemessen waren, treten nun aber keineswegs in der ganzen zeitgenössischen sozialpädagogischen Literatur gleichermaßen hervor. Dennoch stellt sich bei näherer Betrachtung heraus, daß neben dieser Konzeption eines neuen Begriffs auch die pädagogische Praxis vor konkreten Schwierigkeiten stand, deren Lösungen und Lösungsversuche eine Übereinstimmung mit jenen begrifflichen Ansätzen deutlich werden lassen. In dieser Übereinstimmung weisen sie beide auf einen ihnen gemeinsamen geschichtlichen Grund.
[005:176] Diese, in Bezug auf den geschichtlichen Grund als symptomatisch zu bezeichnenden konkreten Aufgaben finden sich beispielsweise in den Schwierigkeiten, die sich bei der inneren Organisation der Erziehungsanstalten einstellten, bei dem Bemühen um eine Neubelebung der Gemeinwesen, um eine pädagogische Ausgestaltung des Vereinslebens, um eine Erziehung der berufstätigen Jugend. Sie zeigten sich ebenso in dem Versuch, das Phänomen der Erziehungsgemeinschaft – weniger das Verhältnis von Erzieher und Zögling als hier vielmehr das der Zöglinge zueinander – in den Griff zu bekommen und zu deuten, als
Gegenseitigkeit der Stimmung
,
gemeinschaftliche Freude
296
|A 154| 296Die Hausschule in Graudenz, Jahrb. d. Pr. Volkssch. Bd. V., S. 94.
,
Gefühl |A 64|der Gemeinsamkeit
297
|A 154| 297Hagen, Über nation. Erz., S. 134.
, wechselseitiges Verhältnis der Liebe298
|A 154| 298Völter, Gesch. und Stat., S. 58.
, oder auch in der Feststellung,
daß der sich zum Guten emporarbeitende Mensch auf Kooperation, auf helfende, ergänzende Gemeinschaft angewiesen ist
299
|A 154| 299Wahlberg, Individualisierung, S. 205.
.
[005:177] Das Problem einer Gemeinschaftserziehung ergab sich so aus den konkreten, unmittelbaren Aufgaben des erzieherischen Alltags. Das Versagen der alten Einrichtungen erforderte eine neue Formung der Erziehungsgemeinschaften. Den ersten institutionellen Ausdruck fand diese Wendung in den Versuchen einer neuen äußeren Organisation der sozialpädagogischen Einrichtungen, so in den Nachwirkungen des Waisenhausstreites300
|A 154| 300Vergl. zum Waisenhausstreit: Beeking, Familien- und Anstaltserziehung in der Jugendfürsorge, Frbg. 1925; Lempp, Gesch. d. Stuttg. Waisenhauses, Stuttg. 1910; Gillmann, Die Entwicklg. d. Waisen- und Armenkindererz. in Baden, Diss. Freiburg, 1927.
, in der Auseinandersetzung mit dem Familienprinzip und dem Versuch einer neuen ökonomischen Grundlegung der Anstalten. Zwar wurde unter dem Druck materieller Not, durch den immer noch wirksamen Einfluß des Physiokratismus und besonders auch der damals weithin bekannten Fellenbergschen Anstalten in Hofwyl das Prinzip wirtschaftlicher Autarkie oftmals in den Anstaltskonzeptionen vertreten und sogar vom Erziehungsziel her gerechtfertigt301
|A 154| 301Vergl. Riecke, Über Armen-Erziehungs-Anstalten ... S. 5, S. 40, 50 ff.; vergl. ferner Schlipf, Die Erziehungsanstalt ... S. XIII ff.
. Indessen konnte es aber nicht ausbleiben, daß gerade jetzt solche Organisationsprinzipien, die sich an der Geschlossenheit der merkantilistischen Gesellschaft orientierten, unbefriedigend blieben und nach neuen Wegen einer von der Erziehungsaufgabe her bestimmten Struktuierung der Anstalten gesucht wurde.
[005:178] Man forderte daher, die Erziehung Verwahrloster müsse zu einer
Angelegenheit der Gemeinde
werden, von deren
Gemeinsinn
getragen, um, von wirtschaftlichen Gesichtspunkten unabhängig, die neue Vorstellung solcher Erziehungsgemeinschaften verwirklichen zu können301a
|A 154| 301a
Völter, Beiträge ... S. 26
; vergl. auch Völters Polemik gegen das ökonomische Prinzip der Fellenbergschen Anstalten, wie es u. a. auch von Riecke und Schlipf vertreten wurde. Er behauptete,
daß, wer vollends in Dingen, die aufs Geistige abzwecken sollen, die Wohlfeilheit zum Grundsatz erhebt oder wenigstens über Gebühr benachdruckt, auf schlüpfrigen Wegen sich befindet und am Ende, vielleicht ehe er sichs versieht, über dem Suchen nach wohlfeilen Mitteln sich auch wohl den Zweck feil macht. Leicht geschieht es dann, daß die Sorge für den ökonomischen Erwerb die Rücksicht auf Erziehung, sowohl die intellektuelle als die sittliche, hintansetzen läßt, daß die Zöglinge bloß Mittel für den Erwerb und die Anstalt selbst, statt einer Erziehungs- und Rettungsanstalt, eine Erwerbsanstalt wird
(a. a. O., S. 15)
.
.
Die Erziehung darf sich nun einmal, und wenn sie auch noch so große ökonomische Vorteile damit gewänne, ja, wenn sie auch durch die Not dazu gezwungen zu sein glaubte, keine Verletzung der Natur und der auf ihr beruhenden Verhältnisse erlauben, ohne daß ein solcher Mißgriff an ihr selbst sich rächte
302
|A 154| 302a. a. O., S. 20.
. Die Erziehung nämlich habe
den Menschen als Selbstzweck zu behandeln
303
|A 154| 303a. a. O., S. 17.
. Erst unter diesen Voraussetzungen war eine dem neuen Begriff entsprechende Gemeinschaftserziehung möglich, in der ein gemeinschaftliches Leben gleichsam von unter her neu entwickelt werden konnte.
[005:179] In diesem Zusammenhang kommt eine besondere Bedeutung auch der Aufmerksamkeit zu, die man dem Bereich des
geselligen Verkehrs
zuwandte304
|A 154| 304Vergl. dazu die Funktion, die Schleiermacher der Geselligkeit im pädagogischen Zusammenhang einräumt; Pädagogische Schriften, |A 155|hrsg. v. E. Weniger, Düsseldorf 1957, Bd. I, vornehmlich S. 350ff.; ders. Versuch einer Theorie des geselligen Betragens, hrsg. von H. Nohl in: Schleiermachers Werke, hrsg. von O. Braun und Joh. Bauer, Leipzig 1913, II. Bd.
. Der freie Raum, neben Unterricht und Arbeit in seinem Eigenwert jetzt überhaupt erst ernst genommen, wurde in die pädagogischen Überlegungen mit einbezogen. Geselliger Verkehr galt nicht mehr als Mittel zur gegenseitigen Bildung im Sinne der Aufklärung, sondern als Mittel der |A 65|Gemeinschaftserziehung, zur Aktivierung der vorausgesetzten oder zu stiftenden Gemeinschaftsfähigkeit des Einzelnen.
[005:180]
Es ist wesentlich, daß das Gemüt der Kinder, so frei als sie es vermögen, aus ihnen selbst hervortrete, sich äußere, Gedanken wecke und einnehme und sich unter Menschen zu bewegen Gelegenheit und Geschick erlange
305
|A 155| 305Die Hausschule in Graudenz, in Jahrb. d. Preuß. Volksschulwesens, Bd. V., S. 105.
.
Häusliche Feste
begannen in der Anstaltserziehung eine immer größere Rolle zu spielen306
|A 155| 306
a. a. O., S. 111
.
, denn
es sind namentlich die Jahresfeste der Anstalten, an welchen sich dieses Gemeinschaftsbewußtsein besonders lebhaft ausspricht und durch welche es Nahrung bekommt
307
|A 155| 307
Völter, Gesch. und Stat. , S. 236
. Völter beruft sich an dieser Stelle ausdrücklich auf die Praxis der Beuggener Anstalt, die unter der Leitung C. A. Zellers standø und deren Jahresfeste mindestens in den Neu-Pietistischen Kreisen weithin berühmt waren. Es scheint uns daher notwendig, an dieser Stelle anzumerken, daß der Gemeinschaftsbegriff in diesem Falle eine sehr präzise christliche Fassung als christliche Gemeinde hatte. Dennoch glauben wir in der geistesgeschichtlichen Analogie, die wir durch unseren Zusammenhang feststellen, nicht fehlzugehen.
. Hinweise dieser Art sind bei fast allen zeitgenössischen Autoren zu finden. So fordert Kolping,
es sollte eigentlich ein Gesetz geben, wonach jeder verpflichtet wäre, wenigstens bis auf eine bestimmte Entfernung jährlich zur Kirmes in die Heimat zu gehen
308
|A 155| 308Rheinische Volksblätter, 1854, S. 244.
. Sehr deutlich aber wird das Problem von Fröbel genannt und ausgeführt:
Auch seine Fest- und Feierzeiten, wie seine Arbeitszeiten, muß ein solcher Kreis, eine Volks-, selbst eine Armenerziehungsanstalt haben, wie sie ja auch schon jede einfache Bürger- und Landmannsfamilie hat. Sie muß ihre eigenen Feste haben, wie die Volksfeste teilen, welche teils die Glieder derselben immer inniger und froher in und unter sich, teils die Anstalt als Ganzes immer froher und lebensvoller mit dem Volke verbinden
309
|A 155| 309
Fr. Fröbel, Werke, hrsg. von Lange, Bd. I, 1, S. 470 f.
Vergl. auch Briefwechsel Fröbel-Hagen, S. 11, 21 f.; Hagen Über nation. Erz. , S. 135; Kapff, Kornthal ... S. 161 f.; 5. evang. Kirchentag, S. 52 ff.
. So können diese Feste vornehmlich
dazu dienen, den Gemeingeist zu beleben
310
|A 155| 310
I. v. Wessenberg, Die Elementarbildung des Volkes, S. 74
; vergl. ferner S. 72, 73; E. S. , Über Lesevereine in Deutschland, DV 1839, S. 239, 242.
.
[005:181] Vor allem aber sind in dieser Hinsicht die damals entstehenden Bildungs-, Jünglings-, Gesellen- und Erziehungsvereine bemerkenswert, von denen das Gesellige als gemeinschaftsbildendes Mittel immer wieder hervorgehoben wurde. Daß darin gerade auch die von uns herausgestellte Intention eines neuen Gemeinschaftsbegriffes wirksam ist, erhellt aus der mit solchen Hervorhebungen meist verbundenen Polemik gegen die institutionell vorgeformten und gebundenen Weisen des Unterrichts und der Arbeit in Schule, Werkstatt und deren unzureichende Erziehungsleistungen. Diese Polemik drückte sich in Formeln wie
Erziehung statt Unterricht
als theoretisch ungeklärte Alternative aus. Erst indem der Begriff Erziehung über seinen traditionellen Geltungsbereich ausgedehnt würde – das ist die verborgene Voraussetzung solcher Kritik – sei er imstande, die Aufgaben und Wege einer Gemeinschaftserziehung im neuen Verstande, in diesem Falle den Bereich des geselligen Lebens mit zu umfassen.
[005:182] In Frankfurt am Main wurde 1849 ein
Verein zur Beförderung christlicher Sitte und Geselligkeit
gegründet, dessen im Titel ausgesprochenes Programm zwar noch sehr unbeholfen realisiert wurde, für den hier in Frage stehenden Zusammenhang jedoch symptomatisch ist311
|A 155| 3115. evang. Kirchentag, 1852, S. 55.
. Es war daher auch nur konsequent, wenn, |A 66|als eine Umkehrung der überlieferten Gewohnheiten pädagogischer Institutionen, das Gesellige
das eigentlich erziehende Element
genannt wurde312
|A 155| 312
ebenda
. So konnte die Fülle der plötzlich entstehenden Vereine dieser Art den Zeitgenossen geradezu zum Beweis ihrer Thesen dienen, indem sie sie als Ausdruck eines vorhandenen Bedürfnisses interpretierten, als Versuch, mit Hilfe einer Gemeinschaftserziehung die fühlbar gewordene Lücke in den Erziehungsleistungen der tradierten Einrichtungen zu schließen313
|A 155| 313Vergl.
a. a. O., S. 53
; ferner Die Zwangsarbeitshäuser, DV. 1844, S. 6; Völter, Gesch. und Stat., S. 236.
. Diesem Bedürfnis – verstanden als ein Suchen nach geselliger, gemeindlicher, nationaler Verbundenheit und Gemeinschaft – entsprachen genau diejenigen Aufgaben, die für den in der Entstehung begriffenen pädagogischen Bereich formuliert wurden:
Durch dergleichen Vereine nun würde das Gefühl der Gemeinsamkeit, das Bewußtsein, einem größeren Ganzen anzugehören ... erst seine Befestigung erhalten, und dann würde es nicht leicht mehr verschwinden. Dieses Gefühl aber zu erzeugen ... muß am Ende die Aufgabe der wahren Erziehung sein
314
|A 155| 314
Hagen, Über nationale Erziehung, S. 134
. Vergl. auch a. a. O., S. 132; ferner: Briefwechsel Fröbel-Hagen, S. 9., 10.
.
c) Einschränkungen des neuen Gemeinschaftsbegriffes
[005:183] Wir konnten feststellen, daß unter sozialgeschichtlichen Bedingungen und als Folge einer organologischen Soziallehre ein neuer Gemeinschaftsbegriff im Entstehen war, daß in Verbindung damit und durch die sozialen Umstände beschleunigt, ein Bedürfnis nach neuen Formen und Wegen der Gemeinschaftserziehung erwachte, daß schließlich auch aus den Erfordernissen der pädagogischen Praxis das gleiche Problem sich ergab, das Ungenügen der überlieferten Institutionen deutlich machte und auf eine neue Lösung drängte. Daß es sich bei der genannten
Neufassung des Gemeinschaftsbegriffes
aber nur um Tendenzen – soweit vom pädagogisch-praktischen Alltag die Rede ist – keineswegs aber um eine radikale und durchgängige Abwendung von einer an den überlieferten institutionalisierten Sozialformen orientierten Soziallehre handelt, um eine ausgeführte Konzeption, in der, unabhängig von der inhaltlichen Erfülltheit solcher Sozialformen, Gemeinschaft gleichsam formalistisch und ahistorisch als ein zwischenmenschliches Beziehungssystem aufgebaut wurde, das muß ausdrücklich hervorgehoben werden. Unsere Darstellung bedarf daher einer wesentlichen Ergänzung durch den Nachweis, daß der Begriff Gemeinschaft immer noch, von wenigen Ausnahmen abgesehen, vor dem Hintergrund einer konkreten – sei es nun real vorgefundenen oder utopisch entworfenen – Hierarchie von Gemeinschaften als sozialer Institutionen gedacht wurde315
|A 155| 315Vergl. dazu auch die spätromantische Abwendung etwa Baaders und Görresø von dem subjektivistischen Gemeinschaftsbegriff der Frühromantik.
.
[005:184] Für den württembergischen Neu-Pietismus mit seiner Wendung in ein praktisch handelndes, besonders auf die soziale Wirklichkeit gerichtetes Christentumø ist das kaum verwunderlich316
|A 155| 316Vergl. Ritschl, Geschichte des Pietismus in der lutherischen Kirche des 17. u. 18. Jahrh., III Bände, Bonn 1880-1886, Bd. III, S. 191 f.
.
Wir |A 67|gewöhnen unsere Zöglinge an den Gedanken, daß das Christentum dessen nicht viel Wert hat, der nicht mit Tüchtigkeit seine Stellung auf der Erde ausfüllt durch lebendige Früchte des Glaubens, echt sittlichen Wandel, allgemeine Menschenliebe, Fleiß, Berufstreue und gemeinnützige Tätigkeit in irgendeinem Fach menschlicher Betriebsamkeit
317
|A 155| 317Kapff, Kornthal ..., S. 161.
. Hier ist von der Auflösung alter Formen ebensowenig die Rede wie von dem Suchen nach neuen Wegen der Gemeinschaftserziehung. Die verbindliche Sozialordnung war vorgegeben, die Konfliktstoffe wurden allenfalls im Versagen des Einzelnen oder der Restaurationsbedürftigkeit der realen Gemeinschaftsformen gesucht. Nicht nur die Erziehung des Verwahrlosten, sondern auch der Mensch schlechthin war hier nur denkbar in der Bindung an die konkreten Gruppen Familie, Werkstätte, Gemeinde und Kirche.
Allem unfruchtbaren Gefühlswesen ... allem Wissen und Glauben, das nicht in Tat und Liebe übergeht, sind wir durchaus entgegen
318
|A 155| 318ebenda
.
Tat und Liebe
können sich nach dieser Meinung aber nur in dem festgelegten Rahmen sozialer Institutionen konkretisieren, keineswegs hingegen in einer
Gemeinschaft
, die als produktive und spezifische Leistung einer Gruppe ohne vorgegebene Sozialnorm verstanden werden will. Die erzieherische Aufgabe bestand daher auch im wesentlichen darin, den Einzelnen seinem ihm angemessenen Ort im Rahmen dieser Sozialordnung zuzuweisen.
[005:185] Damit blieb aber das Schema einer ständischen Gliederung der Gesellschaft völlig unangetastet. Die Forderung einer Standeserziehung stellte mithin den zunächst noch unangezweifelten Rest in dem ganzen hier behandelten, aus alten und neuen Momenten gemischten Vorstellungszusammenhang dar; denn auch dort, wo bereits ein neuer Gemeinschaftsbegriff wirksam oder auch nur die Sicherheit traditioneller Soziallehre erschüttert war, ging man nicht so weit – etwa nach dem Vorgang Fichtes – die ständischen Prinzipien für die Erziehung völlig fallen zu lassen, sondern hielt an den standesgebundenen Erziehungszielen fest. Man wollte – in Übereinstimmung mit der Theorie Pestalozzis – die Zöglinge
zu brauchbaren Mitgliedern ihres Standes
319
|A 155| 319Riecke, Über Armen-Erziehungs-Anstalten ..., S. 1.
, sie
nicht über sondern für ihren Stand
320
|A 155| 320a. a. O., S. 19.
erziehen,
ihnen mittelst Erlernung eines (standesgemäßen, d. Verf.) nützlichen Gewerbes ihr ehrliches Fortkommen möglich
machen321
|A 155| 321
Schlipf, Die Erziehungs-Anstalt ..., S. XXIV
.
; sie sollten
nach ihren Neigungen, Talenten und den sonst einschlagenden Verhältnissen zugebildet
werden322
|A 155| 322
a. a. O., S. 27
.
.
Wenn den Waisenhäusern mit Recht der Vorwurf gemacht werden kann, daß bei der Erziehung der Waisenkinder so wenig die künftige Bestimmung berücksichtigt wird, und dieselben zu wenig vorbereitet für bürgerliche Gewerbe und Handtierungen die Anstalt verlassen, so ist es eine freudige Erscheinung neuer Zeit, diesen Vorwurf nach und nach beseitigt |A 68|zu sehen
323
|A 155|323a. a. O., S. 52.
; es sei der Zweck der Anstalten, die Zöglinge
zu tüchtigen und nützlichen Arbeitern für den Handwerkerstand
zu erziehen324
|A 155| 324
Jahrb. d. Preuß. Volksschulwesens, Bd. V., S. 87
.
; und Völter deutete eine Begründung an, wenn er schrieb:
Es ist Grundsatz unserer Anstalten, Alles zu vermeiden, wodurch sie (die Kinder) über ihren Stand gehoben würden, ihnen kein Bedürfnis anzugewöhnen, das sie in ihren späteren, wenn auch noch so ärmlichen Verhältnissen nicht befriedigen könnten
325
|A 155| 325
Völter, Gesch. und Stat., S. 62 ff.
Vergl. dazu auch: Wessenberg, Die Elementarbildung ... S. 21, 49, 71; Freib. kath. Kirchenblatt v. 20.1.1858; Jahrb. d. Preuß. Volksschulwesens, Bd. VIII, S. 114, 120; Falk, Aufruf, S. 10; Oldenburg, Candidatur und Innere Mission, S. 18; Dobschall, Nachrichten, S. 8; Fellenberg, Hofwyl, S. 49; wenn auch nicht explizit, so ist doch diese Grundhaltung wenigstens andeutungsweise in der ganzen zeitgenössischen sozialpädagogischen Literatur enthalten.
.
[005:186] Damit ist der äußerste, sozialgeschichtlich gleichsam konservative Punkt des Gemeinschaftsdenkens bezeichnet. Zugleich handelte es sich aber auch – gerade im Gegensatz zur frühromantischen Gemeinschaftsideologie – um eine sehr unsentimentale, realistische Betrachtungsweise der Verhältnisse, die sich auf die konkrete Erziehungsnot des Einzelnen und deren unmittelbare Abwendung richtete. Allerdings war darin unausgesprochen eine prästabilierte Harmonie zwischen der Gesamtheit menschlicher Neigungen und Fähigkeiten und der bestehenden Sozialordnung vorausgesetzt326
|A 156| 326Unter diesem Aspekt erschien auch die soziale Frage nicht als politisches, sondern ausschließlich pädagogisches Problem: die Einfügung einer ständisch noch nicht festgelegten Gruppe in den Gesellschaftsorganismus.
. Problematisch aber wurden solche Theorien erst, als sie von der romantischen historischen Rückwendung zu dem Leitbild eines ständisch gegliederten Gesellschaftsorganismus ebenso wie von der Einstellung der Kirche zu sozialer Bewegung und sozialer Frage eine zusätzliche ideologische Begründung erfuhren327
|A 156| 327Dieser Sachverhalt bildet eine Parallele zu der eigentümlichen Entwicklung der Romantik: Die zunächst radikale und
fortschrittliche
romantische Theorie lieferte schließlich die ideologische Rechtfertigung der politischen Restauration. Vergl. dazu G. Lukacz, Die Zerstörung der Vernunft, S. 37, 465; vergl. ferner: C. Schmitt, Politische Romantik; H. Freyer, Die Romantiker.
.
d) Die Dialektik der sozialen Integration
[005:187] Zwischen dem Prinzip einer ständisch gebundenen Erziehung, genauer: zwischen einem Erziehungsideal, das die faktisch noch wirksamen und religiös sanktionierten Gemeinschaftsformen zu Normen des erzieherischen Handelns erhebt und dem Prinzip einer nicht auf die gegenwärtige Sozialordnung festgelegten, entwicklungsoffenen Gemeinschaftserziehung besteht offenbar ein unlösbarer Widerspruch328
|A 156| 328Dieser Gegensatz hat bei Schleiermacher seinen entsprechenden pädagogisch-systematischen Ausdruck gefunden.
. Diese Alternative aber ist nur scheinbar und zudem hier nur theoretisch eine die Gegenposition ausschließende, denn in beiden Fällen handelt es sich – wie in der hier dargestellten Literatur überhaupt, von wenigen Ausnahmen abgesehen – um konkrete Stellungnahmen zu pädagogischen Aufgaben, nicht aber um theoretische Äußerungen im Zusammenhang begründeter Systeme. Daher ist es denn auch durchaus verständlich, wenn wir, je nach wechselnder Situation und Aufgabe, bei ein und demselben Verfasser beide Positionen wiedererkennen können. Der Mangel an Reflexion, an theoretischer Klärung, ging zusammen mit einer Anpassungsfähigkeit an die Zwiespältigkeit der geschichtlichen Situation und die Vielfalt der Aufgaben. Somit ist die hier angedeutete Widersprüchlichkeit eine Spiegelung der Widersprüchlichkeit eben jener geschichtlichen Epoche.
|A 69|
[005:188] Es kann jedoch nicht geleugnet werden, daß diese, zunächst recht fragwürdig erscheinende Situation durchaus fruchtbare Ansätze barg; so etwa in dem Versuch, die Phänomene Gefährdung und Verwahrlosung zu erklären und Anstalten zu ihrer Überwindung zu treffen, denn beide wurden ja nicht als lediglich den Einzelnen betreffende Phänomene betrachtet; die konkreten Gemeinschaftsformen trugen vielmehr ebenso die Kennzeichen der Krisenerscheinungen an sich und waren verbesserungs- und änderungsbedürftig. Und selbst wenn die notwendige Veränderung als Restauration eines ideal gedachten geschichtlich zurückliegenden Zustandes verstanden wurde, löste sich – jedenfalls im Bereich pädagogischen Handelns – das starre Gegenüber von alleingültiger Sozialordnung und Individuum auf. Nicht nur der einzelne gefährdete Bürger oder Zögling müsse – so sagte man – in ein rechtes Verhältnis zu den Formen der Gemeinschaft gesetzt werden, auch diese überindividuellen Ordnungen, die Gemeinde etwa, müßten wieder das werden, was ihr Name besagt,
eine Gemeinschaft für Unternehmungen zum Nutzen aller Gemeinschaftsmitglieder
329
|A 156| 329W. S., Theorie und Praxis ..., DV 1845, S. 49.
. Neuordnung des Gemeinwesens bedeutete somit jedoch nicht die bloße Wiederherstellung eines gewesenen Zustandes, sondern sie stellte die neuschöpferische Leistung einer Gruppe dar; der moderne Terminus
soziale Verantwortung
bezeichnet zutreffend die Haltung, die hier in das Zentrum sozialpädagogischer Überlegungen gerückt wurde. Der
Mangel an Gemeinsinn
müsse überwunden,
die Sorge für die Erziehung verwahrloster Kinder ... muß allgemein Angelegenheit der Gemeinden werden, und zwar nicht auf dem Wege des Gesetzes, sondern auf dem Wege der einsichtsvollen Freiwilligkeit
330
|A 156| 330Völter, Beiträge ..., S. 26.
; nur so sei ein
von sittlicher Kraft getragenes Gemeindeleben
möglich331
|A 156| 331
a. a. O., S. 30
.
.
Durch Entwicklung des Assoziationsgeistes sollen die Grundlagen einer besseren Zukunft der Gesellschaft
gelegt werden332
|A 156| 332
W. S., a. a. O., S. 49
.
. Gemeinde, Erziehungsanstalten und Vereine,
Assoziationen
, standen mithin vor einer gemeinsamen pädagogischen Aufgabe, die nicht nur durch die einzelnen in Not befindlichen Glieder, sondern durch den Zustand des Gemeinwesens selbst gestellt wurde. Die Rettungsanstalten seien daher auch nicht nur ein Symptom neu erwachenden
Gemeinschaftsbewußtseins
333
|A 156| 333Völter, Gesch. und Stat., S. 236.
, sondern böten die Möglichkeiten und hätten die Fähigkeit, erzieherisch auf die Gemeinde zurückzuwirken, indem sie vorbildliche Gemeinschaftsformen repräsentierten und ihrerseits die soziale Verantwortung herausforderten334
|A 156| 334a. a. O. , S. 235. Zum Vorangegangenen vergl. auch W. H. Riehl, Die bürgerl. Gesellschaft; ferner die Selbstverwaltungstheorie L. v. Steins und die Schriften des Frh. v. Stein.
. Durch diese Doppelseitigkeit der im Begriff Gemeinschaft implizierten Aufgabe war die Möglichkeit eingeräumt, die Sozialordnung als eine, wenn auch nicht radikal relativierbare, so doch geschichtliche und entwicklungsoffene zu betrachten. Diese Möglichkeit wurde in |A 70|dem Wichernschen Begriff vom
christlichen Sozialismus
ausdrücklich realisiert335
|A 156| 335Die sozialpädagogischen Bemühungen der Inneren Mission seien
der Ansatzpunkt eines lebendigen Keimes, aus welchem sich ... die verheißungsvollen Anfänge einer organischen, Gestalt und Gesetz von innen heraus schaffenden, das politische und staatskirchliche Leben eigentümlich erneuernden Tätigkeit hervorgehoben hat
(J. H. Wichern, Ges. Schr. , Bd. III, S. 184)
: So solle, auf die gesellschaftlichen Probleme übertragen, das Christentum
im christlichen Sozialismus eine höhere Einheit verwirklichen
(a. a. O., S. 161)
.
Sozialismus
und
Kommunismus
seien nur die entstellten Äußerungen eines im Grunde geschichtlich und sozial notwendigen Reformwillens (a. a. O., S. 379 ff). Dieser Wichernsche Begriff des
christlichen Sozialismus
ist freilich nicht zu verwechseln mit dem späteren
Religiösen Sozialismus
.
. Weiterhin erhellt, wie die soziale Frage so zunächst in einem nicht nur ökonomisch-politischen Sinne ernst genommen werden konnte und durchaus zu einem Problem allgemeiner gesellschaftlicher Reform wurde, letzten Endes aber doch der Gefahr ausgesetzt war, in eine rein pädagogische Aufgabe umgedeutet zu werden336
|A 156| 336Vergl. Briefwechsel Fröbel-Hagen, S. 10; Völter Gesch. und Stat., S. III, S. 51; Schmoller, Die soziale Frage, S. 620; W. H. Riehl, Die bürgerl. Gesellsch., besonders S. 340 ff.. Vergl. ferner: Krummel, Das Problem der Rettung bei J. H. Wichern, S. 176 f.
. Schließlich aber finden wir hier auch einen der Ansätze, die uns für alles sozialpädagogische Denken in besonderer Weise typisch erscheinen: Der Umschlag sozialpädagogischer in sozialpolitische Überlegungen; ein Problem, das in der Konzeption der Nationalerziehung aufgehoben schien, tatsächlich aber bis heute ein fortwährend beunruhigender Bestandteil sozialpädagogischen Denkens geblieben ist.

2. Berufs- und Arbeitswelt als sozialpädagogisches Problem

[005:189] Eine Berufserziehung, wenn auch nicht in diesem expliten Sinne, hat es längst vor der industriellen Entwicklung gegeben als eine der Bildungsaufgaben, die die Erwachsenengeneration an ihren Kindern erfüllte, genauer: als die interne Bildungsaufgabe eines Berufszweiges, eines Standes, einer Zunft. Wir müssen daher fragen, mit welchem Recht das pädagogische Problem, das von Arbeit und Beruf gestellt wird, für die hier behandelte Epoche als ein grundsätzlich anderes, durch bestimmte Veränderungen und Erweiterungen in seiner Struktur gewandeltes behauptet und dem Zusammenhang einer sozialpädagogischen Fragestellung eingefügt werden kann.
[005:190] Ein erster Hinweis auf die Berechtigung dieser Behauptung ist die Tatsache, daß mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts weite, dem gewerblichen Leben fernstehende Kreise sich um die Eingliederung der Jugend in das Gewerbsleben bemühten. Und zwar war das nicht nur dort der Fall, wo die Berufsausbildung, etwa im Rahmen der Anstaltserziehung, ihre unerläßliche Stellung in einem geschlossenen Erziehungsgange hatte, sondern weit über alle unmittelbar Beteiligten hinaus erwachte bei Geistlichen, Lehrern, Wissenschaftlern, Beamten, Vereinen ein reges Interesse und eine ernste Sorge um die mit Handwerk und Industrie zusammenhängenden Fragen der Nachwuchserziehung. Der bisher gesicherte Weg gesellschaftlich-beruflicher Integration der Jugend schien gefährdet. Die ersten gewerblichen Sonntagsschulen waren daher auch keineswegs Gründungen der Handwerkerorganisationen – was als Folge der Gewerbefreiheit garnicht verwunderlich wäre – sondern aus sozialer und pädagogischer Verantwortung erwachsene Institutionen rein sozial-fürsorgerischen oder missionarischen Charakters, als Erziehungshilfen |A 71|für eine Not verstanden, der die Gesellschaft mit ihren bereitstehenden Mitteln selbst nicht mehr begegnen konnte337
|A 156| 337S. Thyssen, Berufsschule, S. 49; Magdeburg, Handwerkserziehung, S. 37.
.
[005:191] Das Auftreten einer neuen Berufsproblematik machte sich zunächst allein darin bemerkbar, daß in der sozialpädagogischen Literatur die Aufgaben einer Berufs- und Arbeitserziehung in steigendem Maße hervorgehoben und mangelhafte berufliche Eingliederung als Quelle von Verwahrlosung und Kriminalität bezeichnet wurden338
|A 156| 338Vergl. Lotz, Arbeitshäuser, S. 29 ff. , 134; Jäger, Civilstrafanst., S. 201; Arnim, Bruchstücke, II, 90 f.; Mittermeier in Hitzigs Annalen III, S. 371; Fellenberg, Hofwyl, S. 49; Riecke, Armen-Erz.-Anst., S. 19, 44; Die Lehr- und Erz. Anst. d. Provinz Westfalen.
, institutionell in den entstehenden Sonntagsschulen und Erziehungsvereinen, ihren Programmen und Arbeitsplänen339
|A 156| 339Vergl. Die Lehr- und Erz. Anst. d. Prov. Westf. ; 5. ev. Kirchentag; ferner die Zusammenstellung bei S. Thyssen, Berufsschule.
. Während sich aber in solchen Äußerungen und Einrichtungen lediglich ein Unbehagen den aufbrechenden Schwierigkeiten gegenüber kundtat, deren Ursachen im Versagen des Einzelnen, in dessen Erziehung und beruflichem Milieu oder gar einzig und allein in dem Verlust einer religiösen Bindung gesucht, der Wert und die Verbindlichkeit der patriarchalen Handwerksgroßfamilie als Leitmodell des Wirtschaftslebens aber in keiner Weise bezweifelt wurden, setzte eine grundsätzliche Skepsis an der Hinlänglichkeit herkömmlicher Berufserziehungswege erst gegen die Mitte des Jahrhunderts ein340
|A 156| 340Damit verlor sich der sozialfürsorgerische Aspekt allmählich und weitgehend. Die Frage der Berufserziehung wurde zu einer Frage der Organisation des Bildungswesens.
, als die Industrialisierung in Deutschland ihre ersten fühlbaren Folgen zeitigte, die Berufsnot sich zu einer sozialen Not erweiterte und andere Lebensbereiche in Mitleidenschaft zog.
a) Das Handwerk
[005:192] Solange der Glaube an die soziale Tragfähigkeit der handwerklichen Struktur des Gewerbelebens unangetastet und dessen alle erzieherischen Erfordernisse erschöpfende Potenz unangezweifelt bleibt, konnten sich alle ausdrückliche Berufserziehung und vorbereitenden Erziehungswege in Schulen und Anstalten mit der Vermittlung von Kenntnissen und technischen Fertigkeiten begnügen.
Fleiß
und
Arbeitsamkeit
garantierten die berufliche Sicherung.
Die Unterweisung in den Handgeschicklichkeiten hat den Erwerb und die Erwerbsfähigkeit der Zöglinge zu ihrem natürlichen Ziel
341
|A 156| 341Jahrb. d. Preuß. Volksschulw. Bd. V, S. 103.
; beliebige
Industriearbeiten
werden daher
als positives Mittel für das künftige Gewerbsleben der Zöglinge von sichtbarem Erfolge sein
342
|A 156| 342Schlipf, Die Erziehungs-Anstalten ..., S. 60.
, wenn man sie nur zu
christlicher Sinnesart und zu arbeitsamer Tätigkeit
erzieht343
|A 156| 343
Dobschall, Nachrichten ..., S. 8
.
. Die immer wiederkehrende formelhafte Wendung, die Zöglinge seien zu
nützlichen Gliedern der bürgerlichen Gesellschaft
zu erziehen, bezeichnet genau diesen Sachverhalt, in dem das fraglose Funktionieren eines sozialen Gebildes – sei es nun auf die Autorität religiöser Sanktionen, sei es auf die Autorität der Vernunft gegründet – vorausgesetzt wird.
[005:193] Diese Annahme einer Harmonie zwischen Mensch und Berufsordnung erfuhr eine erste Erschütterung oder doch Einschrän|A 72|kung, als – jenen Formalismus überwindend – die Möglichkeit einer sinnvollen Berufserziehung nur im Hinblick auf konkrete Berufsarten gesehen wurde. Die Struktur des gegenwärtigen Erwerbslebens wurde dabei noch unreflektiert hingenommen; die erzieherischen Bemühungen aber verstärkten und spezialisierten sich angesichts der ersten Konturen eines neuen Berufs- und Arbeitsproblems.
[005:194] Eine solche Intensivierung und soziale Konkretisierung bedeutete es, wenn die Erziehung zu bestimmten Berufsgruppen zu einer ausdrücklichen pädagogischen Forderung erhoben wurde. Auf den gleichen Sachverhalt wurde hingewiesen, wenn etwa unter den Ursachen der Kriminalität ungünstige Berufssituationen immer häufiger genannt wurden, besonders in Verbindung mit den ersten Erfahrungen der entstehenden industriellen Großstadt.
Bei den Ursachen der Verbrechen müssen auch die verschiedenen hervorstechenden Berufszweige einer Gegend wohl erwogen werden. Und mit Recht trennt daher auch der Bericht einer englischen Commission die Untersuchung der Ursachen der zunehmenden Verbrechen in ackerbauenden Gegenden von dem Zustande in Manufakturbezirken, und berücksichtigt wieder speziell die Verhältnisse der Hauptstädte
344
|A 156| 344
Mittermeier in Hitzigs Annalen, Bd. III, S. 371
. Vergl. auch Julius, |A 157|Gefängniskunde, S. CV ff., dort auch eine Zusammenstellung ausländischer Urteile. Ferner a. a. O., S. CXXIII ff.
. Einer solchen Einsicht in die durch die Arbeitsbedingungen gegebenen Differenziertheit der Ursachen von Verwahrlosung und Kriminalität entsprachen konsequent in gleicher Weise differenzierte berufserzieherische Anstrengungen der Erziehungs-, Besserungs- und Strafanstalten. Die Meinung, daß eine formale Erziehung zur
Arbeitsamkeit
möglich und erfolgsversprechend sei, war damit erschüttert:
Kann so wenig Zwang und Strafen für sich die Menschen verbessern, weil diese Verbesserung von innen anfangen muß, eben so wenig verbessern auch die Arbeiten an und für sich die Moralität, sondern werden nur erst als dann wahrhaft wohltätig und Mittel zu dieser Besserung, wenn sie zweckmäßig verteilt und eingerichtet sind
345
|A 157| 345Wagnitz, Die moral. Verbesserung ... Vorrede.
. Damit war die Aufgabe einer realistischen Differenzierung der Berufserziehung gestellt. Zwei Aspekte des Problems begannen sich abzuzeichnen: Die psychische Angemessenheit eines Berufs und die sozialen Möglichkeiten, die je dem Einzelnen seiner gesellschaftlichen Situation nach offenstehen346
|A 157| 346Die Zwangsarbeitshäuser, DV 1844, S. 23; ferner: Weveld, Gedanken ..., S. 21, 23, 31; Lotz, Ideen ... S. 138; Moll, Besserung ..., S. 19.
.
[005:195] Einen der bezeichnendsten Hinweise gibt uns die damals aktuelle Erörterung der Erziehungsdauer. Der entscheidende Einschnitt war bis dahin die Konfirmation. Der Jugendliche verließ Elternhaus, Schule oder Anstalt, um in der Familie eines Lehrherrn den Abschluß seiner Erziehung, die mit vollendeter Berufstüchtigkeit gegeben war, zu erfahren. Dieser traditionelle Weg schien aber plötzlich gestört zu sein. Im Bereich der Verwahrlostenerziehung führte das zu Überlegungen, die Anstaltserziehung über |A 73|das 14. Lebensjahr auszudehnen oder zumindest doch den Entlassenen eine nachgehende Fürsorge angedeihen zu lassen.
Nur dadurch wird es möglich, die Erziehung der Zöglinge (gewissermaßen) zu vollenden. Gewöhnlich werden die Zöglinge solcher Anstalten gerade in der gefährlichsten Periode des Lebens ihrem Schicksal überlassen. Sie sind mit einigen Kenntnissen ausgestattet, deren Nutzen sie noch wenig einsehen
347
|A 157| 347Riecke, Armen-Erziehungs-Anst. ..., S. 50.
. Die Gefahren der Gesellschaft und das instabile Erwerbsleben erforderten eine
längere Geborgenheit
; nur in solcher Geborgenheit sei eine gute Berufsausbildung gesichert 348
|A 157| 348
Lange, Kolonien, S. 138
.
. Gerade nach dem 14. Lebensjahr sei die Erziehung notwendiger denn je – in dieser Feststellung wird das pädagogische Versagen der Handwerkerfamilie geradezu vorausgesetzt.
Von dem Mangel an Erziehung in dieser Zeit rührt das traurige Sinken und Verderben so manches in der Schule wohlgesitteten und hoffnungsvollen Knaben unstreitig her. Schon die Schule mit dem 14ten Jahre zu schließen, ist ein Mißgriff
349
|A 157| 349Schlipf, Die Erziehungs-Anstalt, S. IX.
.
[005:196] Da die beruflich-soziale Bindung als wesentliche Sicherung gegen alle Formen von Verwahrlosung betrachtet wurde, wandten ihr naturgemäß besonders die Erziehungsanstalten und -Vereine ihre Aufmerksamkeit zu. Die Suche guter Lehrherrn scheint daher ein Hauptproblem jener Einrichtungen gewesen zu sein.
Ein großes Hindernis, welches der Erziehung der Jugend der unteren Stände in diesem (dem nachschulischen) Alter entgegensteht, ist freilich auch dies, daß das Verhältnis der Lehrherrn zu ihren Lehrlingen und Gesellen meistens aus Schuld der ersteren immer lockerer wird und daß jene so oft gar keine Zucht mehr über diese ausüben, sondern sie ganz sich selbst überlassen, ja sie sogar nicht einmal mehr an ihrem Familienleben Teil nehmen lassen ... So müssen auch die besseren unter den jungen Leuten einem wilden, ungebundenen Leben anheimfallen
350
|A 157| 350Völter, Beiträge, S. 29.
. Die Kenntnis des Handwerkertums und seiner realen Situation wurde zur Voraussetzung einer sinnvollen Erziehung erklärt 351
|A 157| 351F. Oldenberg, Candidatur und innere Mission, S. 18.
. Wir finden daher auch kaum eine sozialpädagogische Erörterung, in der nicht die Berufsfürsorge ausdrücklich in die grundsätzlichen Aufgaben von Anstalten und Vereinen mit einbezogen wurde352
|A 157| 352Vergl. dazu: Arnim, Bruchstücke, Bd. II, S. 137; Wagnitz, Moralische Verbesserung, S. 68; Müller, Christl. Besuche, S. X, S. XXVIII; Völter, Beiträge, S. 27; Jahrb. d. Gefängniswesens, Bd. II, S. 145 ff.; S. 26 f.
. Von solchen Erfahrungen her wurden berufsfürsorgerische Maßnahmen schließlich zu einem Hauptaufgabengebiet nicht nur der Verwahrlostenpädagogik, sondern auch der vorbeugenden Jugendhilfe353
|A 157| 353Vergl. dazu besonders Lange, Kolonien; die Schrift ist ganz auf diesem Gedanken aufgebaut.
. Die Handwerker-, Jünglings- und Gesellenvereine, soweit sie nicht einer rein religiösen Motivation folgten, haben hier einen ihrer entscheidenden Ursprünge.
b) Beruf und Arbeit im Werk J. D. Falks
[005:197] Zwar noch ganz an vorindustriellen Erziehungswegen und Leitbildern orientiert, gebührt dennoch J. D. Falk in diesem Zusam|A 74|menhang eine besondere Hervorhebung. In seiner Konzeption eines umfassenden Erziehungsplanes spiegelt sich anschaulich die kritische Situation, in der sich bereits zu seiner Zeit der ganze Komplex sozialer Ordnungen befand und die bevorstehende Krise, die für ihn sich abzuzeichnen begann. In seiner Idee einer Werkstättenerziehung konzentrierte sich sowohl die Sorge um die immer weiter anwachsende Gefährdung der Jugend wie die Hoffnung auf eine soziale Erneuerung in der Frage nach einer richtigen Berufserziehung. Dabei wurde bezeichnenderweise von ihm das Modell einer zunftmäßigen patriarchalischen Handwerkserziehung benutzt, um die Auflösung der traditionellen Gestalt eben dieser Institution rückgängig zu machen oder aufzuhalten.
[005:198] Berufserziehung war damit für Falk die wesentlichste pädagogische Aufgabe und wurde zum Angelpunkt der Erziehung überhaupt.
Von diesem Standpunkt fand ich gar bald den hohen Einfluß, das große sittliche Verdienst, das sich die verschiedenen Werkstätten eines Landes um die Bildung der Jugend oder praktische Erziehung, folglich um den Staat zu erwerben. Ich sah mit innigen Vergnügen, was die Nähe, das Beispiel eines rüstigen, arbeitsamen Mannes, der von früh bis spät zu Abend am Werke ist, für Wunder bewirkte; wie es diese verwilderte Jugend betätigte, ihre schlafenden Kräfte erweckte und sie gleichsam allmählich zum Bessern und Guten dahinriß
354
|A 157| 354J. D. Falks Erziehungsschriften, herausgeg. von R. Eckart, Halle 1913, S. 79.
. Das ausschließliche Zutrauen zu dieser patriarchalen Berufsordnung war in ihm aber nicht mehr stark genug, um ihr allein ein umfassendes Erziehungsgeschäft zuzumuten. Seine Anstalt als das
Vaterhaus
der Jugendlichen 355
|A 157| 355
a. a. O., S. 6
:
Das Vaterhaus ist die Heimat der Liebe, Sie, die älter ist als alle Sprachen, pflegt hier vorzugsweise ihren Wohnort aufzuschlagen. Daher kann der Grundsatz:
Verfault Hausregiment, verfault Staatsregiment, verfault Rom, verfault Griechenland
nicht bloß ein Gesetz der Staaten, sondern auch zugleich eins für das ganze Erziehungswesen darstellen
.
und seine Einrichtung der
Sonntagsschule
bildeten die notwendige Ergänzung der Werkstättenerziehung. Denn auch für ihn stellte die Zeit nach der Schulentlassung eine Periode besonderer sozialer Gefährdung dar, die die Handwerkerfamilie allein nicht mehr abzuwenden vermochte. Er war der Meinung, daß besonders der Zeitraum
nach Entlassung des Kindes aus der Schule ... so recht die Lücke sei, wodurch dieser Satan des Verderbens (die Verwahrlosung, d. Verf.) ... seinen ungehinderten Einzug nähme
356
|A 157|356a. a. O., S. 79.
. Daher formulierte auch Reinthaler, der sich selbst als pädagogischen Schüler Falks verstand, das organisatorische Grundprinzip seines
Martinsstiftes
wie der Falkschen Anstalt:
Verbindung eines gemeinsamen Vaterhauses mit der Erziehung in einzelnen Haushaltungen und Werkstätten
357
|A 157| 35719. Jahresbericht d. Martins Stiftes, Erfurt 1838.
, oder, formelhaft zusammengefaßt, in dem Terminus
christlich-werkliche Erziehungsweise
358
|A 157| 358Jahresbericht d. Martins Stiftes, Erfurt 1827.
.
[005:199] Die Konzeption dieser
christlich-praktischen Volkserziehung
359
|A 157| 359Falk, Aufruf, S. 12.
ergab sich für Falk durch die Begegnung mit der konkreten Not verwahrloster Jugendlicher. Aus einem Mittel, akute Verwahrlosungserscheinungen zu bannen, wurde die Berufser|A 75|ziehung zum Mittelpunkt eines umfassenden Plans zur Erneuerung der
verwahrlosten Volkserziehung
360
|A 157| 360J. D. Falks Erziehungsschriften, S. 157.
. Die Grundprinzipien seiner Erziehungsweise fanden ihren Ausdruck in den beiden Aufgaben einer christlichen Gesinnungsbildung und einer berufspraktischen Handwerkserziehung361
|A 157| 361
Falk, Geheimes Tagebuch, S. 51
:
Eine Grundidee von deutscher Volkserziehung ist durch unserer Anstalt im Fundament erfaßt. Luther und die Bibel rufen auf der einen Seite:
Bete!
und hundert tausende Webstühle und hämmernde Ambosse und Schmieden antworten auf der andern:
Arbeite!
.
.
[005:200] Was aber diese Theorien sozialpädagogisch relevant macht, das ist die Tatsache, daß der Beruf als konkrete, an bestimmte Neigungen und Fähigkeiten des Einzelnen gebundene 362
|A 157| 362Vergl. Wichern, Gesammelte Schr., Bd. VI, S. 48.
inhaltliche Erfüllung eines Lebens in unmittelbaren Zusammenhang mit dem Phänomen der Verwahrlosung gebracht, daß darüber hinaus die Berufsfrage nicht als eine lediglich einzelne besonders gefährdete Jugendliche betreffende behandelt wurde, sondern als eine grundsätzliche Frage jeder Volkserziehung, daß er schließlich, da die Leistungsfähigkeit des Handwerks im Hinblick auf die umfassende Aufgabe gesellschaftlich-sittlicher Eingliederung des Nachwuchses angezweifelt wurde, eine Ergänzung der handwerklich-technischen Ausbildung in Form einer zusätzlichen Jugendhilfe für notwendig erachtete. Besonders bemerkenswert erscheint uns dabei, daß die institutionelle Form, in der Falk seine Ideen verwirklichte, überraschend modern anmutet. Die Verbindung von Heimerziehung und einer, auf die verschiedensten Arbeitsplätze einer Gemeinde verteilten Berufsausbildung weist eine auffallende strukturelle Ähnlichkeit mit Einrichtungen der Jugendsozialarbeit unserer Tage auf. Offensichtlich beruht diese Analogie auf einer weitgehenden Übereinstimmung der Situationen. Hier wie dort handelt es sich um eine akute Gefährdung der Jugend durch soziale Notstände, die sich vor allem in einem Mißverhältnis zwischen dem Einzelnen und der Berufswelt niederschlagen, außerdem aber auch um eine Gefährdung, die in gesellschaftlichen, nicht aber in psychischen Phänomenen ihren Ursprung hat. Die Verbindung von Heim und normaler Arbeitssituation bot sich daher in beiden Fällen als die geeignete Form an, jene Gefährdung abzuwenden und damit einer drohenden Verwahrlosung vorzubeugen.363
|A 157| 363Zur Jugendsozialarbeit der Gegenwart vergl. vor allem Handbuch der Jugendwohlfahrt, herausg. v. H. Lades, S. 215 ff; Informationsrundbrief zur sozialen Lage der Jugend; C. Bondy, Bindungslose Jugend, Düsseldorf 1952.
c) Die Proletarisierung als pädagogisches Problem
[005:201] Beruf und Arbeit gaben in jenen Jahrzehnten pädagogische Probleme auf, die von den Zeitgenossen in ihren Ansätzen zwar schon erkannt, deren Lösungen aber erst experimentierend versucht werden konnten. Die Konsequenzen der mit dem ersten
industriellen Ausbau
364
|A 157| 364
Conze, Vom Pöbel zum Proletariat, S. 334
. Mit diesem Terminus werden die vorbereitenden Jahrzehnte bis zur Einführung der eigentl. Schwerindustrie bezeichnet.
verbundenen Proletarisierung reichten weit über die eigentliche Berufswelt hinaus und drangen in die gesamten Lebensverhältnisse der betroffenen Schichten ein. Mit der Frage nach der Stellung des Menschen im modernen Betrieb stellte sie für diesen Menschen auch die Frage nach Bildung und Erziehung überhaupt neu.
|A 76|
[005:202] Proletarisierung bedeutete für den Zeitgenossen soziale Desintegration365
|A 157| 365Das trifft für alle in diesen Vorgang eingreifenden Gruppen zu. Vergl. besonders Fr. v. Baaders Schriften zur Gesellschaftsphilosophie, Hrsg, v. J. Sauter, S. 319 ff.
. Sie stellte damit als Massenverelendung, als Pauperismus, eine sozialpolitische Aufgabe; sie stellte ferner die pädagogische Aufgabe einer Wiedereingliederung der proletarisierten oder in einem Prozeß der Proletarisierung befindlichen Bevölkerungsschichten in den Gesellschaftskörper, dessen reibungsloses Funktionieren gerade diese Schichten in Frage stellten. Die Probleme, die mit den neuen Arbeitsbedingungen und deren Folgen aufgegeben waren, wurden aber durch den Umstand erschwert, daß es sich nicht nur darum handeln konnte, eine unmündige Vielzahl für die neuen Verhältnisse noch unerzogener Einzelner mit den neuen Lebensverhältnissen in ein humanes Verhältnis zu setzen. Aus den Kreisen des
Proletariats
nämlich schlug solchen Bemühungen bereits ein erwachendes Selbstverständnis und Selbstbewußtsein entgegen, das nach einer eigenen Deutung einer humanen Arbeits- und Lebensordnung tastete. Der darin hervortretende ideologische Charakter der Auseinandersetzung mit einer Schicht, die sich als Repräsentant der sozialen Ordnung fühlte und den Anspruch auch auf pädagogische Autorität und Verantwortung vertrat, spiegelte sich verständlicherweise auch in den Praktiken und Theorien einer erzieherischen Beeinflussung des Proletariats.366
|A 157| 366Unter
Proletariat
bzw.
Proletarier
verstehen wir nicht – wie im Laufe der Entwicklung geschehen – den ausgesprochen modernen Industrieproletarier. Vielmehr schließen wir uns für den Zusammenhang dieser Arbeit einer Bestimmung dieses Begriffes an, die dem Selbstverständnis jener Epoche entspricht: Wir bezeichnen damit die|A 158|jenigen Bevölkerungsgruppen, die ihrer Lebensweise und ihrem Bewußtsein nach nicht mehr in das sozialethische und Verhaltensschema der ständisch gegliederten Gesellschaft paßten, sei es, daß sie durch die neuen Formen der Produktionsweise in diese Situation gedrängt wurden, sei es, daß sie auf Grund ihrer gesellschaftlichen Randstellung in die industrialisierten Städte und Betriebe hineinströmten, oder sei es schließlich, daß sie, als Lohnempfänger des ständischen Selbstbewußtseins beraubt und der sozialen Geborgenheit, wie weite Kreise der handwerklichen Gesellenschaft, sich und ihre Situation in eine proletarische Deutung mit einbezogen. Vergl. dazu W. H. Riehl, Die bürgerliche Gesellschaft, S. 278. G. Briefs, Der Proletarier, in: Grundriß der Sozialökonomik, Bd. IX, 1926, S. 124–240; Conze, a. a. O., S. 336, 340.
[005:203] Die mit der Proletarisierung verbundenen Folgen für den Einzelnen und seine Stellung im sozialen Verband waren alle von entscheidender pädagogischer Relevanz. Ländliche Arbeiter und Bauern zogen in die Städte; die allenfalls noch auf dem Lande vorhanden gewesene Einheit der dörflichen Gemeinde, des geschlossenen Hauswesens und seiner pädagogischen Potenz war nun vollends verschwunden. Unselbständige Dienstboten und Tagelöhner wurden
aus der sozialen Ordnung entlassen und der Proletarisierung anheim gegeben
367
|A 158|367
Stadelmann-Fischer, Die Bildungswelt d. dt. Handwerkers, S. 58
; vergl. auch E. Michel, Sozialgesch., S. 64 ff.; Conze, a. a. O., S. 348 ff.
. Die Familiengründungen nahmen zu, und die Geburtenzahl gerade in diesen Schichten stieg gewaltig an.
Die Masse der frühen Fabrikarbeiterschaft ging aber alsdann aus der eigenen Inzucht der Industrie hervor, in der eine ungeheure Zunahme der Geburten erfolgte
368
|A 158| 368E. Michel, a. a. O., S. 66.
. Nicht nur durch die Fabrikarbeit der Eltern wurden die Familien ihrer pädagogischen Leistungsfähigkeit beraubt; die Fabrikarbeit der Kinder schien überhaupt jede erzieherische Maßnahme unmöglich oder doch – wo Entsprechendes versucht wurde – nahezu unwirksam zu machen.
[005:204] Die Bedrohlichkeit dieser Verhältnisse und die Dringlichkeit der daraus resultierenden pädagogischen Problematik ist den Zeitgenossen durchaus einsichtig gewesen. Bei keinem der hier behandelten Autoren jener Jahrzehnte fehlen denn auch warnende, besorgte, beängstigte oder mahnende Äußerungen zu den pädago|A 77|gischen und politischen Aufgaben, die mit dem entstehenden Proletariat der Gesellschaft gestellt wurden. Das gute Gewissen der Gesellschaft war gestört.
Die heimliche Furcht vor einem jähen Umsturz der Dinge
369
|A 158| 369Stadelmann, Revolution, S. 17.
, d. h. vor einer politisch-revolutionären Lösung,
hat eine Flut von Reformvorschlägen, Flugschriften, Wohltätigkeitsvereinen hervorgerufen
370
|A 158| 370ebenda
, sie hat aber vor allem in weiten Kreisen bewirkt, das Problem als ein primär sittliches zu interpretieren, sodaß sich in fast allen Gedanken über die erzieherischen Aufgaben, die aus dieser Situation erwuchsen, das Proletariat lediglich als eine unerzogene und verwahrloste Bevölkerungsgruppe darstellte, die es mit pädagogischen Mitteln und nach den Leitbildern einer ständisch-patriarchalen Sozialordnung zu befrieden galt.
[005:205] Völter schrieb zwar, er sei
der Überzeugung, daß die Zustände unserer niederen Volksklassen uns mit banger Sorge für unsere Zukunft erfüllen müssen ..., daß, wenn überhaupt geholfen werden soll, jetzt noch die Zeit dazu ist, und daß wir ohne Säumen mit vereinten Energie und Umsicht alle uns zu Gebote stehenden Mittel ergreifen müssen, um den sonst unvermeidlich hereinbrechenden Umsturz aufzuhalten
371
|A 158|371Völter, Beiträge, S. 25.
; mit den
zu Gebote stehenden Mitteln
bekannte man sich aber, nach einem Worte Riehls, zu dem
Vorurteil
derjenigen
gesellschaftlichen Sitte
372
|A 158| 372W. H. Riehl, Die bürgerl. Gesellschaft, S. 300.
, die in der vorindustriellen Gesellschaft sich gebildet hatte und nun den unveränderlichen Maßstab einer humanen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung abgab. Dabei wurde vorausgesetzt, daß das Interesse an der so verstandenen sozialen Ordnung auch das ureigene, durch den
Zeitgeist
nur mehr oder weniger verschüttete erzieherische Interesse jedes einzelnen Proletariers sei.373
|A 158| 373
In einer Preisschrift, Über die Veredelung der Vergnügungen der arbeitenden Klassen, Basel 1840
, werden die Voraussetzungen dieser pädagogischen Verantwortung sehr deutlich:
Verarmung und Liederlichkeit verbreiten sich unter ihnen (den Proletariern) wie wucherndes Unkraut; in den Verhältnissen mit den Lohnherren fehlt es an Treue und Wohlwollen; in dem Familienleben sind die heiligsten Bande locker oder zerrissen; sie sind Untertanen ohne Anhänglichkeit an die Regierung, ohne Achtung vor dem Gesetz, ohne Scheu vor der Gewalttat. Jede Art von Laster und Verbrechen findet ihre zahlreichen Beispiele. Kurz es ist der heillose Zustand der Menge, bei welcher die Grundlagen der Sittlichkeit zerstört sind, und bei welcher daher die Anstrengungen der Bessern und die schwersten Heimsuchungen Gottes keine Änderung bewirken
(S. 99)
;
Fortschritte bestehen nicht in der Einführung einer großstädtischen Lebensweise, sondern in der Belebung der alten Tugenden
(S. 22)
.
[005:206] Der Erziehungsbedürftigkeit des Proletariats – wie man sie verstand – versuchte man auf verschiedene Weise zu begegnen, vor allem aber durch immer erneuten Rückgriff auf die handwerklichen Lebensverhältnisse. Gerade in weiten Kreisen des Handwerkerstandes war der Prozeß der Proletarisierung am deutlichsten; die bewahrenden Kräfte waren hier noch am ehesten zu mobilisieren, denn die Handwerksburschen waren
das lehrreichste Übergangsgebilde von dem gewerbetreibenden Bürger zum Proletariat
374
|A 158| 374
Riehl, Die bürgerliche Gesellschaft, S. 352
.
Vergl. auch A. Kolping, Der Gesellenverein und seine Aufgabe, 1850, S. 10
:
Das Schicksal des Handwerkerstandes ist das Schicksal des Bürgertums, wenn nicht heute, doch morgen ... denn aus ihm rekrutiert sich ebenmäßig der höhere Bürgerstand, wie das verkommene Proletariat
.
Vergl. ferner F. Oldenberg, Candidatur und innere Mission, S. 18
:
Überhaupt sollte niemand unter uns sein, der nicht die Kenntnis des Handwerkertums und die Erfüllung der aus dieser Kenntnis sich schließenden Verpflichtungen als eine wichtige und wesentlich in unseren Beruf fallende Aufgabe anerkennte ... denn die Zukunft unseres Volkes ... wird zu nicht geringem Teile bedingt von der Zukunft des deutschen Handwerkerwesens
.
. Sie wurden daher immer wieder – am entschiedensten von Kolping vertreten und in die Praxis umgesetzt – zum zentralen Anliegen aller erzieherischen Bemühungen. Sonntagsarbeit,
schlechte Gesellschaft
, die Häufung von Armut und Unerzogenheit an der Arbeitsstätte, die mangelhafte Möglichkeit, in den anwachsenden industriellen Wohnbezirken die Freizeit zu verbringen, machten die neuen Arbeitsverhältnisse zu einer ständigen Quelle von Gefährdungen375
|A 158| 375Vergl. A. Kolping, Der Gesellen-Verein. Zur Beherzigung für Alle, S. 6; 5. evang. Kirchentag 1852, S. 51; Preisschrift Über die Veredelung ... S. 99, 103.
.
|A 78|
[005:207] Die Gesunderhaltung des Hauswesens oder dessen Restauration, schien daher der sicherste Schutz gegen die anwachsende Proletarisierung zu sein. Die Möglichkeit einer Aufrechterhaltung der alten Formen – das sah man ein – bestand nicht mehr. So wurde das zugrunde liegende soziale Schema benutzt, um ihm in einer neuen Gestalt seine pädagogische Wirksamkeit zu sichern. Eine solche Übertragung liegt im Gesellenverein Kolpings vor, der ja nicht nur als handwerkliche und soziale Erziehungsinstitution gedacht war, sondern zugleich durch eine Art sozialstruktureller Vorwegnahme für künftige Familiengründungen vorbereiten wollte.
[005:208] Aber auch dort, wo die handwerkliche Arbeitsform bereits der rein fabrikindustriellen gewichen war, wurden betriebspädagogische Versuche unternommen, um mit den einem vorindustriellen Denken entstammenden Mitteln den Proletarisierungsprozeß aufzuhalten. Die Entfremdung zwischen Unternehmer und Arbeiter und die damit verbundene erziehungsfeindliche Atmosphäre sollte durch die
Einführung familienähnlicher Züge in die Betriebsverfassung
aufgehoben werden376
|A 158| 376
Michel, Sozialgesch., S. 131
.
.
Dem Leben und Wirken des Arbeiters in und mit der Familie des Herrn steht das maschinenmäßige Gebrauchen und Verbrauchen des Unternehmers am schroffsten entgegen
377
|A 159| 377Riehl, a. a. O., S. 365.
. Nicht durch höhere Löhne und Arbeitsverkürzung, also sozialpolitische Maßnahmen allein sei zu helfen, sondern durch einen Zusammenschluß
im Sinne der gegenseitigen Erziehung, Unterstützung und Förderung zu einer patriarchalischen Familie
378
|A 159| 378ebenda
. Dieses Anliegen der Erziehung des Proletariers zu einem Gliede des Betriebes tritt auch bei einem Manne wie Friedrich Harkort mit aller Deutlichkeit hervor:
Kinder des Hauses arbeiten gedeihlicher als Knechte
379
|A 159| 379Harkort, Bemerkungen, S. 29.
.
[005:209] Schließlich muß in diesem Zusammenhang auch ein Außenseiter wie Gustav Werner erwähnt werden, dessen pädagogisches und missionarisches Bemühen unmittelbar bei der sozialen Frage ansetzte.
Die sozialen Fragen (und damit meint Werner nichts anderes als das Problem des Proletariats) treten überraschend in den Vordergrund und fordern gebieterisch ihre Lösung
380
|A 159| 380Zit. nach P. Wurster, G. Werners Leben und Wirken, S. 321.
.
Das Kapital, bisher zum Programm der Gesellschaft auf viele Punkte verteilt, läuft sich an immer wenigeren Punkten an, und erlangt ein Übergewicht über die Arbeit, das die Gesellschaft in die Länge nicht zu ertragen vermag
; denn
wie traurig in sittlicher Beziehung sieht es schon in den meisten Fabrikorten aus
381
|A 159| 381a. a. O., 197.
. Um die
immer furchtbarer aufbrechenden Quellen der Armut und Verwahrlosung
zum Versiegen zu bringen382
|A 159| 382
a. a. O., 323
.
, gründete er einen Industriebetrieb, der, nach christlich verstandenem Prinzip der Gütergemeinschaft organisiert, als eine christlich-soziale Erziehungsanstalt des Volkes, zugleich als beispielhafte Lösung der sozialen Frage gedacht war. Die Arbeitsstätte war |A 79|der institutionelle Mittelpunkt, dem sich ein umfassendes System von Erziehungseinrichtungen angliedern sollte und z. T. auch angegliedert hatte: Schule, Rettungsanstalt, Kinderbewahranstalt383
|A 159| 383Werner, als Vikar in Waldorf gewesen, war von Oberlin beeinflußt.
und Bildungseinrichtungen für Erwachsene, das alles aber nach dem Leitbild der christlich-brüderlichen Gemeinde.
[005:210] Wir nannten die verschiedenen Beispiele, um damit auf die zentrale Rolle hinzuweisen, die die Veränderung in der Arbeits- und Berufsstruktur für die pädagogischen Fragen- und Aufgabenstellung spielte. Die Verschiedenartigkeit der Lösungsversuche und die umfassende Art, in der sie bisweilen geplant wurden, bestätigen nur, daß es sich um ein Problem von äußerster Dringlichkeit handelte, das den erzieherisch Verantwortlichen nicht ruhen ließ und seine Phantasie provozierte. Im Grunde aber handelte es sich dort bereits um einen Aufgaben-Komplex, der, wenn auch differenzierter und in Vielem abgewandelt, auch heute noch das betriebspädagogische Nachdenken in Gang hält.

III. Die Lösung des sozialpädagogischen Problems durch umfassende Konzeptionen

[005:211] Es ist eine auffällige Tatsache, auf die wir schon bisweilen hinweisen konnten, daß ein großer Teil der hier behandelten sozialpädagogischen Autoren nicht bei der Erörterung einer konkreten Not, auf deren Abhilfe sie sannen, stehen blieb, daß man sich nicht mit der Lösung von Teilproblemen begnügte, sondern beständig Deutungen versuchte, um die solcherart begrenzten Probleme nur als typische Erscheinungen, als Symptome weitläufiger und umfassender Vorgänge zu begreifen. So etwa weitete sich der Begriff Verwahrlosung, um den Gesamtzustand des Volkes und der Gesellschaft zu bezeichnen; so wurde die Wiederherstellung der christlich-patriarchalischen Familienordnung zur Lösung aller sozialen Fragen; so wurde die situationsbedingte Erziehungseinrichtung Falks zu einem umfassenden System der nationalen und sozialen Gesundung. Im Zusammenhang der entwickelten pädagogisch-praktischen Systeme konnte dann die einzelne Maßnahme ihren Stellenwert und ihre Sinngebung erfahren.
[005:212] Bei aller Unzulänglichkeit des in solchen Konzeptionen meist zum Ausdruck gekommenen Bildungsideals den Aufgaben einer industriellen Gesellschaft gegenüber wurde in ihnen das neue pädagogische Problem doch am angemessensten erfaßt; denn das Bewußtsein, es handele sich tatsächlich um mehr als nur eine Erweiterung der traditionellen Aufgaben, war hier am lebendigsten. Von einer gesellschaftskritischen Frage her erwachte ein totaler Anspruch der Erziehung, die damit als die wesentlichste Aufgabe des Zeitalters angesprochen wurde.
Es ist Erziehung |A 80|das Streben nach Erziehung, welches ganz allgemein und durchgreifend Menschen und Völker bewegt, welches der Zeit ihren Charakter, ihren Gesamtausdruck gibt, den Geist der Zeit ausmacht, und das Ziel seiner Strebungen bestimmt
384
|A 159| 384
Gesammelte päd. Schriften Fröbels, hrsg. v. W. Lange, Bd. II, S. 239
; vergl. zu dem Folgenden besonders H. Nohl, Päd. aus dreißig Jahren, S. 211 ff.
. Indem eine solche Erziehungsabsicht alle sozialen Aufgaben sich zu eigen macht, umfaßt sie auch alle einzelnen sozialpädagogischen Maßnahmen, deren Notwendigkeit u. a. dieserart umfassende Konzeptionen erst ausgelöst hatte.
[005:213] Wir können dabei zwei Typen unterscheiden, in konsequenter Durchbildung nur sehr selten anzutreffen, als zugrunde liegende Denkmodelle aber durchgängig in der sozialpädagogischen Literatur wirksam. Der erste Typus suchte eine umfassende Lösung in einer neuen Bestimmung des Erziehungsbegriffes. Er stand vorwiegend in einer geistesgeschichtlichen Tradition, die sich von der Pädagogik der Aufklärung bewußt distanzierte. Der zweite Typus ging von den unmittelbar praktischen Erfordernissen aus und suchte die neuen Aufgaben auf dem Wege einer neuen Organisation des Erziehungswesens, vor allem aber der jugendfürsorgerischen Einrichtungen zu lösen.

1. Die Lösung des sozialpädagogischen Problems durch einen neuen Erziehungsbegriff – Fr. Fröbel

[005:214] Schwerlich wäre Fröbels Erziehungstheorie, wie sie uns vor allem in der
Menschenerziehung
385
|A 159|385Die Menschenerziehung, die Erziehungs-, Unterrichts- und Lehrkunst ... Keilhau 1826; in Fr. Fröbel, Schriften, hrsg. E. Hoffmann, Bd. II.
vorliegt, als sozialpädagogisch in dem dieser Arbeit zugrundeliegenden spezifischen Sinne zu bezeichnen. Die soziale Not und die mit ihr sich ergebenden Erziehungsschwierigkeiten waren nie der ausdrückliche und primäre Zweck der Fröbelschen Erziehungsmaßnahmen und Theorien; und auch der Kindergarten wurde von ihm von vornherein mit einem pädagogischen Sinn erfüllt, der ihn grundsätzlich von den älteren Kleinkinder-Bewahranstalten – obwohl deren Fortsetzung – unterschied. Auch Phänomen und Begriff
Verwahrlosung
sind bei ihm nicht anzutreffen; sein Interesse galt allein der normal entwickelten Jugend oder suchte doch schon vor jeder sozialen Schädigung einen positiven Ansatz zu finden.
[005:215] Indessen besteht doch sowohl in seiner Theorie wie auch in der von ihm angestrebten praktischen Erziehungsarbeit ein deutlicher Bezug auf die sozialpädagogische Problematik seiner Gegenwart, wenn auch diese schon im Ansatz auf eine allgemein pädagogische Ebene transponiert worden ist. Fröbels Erziehungszweck war in jedem Moment ein allgemeiner, auf das Ganze der Erziehungsaufgabe und des Erziehungsgeschäftes gerichtet. Er ergab sich nicht erst nachträglich aus einer speziellen sozialpädagogischen Maßnahme, von dieser her erweitert, verallgemeinert und |A 81|schließlich auf umfassendere Erziehungsaufgaben angewandt, sondern er war allgemein in seiner ursprünglichen Intention.386
|A 159| 386Vergl. Über deutsche Erziehung überhaupt ..., Hoffmann, Bd, I, S. 28 ff.; vergl. ferner Bollnow, Die Päd. d. dt. Romantik, S. 112 ff.
[005:216] Motiviert aber war diese Intention – und darauf kommt es uns hier an – durch die gleichen Vorgänge, die auch in den sozialpädagogischen Äußerungen wirksam waren. Auch für Fröbel hatte die sozial-geschichtliche Entwicklung etwas Beunruhigendes. Sie bedeutete ihm die Gefährdung eines organischen sozialen Lebens. Diese Gefährdung an ihrem Ursprung zu verhindern und abzuwehren, das ist der soziale Gehalt seines Begriffes der
Einigung
und macht ihn, über seinen allgemein pädagogischen und metaphysischen Sinn hinaus, für uns auch sozialpädagogisch bedeutsam.387
|A 159| 387Der Begriff
Lebenseinigung
ist in dem gleichen Sinneø allerdings nicht mit Berufung auf Fröbelø sondern auf Natorpø in unseren Tagen von Fr. Trost wieder aufgegriffen worden (Fr. Trost, Erz. im Wandel, Darmstadt 1955).
[005:217] Der konkrete geschichtliche Bezug seiner Konzeption wurde von Fröbel selbst genannt:
Wir leben in dem Beginnen einer neuen Zeit, in einem bestimmten Abschnitt der Menschheitsentwicklung; und diese neue Zeit fordert eine höhere, geistigere, göttlichere Ansicht der Dinge ... Die Zeit erfordert Erkenntnis und mit Bewußtsein Darstellung der Einheit in der Mannigfaltigkeit; sie fordert Sammeln des Zerstreuten, Vereinigung des Vereinzelten in und durch den Geist, Wiederverbinden des Zerstückten durch die Einsicht, die Erkenntnis des Geistes, und durch die Einheit, die Empfindung des Gemütes
388
|A 159| 388Hoffmann, a. a. O., S. 41.
.
Weg und Mittel
der hier in ihren einzelnen Aufgaben genannten
Einigung
, der Überwindung einer kulturellen, sozialen und nationalen Vereinzelung, sei die Erziehung389
|A 159| 389Hoffmann, Bd. II, S. 8; vergl. Bollnow, a. a. O., S. 226.
. Die Intensität und die Wiederholung, mit denen dieses sein Grundanliegen von ihm immer wieder vorgetragen wurde, ist nicht nur aus dessen metaphysischem Sinn und der prinzipiellen Bedeutung zu erklären, die es für seine gesamte Erziehungstheorie hat, sondern weist auf eine sehr konkrete Zeitkritik hin, die allerdings in seinen Schriften nur selten einen detaillierteren Ausdruck fand.
[005:218] Das geschah besonders bei der Begründung der Notwendigkeit des Kindergartens und eines entsprechenden Berufsstandes.390
|A 159| 390Vergl. besonders Entwurf eines Planes zur Begründung und Ausführung eines Kinder-Gartens; Hoffmann, Bd. I, S. 114 ff., ferner Lange Bd. II, S. 529
Die Riesengewalt äußerer Verhältnisse
habe in den Familien eine
unnatürliche Trennung
bewirkt391
|A 159|391Entwurf eines Planes ...
a. a. O., S. 115
.
; die bürgerlichen und geselligen Lebens- und Berufsverhältnisse hätten die natürliche Ordnung gestört, die daher von sich aus die aufgegebene Erziehungsaufgabe nicht mehr erfüllten könne392
|A 159| 392a. a. O., S. 115 f.
. Mit solchen Feststellungen befindet sich Fröbel in einer Front mit den von uns zitierten sozialpädagogischen Kritikern. Sie stehen allerdings bei ihm – im Unterschied zu diesen – in einer umgreifenden und zugleich theoretisch durchgeführten Konzeption.
[005:219] Die Antwort, die Fröbel auf den in seiner Zeit vorgefundenen Prozeß sozialer Zersplitterung fand, war die der romantisch-organologischen Soziallehre. Stärker als bei seinen sozialpäd|A 82|agogischen Zeitgenossen ist die Gemeinschaft bei ihm ein durchgehendes und immer wiederkehrendes Moment. Sie stellt die soziale Ausprägung des Prinzips der
Einigung
dar und verwirklicht sich in den geschichtlichen Formen von Familie, Geschlecht, Stamm, Volk und Staat393
|A 159| 393Lange Bd. I, S. 524.
, in denen die Lebenseinigung als konkrete Gestalt repräsentiert wird. Die Aufgabe dieser Einigung394
|A 159| 394Wir greifen hier nur den sozialen Aspekt dieses im Übrigen alle Lebensaspekte umfassenden Begriffes heraus.
aber fällt der Erziehung zu. Das sozialpädagogische Problem – zugleich ein soziales Problem der entstehenden modernen Gesellschaft – wird damit von der Idee der Lebenseinigung her überwunden und durch die aus ihr abgeleitete Erziehung gelöst.
[005:220] Darin, daß die sozialen Phänomene eine so zentrale Stelle und der Begriff der Lebenseinigung eben auch diesen prägnant sozialen Sinn hat, sehen wir einen entscheidenden Hinweis darauf, daß Fröbels Gedanken durchaus in den Zusammenhang unserer Frage nach den Ursprüngen der Sozialpädagogik gehören. Denn schließlich müssen wir auch die Erziehungs-Aufgaben, denen Fröbel sich nachdrücklich zuwandte, in einem unmittelbaren Bezug auf die ersten sozialpädagogischen Maßnahmen verstehen. Was an anderer Stelle unter der Idee einer religiösen Erneuerung, der
Rettung
, der nationalen Wiedergeburt oder der sozialen Befriedung stand, wird von ihm als Aufgabe der Lebenseinigung auf seine Weise metaphysisch begründet. Die spezifische, unserem Begriff entsprechende sozialpädagogische Aufgabe aber ist für Fröbel die
Vermittelung
395
|A 159| 395Hoffmann, Bd. I., S. 115.
, der Ausgleich eines familiären Funktionsverlustes mit Hilfe einer neuen Institution, des Kinder-Gartens und Erziehungsvereins, um auf diesem Wege
zur ursprünglichen Einung zurückzukehren
396
|A 159| 396ebenda
. Diese
Vermittelung
sei in besonderer Weise Aufgabe der Frau, darüber hinaus aber eines neuen pädagogischen Berufsstandes: es sollten
Kinderwärterinnen, Kindermädchen, Kinderführerinnen und Erzieherinnen, und für das etwas vorgerückte Alter Kinderpfleger, Kinderführer und Erzieher gebildet werden
397
|A 159| 397
a. a. O., S. 116
; ferner Lange Bd. II, S. 243. Auf eine eingehendere Darstellung der Ansätze sozialpädagogischer Frauenberufe kann hier verzichtet werden.
. Erziehungsvereine auf der Basis der Gemeinde oder des Familienzusammenschlusses seien zu bilden, um pädagogisch beratend, helfend und unterstützend eingreifen zu können und sich vor allem der Pflege des Volkslebens, der Sitte und des Brauchtums als sozial integrierende Einrichtungen und notwendige Momente gemeinsamen Lebens anzunehmen 398
|A 159| 398Lange, Bd. I, 1, S. 470 f. ; Hoffmann, Bd. I, S. 126 ff.
. So ergaben sich aus einer Neufassung des Erziehungsbegriffes durch dessen Orientierung an der Idee der Lebenseinigung die sozialpädagogischen Maßnahmen als notwendige Konsequenzen, wie andererseits Fröbels ganze Theorie auch eine Reaktion auf eben diejenigen gesellschaftlichen Probleme darstellt, die die sozialpädagogische Antwort einer ganzen Erziehergeneration als neue pädagogische Möglichkeit hervorgerufen hatten.
|A 83|

2. Die Lösung des sozialpädagogischen Problems durch eine Organisation des Jugendfürsorgewesens – J. B. Ristelhueber

[005:221] Der zweite, hier repräsentativ am Beispiel J. B. Riestelhuebers darzustellende Typus sozialpädagogischer Konzeptionen ist nicht durch einen neuen Erziehungsbegriff oder ein metaphysisches System, sondern lediglich durch den Versuch bestimmt, den neuen Anforderungen durch ein erweitertes oder umgestaltetes Organisationsgefüge pädagogischer Einrichtungen rein von den praktischen Bedürfnissen her zu genügen. Die Gedanken Ristelhuebers sind besonders typisch, weil der Anlaß und Ansatz seines Entwurfs ein eng umrissenes sozialpädagogisches Teilproblem darstellt. Die Frage, um deren Lösung es ihm ging und die abzuwenden den Zweck seines Vorschlages ausmacht, war die steigende Jugendkriminalität.
[005:222] Ristelhueber sah von vornherein den Strafvollzug – wenn auch von diesem her zu solchen Überlegungen angeregt – im Zusammenhang aller sozialpädagogischen Maßnahmen, und zwar sowohl deren pädagogische, wie deren organisatorische und sozialpolitische Seite. Es ging ihm dabei nicht um ein allgemeingültiges System, sondern um eine konkrete geschichtlich-soziale Bewältigung der gegenwärtigen Not. Das bedeutete für ihn: 1. Die Lösung des Problems muß eine konkret-geschichtliche und national-charakteristische sein399
|A 159| 399
J. B. Riestelhueber, Die Straf- und Besserungsanstalten ... Mainz 1843, S. 2:
Wir sollen auf eigenen festen Füßen stehen, und erforschen, was unseren heimatlichen Zuständen, unserer Kultur, Sitte, Gesinnung und Volkstümlichkeit das Angemessene, Zusagende und Erfolgreiche sein wird
. Er habe
nur das gesucht, was deutsch-vaterländischen Verhältnissen, Sitten und Gesetzen am angemessensten sich zeigte
(S. 5 f.)
.
; 2. alle sozialpädagogischen und sozialpolitischen Maßnahmen müssen unter sich in einem inneren Zusammenhange stehen; 3. Gesetze und pädagogische Maßnahmen, sowie die Organisation solcher Maßnahmen sind
durch den Zustand der Zivilisation und der Sittlichkeit bedingt und modifiziert
400
|A 159| 400a. a. O., S. 2.
.
[005:223] Im Zusammenhang einer kriminalpädagogischen und -politischen Fragestellung entwickelte er den Entwurf eines Systems erziehungsfürsorgerischer Institutionen, das in seiner bescheidenen Form als Ansatz zu einem Jugendwohlfahrtswesen bezeichnet werden kann. Die steigende Kriminalität und Verwahrlosung, die in den Gefängnissen ihren sichtbaren Ausdruck fand, veranlaßte ihn, Überlegungen im Hinblick auf die Ursachen anzustellen und ein mögliches System von sozialen Hilfsmaßnahmen in die Betrachtung einzubeziehen, lange ehe an eine Realisierung im modernen Sinne gedacht werden konnte. Was von Seiten der privaten Initiative als ursprünglich umfassende Aufgabe von Vereinen und Gemeinden empfunden wurde, sich aber bald in der Spezialisierung und vor allem angesichts der materiellen Schwierigkeiten wieder verlor, das wurde hier zum Gegenstand erster systematischer Überlegungen, die die Fälle konkreter praktischer Ansätze als soziale Nothilfen mit in die Betrachtung einbezogen |A 84|und in denen die Aufgaben einer Jugendwohlfahrt der Verantwortung des Staates anheimgestellt wurden.
[005:224] Ristelhueber stellte fest:
Die Ursachen der Zunahme der Zahl der Strafgefangenen fand ich hauptsächlich begründet: 1. In dem Mangel an wahrhafter religiöser Erziehung. Verfall der Gottesfurcht erschlafft die Familienbande ... 2. In der Vernachlässigung der ersten Erziehung der Jugend überhaupt ... 3. Hieran schließt sich auch die Mangelhaftigkeit der Armenpflege
401
|A 159| 401a. a. O., S. 11.
; 4. nennt er das Anwachsen der Bevölkerung und die damit zusammenhängenden ökonomischen und sozialen Folgen; 5. Luxus, Aufwand und Genußsucht402
|A 159| 402a. a. O., S. 12.
.
[005:225] Es wäre sinnlos – so meinte er – in einer solchen Situation sich auf die bestehenden Einrichtungen zu verlassen, an der Verbesserung der Gefängnisse oder der Durchführung eines pädagogischen Strafvollzuges zu arbeiten, wenn man nicht zugleich umfassendere und ineinandergreifende Maßnahmen einer systematisch organisierten Jugendhilfe träfe, die unter dem einheitlichen Gesichtspunkt der Erziehung durchgeführt werden müßten. Vor allem aber sei
auf die vorbeugenden Mittel Bedacht zu nehmen ... um bessere Zustände hervorzurufen
403
|A 159| 403a. a. O., S. 15.
.
[005:226] Das von ihm vorgeschlagene System öffentlicher Erziehungskontrolle und -Hilfe setzte in der frühen Kindheit ein:
Frägt man nun, was bei gegenwärtiger Lage der Dinge vor Allem Not tut, so wird man zuerst den Blick auf die zarte Kindheit werfen müssen, auf jene Zeit des Menschenlebens, wo alle guten und bösen Eindrücke so leicht Wurzel fassen, wo durch die erste Erziehung der Samen gesät wird, der künftig in naturgemäßer Ordnung gedeihliche und verderbliche Früchte bringen wird
404
|A 159| 404a. a. O., S. 16.
. Es sei daher eine Kontrolle405
|A 159| 405
Verdorbene Kinder sind immer durch Eltern oder Erzieher verdorben
(a. a. O., S. 17)
.
vor allem der frühen Kindererziehung in den unteren Volksschichten nötig, ergänzt durch die Einrichtung öffentlicher Kleinkinder-Bewahranstalten.
[005:227] Neben einer solchen Erziehungshilfe für die vorschulpflichtige Kindheit seien aber besonders
Maßnahmen für die reifere Jugend
unumgänglich406
|A 159| 406
a. a. O., S. 17
;
Es kann wohl keinen wichtigeren Gegenstand für Staat und Menschenwohl geben, als eine rechtzeitige und vorsichtige Erziehung der heranwachsenden Jugend
(a. a. O., S. 22)
.
: Strenge Einhaltung der Schulpflicht, weitere Überwachung der familiären Erziehungsleistungen, Einrichtung von Bildungs- und Erziehungsvereinen und schließlich, als ausführendes Organ für die Bewältigung dieser Aufgaben, eine Wohlfahrts- oder Jugendbehörde, die aus den Armen- und Schulvorständen zu entwickeln sei.
[005:228] Obwohl er die Notwendigkeit privater Initiative einräumte und ihre bedeutsame Rolle im Bereich der Jugendfürsorge bei der Gründung von Vereinen und Anstalten durchaus würdigte, betonte er doch mit Nachdruck die Notwendigkeit einer staatlichen Organisation und Lenkung. Es müsse
nach einem gemeinsamen Plan und nach übereinstimmenden Grundsätzen gehandelt werden, damit |A 85|aus der schönen Idee dieser Vereine sich ein Ganzes in der Wirklichkeit konstituiere
407
|A 160| 407a. a. O., S. 30.
. Er schlug daher zentrale Institutionen nach Art der Armenvereine vor, deren ausführende Organe als Zweigvereine je die besonderen sozialpädagogischen Bereiche zu betreuen hätten.
[005:229] Die leitende Zentralbehörde aber sollte das gesamte Jugend-, Armen- und Gefängniswesen umfassen, die staatliche Kontrolle so weit wie möglich vorangetrieben werden und sich besonders auch auf die Rettungsanstalten erstrecken, um so die Einheitlichkeit aller Maßnahmen zu gewährleisten. Nur so glaubte er der pädagogischen Aufgabe, die durch die gesellschaftliche Situation gestellt war, begegnen zu können.
[005:230] Wenn auch der Ansatz zu einer Systematisierung und zusammenhängenden Gliederung aller sozialpädagogischen Einrichtungen bei Ristelhueber durchaus fruchtbar hätte werden können, so wurde doch in seinem Vorschlag, die Rettungsanstalten zu verstaatlichen, die spezielle Leistung der damaligen privaten Jugendhilfe verkannt, denn die sozialpädagogischen Energien gerade dieser Gruppen waren das treibende Moment der Entwicklung. Die weit verzweigten Aufgaben einer
Sozialen Arbeit
, die sich mit ihren je besonderen Problemen und Methoden heute zu verselbständigen drohen, waren aber hier wie auch bei Fröbel in einer für diese Jahrzehnte typischen und ohne Schwierigkeiten möglichen Weise noch als selbstverständliche sozialpädagogische Einheit gesehen.408
|A 160| 408Vergl. dazu den Schlußteil dieser Arbeit. Ein ähnlicher Versuch, wenn auch dort noch durchgängig aus dem Geiste der Aufklärung gestaltet, liegt in den theoretischen und praktischen Bemühungen Robert Owens vor. Vergl. dazu R. Owen, Pädagogische Schriften, Berlin 1955; ferner E. Schmid, Strukturstudien zur Pädagogik des Sozialismus, Diss. Göttingen 1934, Göttingen 1935.
|A 86|

III. Teil: Die sozialpädagogischen Institutionen

I. Die Ansätze der Kriminalpädagogik

[005:231] Das Gefängniswesen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchgängig als eine sozialpädagogische Einrichtung darzustellen, würde auf erhebliche Schwierigkeiten stoßen. Es würde sogar kaum der Nachweis gelingen, daß es sich hier um Maßnahmen handelte, die, wenn auch nicht primär, so doch in wesentlichen Teilen pädagogischen Charakters gewesen seien. Der Strafvollzug in Form des Freiheitsentzuges, im Zeitalter der Aufklärung entwickelt, gründete sich auch im 19. Jahrhundert im wesentlichen noch auf dieselben Prinzipien. Auch die gegen Ende des 18. Jahrhunderts beginnenden Reformen stellten lediglich eine Vertiefung und sich immer weiter ausdehnende Anwendung dieser Grundsätze dar409
|A 160| 409Vergl. Wahlberg, Individualisierung, S. 224. Krohne, Gefängniskunde, S. 142, S. 160. Mittermeier, Gefängniskunde, S. 13 ff.
. Von entscheidenden Veränderungen oder gar von gänzlich neuen Aufgaben und Einrichtungen konnte vorerst noch nicht die Rede sein.
[005:232] Im Gegensatz zu anderen sozialpädagogischen Aufgabenbereichen, die sich völlig neue Institutionen schaffen konnten und mußten, handelte es sich im Gefängniswesen um einen bereits schwerfällig gewordenen Apparat von Anstalten, Einrichtungen, Behörden und Gesetzen. Eine Neuerung, die sich nicht ergänzend und reibungslos dem Vorhandenen einfügen ließ, mußte notwendig entschiedenen Widerständen begegnen. Das erklärt teils die Unbeholfenheit vieler Reformvorschläge, teils auch die praktische Wirkungslosigkeit fruchtbarer und weiterführender Ideen. Und noch in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts bietet die vielfältige Bemühung Wicherns um eine Reform des Strafvollzuges, die in Auseinandersetzungen um Spezialfragen endete, ein anschauliches bild von den Schwierigkeiten, die zu überwinden waren410
|A 160| 410Wichern, Gesammelte Schriften, Bd. VI.
.
[005:233] Wenn wir hier dennoch eine Darstellung kriminalpädagogischer Ideen geben, so geschieht das nicht aus dem Bedürfnis nach systematischer Vollständigkeit, sondern hat durchaus seine historische Berechtigung. Wesentliche Stücke in den Erörterungen zum Problem der Freiheitsstrafe nämlich, zu deren Durchführung und Ausgestaltung, brachten schon – und das war im Gefängniswesen eine neue Erscheinung – über rein philanthropische Gedankengänge hinaus das Problem einer Erziehung des Gefangenen zum Ausdruck. Die Auseinandersetzungen mit dem Strafzweck, dem Problem der
Besserung
, dem Vollzug an Jugendlichen, den Prinzipien der Individualisierung und Differenzierung standen |A 87|ohne Frage in einem engen Zusammenhang mit den sozialpädagogischen Grundproblemen, die wir bereits darzustellen versuchten. Das gilt nicht nur für die, durch steigende Kriminalität auf deren soziale Ursachen gerichtete Aufmerksamkeit, sondern in gleicher Weise für die Vorschläge bestimmter Vollzugsmaßnahmen, wie die Absonderung der Jugendlichen, die Errichtung differenzierter Anstalten, die Gedanken zu einer sinnvollen Arbeitserziehung, die Erörterung der Haftdauer, vor allem aber für eine Reihe von Institutionen, die sich den Gefängnissen angliederten oder aus ihnen herauswuchsen, wie Gefängnisvereine, Fürsorgevereine und Besserungsanstalten411
|A 160| 411Die institutionellen Konsequenzen freilich blieben vorerst aus, von den letztgenannten Einrichtungen abgesehen. Es ist daher auch bezeichnend, daß, mit wenigen Ausnahmen, kaum Gefängnisdirektoren mit wesentlichen Beiträgen an der Diskussion beteiligt waren. Die weiterführenden Äußerungen stammen zum weitaus größten Teil aus der Feder von Anstaltsgeistlichen und Außenstehenden.
.

1. Die Situation um die Jahrhundertwende von Arnim

[005:234] Eine Schrift, in der die Grundsätze des Gefängniswesens des voraufgegangenen Jahrhunderts beispielhaft zusammengefaßt sind und in der zugleich die kritischen Stellen sichtbar werden, an denen sozialpädagogische Gedankengänge anknüpfen oder sich entzünden konnten, ist das dreiteilige Werk A. H. von Arnims aus dem Jahre 1803, das eine konsequente Weiterentwicklung der friderizianischen Justizordnung darstellt412
|A 160| 412A. H. von Arnim, Bruchstücke über Verbrechen und Strafen, Frankf. und Leipzig 1803. Im Folgenden wird nur mit Band- und Seitenzahl zitiert.
. Der Verfasser weiß sich ausdrücklich den philosophischen Grundsätzen verpflichtet, die im Allgemeinen Preußischen Landrecht ihren Niederschlag gefunden hatten413
|A 160| 413Vergl. dazu W. Dilthey, Das Allgemeine Landrecht, Ges. Schr. Bd. XII, S. 131 ff. ; ferner E. Schmidt, Einführung in die Gesch. d. deutschen Strafrechtspflege, S. 240 ff.
.
[005:235] Die Kritik Arnims war eine Kritik an der Form strafrechtlicher Institutionen, an der Art der Durchführung von Strafprozeß und -Vollzug, nicht aber an deren Prinzipien und Zwecksetzungen. Sie richtete sich gegen die Unvollkommenheit der polizeilichen Maßnahmen414
|A 160| 414I, 126
, gegen Mängel des Strafvollzuges415
|A 160| 415I, 133
, gegen die Lücken der Kriminalgesetzgebung416
|A 160| 416I, 134 f.
. Die von Arnim geforderte notwendige Reform des Strafvollzuges – auf die es uns hier allein ankommt – erstreckte sich vornehmlich auf die Fragen der äußeren Organisation, der Haftdauer und der Differenzierung.
[005:236] Voraussetzung jeder sinnvollen und erfolgreichen Freiheitsstrafe sei eine
zweckmäßige Einrichtung und Verwaltung der Gefangenenanstalten
417
|A 160| 417II, 53
, nämlich die Unterstellung unter eine Behörde, Zentralisierung; darüber hinaus eine eigenständige Organisation, Trennung von
Armenanstalten, Waisenhäusern, Hospitälern und Irrenhäusern
418
|A 160| 418II, 52
und Sonderung der verschiedenen Anstaltstypen wie
Aufbewahrungsgefängnisse, Strafgefängnisse und Besserungsanstalten
419
|A 160| 419II, 56
; schließlich auch die Einstellung eines qualifizierten Personals:
Ich kenne, außer den Erziehungsanstalten, kein Institut, bei welchem es so sehr auf moralisch gute und brauchbare Offizianten ankommt, als bei den Gefangenenanstalten. Nirgends wird durch dergleichen Offizianten |A 88|mehr Gutes, im entgegengesetzten Fall aber auch nirgends mehr Böses gestiftet, als gerade in den Gefangenenanstalten
420
|A 160|420II, 66.
.
[005:237] Weitergehend schon ist Arnims Stellungnahme zum Problem der Haftdauer. Den Strafzwecken der Abschreckung und Übelszufügung421
|A 160| 421
Alle Gefängnisstrafen müssen also ... mit der Vorstellung eines dem Verbrecher empfindlichen Übels verknüpft sein, und der eigentliche Zweck der Gefängnisse besteht solchemnach in der Zufügung sinnlicher Übel
(II, 14)
.
fügte er offenbar, wenn auch noch unausgesprochen, die Resozialisierung hinzu, wenn er feststellte, daß die Einhaltung bestimmter minimaler Fristen,
vor deren Ablauf keine Besserung vermutet werden kann
422
|A 160|422I, 138
, unumgänglich sei. Nur durch hinreichend lange Haftdauer sei die Gewähr gegeben, daß der Gefangene
zur Arbeit und Ordnung gewöhnt
werde423
|A 160| 423
II, 28
. Um die Diskrepanz auszugleichen, die sich zwischen dem im Urteil ausgesprochenen Strafmaß und dem individuell je verschiedenen Besserungsprozeß ergibt, verlangte er die Einrichtung von Besserungsanstalten, in denen gleichsam eine Nacherziehung durchgeführt werden sollte, um den Erfolg zu sichern. Die Entlassung des Gefangenen aus dieser Anstalt aber sollte
von seinem Gewöhnen zur Arbeit und Ordnung, und von dem Ersparen eines Kapitals zu seinem weiteren Fortkommen
abhängen424
|A 160| 424
II, 28
.
[005:238] In Arnims Forderung einer möglichst weitgehenden Differenzierung des Strafvollzuges drückte sich die negative Erfahrung aus, die man mit einer wahllosen Gemeinschaft gemacht hatte425
|A 160| 425
Jetzt sind unsere Aufbewahrungs- und Strafgefängnisse nichts anderes als Verführungspepinieren, das weiß ein jeder
(I, 95)
.
. Er verlangte daher:
Die Gefangenen einer jeden Gefangenenanstalt müssen gehörig voneinander separiert, in gewisse Klassen verteilt, und bei dieser Klassifikation die Rücksicht zum Grunde gelegt werden: daß allen zu besorgenden Verführungen möglichst vorgebeugt werde
426
|A 160| 426II, 124
. Solche Differenzierung aber sei nicht nach moralischen Gesichtspunkten, sondern nach Art und Grad der durch das Delikt charakterisierten Kriminalität zu vollziehen 427
|A 160| 427ebenda; vergl. auch I, 138.
. Schließlich sei auch
auf jeden einzelnen Gefangenen spezielle Rücksicht
zu nehmen 428
|A 160| 428
II, 53
. Nicht nur auf die schädlichen Folgen der Gemeinschaftshaft, sondern ebenso auf die anwachsende Kriminalität, die Jugendverwahrlosung, vor allem aber auf das zeitbedingte psychologische Interesse sind diese Forderungen zurückzuführen.
.
[005:239] In der Kritik und den Reformvorschlägen Arnims sind vier Prinzipien enthalten, die sich eines aus dem anderen ergeben und sowohl die Grenzen seiner Konzeption wie die Anknüpfungspunkte der durch ihn wesentlich angeregten Diskussion deutlich machen:
[005:240] 1. Der Staat und die bürgerliche Gesellschaft stehen zum einzelnen Bürger in einem lediglich
sinnlichen
Verhältnis, das nicht dessen moralische, sondern nur dessen rechtliche Existenz betrifft429
|A 160| 429II, 10
. Staat und Gesellschaft können den Bürger daher auch nicht unter dem Gesichtspunkt der Moralität i. e. S. behandeln, sind aber allerdings verpflichtet,
auf die Moralität der Bürger eine negative Rücksicht zu nehmen
430
|A 160| 430
II, 11
; vergl. außerdem II, 21, 25, 103.
.
[005:241] 2. Daraus folgt, daß die moralische Besserung als Maßnahme des Staates nie der Hauptzweck der Strafe sein darf. In Analogie zum sinnlichen Verhältnis zwischen Staat und Bürger kann daher der Strafzweck nur die physische Besserung des Verbrechers um|A 89|fassen; denn moralische Besserungen
sind und bleiben ... doch ganz zufällige Ereignisse, welche nur durch die eigene freie Selbsttätigkeit des Verbrechers hervorgebracht, aber nie bei einer solchen ... Einrichtung zum Zweck gemacht werden können
431
|A 160| 431II, 23
. Wenn aber auch die moralische Besserung nicht im Strafzweck enthalten sein kann, so muß doch der Vollzug so eingerichtet sein, daß ihre Möglichkeit nicht verhindert wird, dergestalt, daß den Insassen der Gefangenenanstalten
so viel als möglich Veranlassung gegeben (wird), sich während ihres Aufenthaltes in denselben auch moralisch zu bessern
432
|A 160| 432
II, 126
; außerdem II, 25, 32, 38, 51, 127.
.
[005:242] 3. Physische Besserung aber heißt für die Vollzugspraxis nichts anderes als Gewöhnung.
Ich will überhaupt nicht überzeugen
– was nach Arnims Ansicht bei der Gesinnungsbildung, d. h. moralischen Besserung notwendig wäre –
sondern bloß gewöhnen
433
|A 160| 433II, 38
. Gewohnheiten nämlich sind auch diejenigen Verhaltensweisen, in denen sich ein legales bürgerliches Leben in der Regel abzuspielen pflegt434
|A 160| 434II, 32
. Infolgedessen ist auch die Einhaltung der bürgerlichen Tugenden, die Erhaltung eines rechtlichen, nicht aber moralischen Zustandes, eine Angelegenheit der Gewöhnung. Diese kann daher einzig und allein das entscheidende Prinzip des Strafvollzuges sein435
|A 161| 435II, 9, 10, 28, 32.
.
[005:243] 4. Die bürgerlichen Tugenden allerdings, die eine rechtliche gesellschaftliche Existenz ermöglichen und sichern, liegen zugleich auf der Grenze zwischen Legalität und Moralität. Sie bilden die notwendige Vorstufe und das vermittelnde Glied zwischen beiden.
Ordnung, Mäßigkeit, äußere Ehrbarkeit und Anständigkeit sind die höheren Tugenden des Menschen als Bürger, die, wenn sie gleich noch nicht in das Gebiet der Moralität gehören, doch unmittelbar auf der Grenze liegen, welche den Übergang aus dem Gebiet der bloßen Rechtlichkeit in das Gebiet der Moralität bezeichnet
436
|A 161| 436II, 103
.
[005:244] Arnims Versuch einer theoretischen Grundlegung – so verdienstlich er war – konnte doch den neuen Problemen und der sich allmählich verändernden Sicht der Dinge nicht genügen. Man benutzte zwar immer wieder seine Unterscheidung von physischer und moralischer Besserung, dehnte den letzteren Begriff aber aus, um ihn wenigstens als nebengeordneten Strafzweck zur Geltung bringen und pädagogische Fragestellungen mit in die Diskussion ziehen zu können. Andrerseits wurde diese Unterscheidung immer mehr fallen gelassen und statt dessen nur von
Besserung
als einem u. a. durch Erziehung zu erreichenden Strafzweck gesprochen. Diese erste Periode theoretischer Erörterungen – von Arnim eingeleitet – fand um die Jahrhundertmitte ihren Abschluß. Mittermeier schrieb 1858:
Für die Verhandlungen über die Frage der zweckmäßigsten Einrichtung der Strafa|A 90|stalten hat ein neuer Abschnitt begonnen ... Die Macht der Wahrheit hat immer mehr darin sich geltend gemacht, daß man die Verbesserung des Verbrechers, wenigstens die Besserung der zur Freiheitsstrafe Verurteilten als die Idee erkennt, welche den Gesetzgeber leiten muß
437
|A 161| 437Mittermeier, Die Gefängnisverbesserung ... S. 1.
. Es war dieselbe Zeit, in der auch Wichern in die Diskussion um die praktische Reform des Haftsystems eingriff. Die Grundlagen der Theorie aber, die von nun an zur Verwirklichung gelangte, sind in den 50 Jahren von Arnim bis Wichern entwickelt worden.

2. Die historische und soziale Bedingtheit von Recht und Kriminalität

[005:245] Die Forderung einer Erziehung des Rechtsbrechers stand in engem Zusammenhange mit bestimmten, die Aufklärung überwindenden Staatstheorien, die sich auch in der Literatur zur Gefängnisreform niederschlugen und – ganz im Gegensatz zu Arnim – das Verhältnis des Staates zu seinen Bürgern durchaus als ein moralisches betrachteten. Es sei keineswegs so – argumentierte man – daß die Aufgabe des Staates lediglich in einer rechtlichen Sicherung der Bürger bestehe, daß seine Wirksamkeit da begrenzt sei,
wo äußerer Zwang nach den Gesetzen des Rechts nicht weiter zulässig erscheint
; der Staat nämlich sei weit mehr, als eine
Anstalt zur Begründung und Befestigung der durch die Sinnlichkeit und ihre Ausbrüche gefährdeten Rechtssicherheit der neben einander lebenden menschlichen Individuen
438
|A 161| 438
Lotz, Ideen ... S. XXI
.
. Sein Zweck sei vielmehr
Erhebung der Menschheit auf den Punkt der möglichsten Vollkommenheit, der sie ihrer Natur nach fähig ist
439
|A 161| 439a. a. O., S. XXIV.
. In Analogie zur Struktur der Familie wurde ihm daher auch eine wesenhaft erzieherische Funktion zugesprochen440
|A 161| 440Vergl. dazu die romantische Staatstheorie und historische Rechtschule.
. Das bedeutete aber für sein Verhältnis zum straffällig gewordenen Bürger, daß auf sittliche Besserung, auf Erziehung als Strafzweck nicht mehr verzichtet werden konnte.
[005:246] Für die Pädagogisierung des Strafvollzug bedeutsamer und in der Praxis weit wirksamer erwies sich aber – mit dem obengenannten Ansatz freilich in unmittelbarem Nexus stehend – die Einsicht in die geschichtliche und vor allem soziale Bedingtheit von Recht und Kriminalität.
Es wird immer mehr eingesehen, daß es zu den Voraussetzungen einer guten Gesetzgebung gehöre, daß der Gesetzgeber genau das Volk, für welches das Gesetzbuch bestimmt ist, die Kulturstufe desselben und alle Eigentümlichkeiten studiere, durch welche das Volk den Einrichtungen des Gesetzes am meisten zugänglich wird
441
|A 161| 441Mittermeier, Der franz. Compte general ... in Hitzigs Annalen Bd. 3, 1828, S. 155.
. Das bürgerliche Gesetz
ist nicht das göttliche, sondern das menschliche; nicht das Gesetz, dessen Rechte in die fleischernen Tafeln der Herzen ge|A 91|schrieben sind, sondern das positive, bürgerliche, politische, welches mit der Individualität des Volksgeistes (!), mit den gesellschaftlichen Bedingungen des Volkslebens, mit dem Zustande der Gesellschaft und tausend anderen Eigentümlichkeiten des Lebenskreises, in welchem es gilt, auf’s genaueste zusammenhängt
442
|A 161| 442Moll, Besserung, S. 10.
. Eine solche, mit der
historischen Rechtsschule
zusammenhängende Theorie bedeutet aber, daß auch der Begriff des Verbrechens kein allgemeingültiger sein kann, sondern sich jeweils erst aus der geschichtlich-sozialen Situation ergibt. Es lag von hier aus nahe, die Kriminalität nicht als schlechthinnige, sittlich unbeeinflußbare Unverbesserlichkeit zu betrachten, sondern sie aus ihren sozialen Bedingungen zu verstehen, d. h. aus der Einsicht in ihre Ursachen auf Mittel zu ihrer Überwindung zu schließen. Erst mit der Erkenntnis solcher Bedingungen konnte sich daher die erzieherische Absicht im Strafvollzug realisieren.
[005:247] Die kriminelle Tat allein wurde für die Art und Weise der Behandlung des Täters, seiner Besserung oder Erziehung, nicht mehr als hinreichendes Kriterium empfunden. Der Verstoß gegen die Gesetze war somit nur der Anlaß einer weiter gehenden Analyse der im individuellen Schicksal aufzusuchenden Tatbedingungen. Charakter und Schicksal des Täters rückten in den Vordergrund des Interesses.
Die Tat, welche die Verurteilung zu Wege brachte, ist freilich kein der Persönlichkeit und ihrer sittlichen und religiösen Beschaffenheit fremdes Ereignis; sie hat vielmehr darin ihre Wurzel und ihren Grund; aber wie tief dieser Grund im Innern des Menschen liegt und wie weit sich darin die Wurzel verzweigt und verbreitet hat, das entzieht sich zum Teil aller menschlichen Beobachtung, und was davon zur Kenntnis kommt, fällt immer unter andere als die bloß rechtliche Betrachtung
443
|A 161| 443
a. a. O., S. 11
.
Vergl. auch Spangenberg, Über d. sittl. und bürgerl. Besserung, S. 29
: Der Grad der Strafe
muß nicht so sehr nach der Beschaffenheit des Verbrechers, sondern nach der Notwendigkeit, ein solches Mittel anzuwenden, abgewogen werden
.
.
[005:248] Neben der psychologischen, gleichsam person-immanenten Seite des individuellen Charakters einer Tat444
|A 161| 444Das Interesse für solche Sachverhalte war bereits früher erwacht (Sturm und Drang).
erwies sich die Einsicht in die konkrete Umweltbedingtheit als weitaus folgenreicher.
Analysieren wir die Umstände, welche die Verbrechen begleiten, mit der möglichsten Genauigkeit, manche widerrechtliche Handlung wird uns in einem ganz anderen Lichte erscheinen, als sie dem gewöhnlichen Richter zu erscheinen pflegt, der sich begnügt, bloß die Handlung und ihr äußeres mit dem Gesetze zu vergleichen, und bei dieser Vergleichung oft beides auf eine schreckliche Weise aus dem Zusammenhange reißt
445
|A 161| 445Lotz, Ideen, S. XVI.
. Tatsächlich aber wurde eine solche kriminologische Analyse eher gefordert als wirklich durchgeführt. So kam man über sehr allgemeine Aussagen kaum hinaus und beschränkte sich auf Feststellungen wie:
Unverkennbar gehören zur Verübung von Verbrechen: 1. gewisse Neigungen, 2. gewisse äußere Versuchungen und Anlockungen, 3. gewisse Gegebenheiten, welche die Verübung |A 92|der Verbrechen erleichtern
446
|A 161| 446Mittermeier, Beiträge zur Criminalstatistik, Annalen Bd. VIII, S. 204.
. Es bedeutete schon viel, wenn der Komplex
äußere Versuchungen und Anlockungen
als Summe der Umweltbedingungen in dem Nachweis gefährdender Einflüsse bestimmter Berufsgruppen447
|A 161| 447
Mittermeier, Annalen Bd. III, S. 371.
, des Fabrikwesens 448
|A 161| 448ebenda
, der Familienauflösung, bestimmter Mängel des Bildungswesens oder des als
Zivilisation
bezeichneten, angeblich gesittungslosen Zustandes gegenwärtiger Kultur und Lebensweise aufgegliedert und konkretisiert wurde449
|A 161| 449Die verdienstlichste Arbeit in diesem Zusammenhang ist N. H. Julius, Vorlesungen über Gefängniskunde, Berlin 1828. Vergl. auch Spangenberg, Besserung, S. 31; Moll, Besserung, S. 24.
. So unzulänglich diese Angaben auch waren und so wenig sie in dieser Form für eine konkrete Error: java:org.exist.xquery.XPathException . exerr:ERROR XPTY0004: The actual cardinality for parameter 1 does not match the cardinality declared in the function's signature: transformKMG:resolve-name($node as node()) xs:string?. Expected cardinality: exactly one, got 0. [at line 1488, column 64, source: /db/apps/sade/modules/kmg/transform.xqm] In function: transformKMG:resolve-name(node()) [1488:37:/db/apps/sade/modules/kmg/transform.xqm] transformKMG:choice(item()*, item()*, item()*, xs:string, xs:string*) [256:13:/db/apps/sade/modules/kmg/transform.xqm] local:main(node(), xs:string, xs:string, xs:string, xs:string*) [76:21:/db/apps/sade/modules/kmg/transform.xqm]. XPTY0004: The actual cardinality for parameter 1 does not match the cardinality declared in the function's signature: transformKMG:resolve-name($node as node()) xs:string?. Expected cardinality: exactly one, got 0.
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der Strafvollzugspraxis und das Verstehen des Kriminellen hinreichten, so wichtig sind sie doch für uns als Anzeichen einer neuen Sichtweise und pädagogischen Fassung des Besserungsproblems.

3.Besserung und Erziehung

3.Besserung und Erziehung

Wir wiesen schon darauf hin, daß Arnims Unterscheidung von Error: java:org.exist.xquery.XPathException . exerr:ERROR XPTY0004: The actual cardinality for parameter 1 does not match the cardinality declared in the function's signature: kmg-util:quote-marks($rend as xs:string, $filename as xs:string, $mode as xs:string) item()*. Expected cardinality: exactly one, got 0. [at line 1044, column 47, source: /db/apps/sade/modules/kmg/transform.xqm] In function: kmg-util:quote-marks(xs:string, xs:string, xs:string) [1044:25:/db/apps/sade/modules/kmg/kmg-util.xqm] transformKMG:make-quote(node(), xs:string, item()*, xs:string, xs:string*) [733:17:/db/apps/sade/modules/kmg/transform.xqm] local:main(node(), xs:string, xs:string, xs:string, xs:string*) [76:21:/db/apps/sade/modules/kmg/transform.xqm]. XPTY0004: The actual cardinality for parameter 1 does not match the cardinality declared in the function's signature: kmg-util:quote-marks($rend as xs:string, $filename as xs:string, $mode as xs:string) item()*. Expected cardinality: exactly one, got 0.
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Besserung – von wenigen Autoren abgesehen, die sich in oft wörtlicher Übereinstimmung ihm anschlossen
450Vergl. vor allem Lotz, Ideen ...; Weveld, Freimütige Gedanken ...
– allmählich fallen gelassen wurde. Statt dessen wandte man den Begriff in zunehmendem Maße auf Sachverhalte an, die als pädagogische verstanden sein wollten, sodaß schließlich Besserung nichts anderes als Erziehung in ihrem besonderen Fall als Kriminalerziehung bedeutete
451Am deutlichsten bei Riecke, ø, Wichern und d’Alinge.
. Dennoch ist die Beibehaltung des Begriffes Besserung bezeichnend nicht nur für die hier behandelte erste Hälfte des Jahrhunderts, sondern für die Strafvollzugstheorie des 19. Jahrhunderts überhaupt: Die Beschreibung einer Gefängnis-Erziehung im eigentlichen Sinne nämlich blieb noch ungenau und wurde nur in ihren Ansätzen erfaßt. So wurden auch ohne Ausnahme alle Maßnahmen des Strafvollzuges als Besserungs-, d. h. Erziehungsmaßnahmen verstanden.
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452Spangenberg, Besserung, S. XIII.
. Die Freiheitsstrafe und alle mit ihr zusammenhängenden Einzelmaßnahmen wurden
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betrachtet
453
a. a. O., S. 29
; vergl. auch Wagnitz, Ideen, S. 25 f.; Moll, Besserung, S. 15, 21; Bergsträßer, Strafanstalten, S. 49.
, alles sollte vermieden werden, was ihr
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454Spangenberg, a. a. O., S. XIII.
, denn es sei
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455a. a. O., S. 30.
.
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456a. a. O., S. 180.
.
Unter Vernachlässigung einer differenzierteren juristischen Erörterung der Strafzwecke erschien so Besserung, Erziehung oder Resozialisierung als die für die internen Probleme des Strafvollzuges einzig relevante Aufgabe. Philanthropische, pietistische und rein pädagogische Motive wirkten zusammen
457Das Philanthropische Motiv ist am deutlichsten bei
Wagnitz, Ideen, S. 4
: Er will einen Beitrag geben
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. Vergl. auch a. a. O. , S. 25. Das religiöse Motiv wurde von Moll am augenfälligsten vertreten: Die bloß moralische Besserungsabsicht sei oberflächlich;
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(Moll, Besserung, S. 20
; vergl. auch S. 24) Das am ehesten rein pädagogisch zu nennende Motiv unter den hier behandelten Autoren ist am klarsten bei ø und Riecke zu finden (vergl. die folgenden Darstellungen). Einen wesentlich früheren aber auch – im Verhältnis zu den hier behandelten Schriften – ungleich entschiedeneren und klareren Ausdruck hatte das pädagogische Motiv schon bei Pestalozzi gefunden (Vergl. dazu Pestalozzis Kriminalpädagogik, Kleine pädagogische Texte, Heft 1, Langensalza o. J.ø
und fanden ihren aktuellen Niederschlag vornehmlich in der Diskussion um die Organisation des Strafvollzuges, besonders in der Auseinandersetzung mit den von Amerika angeregten zwei Systemen, je auf das Prinzip der Gemeinschafts- bzw. das der Einzelhaft gegründet
458Die ersten Erörterungen dieser Art in der deutschen Literatur finden sich vor allem bei Julius, Riecke und ø.
. Diese Erörterungen würden indessen jeder pädagogischen Bedeutsamkeit entbehren, wären in ihnen nicht Grundsätze enthalten, die auf einen hier wirksam gewesenen erzieherischen Willen schließen lassen.
Wenn daher jede Möglichkeit einer bessernden Einflußnahme auf den Kriminellen an die Voraussetzung geknüpft wurde, daß zwischen ihm und dem Vollzugsbeamten, seinem Erzieher, ein Verhältnis personaler Wechselseitigkeit bestehe, dann dürfen wir annehmen, daß hier wenigstens im Ansatz der Umschlag kriminalpolitischen Denkens in ein kriminalpädagogisches vor sich ging. Eine entscheidende Vorbereitung solcher Forderung stellt auch hier wiederum die Einsicht in die soziale und schicksalhafte Bedingtheit der Kriminalität dar. Das Verstehen des Verbrechers und seiner Situation hob die abwertende Distanz zu ihm auf.
Wie begründet das rechtliche Urteil nun auch sei, es darf dasselbe keinen Unterschied machen, der jene wesentliche Gleichheit der Menschen aufhöbe. Die Kategorie der Strafgefangenschaft darf die des Menschsein nicht aufheben; vielmehr, wo das geschieht, kann es an Unmenschlichkeiten von beiden Seiten nicht fehlen und die Verbitterung des Züchtlings wird gleichen Schritt mit der Verachtung halten, die ihm von seiten der anderen Menschen zu erkennen gegeben wird
459
|A 162| 459
Moll, Besserung, S. 4
; vergl. auch Riecke, Die Gefängnisreform, S. 107.
. Wirkliche Besserung sei unter solchen Voraussetzungen ausgeschlossen; vielmehr müsse
zwischen dem Bessernden und dem Gegenstand seiner Sorge und Bemühung schon gleich zu Anfang ein moralisches Band geknüpft
sein und sie beide
ein Interesse der Sittlichkeit verbinden, welches in seiner Entwicklung auch sogleich den Schein der bloßen Gegenständlichkeit verschwinden läßt
460
|A 162| 460
Moll, a. a. O., S. 21
; vergl. ferner: Wagnitz, Moral. Verbesserung, S. 13; ders. , Ideen, S. 25f.; Spangenberg, Besserung, S. 91, 179; Mittermeier, Gef.verbesserung, S. 181 f.; Würth, Fortschritte, S. 351.
. Dieses
Interesse der Sittlichkeit
aber, als Interesse an der sittlichen Entwicklung des Zöglings, ist ein eminent pädagogisches Phänomen, auch wenn es sich – wie in diesem Falle – nicht aus einem sittlichen Gefälle vom Erzieher zum Zögling, sondern aus der speziellen Solidarität und im Grunde gleichen Situation jedes
sündigen Menschen
ergibt461
|A 162| 461Kriminalität sei nur ein Sonderfall
der allgemeinen Sündhaftigkeit des Menschen
(Moll, Besserung, S. 5)
.
. Die
Wohlfahrt des Verbrechers
, an welcher der Vollzugsbeamte
ein aufrichtiges Interesse
zu nehmen habe, wurde damit gleichsam zum Ausgangs- und Endpunkt aller Besserungsmaßnahmen |A 94|erklärt462
|A 162| 462
Spangenberg, Besserung, S. 31
.
. Das Prinzip,
auf welches allein eine solche Pönitentiarie gebaut sein kann ... ist daher kein anderes, als Wohlwollen, und die sittliche Absicht, die Wohlfahrt der in der Anstalt aufgenommenen Verbrecher auf eine wirksame und dauernde Art zu begründen
463
|A 162| 463
a. a. O., S. 179
; vergl. auch Wagnitz, Ideen, S. 26 f.
. Die schlechthin zentrale Bedeutung eines solchen personalen Bezuges wurde ein immer wiederkehrendes Moment der Reformtheoretiker, das besonders dann als eine unerläßliche Grundvoraussetzung in die Debatte geworfen wurde, wenn der Streit um organisatorische Fragen des Haftsystems die erzieherische Problematik zu verdecken drohte464
|A 162| 464Vergl. dazu Wick, Isolierung, S. 1, 29; Mittermeier, Betrachtungen in Jul.-Jahrb. V, S. 113; ders., Gefängnisverbesserung, S. 181; d’Alinge, Individualisierung, S. 20; Wagnitz, Moral. Verbesserung, S. 25; Lotz, Ideen, S. 264.
. Man erkannte, daß der pädagogische Charakter des Strafvollzuges nicht von der Einführung eines Gemeinschafts-, Isolier- oder Progressiv-Systems abhängig sei, sondern in erster Linie von der Art, in der Vollzugsbeamter und Häftling einander begegneten.
[005:252] Da die sittliche Teilnahme am Schicksal des Einzelnen und seinem Besserungsprozeß eine derart grundlegende Bedeutung gewann, konnte auch die Forderung nach einer Individualisierung des Vollzuges nicht ausbleiben. Diese stellt, neben dem Interesse an der Wohlfahrt des Gefangenen und dem personalen Bezug zu ihm, das zweite pädagogische Motiv der Reformtheoretiker dar.
Die Individualität des menschlichen Geistes und Gemütes verlangt, wie in der Erziehung überhaupt, so namentlich in der moralischen Wiedergewinnung der Verbrecher, ihre heiligen Rechte und verdient, wollen wir zu einem glücklichen Ziele gelangen, einer ernsten Betrachtung
465
|A 162| 465Bergsträßer, Strafanstalten, S. 155.
. Auch die Individualisierung der Rechtssprechung – wir wiesen auf sie hin als Folge einer historischen Rechttheorie – konnte für die Strafvollzugspraxis nicht ohne Interesse sein, da ja gerade die Festsetzung des Strafmaßes für die Ermöglichung eines Erziehungs-Strafvollzuges von ausschlaggebender Bedeutung ist. Die Rechtsnorm bedürfe, so sagte man, jeweils der Ergänzung oder Korrektur durch die speziellen Bedingungen des einzelnen Falles.
Denn wir bestrafen eigentlich nicht das Verbrechen, sondern das Individuum, welches das Verbrechen begangen hat
466
|A 162| 466Spangenberg, Besserung, S. 89.
.
Gegen alle also dieselbe Strafe zuzufügen, ist eine Art rohen Empirismus der Gesetzgebung
467
|A 162| 467a. a. O., S. 90.
Die Individualisierung in der Rechtsprechung sei daher eine Bedingung der Gerechtigkeit468
|A 162| 468Wahlberg, Individualisierung, S. 205, 224.
. Für die Organe des Strafprozesses wie des Strafvollzuges galt daher die Forderung psychologischer und soziologischer Analyse, um damit die notwendige Grundlage für eine erzieherische Ausgestaltung des Gefängniswesens zu schaffen. Man müsse
jeden einzelnen Gefangenen auf der Stufe erfassen, auf der er eigentlich steht
469
|A 162| 469d’Alinge, Individualisierung, S. 21.
. Nur eine detaillierte Analyse des Lebensschicksals, der jeweiligen Umwelt470
|A 162| 470Wagnitz, Moral. Verbesserung, S. 50 f.
, von
Charakter
,
Temperament
und
moralischer Beschaffenheit des Verbrechers
471
|A 162|471
Spangenberg, a. a. O., 91
.
könnte die Maßnahmen be|A 95|gründen,
die unmittelbar seine Besserung hervorbringen können
472
|A 162|472
ebenda
. Da aber die Strafvollzugspraxis
auf unendlich verschiedene Individualitäten angewiesen
und immer
den Erfolg ... von der speziellen Behandlung abhängig
sei473
|A 162| 473
Bergsträßer, a. a. O., S. 66
, vergl. auch S. 268.
, stellte sich auch von dem Problem der Individualisierung her eine pädagogische motivierte Skepsis gegen die Lösung der Erziehungsaufgabe rein auf dem Wege eines so oder so gearteten Haftsystems ein474
|A 162| 474a. a. O., S. 65; vergl. auch Wick, Isolierung, S. 45.
.

4. Die Vorschläge zur Durchführung des Erziehungsprinzips

[005:253] Diese theoretischen Voraussetzungen waren geschaffen, als Mittermeier schrieb:
Für die Verhandlungen über die Frage der zweckmäßigsten Einrichtung der Strafanstalten hat ein neuer Abschnitt begonnen
475
|A 162| 475Mittermeier, Die Gefängnis-Verbesserung, S. 1.
.
Mit Einrichtung einer bestimmten Anzahl von Zellen, in welche der Sträfling Tag und Nacht eingesperrt wird, ist noch nichts geleistet und damit, daß die Sträflinge zu Ordnung, Fleiß und Reinlichkeit gewöhnt werden, kann das Besserungssystem nicht in das Leben gerufen werden
476
|A 162|476a. a. O., S. 74.
. Die Bedingungen aber, unter denen das
Besserungssystem
erst möglich sei, wurden in vier Grundforderungen zusammengefaßt:
[005:254] 1. Das erzieherische Problem ist nicht lediglich durch die Einführung eines neuen Haftsystems zu lösen; 2. die Isolierung des Gefangenen durch den Freiheitsentzug darf ihn den Anforderungen des gesellschaftlichen Lebens nicht entfremden; 3. ein Besserungs- und Erziehungsprozeß ist nur dann möglich, wenn er als ein stufenmäßiges Rückführen in die reale gesellschaftliche Lebenssituation gegliedert wird; 4. um wirkliche Besserung oder Erziehung zu gewährleisten, muß der Strafvollzug differenziert werden nach Graden der Erziehbarkeit, d. h. der Strafvollzug an Jugendlichen muß abgesondert werden.
[005:255] Die Skepsis gegen eine organisatorische Lösung des Problems in Form eines bestimmten Haftsystems haben wir schon verschiedentlich erwähnt. Sie blieb auch für die weitere Entwicklung ein untrügliches Kennzeichen für die Ernsthaftigkeit des pädagogischen Anliegens, so verständlich auch die Faszination sein mag, die von den amerikanischen Vorbildern und der damit verbundenen Hoffnung auf eine endgültige Lösung ausgegangen war.
Wer sich in dem Gewirre des Streits über Isolierung und Nichtisolierung der Strafgefangenen ein einigermaßen unbefangenes Urteil bewahrt hat, dem muß es von vornherein als eine Verkehrtheit erscheinen, daß man bei einer Aufgabe so vielseitiger Natur, wie die Behandlung der Sträflinge ist, alles Heil von einer einseitig und konsequent durchgeführten Methode erwartet. Der kennt die menschliche Natur schlecht, der da glaubt, daß sie sich planmäßig ziehen und biegen läßt, wie man will. Noch ist keine Er|A 96|ziehungsmethode gefunden, die ihres Erfolges sicher wäre
, weil
alles Systematisieren bei der Behandlung lebendiger Menschen ein mißliches Ding ist
477
|A 162|477Wick, Die Isolierung, S. 1.
. Damit sollte jedoch nicht schlechthin die Notwendigkeit geleugnet werden, den Strafvollzug nach bestimmten Organisationsprinzipien einzurichten. Man wollte lediglich darauf hinweisen, daß damit nicht schon zwangsläufig das pädagogische Problem gelöst sei. Denn
eine totale, das ganze Wesen des Sträflings ergreifende Änderung
sei nicht durch Systeme allein zu erreichen478
478
Müller, Christliche Besuche ..., S. XI
.
, es komme
alles auf den Geist an
, in dem sie angewendet würden479
|A 162|479
Wick, a. a. O., S. 43
.
. Im anderen Falle aber sei das zu erreichende Maximum nichts als
höchstens nur ein von der Notwendigkeit gebotenes, äußeres legales Benehmen
480
|A 162|480Müller, a. a. O., S. XII.
.
[005:256] Die Bedenken richteten sich auch gegen die Einseitigkeit der proklamierten Systeme, die totale Isolierung in der Einzelhaft und die konsequent durchgeführte Gemeinschaftshaft.
Unendlich verschiedene Individualitäten
verlangten eben auch eine möglichst weitgehende Variabilität des Vollzugssystems, wo letzten Endes der Erfolg immer
von der speziellen Behandlung abhängig
sei481
|A 162| 481
Bergsträßer, Strafanstalten, S. 66
; vergl. auch S. 155; ferner
Mittermeier, Betrachtung, in Jul.-Jahrb. V, 113
:
Wer glauben würde, daß durch ein bloßes, noch so sorgfältig gegebenes Detail von Institutionen für die einzelnen Beamten, die Erreichung des Zwecks der Besserung möglich würde, irrte sehr, nur die Individualität von Personen, welche Menschenkenntnis mit Energie und großer Pflichttreue verbinden, könnte dies System in das Leben führen ... Darin liegt die große Kunst, die Individuen, ihre Bedürfnisse und Eigentümlichkeiten zu studieren, jede Veränderung im Charakter zu beobachten, und ... schnell die rechten moralischen Heilmittel für das Individuum zu entdecken
.
.
[005:257] Um die pädagogischen Maßnahmen, die ja im Hinblick auf eine Wiedereingliederung in das gesellschaftliche Leben getroffen werden sollten, in dieser Hinsicht sinnvoll anzuordnen, wurde es nötig, den exklusiven Charakter jedes Freiheitsentzuges auf ein Minimum zu reduzieren, um nicht von vornherein durch die Abseitigkeit des Anstaltslebens den Erfolg zu gefährden oder gar Entlassungssituationen zu schaffen, die sich als Quelle für neue Verwahrlosung oder Kriminalität erweisen konnten482
|A 162| 482Mittermeier, a. a. O., S. 113; Bergsträßer, Strafanstalten, S. 77; Wick, Die Isolierung, S. 39.
. So betont Riecke, daß die Verbrecher nicht als
Ausnahmegesellschaft
zu behandeln seien483
|A 162| 483
Riecke, Die Gefängnisreform, S. 107
.
. Tugenden könnten sich nur in der Auseinandersetzung mit einer, den normalen Lebensbedingungen angeglichenen Gemeinschaft bilden484
|A 162| 484ebenda
.
[005:258] Die heterogene, nicht – durch allzu weitgehende Differenzierung – einseitig zusammengesetzte Gemeinschaft wurde daher als Voraussetzung betrachtet,
wobei auch das Beispiel der besseren Sträflinge wohltätig wirkt
485
|A 162| 485
Wick, a. a. O., S. 39
; vergl. auch Wahlberg, Individualisierung, S. 205.
. Das Familienprinzip vieler Rettungsanstalten wurde in diesem Zusammenhange auch von Strafvollzugstheoretikern aufgegriffen:
Namentlich ein Erziehungs- und Zuchtsystem, wie es in den Rettungshäusern, z. B. im Rauhen Hause bei Hamburg, durchgeführt wird, nämlich ein System von ausgewählten kleineren Genossenschaften (
Familien
) ... wäre für Besserung sicherlich das förderlichste und man müßte es daher dem Vereinzelungssystem vorziehen
486
|A 162| 486Wick, a. a. O., S. 39 f.
. So versuchte man der Gefahr, die dem Strafvollzug durch die Lebensferne der Anforderungen erwächst, zu begegnen;
Gelegenheiten und Versuchungen zum Unrecht
dürften nicht gänzlich fehlen, da die |A 97|sittliche Widerstandskraft sich nur bilden oder stärken könne, wenn sie
auf die Probe gesetzt
würde487
|A 163| 487
Mittermeier, Die Gefängnisverbesserung, S. 84
. Auch an dieser Stelle zeigt sich eine deutliche Abwendung vom Gedanken einer rein formalen Bildung und Erziehung. Die Erziehungsaufgabe wurde im Hinblick auf konkrete gesellschaftliche Ziele formuliert, die in den einzelnen pädagogischen Akten ganz spezielle und inhaltlich bestimmte Erziehungsleistungen erforderlich machten.
.
[005:259] Die Abneigung gegen ein radikal durchgeführtes System und die Forderung gesellschaftlicher Lebensnähe der Formen, in denen der Besserungsprozeß nur vor sich gehen könne, führten nun doch zu einem Organisationsprinzip, von dem man annahm, daß es für die Pädagogisierung des Strafvollzuges optimale Bedingungen schaffe.
[005:260] Es war der Gedanke eines progressiven Strafvollzuges, der in dem hier behandelten Zeitraum bereits auftauchte , aber erst im 20. Jahrhundert in Deutschland zur Verwirklichung gelangte. Man erkannte, daß die pädagogische Absicht erst dann ihr Ziel erreicht habe, wenn die Wiedereingliederung des Kriminellen in den gesellschaftlichen Zusammenhang gelungen sei. Da aber jede Strafanstalt notwendig Ausnahmesituationen schaffe, müsse durch eine Gliederung des Vollzugsprozesses der Übergang erleichtert werden. Schon die, als Maßnahme der Nacherziehung gedachten, an die Haftzeit sich anschließenden Besserungsanstalten sollten einen solchen Zweck erfüllen. Nun aber wollte man das Prinzip einer stufenmäßigen Angleichung an normale Lebensbedingungen in die Haftzeit selbst verlegen. Die Gemeinschaftshaft wurde so zu einer Stufe in der Abfolge verschiedener Maßnahmen488
|A 163| 488Wick, a. a. O., S. 40; Mittermeier, a. a. O., S. 172.
. Die positiven Wirkungen der Einzelhaft konnten mit denen der Gemeinschaft verbunden werden489
|A 163| 489Riecke, Die Gefängnisreform, S. 111 ff.
. Das Prinzip des Strafvollzuges sollte demnach darin bestehen, den Sträfling fortschreitend
in einen Zustand größerer Freiheit
zu versetzen490
|A 163| 490
Mittermeier, a. a. O., S. 84
; vergl. auch Bergsträßer, Strafanstalten, S.149.
. D’Alinge schließlich formuliert die drei Stufen,
die der Gefangene ganz oder teilweise zu durchlaufen
habe: im ersten Stadium komme
zunächst alles auf Gewöhnung an
491
|A 163| 491
D’Alinge, Individualisierung, S. 47
.
, das zweite sei das der Bewußtseinsbildung, im dritten endlich werde von dem Sträfling sittliche Bewährung verlangt, es müsse in
bedingter Freilassung oder Beurlaubung
endigen492
|A 163| 492
a. a. O., S. 51
.
.

5. Der Gedanke des Jugendstrafvollzuges

[005:261] Auf Grund der in früheren Abschnitten bereits dargestellten Einsichten in die Bedingungen von Verwahrlosung und Kriminalität, in die besondere Gefährdung des Jugendlichen angesichts der sozialen Verhältnisse, schließlich auch auf Grund der außerordentlich frühen Strafmündigkeit ist es verständlich, wenn der Gedanke eines besonderen Jugendstrafvollzuges in der damaligen Literatur zur Sprache kam und tatsächlich auch vereinzelt zu erster experimentierender Verwirklichung gelangte. Seine Anfänge liegen in den ersten Versuchen, die bis dahin willkürlich zusammengefaßte Masse der Kriminellen zum Zwecke einer |A 98|erfolgreichen individuellen Behandlung aufzugliedern, den Strafvollzug zu differenzieren. Bei Weveld noch fungiert eine solche Differenzierung als rein disziplinarisches Mittel
zur Beförderung der guten Ordnung, zur Beseitigung einer wechselseitigen Ansteckung
493
|A 163| 493Weveld, Gedanken, S. 48.
. Seine Differenzierungskritierien sind rein psychologisch:
Dieser Anordnung zu Folge ist also der dolose von dem kulposen, der leidenschaftliche von dem kaltblütigen, der leichtsinnige und dümmere von dem bedächtigen und verschmitzten, der unverschämte von dem noch etwas schamhaften, und endlich der streitsüchtige von dem ruhigen Verbrecher so zu trennen, daß diese verschiedenen Subjekte von entgegengesetzten Anlagen, Stimmungen und Gemütsarten fast nie ... in wechselseitige Rücksprache oder unmittelbare Berührung kommen
494
|A 163| 494ebenda
.
[005:262] Diese Einseitigkeit des Auswahlprinzips wurde aber bald verlassen, als man erkannte, daß der jugendliche Kriminelle dem Strafvollzug andere, in besonderer Weise erzieherische Probleme stellte. Die große Publizität der Rettungsanstalten hatte an dieser Entwicklung nicht geringen Anteil495
|A 163| 495Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, daß diejenigen Autoren, die einen gesonderten Jugendstrafvollzug fordern, zugleich mit Veröffentlichungen über Probleme der Rettungshaus- und Verwahrlostenerziehung hervortraten, bzw. beides in einer Schrift abhandelten (Vergl. bes. Julius Mittermeier, Riecke, Ristelhueber).
. Überdies wirkten sich auch die Erfahrungen der Gefängnis- und Gefangenenfürsorge-Vereine in dieser Richtung aus, die durch nachgehende Gefangenenbetreuung der sozialen Problematik von Verwahrlosung und Kriminalität näher standen als die in reinen Vollzugsproblemen befangenen Strafvollzugsbeamten. Die Differenzierungskritierien, die die Rheinisch-Westfälische Gefängnisgesellschaft aufstellte, unterscheiden sich daher auch grundsätzlich von denen Wevelds. Man unterschied dort nach Strafmaß, Verbrechensart, Rückfälligkeit und Tat-Umständen496
|A 163| 496Jahrb. d. Preuß. Gef. Wesens, Bd. II, S. 283.
; solche Gesichtspunkte aber führten unmittelbar zur Einsicht in die Notwendigkeit einer Sonderbehandlung der Jugendlichen.
[005:263] Wohl der stärkste Impuls, der die Reformtheoretiker zu diesen Forderungen antrieb, war die Voraussetzung der Erziehbarkeit des jugendlichen Kriminellen und die pädagogische Sorge, diese noch vorhandene Möglichkeiten könnten durch falsche Behandlung und durch die schädigenden Einflüsse des Gefängnisaufenthaltes verschüttet werden.
Die Gesellschaft der alten verdorbenen Verbrecher, mit welchen der jugendliche Sträfling im Gefängnisse zusammenleben muß, wirkt nur verderblich auf das jugendliche Gemüt, zerstört das sittliche Gefühl, und lehrt neue Mittel, die verbrecherischen Gelüste zu befriedigen. Es ist eine Grundforderung, welche die bürgerliche Gesellschaft an die Aufseher von Strafanstalten machen kann, die, daß die jugendlichen Verbrecher auf das sorgfältigste von den übrigen getrennt werden. Mag man auch noch so viele Bedenklichkeiten gegen die Besserungsversuche haben, welche man mit allen Gefangenen überhaupt unternimmt, so kann doch kein Zweifel darüber sein, daß der jugendliche Ver|A 99|brecher der Besserung im vollsten Sinne fähig ist
497
|A 163| 497Mittermeier, Über die Fortschritte ..., Jahrb. Bd. III, S. 112.
. Überdies galt Jugendkriminalität vornehmlich als das Produkt einer mangelhaften Umwelt, vernachlässigter
Verwahrung
, ungenügender Erziehung. Die Schuldfrage verlor daher hier ihre Eindeutigkeit. Die Aufgabe des Staates mußte gleichsam eine Nacherziehung sein.
Es kommt also nicht so sehr darauf an, sie zu strafen, als vielmehr, sie zu erziehen, das, was ihre Eltern an ihnen versäumt haben, nachzuholen ... Es gibt gewiß nur sehr wenige jugendliche Sträflinge, welche als ganz unverbesserlich zu betrachten sind
498
|A 163| 498Würth, Die neuesten Fortschritte ..., S. 350.
.
[005:264] Aus diesem Grunde wurde eine eigens eingerichtete Verwahrlostenerziehung, wie sie in den Rettungsanstalten schon entwickelt war, nicht selten als die für solche Fälle einzig geeignete Erziehungsmaßnahme empfunden499
|A 163| 499Mittermeier, die Gefängnisverbesserung, S. 167 f.; vergl. auch Ristelhueber, Über die Notwendigkeit der Errichtung von Arbeits- und Erziehungsanstalten ..., Stuttgart 1828.
. Nur die geringe Zahl solcher Anstalten, ihre
gewisse Einseitigkeit
, das Zusammenfassen
zu verschiedenartiger Kinder in der nämlichen Anstalt
, das Nachhinken der Gesetzgebung bewirkten – so meinte Mittermeier – daß diese Einrichtungen ihre mögliche Leistungsfähigkeit noch nicht erreicht hätten, daß infolgedessen das Gefängnis – wenn auch mit großenteils inadäquaten Mitteln – hier eine Lücke notwendig zu schließen habe500
|A 163| 500
Mittermeier, a. a. O., S. 179
.
. Eine geeignete Erziehung des jugendlichen Kriminellen war also weder im üblichen Gefängnis, noch in den vorhandenen Einrichtungen der Verwahrlostenerziehung möglich; damit aber wurden die Forderungen nach einem erzieherischen Jugendstrafvollzug nur verstärkt. Kompromißlösungen waren indessen nicht selten. So wurden an vielen Erziehungsanstalten Sonderabteilungen, sogenannte
Correctionsklassen
eingerichtet, bei denen man die pädagogische Behandlung der Jugendlichen in besseren Händen glaubte501
|A 163| 501So in Bräunsdorf, Benninghausen, Brauweiler, Graudenz, Halle, Breslau.
. Faktisch scheinen sich solche Einrichtungen aber kaum von den Gefängnissen unterschieden zu haben.
[005:265] Viel entscheidender für den Gedanken eines Jugendstrafvollzuges als diese Übergangs- und provisorischen Lösungen war daher auch die Forderung nach konsequenter organisatorischer Absonderung von dem Vollzug an Erwachsenen, die sich nicht mit der Differenzierung innerhalb einer Anstalt begnügte, sondern darüber hinaus eine auch verwaltungsmäßig eigenständige Einrichtung für Jugendliche verlangte, im übrigen aber den Gefängnischarakter beizubehalten wünschte.
Die Stellung einer solchen Anstalt unter eine eigene, von dem Gefängnisse für Erwachsene ganz unabhängige Direktion scheint also ein dringendes Erfordernis zu sein
502
|A 163| 502Würth, a. a. O., S. 352.
; auch Riecke verlangt
für die jugendlichen Gefangenen (wie dies in Sachsen so schon durchgeführt ist) ganz eigene, von den Strafanstalten für Erwachsene völlig abgetrennte, mit landwirtschaftlichem Betriebe verbundene Anstalten
503
|A 163| 503
Riecke, a. a. O., S. 123
; vergl. auch Mittermeier, a. a. O., S. 180; ferner die Nachricht über das Jgd. Gef. Rotterdam in Jahrb. d. Pr. Gef. Wesens, X, S.79f.
. Die |A 100|deutlich empfundene Abhängigkeit der Strafvollzugsentwicklung von institutionellen Veränderungen tritt an dieser Stelle zutage. Im Vergleich zu anderen sozialpädagogischen Bereichen war hier der privaten Initiative ein denkbar geringer Spielraum gelassen. Was an neuem Gedankengut, neuen Plänen, Einrichtungen und Methoden zur Verwirklichung kommen wollte, mußte vorerst den Staat für sich gewinnen und die gesetzlichen Wege ebnen.
[005:266] Für den Jugendstrafvollzug lag es nahe, um
den Zweck der Erziehung
zu erreichen504
|A 163| 504
Würth, a. a. O., S. 351
.
, sich in der Diskussion um das Haftsystem nicht auf die eine oder andere Position festzulegen. Beweglichkeit innerhalb der Einrichtung und Variabilität der Methoden schienen unabdingbare Voraussetzungen der Gefangenenerziehung zu sein. Da man sich weitgehend auch von Anstalten zur Verwahrlostenerziehung beeindrucken ließ, zog man von Beginn an die Notwendigkeit einer gemeinschaftlichen Erziehung mit in Betracht, ohne jedoch den positiven Sinn zu leugnen, der einer Isolierung im Hinblick auf den Strafcharakter der Haftzeit und auf die psychische Wirkung innewohnen kann. Allerdings sei die Einzelhaft eine gleichsam nur negative Maßnahme, die mit Erziehung, wenigstens solange sie als organisatorisches Prinzip allein angewandt werde, nur wenig zu tun habe,
denn die Erreichung dieser Zwecke (der Erziehungszwecke) fordert Angewöhnung des jungen Menschen an das Leben mit und unter Anderen und an eine Fügsamkeit in mannigfaltige Lagen und Charaktere
; das aber sei nur in
vollständiger, wahrer Gemeinschaft
möglich505
|A 163| 505
ebenda
, wolle man nicht die
geistige und körperliche Gesundheit des jungen Menschen
gefährden506
|A 163| 506
Mittermeier, a. a. O., S. 181
.
. Die Alternative Einzel- oder Gemeinschaftshaft wurde damit im pädagogischen Aspekt überwunden, wenn auch dieser noch einer tieferen theoretischen Begründung entbehrte.

II. Die Verwahrlostenerziehung

[005:267] Während wir zum Problem der Kriminalpädagogik, der geschichtlichen Situation entsprechend, vorzugsweise theoretische Erörterungen und programmatische Forderungen darzustellen hatten, wird es sich im Folgenden eher um eine Analyse der institutionellen Probleme handeln müssen. In jenem Falle erklärten wir das Vorwiegen der Theorie aus der Schwerfälligkeit entwicklungshemmender Institutionen; in diesem Falle bemerken wir nahezu das Gegenteil: Die Anfänge der neuen Entwicklung liegen in der pädagogischen Praxis, die theoretischen Ausführungen sind demgegenüber minimal und schließen sich überdies zum großen Teil den theoretischen Voraussetzungen der vorangegangenen Epoche an. Einerseits also sind sie nicht charakteristisch für das hier herauszustellende Problem, andererseits aber |A 101|– soweit sie Symptome eines neuen Problembewußtseins waren – haben wir sie bereits im zweiten Teil dieser Arbeit behandelt.
[005:268] Unsere Aufgabe besteht demnach in der Darstellung der Institutionen, mit deren Hilfe man dem Phänomen der Verwahrlosung zu begegnen suchte. Es ist dabei erwähnenswert, daß sie für diesen Sektor sozialpädagogischer Wirksamkeit genau denjenigen Ort einnehmen, den für die Kriminalpädagogik die Theorie bezeichnet: die direkte Antwort nämlich auf unbewältigte Erziehungsnotstände jener Zeit.

1. Die Anstöße zur Institutionalisierung der Erziehungs-Fürsorge

[005:269] Wir konnten feststellen, daß sich die Notwendigkeit einer die traditionellen Erziehungseinrichtungen ergänzenden Erziehungshilfe aus den gesellschaftlichen Veränderungen und den damit zusammenhängenden sozialen Notständen ergab, daß ferner, auf Grund veränderter Bewußtseinslagen diese Probleme erkannt und als neue pädagogische Aufgaben formuliert wurden. Die Anstöße nun, die unter solchen Voraussetzungen jeweils zur Einrichtung erziehungsfürsorgerischer Institutionen führten, sind verschiedener Herkunft, lassen sich aber – geographisch begrenzt und geistesgeschichtlich vorbereitet – im wesentlichen in vier typischen Vorgängen zusammenfassen.
[005:270] 1. Die ersten Anstöße zur Gründung von Erziehungsanstalten und Fürsorgeeinrichtungen für verwahrloste Kinder und Jugendliche507
|A 163| 507Von Vorläufern wie A. H. Francke soll hier abgesehen werden.
kamen aus den Kreisen des württembergischen Neupietismus und den Vorläufern der Inneren Mission. Ihr Ansatz war zunächst alles andere als spezifisch sozialpädagogisch, sondern richtete sich auf eine Erneuerung des religiösen und kulturellen Lebens508
|A 163| 508Vergl. Ruth, Rettungshausbewegung, S. 3; ferner Ritschl, Geschichte des Pietismus.
. Jedoch war der Gedanke
christlicher Liebestätigkeit
509
|A 163| 509Vergl. Uhlhorn, Die christl. Liebestätigkeit seit der Reformation.
von Beginn an ein nicht unwesentlicher Bestandteil, der aber erst nachträglich sozialpädagogische Gestalt annahm.
[005:271] Indessen schuf der Neupietismus ein soziales Instrument, das für die Folgezeit in der Sozialpädagogik außerordentlich bedeutsam wurde: den freien christlichen Verein510
|A 163| 510Zur Bedeutung und Verbreitung christlicher Erziehungsvereine vergl. G. H. Neunobel, Die evangelischen Erziehungsvereine, Neukirchen 1930.
, der aus der Opposition gegen die aufklärerische Kirchenverfassung Württembergs unter König Friedrich als religiös-separatistisches Kampfmittel entstanden war511
|A 163| 511Vergl. Uhlhorn, a. a. O., Bd. III, S. 321; Ruth, a. a. O., S. 4.
, durch den ihm innewohnenden christlich-kulturellen Reformwillen schließlich aber ein Mittel zur gesellschaftlichen Integration darstellte, nachdem er sich von seinem ursprünglichen Zweck entfernt und vornehmlich sozialen Zielen zugewandt hatte.
[005:272] Das Moment christlich-sozialer Hilfeleistung und die akuten sozialen und erzieherischen Notstände, an denen die religiös-kulturellen Erneuerungsgedanken praktische Realisierungsmög|A 102|lichkeiten fanden, führten bald zur Einrichtung der ersten Rettungsanstalten als Erziehungsstätten für die verwahrloste Jugend. Beuggen, Kornthal, Weimar, Düsselthal sind typische Exponenten dieser neuen Gründungen. Daß es sich hierbei aber nicht um die Ausnahme-Situation weniger Sektierer oder um das sehr bedingte Bedürfnis weltanschaulich prädisponierter Kreise handelte, beweist die große Resonanz, die diese sozialpädagogischen Einrichtungen in weiten Kreisen des Volkes hatten512
|A 163|512Ruth, a. a. O., S. 5; Schmidt, Die Innere Mission in Württemberg, S. 54.
.
[005:273] 2. Die Anstöße zur Gründung erziehungsfürsorgerischer Institutionen aber gingen nicht nur auf private Initiative zurück. Auch der Staat, obwohl in entschieden geringerem Umfang, wandte sich den neuen Aufgaben der Jugendwohlfahrt zu, nicht als Träger dieser Maßnahmen, wohl aber als eine Instanz, die die jungen Ansätze zu stützen und gewonnene Einsichten in andere Bereiche hineinzutragen vermochte. Württemberg und Preußen sind in ihren je charakteristischen Maßnahmen typische Repräsentanten eines staatlichen Eingreifens auf sozialpädagogischem Gebiet.
[005:274] 1817 gründete Königin Katharina in Württemberg einen Wohltätigkeitsverein, dessen Zentralleitung unter ihrem Vorsitz stand. Eine dieser Zentralleitung entstammende Kommission war dem Staatsminister des Innern unterstellt als beratende und vollziehende Behörde. Die Aufgabe dieser, in verschiedene
Lokal-Vereine
sich aufgliedernde Institution bestand darin, die Staatsverwaltung mit den sozialen und pädagogischen Nöten und Bedürfnissen des Volkes in ständigem Kontakt zu halten, die praktische Wohlfahrtspflege privater und kommunaler, besonders pädagogischer Einrichtungen zu unterstützen, die Errichtung neuer Anstalten zu fördern und die Verwaltung von den verschiedenartigen Maßnahmen zu unterrichten. Somit stellte diese Organisation eine Verbindung von staatlicher und privater Fürsorge dar, durch welche die pädagogische Initiative der verschiedensten Volkskreise, vor allem aber der Rettungshausbewegung, eine öffentliche Bestätigung erfuhr und sich zugleich in den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang als sinnvolle Maßnahme eingliederte513
|A 163| 513Vergl. Ruth, a. a. O., S. 5 f.; Schmidt, a. a. O., S. 40 ff.
.
[005:275] Die preußischen Verhältnisse bedingten einen anderen Typus staatlichen Eingreifens. Ohne das Zwischenglied einer gleichsam halböffentlichen Organisation wie in Württemberg trafen die Regierungen selbst Maßnahmen, um die entstehenden pädagogischen Probleme zu erkennen und entsprechende Einrichtungen zu fördern. Angeregt durch die privaten Jugendwohlfahrtsbestrebungen, wiesen die Regierungen ihre in erzieherischer Arbeit stehenden Beamten an, die Ursachen der Nöte zu erforschen, von den Ergebnissen Mitteilung zu machen514
|A 163| 514Circular-Verfügung an sämmtliche Königliche Regierungen, betreffend die Einsendung vierteljährlicher Nachweisungen von den von jungen Personen begangenen Verbrechen, vom 30. November 1825; abgedruckt in Jahrb. d. Preuß. Volksschulwesens, Bd. V 1927, S. 57 ff.
und sozialpädagogische Maßnahmen zu unterstützen und einzuleiten515
|A 163| 515Circular-Verfügung ... die Behandlung und Besserung verwahrloster |A 164|und verwilderter Kinder betreffend vom 2. Oktober 1826; abgedruckt a. a. O., S. 61 ff.
. Die eingegangenen |A 103|Erfahrungen wurden systematisch geordnet und bekannt gemacht516
|A 164| 516Circulare der Königlichen Regierung zu Merseburg an sämmtliche Schullehrer, Schulaufseher und Polizeibehörden des Regierungsbezirks, vom 26. Januar 1827; abgedruckt in Weiß, Über Beurteilung und Behandlung verwahrloseter Kinder, Halle 1827, S. 5 ff.
, die unterschiedlichen Maßnahmen, gleichviel ob staatlicher oder privater Natur, beschrieben und mehr oder weniger zur Nachahmung empfohlen517
|A 164| 517Verordnung des Königlich Preußischen Ober-Präsidenten der Provinz Westphalen ... vom 16. November 1825; abgedruckt in Jahrb. des Gefängniswesens, Bd. VI, S. 84 ff.; außerdem abgedruckt bei Ristelhueber, Über die Notwendigkeit ... S. XIX ff. und in Die Lehr- und Erziehungsanstalten d. Prov. Westphalen, S. 158 ff.
und schließlich sozialpädagogische Grundsätze formuliert, die auf eine erstaunliche pädagogische Einsicht schließen lassen518
|A 164| 518Vergl. Circular-Verfügung ... v. 2. Okt. a. a. O.
. In den Jahrbüchern des Gefängniswesens und des Preußischen Volksschulwesens standen sozialpädagogisch gut informierte Publikationsorgane zur Verfügung, die weit über den Kreis staatlicher Dienststellen hinaus die im ganzen Land gesammelten Erfahrungen der Öffentlichkeit zugänglich machten.
[005:276] 3. Neben dem pietistischen und staatlichen ist hier ein dritter Anstoß zu nennen, unter dem wir, obwohl es sich um Einrichtungen sehr verschiedenartigen Charakters handelt, jene zusammenfassen, die sich übereinstimmend entschieden und ausdrücklich von allen pietistischen Gründungen distanzierten, teils auf eine Pestalozzi- und Fichte-Nachfolge zurückzuführen sind, teils sich dem liberalen Gedankengut verpflichtet fühlten. Diesem Typus gehören die Anstalten Fellenbergs und seiner Nachahmer an, die Bemühungen Wessenbergs um die verwahrloste Jugend und verschiedene Erziehungsanstalten Preußens, die vermutlich indirekt durch Pestalozzi oder seine Schüler beeinflußt worden sind519
|A 164| 519Diese Beeinflussung durch Pestalozzi ist zwar nicht unmittelbar nachzuweisen, sie kann aber sehr wohl angenommen werden aufgrund der in verschiedenen Berichten, besonders aus dem östlichen Preußen, enthaltenen pädagogischen Ideen, vor allem aufgrund der vielen in Preußen als Lehrer angestellten Pestalozzischüler.
.
[005:277] 4. Durch die genannten Anstaltsgründungen angeregt, die im wesentlichen in das dritte Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts fielen und fast ausschließlich evangelische, bestenfalls paritätische Einrichtungen waren, setzte auch die katholische Tätigkeit auf diesem Gebiet vor allem in Baden ein. Sie ist wenigstens teilweise als eine Reaktion auf die Aktivität Wessenbergs zu verstehen, dessen pädagogisches Bemühen, besonders im Hinblick auf die von ihm erstrebte Annäherung der Konfessionen, auf starke Ablehnung stieß520
|A 164| 520Freiburger kath. Kirchenblatt vom 20.1.1858. J. B. Hirscher, Die Sorge f. sittl. verw. Kinder, Freiburg 1856.
. Damit ging von dem katholischen Kreis um den Freiburger Professor J. B. Hirscher der vierte Anstoß zur Errichtung von Erziehungsanstalten für verwahrloste Kinder und Jugendliche aus. Hirscher konnte sich die damals (1856) bereits 30jährige Erfahrung auf dem Gebiet des Rettungshauswesens zunutze machen und legte den bis dahin, die organisatorische Seite betreffend, umfassendsten Plan einer über das ganze Land ausgebreiteten und zentral gelenkten Erziehungsfürsorge vor521
|A 164| 521Hirscher, a. a. O.
.

2. Die Verantwortung für die verwahrloste Jugend

[005:278] Mit der Erwähnung der katholischen Anstaltsgründungen haben wir der geschichtlichen Entwicklung vorgegriffen. Vorerst konnte noch von derart zusammenfassenden Konzeptionen keine Rede sein, galten doch die württembergischen und preußischen Maß|A 104|nahmen in hohem Maße erst der Ermöglichung eines Gedankenaustausches und einer ersten Fühlungnahme der überall im Lande verstreuten Ansätze. Man sah eine vornehmliche Aufgabe darin, auf die jungen pädagogischen Institutionen hinzuweisen und die Verantwortung weiterer Kreise zu wecken:
... So hat auch in den letzten Jahren das besondere Wohlwollen menschenfreundlicher Personen sich vorzugsweise auf die Sorge für Behandlung und Besserung jener unglücklichen Geschöpfe gerichtet, welche früher der verderblichen Gewalt der Verführung oder Verwahrlosung anheim gefallen sind
522
|A 164| 522Jahrb. d. Preuß. Volksschulwesens, Bd. V, 1927, S. 3.
.
Es kommt in einzelnen Provinzen leider häufig der Fall vor, daß große Verbrechen von Personen verübt werden, die noch im frühen jugendlichen Alter stehen. Diese traurige Erscheinung macht Maßregeln notwendig, teils um den Quellen solcher Verbrechen auf die Spur zu kommen, und diese zu verstopfen, teils um Veranstaltungen zur Besserung der früh Verirrten zu treffen
523
|A 164| 523a. a. O., S. 57.
.
Das Bedürfnis von Maßregeln hat sich gezeigt, menschenfreundliche Privaten und Vereine haben Abhilfe versucht
524
|A 164| 524a. a. O., S. 17.
.
Unter den segensreichen Anstalten Badens ... fehlen dennoch solche, deren Aufgabe es wäre, arme verwahrloste Kinder von augenscheinlicher Entartung und Verwilderung zu retten und sie zu nützlichen Gliedern der Gesellschaft zu bilden
525
|A 164| 525I. Freiherr v. Wessenberg, Aufruf des Vereins zur Rettung sittlich verwahrloster Kinder, Karlsruhe 1831; zit. nach Gillmann, Die Entw. d. Waisen- und Armenerziehung ..., S. 56.
.
So viel auch geschehen ist, so bleibt es dennoch ein durch die gegenwärtigen Zeitverhältnisse dringend gefordertes Bedürfnis, daß zur Rettung solcher Kinder ... besondere Erziehungsanstalten gegründet werden
526
|A 164| 526ebenda
.
[005:279] Das in diesen Zitaten sich aussprechende Bewußtsein, mit solchen Maßnahmen sich noch im experimentellen Stadium zu befinden, trat überall hervor und äußerte sich nicht zuletzt in dem starken Bedürfnis nach Kenntnis fremder Erfahrungen.
Manches ist geleistet, Einiges mißlungen, Anderes noch im Werden; die Unternehmungen selbst sind verschieden in der Grundlage, in dem Ziele, in den Hilfsmitteln, und bringen hier diese, dort andere Erfolge hervor; unter einander aber stehen sie meistenteils in gar keiner näheren Verbindung ... Jedes dieser Institute ist, einzeln betrachtet, noch wie ein Versuch anzusehen
527
|A 164| 527Jahrb. d. Preuß. Volksschulwesens, Bd. V 1927, S. 17.
. So ist es nicht verwunderlich, daß die einschlägige Literatur auf weite Strecken reine Information war, ja sich diese eigentlich in erster Linie zum Ziel setzte.
[005:280] Wenn aber tatsächlich die Erziehungsnot eine so allgemeine war und ihrer Bewältigung große Schwierigkeiten rechtlicher, institutioneller und finanzieller Art im Wege standen, dann konnte der Ruf nach einer staatlichen Hilfe nicht lange auf sich warten lassen. Der Staat müsse, so sagte man auch sehr bald, wenigstens ein Interesse für die sozialpädagogischen Probleme zeigen528
|A 164| 528Vergl. J. B. Hirscher, Die Sorge f. sittlich verwahrloste Kinder, S. 7.
, da sie den Bestand der Gesellschaft, somit auch den des Staates |A 105|gefährdeten; und mehr noch:
Unter solchen Umständen wird es in mehr als einer Hinsicht Pflicht der Regierung, diese Angelegenheit nicht lediglich sich selbst zu überlassen
, sondern sich Kenntnis darüber zu verschaffen und Einfluß auszuüben, das Begonnene zu unterstützen529
|A 164| 529
Jahrbuch d. Preuß. Volksschulwesens, Bd. V 1927, S. 17
.
. Das Problem von öffentlicher und privater Fürsorge, bzw. die Frage nach dem Verhältnis beider zueinander, tauchte damit bereits zu Beginn der sozialpädagogischen Entwicklung auf.
[005:281] Weit davon entfernt, sich auf eine Lösung zu einigen, kamen die verschiedensten, z. T. auch heute noch lebendigen Positionen zu Wort. Einig war man sich indessen in der Meinung, der Staat habe die Verpflichtung, sich den neuen pädagogischen Aufgaben zuzuwenden und die Verantwortlichkeit zu teilen.
Daß Erziehungsanstalten für arme, verwaiste oder verwahrloste Kinder eine heilige, unabweisliche Pflicht des Staates sind, wird heut zu Tage überall anerkannt, wo der Zweck des Staates überhaupt anerkannt wird
530
|A 164| 530Schlipf, Die Erziehungs-Anstalt ... S. VII.
. Konsequenter und schärfer noch zitiert Ristelhueber aus einer ungenannten Zeitschrift:
Der Staat hat ein unverkennbares Recht, die Erziehung zu leiten – bis jetzt hat er nur unvollkommenen Gebrauch davon gemacht, indem er die Charakterbildung fast ausschließlich den Privaterziehern und Eltern überließ ... sowie Schwäche und Unwissenheit (der Eltern) aber dem Charakter des Zöglings eine falsche oder gänzlich gefährliche Richtung gibt, muß die Regierung ... die weitere Erziehung übernehmen
531
|A 164| 531
Zit. nach Ristelhueber, Über die Nothwendigkeit ... S. XVIII
; die Quelle des Zitates ist nur mit
Aus einer Zeitschrift
angegeben.
;
der Staat muß sich daher die Erziehung verwahrloster Kinder aneignen
532
|A 164| 532ebenda
. Ristelhueber hält allerdings die Einschränkung für nötig, daß nur ein solcher Staat diese Aufgaben zu übernehmen imstande sei, der nichts als das Wohl seiner Bürger im Auge habe533
|A 164| 533
ebenda
.
[005:282] Die Realisierung dieser Gedanken blieb indessen noch aus und die Lösung der sozialpädagogischen Aufgaben im wesentlichen der privaten Initiative überlassen, die die Lücke in den staatlichen und traditionellen Erziehungsmaßnahmen zu schließen suchte.
Wenn nach dem Bisherigen die öffentliche Fürsorge das vorhandene Erziehungsbedürfnis so vieler verwahrloster Kinder weder intensiv noch extensiv zu befriedigen im Stande ist, so ist klar, daß die Privatwohltätigkeit hilfreich in’s Mittel springen muß
534
|A 164| 534Völter, Gesch. und Statistik ... S. 55.
. Die öffentliche Verantwortung den sozialpädagogischen Problemen gegenüber wurde damit noch keineswegs geleugnet, die Verpflichtung des Staates, entsprechende Maßnahmen zu treffen und Einrichtungen zu schaffen, nicht von der Hand gewiesen, da angesichts der immer stärker anschwellenden sozialpädagogischen Aufgaben auch die private Erziehungstätigkeit von Kirchen, Vereinen und privaten Einzelnen noch als unzureichend empfunden wurde535
|A 164| 535Vergl. Hirscher, a. a. O., S. 7, 9; Wirth, Mitteilungen, S. 245 f.ø Freib. kath. Kirchenblatt v. 20.1.1858; Die Zwangsarbeitshäuser, DV 1844, S. 9; ferner T. Reis, J. D. Falk, S. 30.
.
|A 106|
[005:283] Es fehlte jedoch auch nicht an Einschränkungen, in denen sich eine grundsätzliche Fraglichkeit der pädagogischen Kompetenzen des Staates und eine Erkenntnis der Gefahren niederschlug, die eine staatliche Erziehungsfürsorge enthalten könnte.
Was man vom Staat verlangen kann und muß, ist nicht eine förmliche Protektion und aktive Begünstigung; von da zur Bevormundung ist der Weg zu kurz; ... sein Trachten soll nur dahin gerichtet sein, von seinem Standpunkte aus und seinem eigenen Interesse entsprechend, zur Verhütung von physischem und moralischem Elend mitzuwirken, für christliche Bildung der niederen Klassen mitzusorgen, auf die Beschäftigung derselben bedacht zu sein, und die Verletzung der Gesetze schnell und streng zu ahnden; im Übrigen aber soll er den Assoziationsgeist ... sich ungestört entfalten lassen, und ihn anerkennen als etwas Tatsächliches und Nützliches. Vor allem aber sollen die Anordnung des Staates nicht die eigenen Zwecke und die Zwecke der Assoziationen vereiteln
536
|A 164| 536Die Zwangsarbeitshäuser ..., in DV 1844, S. 6.
.

3. Die Einrichtungen der Verwahrlostenerziehung und deren Verbreitung

[005:284] Schon aus der Stellung des Staates zu den erziehungsfürsorgerischen Einrichtungen erhellt, daß deren Entstehung nicht auf eine umfassende Planung, auf öffentliche Organisation zurückzuführen ist, sondern daß sie aus den Bedürfnissen konkreter und an verstreuten Stellen aufgetauchter Notsituationen erwachsen sind. Daraus erklärt sich der private und lokal wie soziologisch sehr bedingte Charakter der ersten Anstalten. Die damit gegebene Verschiedenheit der organisatorischen und pädagogischen Ansätze wurde aber, da das Bewußtsein, an der Lösung neuer Aufgaben zu arbeiten und gleichsam Pionierarbeit zu leisten, sehr ausgeprägt war, positiv genommen als eine Bestätigung der Dringlichkeit und Weite dieser erzieherischen Probleme:
Was aber den anteilvollen Beobachter besonders erfreuen muß, ist die Erfahrung, daß diese Anstalten an jedem einzelnen Ort eine eigentümliche Einrichtung und Gestalt erhalten, teils nach den Lokalverhältnissen, teils nach den besonderen Absichten und Zwecken der Gründer und Beförderer; zum sicheren Zeichen, daß nicht bloße Nachahmungssucht tätig sei, sondern daß ein zugleich tätiges und besonnenes Interesse an der Bestimmung dieser Anstalten die Unternehmer leitet
537
|A 164| 537Jahrb. d. Preuß. Volksschulwesens, Bd. VIII, S. 113.
.
[005:285] Eine Reihe von Anstalten, besonders im nördlichen und östlichen Deutschland, sind unmittelbar aus dem Familienverbande herausgewachsen. Ihre Gründungen gehen in erster Linie auf die Initiative von Einzelnen zurück; sie gehören überdies zu den ersten Versuchen dieser Art überhaupt und fallen in das Jahrzehnt |A 107|nach dem Ende der Freiheitskriege. Diesem Typus können wir u. a. die Anstalt Falks in Jena (1815), die
Rettungsanstalt für hilflose Kinder
in Memel (1825), das
Institut zur Rettung verwahrloster Kinder
in Königsberg (1826), die Rettungsanstalt des Grafen von der Recke in Overdyk bzw. Düsselthal (1820), eine Anstalt in Aschersleben (1820) und die Anstalt Wadzeks in Berlin (1819) zurechnen. Gemeinsam war diesen Anstalten, die ja zunächst nichts anderes als eine durch wenige verwahrloste Kinder erweiterte Handwerker- oder Lehrerfamilie darstellten, daß sie den Familiencharakter zum Prinzip erhoben und bestrebt waren, ihn solange wie möglich aufrecht zu erhalten538
|A 164| 538Vergl. dazu a. a. O., Bd. V, S. 25 f., S. 38. Jahrb. des Gefängniswesens, Bd. II, S. 334. a. a. O., Bd. II, S. 334. a. a. O., Bd. III, S. 97 ff. Dobschall, Nachrichten ... S. 22 ff. Vergl. ferner: Schöpff und Vogel, Ein Menschenfreund, Adelbert Graf v. d. Recke von Volmerstein, Gütersloh 1922. O. Schütze, Die Innere Mission in Schlesien.
. Es hat daher den Anschein, als handelte es sich bei diesen Einrichtungen um eine einfache, erweiterte Fortsetzung der Pflegefamilien-Praxis, die ja in dem berühmt gewordenen Waisenhausstreit gegen die Mängel einer geschlossenen Anstaltserziehung ausgespielt worden ist. Eine solche Deutung aber würde den spezifischen Charakter dieser Entwicklung verkennen. Die Intention nämlich einer institutionellen Erweiterung war von Beginn an ein wesentlicher Bestandteil; die Realisierung unterblieb oder hielt sich in engeren Grenzen nur aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten. Die Vereine, die als Träger solche Einrichtungen ins Leben riefen oder sehr schnell, durch deren Bedürfnisse veranlaßt, sich konstituierten, hatten es nicht mehr auf eine Waisenfürsorge abgesehen, sondern bemühten sich in erster Linie um die Erziehung Verwahrloster im Zusammenhang kultur- und sozialkritischer Gedanken, die am ehesten in einer geschlossenen Heimerziehung zu verwirklichen waren, wenn auch die gerade genannten Einrichtungen in nur wenigen Fällen über die anfängliche erweiterte Familienform hinaus gelangten. Schließlich wirkten sich auch bereits sozialpädagogische Ideen Pestalozzis aus, die durch die Beuggener Anstalt Zellers, wenn auch umgedeutet, und durch preußische Pestalozzi-Schüler eine rasche Verbreitung fanden. In diesem Zusammenhang konnte sich auch der Prestige-Gewinn, der durch den Waisenhausstreit der Familienerziehung zugewachsen war, nur positiv auswirken; auch dort, wo es nicht gelang, aus den Ansätzen regelrechte Anstalten zu entwickeln, blieb ein System der sozialpädagogischen Betreuung in Familienunterbringung erhalten, von einem Verein geleitet und pädagogisch gesichert, das sich selbst als gleichwertige Institution neben den Erziehungsanstalten verstand.
[005:286] Eine weit größere Bedeutung nach Umfang und Wirkung kommt daneben aber denjenigen Einrichtungen zu, die von vornherein als Erziehungsanstalten geplant und durchgeführt wurden. Während die oben genannten Versuche vornehmlich auf die Initiative Einzelner zurückgingen, trat hier die gesellschaftliche Funktion der |A 108|Anstalten schon dadurch besonders hervor, daß sich bestimmte Gruppen, kirchliche Gemeinden, Kommunalbehörden und Vereine der Aufgaben annahmen, nicht um lediglich einer lokalen Not zu begegnen, sondern weitgehend um ein Instrument zur Beseitigung als allgemein erkannter gesellschaftlicher Schäden zu schaffen. Die Anlässe waren, wie auch die weltanschaulichen Hintergründe, im einzelnen sehr verschieden. So wird für die 1825 in Frankfurt/Oder gegründete kommunale Rettungsanstalt die Einsicht in die unzulänglich bloßer Armenfürsorge genannt539
|A 164| 539Jahrb. d. Preuß. Volksschulwesens, Bd. VIII, S. 115.
, an anderer Stelle das Überhandnehmen vagabundierender und bettelnder Kinder540
|A 164| 540Schlipf, Die Erziehungsanstalt ...
, die Tatsache steigender Kriminalität, der Mangel
an eigenen Gefängnissen für Unerwachsene
541
|A 164| 541Jahrb. d. Preuß. Volksschulwesens, Bd. V, S. 34.
, missionarische oder nationale Motive. Zwischen 1815 und 1845 entstanden über 60 Anstalten, in denen die ersten Schritte zu einer Heimerziehung der Verwahrlosten und Schwererziehbaren getan wurden und die institutionelle Entwicklung in Richtung auf die moderne Fürsorgeerziehung begann.
[005:287] Die verhältnismäßig größte Verbreitung erfuhren die Anstalten des württembergischen Pietismus; sie umfaßten fast die Hälfte aller damals bestehenden und zeichneten sich – sowohl im Hinblick auf ihre institutionelle Gestalt wie auf ihre pädagogischen Prinzipien – verständlicherweise durch weitgehende Übereinstimmung aus. Demgegenüber wiesen die Anstalten der preußischen Provinzen und Sachsens eine entschiedene Mannigfaltigkeit der Ansätze und Formen auf, da sie sich nicht – wie in Württemberg – auf eine gemeinsame weltanschauliche und erziehungstheoretische Position gründen konnten. Neben den Pionierleistungen Falks, Graf von der Reckes, Reinthalers, Kopffs finden wir Nachahmer der Fellenbergschen Anstalten wie in Köslin und Breslau, Gründungen vom Gedanken der Rettung bestimmter christlicher Vereine wie die schlesischen Anstalten Jauer (1834) Goldberg (1829), Liegnitz (1838), Görlitz (1839) und Oppeln (1829) oder auch den neuen Anforderungen entsprechend umorganisierte ehemalige Armen-, Waisen- und Besserungshäuser.
[005:288] Besonders an diesen zuletzt genannten wird deutlich, wie sich die Situation im Laufe der Jahrzehnte verändert hatte. Man erkannte einerseits, daß sittliche Verwahrlosung nicht mit den Mitteln der Waisen- und Armen-Fürsorge zu bekämpfen sei und ein eigenes pädagogisches Problem aufgab, andererseits, daß die Gesellschaft nicht das Recht habe, verwahrlostes oder kriminelles Verhalten von Kindern und Jugendlichen mit der gleichen Art von Gefängnishaft zu bedrohen, mit der sie ihre Erwachsenen Glieder behandelte542
|A 165| 542Solche Anstalten entstanden in Graudenz, Straußberg Bez. Potsdam, Schweidnitz, Benninghausen Bez. Arnsberg, Bräunsdörf, Halle, Breslau.
. Man schuf daher an den vorhandenen älteren Einrichtungen besondere Abteilungen, die nicht nur Fürsorge oder herkömmliche Anstaltserziehung, sondern eine Sondererziehung |A 109|eben für sittlich Verwahrloste zur Aufgabe hatten. Ihre methodische Besonderheit verlangte freilich auch eine institutionelle Eigenständigkeit. Damit begann die für die weitere Entwicklung bedeutsame Auseinandersetzung zwischen Jugendfürsorge einerseits, Armen- und Justiz-Behörde andererseits um die pädagogische Selbständigkeit jugendfürsorgerischer Maßnahmen, die ihren erzieherischen Charakter zu behaupten hatten543
|A 165| 543Diese Auseinandersetzung dauert bis in die Gegenwart hinein an durch die im JWG nicht endgültig und verbindlich geschaffene Regelung. In einer neuen Form ist sie in diesen Jahren im Zusammenhang der Bewährungshilfe wieder aufgetaucht.
ø

III. Die Erziehungshilfe zur gesellschaftlichen Eingliederung

[005:289] Neben den theoretischen Bemühungen um eine erzieherische Gestaltung des Gefängniswesens und den praktischen Anfängen der Erziehung verwahrloster Kinder und Jugendlicher setzten in jenen Jahrzehnten auch – nach Motiven und Formen sehr verschieden – Bemühungen um die normale, allenfalls in einem sehr allgemeinen Sinne gefährdete Jugend ein. Dabei handelte es sich größtenteils um Maßnahmen, die heute mit einem nicht gerade glücklichen Terminus als Jugendpflege bezeichnet werden; aber eben nur größtenteils, denn unter unserem Aspekt stellt sich die sogen. Jugendpflege nur als ein Sektor einer Erziehungsarbeit dar, die in ihren Formen zwar verschiedenartig, in Ansatz und Aufgabenstellung aber als ein und dieselbe erkennbar ist. Diese Gemeinsamkeit des hier zu behandelnden sozialpädagogischen Aufgabenbereiches glauben wir darin sehen zu können, daß es sich in allen Fällen um erzieherische Maßnahmen und Institutionen handelt, die eine Eingliederung des heranwachsenden Menschen in die Ordnungen der modernen Gesellschaft erleichtern oder allererst ermöglichen sollen, wobei die Notwendigkeit besonderer Maßnahmen neben den traditionellen Erziehungseinrichtungen auf den pädagogischen Funktionsverlust von Familie, Schule und Berufsstätte bei gleichzeitiger Komplizierung der pädagogischen Aufgabe zurückzuführen ist, ohne daß ein solcher Mangel schon Entwicklungsschäden im Einzelnen hervorgebracht hat.
[005:290] Anders als die Anfänge der Erziehung Krimineller und Verwahrloster sind die Anfänge in diesem sozialpädagogischen Bereich ideologisch bedingt. Nicht ein konkreter Notstand – von der Einrichtung von Kinderbewahranstalten abgesehen – sondern bestimmte Gruppeninteressen waren als die primären Motive wirksam: evangelisches Missionsdenken, patriotisch-nationale Erziehungsideen und konservativ-handwerkliches Sozialethos. Nur allmählich stellte sich die Erkenntnis einer sachlichen Notwendigkeit ein, und erst im Zusammenhang mit den Wirkungen der Jugendbewegung wurde die pädagogische Eigenständigkeit auch dieses Sektors der Sozialpädagogik erfaßt und ein angemessenes Selbstverständnis gewonnen.
|A 110|

1. Die Ansätze

[005:291] Die Anfänge solcher Einrichtungen indessen waren noch zu unterschiedlich, zum Teil durch entgegengesetzte Motive bestimmt, als daß von einer einheitlichen Praxis gesprochen werden könnte. Die größte Verbreitung in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts fanden die evangelischen Jünglingsvereine, in deren Missionsgedanken der sozialgeschichtlich motivierte Bewegungsdrang vornehmlich der Gesellen ein Ventil fand. Die drohende wirtschaftliche und soziale Unsicherheit eben dieses Standes, dem ein gesicherter sozialer Status traditionsgemäß zwar in Aussicht gestellt war, dessen Realisierung aber unter den neuen gesellschaftlichen Umständen immer fragwürdiger wurde, veranlaßte gerade ihn, neben den überlieferten Formen gesellschaftlicher Eingliederung andere Wege zu versuchen. Die ideologische Anfälligkeit der Gesellen war daher groß544
|A 165| 544Vergl. dazu Stadelmann-Fischer, Die Bildungswelt des deutschen Handwerkers um 1800, S. 52. Diese Feststellung wird dort im Hinblick auf revolutionäre Ideen gemacht.
, denn die Gruppe derer,
welche niemals Aussicht haben, einen eigenen Herd zu gründen
, erweiterte sich beständig 545
|A 165| 545
Riehl, Die bürgerliche Gesellschaft, S. 359
.
.
[005:292] Mit dieser Situation verband sich die Sorge der Erwachsenengeneration um die Gefährdung solcher Jugendlicher und die Meinung, nur auf dem Wege einer religiösen Besinnung sei eine soziale
Rettung
möglich. Daß aber – von seiten der Jugendlichen selbst – das religiöse Motiv anscheinend keineswegs primär war, vielmehr die religiöse Aktivität in starkem Maße nur als ein naheliegendes Mittel zur Befriedigung jenes erwähnten
Bewegungsdranges
ergriffen wurde, das läßt sich aus der geringen Zahl bodenständiger Jugendlicher in jenen Vereinen schließen. Den weitaus größten Anteil bestritten zugewanderte Gesellen546
|A 165| 546Vergl. K. Krummacher, Die ev. Jünglingsvereine, S. 30; E. Wartmann, Geschichte d. ostdt. Jünglingsbundes, S. 1.
, die außer der allgemeinen Situation ihres Standes auch noch die Sicherheit heimatlicher und familiärer Geborgenheit entbehren mußten. Erst um die Mitte des Jahrhunderts wurde diese Situation auch von den Zeitgenossen erkannt:
Schwerlich würden die atheistischen und demokratisch-sozialistischen Arbeiter- und Handwerkervereine der Jahre 1848 und 1849 eine so rasche und allgemeine Verbreitung erlangt haben, hätten sie nicht eben die Abhilfe der besprochenen Mängel und Übelstände als den ostensiblen Zweck ihrer Unternehmungen hingestellt
547
|A 165| 547Brandis in einem Referat auf dem 5. ev. Kirchentag, 1852, S. 53.
. Unter diesen Voraussetzungen entstanden die ersten Jünglingsvereine rein religiösen Charakters wie in Stuttgart (1805), Barmen (1823), Elberfeld (1823), Berlin (1827), Karlsruhe und Dresden 548
|A 165| 548H. Bopp, Die Entwicklung d. dt. Handwerksgesellentums im 19. Jahrh., S. 294.
.
[005:293] Es wäre unnötig, diese ersten Versuche hier zu erwähnen, wenn sie nicht für die weitere Entwicklung in doppelter Hinsicht bemerkenswert geworden wären. Sie leisteten einerseits den nachfolgenden Einrichtungen eine gewisse Vorarbeit, indem sie gesellige Formen ausbildeten und im Jünglingsverein institutio|A 111|nalisierten, die aufgenommen und mit neuem Inhalt erfüllt werden konnten. Andererseits aber wurde damit eine
pietistische
Tradition innerhalb der christlich-protestantisch orientierten Jugendarbeit begonnen, die den Anschluß an eine in Form und Aufgabe der gesellschaftlichen Gegenwart angemessene Jugendarbeit erschwerte und für das 19. Jahrhundert, trotz vieler Versuche, überhaupt verhinderte549
|A 165| 549a. a. O., S. 299, 305.
.
[005:294] Einem zweiten Gedankenkreis, der für die Jugendhilfe im 19. Jahrhundert bedeutsam wurde, war eine kontinuierliche Realisierung in gleicher Weise versagt, wenn auch die Ideen sich verbreiteten und allmählich zum Gemeingut jeder Jugendarbeit wurden: die Erziehungsgedanken der
Nationalen Erhebung
, wie sie in der Turnbewegung, wenigstens bis zu ihrem Verbot 1819, einen doch partiellen Niederschlag gefunden hatten. Stand die Jugendarbeit der ersten evangelischen Jünglingsvereine im Dienste einer religiösen, so stand sie hier vornehmlich im Dienste einer nationalen Erneuerung. Die pädagogischen Mittel, deren sich eine so verstandene neue Erziehung bediente oder zu bedienen beabsichtigte, waren eben diejenigen, welche – später von allen anderen jugendpflegerischen Einrichtungen übernommen – schließlich zum methodischen Grundbestand aller Jugendarbeit gehörten: die freie Jugendgemeinschaft, das gesellige und turnerische Spiel, die Jugendfeier, das Volksfest.
[005:295] Neben diesen beiden, je in besonderer Weise um eine
Wiedergeburt
oder
Erneuerung
des Volksganzen bemühten Ansätzen, ist schließlich ein dritter zu nennen, der, realistischer als jene, an die realen Erfordernisse des sich neu formenden Erwerbslebens anschloß und in dem eine intellektuelle Orientierung in der immer differenzierter werdenden Gesellschaft erstrebt wurde. Wir meinen die mannigfachen Vereine zur Fortbildung junger Gesellen und Arbeiter, die Sonntagssäle and Lesevereine, die es auf intellektuelle und in einem sehr allgemeinen Sinne sozialethische Bildung abgesehen hatten. Berufliches Fortkommen, Ergänzung der Schulbildung, Bewahrung vor den sittlichen Gefahren der Industrialisierung durch
nützliche und edle Beschäftigungen
, gesellige Gemeinsamkeit mit Gleichgesinnten: das waren die nächstliegenden Ziele solcher Einrichtungen, fast ausschließlich von Erwachsenen ins Leben gerufen, geleitet und im allgemeinen als aufgelockerter Abend- oder Sonntagsunterricht durchgeführt. Im Unterschied zu den evangelischen Jünglingsvereinen und der Turnbewegung trat hier die sozialfürsorgerische Absicht deutlich zutage: durch
Aufklärung
sollte das intellektuelle und sittliche Niveau der unteren und mittleren Volksschichten gehoben und eine soziale Befriedung des Proletariats erreicht werden550
|A 165| 550Dazu gehören die Arbeit Pastor Mallets in Bremen (1834), Marquardts in Berlin (1849), die Baseler Sonntagssäle, die Einrichtungen von Lesesälen an verschiedenen Orten. Vergl. auch Wessenberg, Die Elementarbildung des Volkes.
.
|A 112|
[005:296] Diese drei Ansätze waren zu skizzieren, ehe im Folgenden die pädagogische Gedankenwelt solcher Einrichtungen, ihre einzelnen pädagogischen Maßnahmen und ihr Zusammenhang mit den Aufgaben und Anfängen der Sozialpädagogik dargestellt werden konnten.

2. Fürsorge und Vorbeugung

[005:297] Die theoretischen Ansätze einer zusätzlichen Erziehungshilfe für die normal entwickelte Jugend, die sich mit den Einrichtungen und marquard ihrer allmählichen Ausgestaltung ergaben, liegen in den gleichen Problemen, die auch für die bereits behandelten sozialpädagogischen Institutionen maßgebend waren: Kritik an den sozialen Lebensbedingungen und ihren weltanschaulichen Voraussetzungen, Sorge um die Gefährdung des Einzelnen in sittlicher und religiöser Einsicht, seine Orientierungslosigkeit in den neuen Sozialverhältnissen und Vorbereitung einer besseren Volksordnung. Vor allem wirkte sich hier die im Zusammenhang mit Kriminal- und Verwahrlostenpädagogik gewonnene Einsicht in die Bedeutung der konkreten Lebensumstände für eine gesunde gesellschaftliche Eingliederung der nachwachsenden Generation aus. Der sozialkritische Aspekt, der sich im Bereich der Erziehung Verwahrloster und Krimineller nachträglich ergab, wurde hier häufig zum Ansatz der theoretischen wie praktischen Bemühungen. Der Lebensraum der Jugend wurde gegen die andringenden erziehungsfeindlichen Einflüsse verteidigt.
[005:298] Man befürchtete,
daß das, was in den Schul- und Arbeitsstunden aufgebaut worden ist, von Umgebungen, in welchen sie (die Jugendlichen) sich zu Hause befinden, mehrenteils wieder niedergerissen wird
551
|A 165| 551Lange, Armen-Kolonie, S. 3.
. Der ganze gesellschaftliche Grund würde unterhöhlt, wenn sich die Pädagogik in diesem,
den einfachen Bedürfnissen des Lebens so entfremdeten Zeitalter
552
|A 165| 552a. a. O., S. 5.
allein auf die herkömmlichen Erziehungsformen verließe553
|A 165| 553a. a. O., S. 120.
.
In den volkreichen Städten ist es für den Erzieher nicht gleichgültig, in welchen Wohnungen die zu Erziehenden die Welt begrüßen und heraufgezogen werden. Kinder, die in ärmlichen, unsauberen, feuchten, mit verdorbener Luft erfüllten Wohnstuben zur Welt kommen, welche sich in den dumpfen Höfen hoher Häuser, in engen Gassen, oder in baufälligen Hütten abgelegener schmutziger Stadtwinkel befinden, sie gelangen in eine schlechte Herberge für in das Leben eintretende Gäste
554
|A 165| 554Heinroth, Erziehung und Selbstbildung, S. 38.
. Erziehung in solcher Umgebung sei unmöglich; es bedürfe daher besonderer Institutionen, um den Mangel so weit wie möglich auszugleichen, denn nicht Armut schlechthin sei es, die Verwahrlosungserscheinungen bewirke, sondern die durch sie unmöglich gemachte Erziehung555
|A 165| 555
Vergl. Bergsträßer, Strafanstalten, S. 137
: Die Quelle der Verwahrlosung ist zu suchen
in den Lastern, durch welche jene (d. Armut) erst herbeigeführt worden ist. Armut an und für sich führt nicht zum Verbrechen, und wirkliche Not ... hat durchaus keinen Einfluß auf Vermehrung der Verbrechen geübt ... Nur mittelbar kann die Armut, insofern sie nämlich die Ursache einer vernachlässigten Erziehung ist, mit Recht zu den Ursachen der Verbrechen gerechnet werden
.
. |A 113|Eine Untersuchung Verwahrloster würde
fast bei allen ... auf vernachlässigte Erziehung ... hindeuten
556
|A 165| 556
Wagnitz, Moralische Verbesserung, S. 51
; vergl. auch Weveld, Gedanken, S. 22.
, verstünde es sich doch von selbst,
daß diese Masse, welche selbst nicht erzogen ist, auch die in ihr zahlreich heraufwachsenden Kinder beiderlei Geschlechts nicht erziehen kann. Diese wachsen also heran, und werden zeitig verwahrlost
557
|A 165| 557
Heinroth, a. a. O., S. 195
; vergl. auch Preisschrift, S. 104 f.
.
[005:299] Aus solchen Beobachtungen wurde gefolgert, daß bloße Fürsorge als eine aus der Aufklärung übernommene Form sozialer Hilfeleistung nicht mehr hinreichend war und im Grunde keine Verhütung von Verwahrlosungserscheinungen garantieren konnte. Lange stellte fest, daß vielmehr,
je größer zeither die Hilfe war, welche den Armen durch wohltuende Vereine unter uns und auf eine öffentliche Weise gespendet wurde, die Zahl der Begehrenden um so mehr wuchs
558
|A 165| 558Lange, Armen-Kolonien, S. 5.
. Bloße Fürsorge erzeuge daher nur weitere Fürsorgebedürftigkeit. So bot die Erziehung – freilich im Zusammenhang mit einer entsprechenden Sozialpolitik – den einzigen Ausweg aus dem Zirkel von Gefährdungen. Die Stärkung der Selbsthilfefähigkeit und des sozialen Orientierungsvermögens als Bewahrung vor den sittlich-sozialen Gefahren der Gesellschaft war das Ziel einer Erziehungsarbeit, die den Funktionsverlust der vorhandenen Einrichtungen wettmachen sollte.
[005:300] Der Gedanke einer vorbeugenden Erziehungshilfe bildete damit einen wesentlichen Ansatz für die Entstehung von Erziehungseinrichtungen, die auch für den normal entwickelten Teil der nachwachsenden Generation unter den veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen notwendig wurden. Das entscheidende Anliegen Langes in dem zitierten Werk ist daher auch die Vorbeugung gegen jede Art von Gefährdung durch die moderne Gesellschaft; es zielte darauf ab,
die noch schuldlose und unverdorbene Jugend unter dem armen Volke, vor dem schwersten Falle zu bewahren
559
|A 165| 559a. a. O., S. 6.
. Das Mittel, das er vorschlägt, ist die Isolierung in der pädagogischen Provinz:
Je frühzeitiger nun die gedachte Trennung und Absonderung der Kinder von den Erwachsenen vorgenommen wird, desto weniger steht in Zukunft zu fürchten, daß die Jugend, wie zeither, in so großer Anzahl das Abbild und Nachbild einer, bis auf ihre Grundzüge verbleichten, oder wohl gar verzerrten Menschheit werde
560
|A 165| 560a. a. O., S. 34.
.
[005:301] Indessen ist diese Konsequenz – wenn auch nicht gerade selten unter den Zeitgenossen – doch keineswegs repräsentativ für die tatsächlich eingeführten Maßnahmen in diesem Sektor sozialpädagogischer Wirksamkeit. Die Radikalität aber, mit der eine umfassende vorbeugende Jugendhilfe, eine zugleich totale Lösung des ganzen sozialpädagogischen Problems angestrebt wurde, sprach aus den meisten zeitgenössischen Überlegungen dieser Art. Dabei wurde dieser vorbeugenden Jugendhilfe immer eine |A 114|notwendige Stelle in dem großen Zusammenhang aller sozialpädagogischen Maßnahmen zugewiesen, deren jede nur eigentlich wirksam werden könne, wenn sie Teil einer umfassenden sozialpädagogischen Planung sei. Auch die exponierteste Maßnahme, die Gefängnisreform, bleibe unwirksam,
wenn nicht alle aufgeklärten Männer und alle Regierungen, welche den Zweck ihrer Einrichtungen begreifen, ihre Kräfte vereinigen, um so viel als möglich die Quellen der Verbrechen zu stopfen ... Ich wünschte, daß diese Versammlung durch irgendeinen Beschluß anerkennte, daß das Pönitentiarsystem niemals im Stande ist, den allgemeinen Zweck, den wir erstreben, zu verwirklichen, wenn es nicht zugleich mit anderen Einrichtungen zur Vermeidung und Verhütung der Verbrechen in Verbindung gesetzt wird
561
|A 165| 561Verhandlg. d. 1. Versammlung für Gefängnisreform 1846, S. 265.
. So wurde immer wieder besonders auch aus den Erfahrungen der Rettungshäuser und Gefängnisse ein systematischer Zusammenhang aller Maßnahmen gefordert mit ausdrücklicher Betonung einer vorbeugenden Jugendhilfe in der Gestalt von
Wiederholungsschulen, Kleinkinder-Bewahranstalten ... Beschäftigungsanstalten für Arbeits- und Verdienstlose
562
|A 165| 562
Müller, Christl. Besuche, S. VI
; vergl. auch Spangenberg, Besserung, S. 52.
, Jünglingsvereinen und Sonntagsschulen.
Viel wichtiger (als Bestrafung und Besserung, d. Verf.) ist es, durch Aufmerksamkeit auf die frühe Jugend, durch allgemeine Verbreitung einer richtigen Behandlung derselben in der Schule und in dem Hause, durch Benutzung des Einflusses auf die Erwachsenen, welcher den Orts-Verwaltungsbehörden, den Predigern, und den Schullehrern, durch ihre amtliche Stellung gewährt wird, die Quellen zu verstopfen, aus welchen die verbrecherischen Handlungen der Jugend hervorgehen, und welche ihren Ursprung, meist in einer ziemlichen Entfernung von den begangenen Verbrechen selbst haben
563
|A 165| 563
Jahrb. d. Gefängniswesens, Bd. II, S. 160.
. Vom Problem der Verwahrlosung ausgehend, die eigentlich
verhindert werden konnte
564
|A 165| 564Hirscher, Die Sorge für sittl. verw. Kinder, S. 8.
, zielen alle diese Überlegungen darauf hin,
daß es unendlich gescheiter und wirksamer sei, diesem Anfang zu wehren, als die bereits verkommenen Sünder verjüngen zu wollen
565
|A 165| 565
ebd.
:; vergl. auch
Falk, Erziehungsschriften, S. 119
, der sogar entsprechende fiskalische Erwägungen anstellt: Nach dem Verfahren der Großherzoglichen Kammer, die das Geld für Jugendhilfsmaßnahmen sparen wolle, um es dann in Gefängnissen anlegen zu müssen,
kosten Brot, Wasser, Kofent, Schande, Prügel jährlich 52 Thr. 16 Gr. 6 Pfg. bar Geld. Im Institut der Freunde in der Not kostet dagegen Brot, Suppe, Rindfleisch, Ehre, Bibel und Gesang jährlich einundzwanzig Taler
; oder –
zit. bei Reis, J. Falk, S. 66:
Was der Staat im 8., |A 166|9. und 10. Jahre an solchen Kindern erspart, wird er im 15., 16. und 17. doppelt, dreifach und vierfach ausgeben müssen
.
.

3. Unterstützung und soziale Eingliederung

[005:302] Ohne direkten Bezug auf die, solche Überlegungen unter Umständen bedingenden oder hervorrufenden gesellschaftlichen Zustände und darin gerade von dem Gedanken einer vorbeugenden Jugendhilfe unterschieden, sind diejenigen pädagogischen Ideen, in denen sich Maßnahmen der Jugendhilfe als organischer Bestandteil des Erziehungswesens ankündigen, begründet lediglich als Konsequenz der notwendigen Vollständigkeit des Erziehungsprozesses. In diesem Zusammenhang erhielt die Jugendhilfe einen unmittelbar positiven Sinn, sie entbehrte von vornherein jenes Nothilfe-|A 115|Charakters des oben dargestellten Ansatzes, wenngleich wir vermuten können, daß solche Gedanken in diesem Falle, wenn sie sich die gesellschaftliche Eingliederung des Jugendlichen zum ausdrücklichen Ziele machen, mit den sozialen Veränderungen in einem ursächlichen Zusammenhang stehen.
[005:303] Den in einem systematischen Zusammenhang begründeten und zugleich klarsten Ausdruck fanden Überlegungen dieser Art in den pädagogischen Vorlesungen Schleiermachers aus dem Jahre 1826. Schleiermacher fragt:
Soll nun alle pädagogische Tätigkeit für beide Teile (für die Jugend der Volksschule und der Bürgerschule, d. Verf.), sobald sie die Schule verlassen haben, aufhören, ausgenommen die Einwirkungen, welche von der Familie und von dem Leben überhaupt, namentlich insofern es den Beruf betrifft, ausgehen?
566
|A 166| 566Schleiermachers Päd. Schr., Bd. I, S. 351.
Wenn nun – so antwortet er – in einer Gesellschaft ein
gemeinschaftliches Gesamtleben
,
der Sinn für höhere Gemeinschaft
567
|A 166| 567ebenda
existiert, so sei es eine Sache der Konsequenz, dieses
gemeinschaftliche Leben
auch nach der Schulzeit
zu erhalten und fortzusetzen
568
|A 166| 568ebenda
. Die Erziehung also kann mit der Entlassung aus den allgemeinbildenden Schulen keineswegs abgeschlossen sein; vielmehr beginnt gerade damit eine höchstnotwendige Erziehungsperiode, deren Aufgabe in besonderer und auf das konkrete gesellschaftliche Leben bezogener Weise in der sozialen Integration besteht. Selbst wenn in einer bestehenden Gesellschaft ein
öffentliches gemeinschaftliches Leben
noch nicht, somit ein unvollkommener gesellschaftlicher Zustand herrsche, bleibe die Forderung einer Gemeinschaftserziehung im Jünglingsalter aufrecht erhalten, um dann gerade jenes
gemeinsame Leben in der Gesellschaft vorzubereiten
569
|A 166| 569
a. a. O., S. 352
. Wie weit in dieser Stelle Sozialkritik im Spiele ist und auf einen faktischen Mangel der Gesellschaft hingewiesen werden sollte, kann hier nicht entschieden werden. Der Hinweis jedenfalls scheint uns bemerkenswert, besonders da sich auch hier die Erziehung der Jugend als ein Mittel zur Herbeiführung besserer sozialer Zustände darstellt.
. Auch der pädagogische Funktionsverlust des
Hauswesens
als Berufsstätte wurde von Schleiermacher indirekt konstatiert, wenn er schrieb, es könne nicht
alle Bedürfnisse befriedigen
, die von den gesellschaftlichen Anforderungen geweckt werden und bedürfe daher
eines Supplements, das wohl am besten in einem gemeinsamen Leben der Jugend selber gegeben sein möchte
570
|A 166| 570ebenda
.
[005:304] Dieses
gemeinsame Leben der Jugend
müsse in zwei verschiedenen Formen auftreten: als berufsbildende Maßnahme,
Gemeinschaft des Unterrichts
571
|A 166| 571ebenda
, und als freie Tätigkeit und Spiel, als
gymnastische Übungen
572
|A 166| 572a. a. O., S. 354.
.
Es repräsentiert alsdann diese Gemeinschaft für die Jugend das Gebiet der Geselligkeit
573
|A 166| 573ebenda
.
[005:305] Solche, an sich recht allgemein gehaltenen Ausführungen Schleiermachers erscheinen in einem besonderen historischen Licht, wenn man bedenkt, daß sie sich ja an bereits vorhanden gewesene Einrichtungen anschließen konnten. Auf dem Gebiete der Berufsbildung und -Förderung wurde an vielen Orten die Jugend – als
Supplement
der Ausbildung in der Arbeitsstätte – |A 116|in Gruppen und Sonntagsschulen zusammengefaßt, Vereine zur Pflege der Geselligkeit waren entstanden und besonders die Turnbewegung Jahns hatte viel Aufsehen erregt. Wir können daher – wenn auch mit einiger Zurückhaltung – behaupten, daß die Jugendhilfe – so wie wir den Begriff in diesem Abschnitte verstehen – hier im Ansatz ihre erste systematische Begründung im Zusammenhang einer allgemeinen Pädagogik erfahren hatte.
[005:306] Wenn auch systematische Begründungen dieser Art – außer andeutungsweise bei Fröbel, in geringfügigen Ansätzen auch bei Jahn574
|A 166| 574vergl. Jahn, Deutsches Volksthum, S. 131 ff. und 261 ff.
– sonst fehlen, so finden wir doch Hinweise genug auf die Notwendigkeit jugendpflegerischer und ähnlicher Einrichtungen, die sich nicht von dem Gedanken der sozialen Gefährdung, sondern einzig und allein von ihren positiven Aufgaben herleiten. So forderte Diesterweg – in einer Interpretation Jahnscher Ideen – eine Begründung der freien Jugendgemeinschaft durch die in ihr enthaltenen
stillbildenden Momente
575
|A 166| 575
Diesterwegs ausgew. Schr., Bd. I, S. 372 f.
; vermutlich
stilbildende Momente
.
, die Möglichkeit einer
Bildung des Charakters ... auf dem Wege natürlicher Wechselwirkung
.
Die Bildung soll nicht gemacht
, sondern der junge Mensch
soll zu natürlicher Tätigkeit veranlaßt werden, daß er sich selbst aus sich herausarbeite
576
|A 166| 576a. a. O., S. 373.
. Aber nicht nur auf die charakterbildenden Funktionen der Jugendgemeinschaft577
|A 166| 577Auch die Kindergärten werden hier von Diesterweg mit einbegriffen.
kommt es ihm an, sondern – und darin Schleiermacher sehr verwandt – auch
die Hervorhebung der sozialen Richtung und gesellschaftlichen Bildung durch gemeinsames Leben der Jugend aus allen Ständen
578
|A 166| 578
a. a. O., S. 370
. Der Unterschied zu Schleiermacher allerdings besteht in der von diesem aufrecht erhaltenen Trennung der Stände; vergl. Schl. Päd. Schr., Bd. I, S. 354.
sei eine wesentliche, die Notwendigkeit solchen Gemeinschaftslebens hinreichend begründende Aufgabe.
[005:307] Die schon erwähnte Polemik gegen eine rein intellektuelle Bildung ist in solchen Argumentationen offensichtlich auch enthalten. Das Erziehungsziel dieser Jugendgemeinschaften, moralische und körperliche Ausbildung, wurde gegen eine rein schulische Bildung ausgespielt. Stein schreibt:
Nach meiner Überzeugung wirkt öffentliches Leben mehr als Universitäten und Gymnasien ... auf die Vollendung der Erziehung eines Volkes
579
|A 166| 579Pertz, Das Leben d. Ministers Frh. vom Stein, Bd. VI, 2, S. 715.
. Die politisch-praktische Erziehung – auf eine solche nämlich spitzen sich viele Gedanken in diesem Zusammenhange zu – mußte sich in anderen Formen, als denen der Schulstuben abspielen.
Die Erziehung muß dahin wirken, daß der Mensch nicht allein mechanische Fähigkeiten und einen Umfang von Wissen erlange, sondern daß der staatsbürgerliche und kriegerische Geist in der Nation erweckt und die Kenntnis kriegerischer Fertigkeiten durch Unterricht in gymnastischen Übungen allgemein verbreitet werde
580
|A 166| 580a. a. O., Bd. II, S. 431.
. So exponiert und geschichtlich bedingt eine solche Äußerung auch ist, als eine Forderung politischer und sozialer Ausbildung der Jugend gehört sie in unseren Zusammenhang; Charakterbildung, Gemeinschaftsbildung und politisch-|A 117|nationale Bildung waren die positiven Ziele, die der Jugendgemeinschaft zugesprochen wurden. Nichts sei geeigneter, diese Zwecke durchzusetzen,
als freie Vereine ... Durch dergleichen Vereine kann die Schule mit dem Leben vermittelt
581
|A 166| 581Vergl. dazu Schleiermachers Bemerkung, die Jugendgemeinschaft sei eine Fortsetzung der in der Schule begonnenen in das Leben hinein (Päd. Schr. Bd. I, S. 351).
, kann sowohl dasjenige, was in der Schule gelernt worden, erhalten, als auch auf eine naturgemäße, den veränderten Lebensbestimmungen angemessene Weise weiter gebildet werden
582
|A 166| 582Hagen, Über nationale Erziehung, S. 132.
.
[005:308] Mit dieser Darstellung kam es uns nur darauf an, neben dem Gedanken der Verwahrlosungsverhütung das zweite Prinzip hervorzuheben, nach dem sich eine nachschulische Jugendhilfe als Konsequenz eines eigenständigen pädagogischen Zusammenhanges ergibt, nicht aber darauf, dieses Prinzip bis ins Einzelne zu verfolgen und in seiner ganzen Verbreitung in der zeitgenössischen Literatur darzustellen. Nur das galt es hier festzustellen, daß für die Entstehung wie für die weitere Entwicklung jene zwei Prinzipien von ausschlaggebender Bedeutung waren: die Gefährdung des jugendlichen Daseins durch die in der geschichtlichen Situation begründeten sozialen Zustände, Jugendhilfe als Nothilfe – und die Lückenlosigkeit des Erziehungsprozesses bis zum Erwachsenendasein, die nicht durch wie auch immer geartete geschichtliche Umstände, sondern durch eigenständige, aus dem Erziehungsprozeß selbst gewonnene Kriterien begründet wurde583
|A 166| 583Demgegenüber ist die konkrete und inhaltlich fixierte Aufgabenstellung, etwa einer politisch-patriotischen Erziehung in dieser nachschulischen Periode, erst eine sekundäre Entscheidung, die die Schleiermachersche Begründung in keiner Weise aufzuheben braucht.
.

4. Jugendpflegerische Maßnahmen

[005:309] Unter solchen Voraussetzungen entfaltete sich eine vielgestaltige Aktivität auf dem Gebiet der Jugendhilfe. Das weite Feld der Möglichkeiten wurde – wenigstens theoretisch – abgeschritten, wenn es auch nur in bestimmten Bereichen dieser Arbeit zu dauerhafteren Einrichtungen kam. Aus der Gesellschaft der Aufklärung waren Formen des geselligen Verkehrs überliefert, die nun ausgebaut und in die sozialpädagogische Praxis übertragen werden konnten. Die Form literarischer Zirkel und Gesellschaften wurde sozial umgedeutet und in neuen Zusammenhängen als Mittel zur gesellschaftlichen Ertüchtigung der breiten Volksschichten, des Handwerkerstandes und der Arbeiterklasse, vor allem aber der Jugend, angewandt.
[005:310] Über die Gestaltung eines solchen Vereinslebens schreibt Hagen:
Die Einrichtung wäre folgendermaßen zu treffen: alle acht Tage etwa hält der Verein eine Sitzung; anstatt daß die Leute das Wirtshaus besuchen, gehen sie in den Verein; sie können dabei auch trinken, wenn sie wollen, nach altgermanischer Sitte. Hier hält dann der Eine oder der Andere einen Vortrag über einen beliebigen Gegenstand, worüber sich eine Diskussion eröffnen kann. Außerdem, daß sich die Leute dadurch belehren, haben sie dabei noch den großen Vorteil, daß sie sich im freien Sprechen |A 118|üben. Der Verein müßte auch Zeitungen und Bücher anschaffen, die jedem Mitgliede zum Lesen dargereicht werden; kleinere Broschüren und dergl., die von Wichtigkeit sind, könnte man gleich im Verein vorlesen. Gut wäre es auch, wenn einer etwa ein Vierteljahr oder ein halbes hindurch Vorträge hielte über einen größeren Gegenstand, wie z. B. über Geschichte, über die Handelsverhältnisse, über die Staatsverfassungen verschiedener Länder usw., um den Mitgliedern eine zusammenhängende Kenntnis zu verschaffen
584
|A 166| 584Hagen, Über nationale Erziehung, S. 134.
. Zwar hat es den Anschein, als sei hier eine Institution intendiert, der es lediglich auf intellektuelle Bildung ankomme; es kann aber kein Zweifel sein, daß der eigentliche Zweck einer sozialerzieherischen Absicht folgte, in diesem Falle sogar in einem prägnant patriotischen Sinne.
[005:311] Das Neuerwachen von Bildungs- und Lesevereinen auf einer volksnahen Ebene wurde als eine
erfreuliche Erscheinung, als die Morgenröte einer besseren Zukunft ... und als Zeichen, daß der vaterländische Geist nach langer Erstarrung sich wieder zu entwickeln beginnt
, begrüßt585
|A 166| 585
E. S., Über Lesevereine in Deutschland, in DV 1839, S. 239
.
. Was mit solchen Einrichtungen bezweckt wurde, war
geradezu eine Veredelung der Gesinnung
586
|A 166| 586Baseler Preisschrift, S. 92.
, und zwar wesentlich nicht durch die stattfindende
Belehrung
, sondern durch die in solchen Gruppenbildungen vonstatten gehende Erziehung zu einem sozialen Verhalten:
Durch die Verbindung der literarischen und geselligen Richtung werden aber ältere und jüngere, ernste und lebenslustige Personen zusammengehalten ... und wird zugleich eine anständige sittenveredelnde Annäherung jüngerer Personen beider Geschlechter ... möglich gemacht, die für die Erziehung und die künftige Versorgung von so großem Wert sein kann. Was Sitte und Anstand sei an einem Ort, bestimmt ein solcher Verein ... Ein solcher Verein ist daher für den Einzelnen die vermittelnde Stelle nicht bloß mit der literarischen, sondern mit der ganzen gebildeten und geselligen Welt
587
|A 166| 587
E. S., a. a. O., S. 242
; vergl. auch den Vorschlag einer
Jugendbibliothek
, Baseler Preisschrift, S. 106.
. Damit wird aber die Beschäftigung mit dem Bildungsgut, in diesem Falle der Literatur, zum Mittel, ein soziales Zentrum zu schaffen, das letzten Endes seinen Sinn nicht in einer Wissensbereicherung, sondern in einer umfassenden gesellschaftlichen und pädagogischen Aufgabe sieht.
[005:312] Es waren nicht nur die Sorge und die Interessen der Erwachsenengeneration, die diese Entwicklung einleiteten und vorantrieben. In der Jugend selbst erwachte der Wunsch und das Bedürfnis nach Teilhabe an den neuen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Möglichkeiten.
Verkennen dürfen wir es nicht, daß hier Bedürfnisse vorhanden sind, welche Befriedigung erheischen und auf eine oder andere Weise auch finden werden
588
|A 166| 5885. ev. Kirchentag, S. 53.
. Das Interesse der Jugend allerdings konzentrierte sich zunächst auf neue Bildungsmöglichkeiten im gewerblichen Bereich; die struk|A 119|turelle Veränderung der ursprünglich rein religiösen Zielen dienenden Sonntagsschulen zu gewerblichen Bildungseinrichtungen kam dem entgegen589
|A 166| 589S. Thyssen, Berufsschule, S. 49 ff; vergl. auch Schulze-Gävernitz, Zum sozialen Frieden, S. 50.
. Aus Westfalen beispielsweise wurde von solchen, auf die Handwerksausbildung eingestellten Sonntagsschulen berichtet:
Der gute Fortgang und Erfolg dieser Sonntagsschule590
|A 166| 590Eine 1822 in Münster versuchsweise errichtete Sonntagsschule.
gab nun Veranlassung, an mehrern andern Orten ähnliche Anstalten zu errichten. Bis jetzt (1830, d. Verf.) ist dieses zu Paderborn, Warendorf, Soest, Hamm und Dorsten geschehen
591
|A 166| 591Die Lehr- und Erziehungs-Anstalten d. Prov. Westphalen, S. 155.
.
Der Eifer, womit die Schüler sich zur Aufnahme in diese Schulen drängen (mehrere derselben machen aus den benachbarten Örtern des Sonntags einen Weg von 3 – 5 Stunden zur Schule) und die Lehrmeister ihre Gesellen und Lehrlinge zur Benutzung des Unterrichts ermuntern, liefert einen sprechenden Beweis, wie sehr das Bedürfnis solcher Anstalten gefühlt und der mannigfache Wert derselben erkannt wird
592
|A 166| 592
a. a. O., S. 156
. Die Schülerzahl wird
a. a. O., S. 155 f.
wie folgt angegeben: Paderborn 79, Soest 90, Hamm 60, Warendorf 116, Dorsten 40. Diese Sachverhalte – eigentlich in eine Geschichte des Berufsschulwesens gehörig – sind in diesen Anfängen von der Entwicklung der Sozialpädagogik nicht zu trennen.
.
[005:313] Es handelt sich dabei um Bedürfnisse der Jugend und Erfordernisse der gesellschaftlich-kulturellen Situation, deren Befriedigung – darin sind sich alle sozialpädagogischen Bereiche gleich – von Familie, Schule und Arbeitsstätte nicht mehr zu leisten war.
Niemand ist da, der verbessern soll, was die häusliche Erziehung versäumt und verdorben hat
593
|A 166| 593Baseler Preisschrift, S. 104.
, die Schule sei durch ihren begrenzten Aufgabenbereich, die höheren Schulen auch durch die Spezialisierung der Lehrkräfte nicht imstande, die weitergehenden Aufgaben einer Erziehung zur Gesellschaftstüchtigkeit zu erfüllen. So solle die Sonntagsschule als sozial-fürsorgerische Einrichtung vor den Gefahren der Stadt, der Straße, allgemein der Verwahrlosung bewahren594
|A 166| 594a. a. O., S. 104 f.
, die fachliche Ausbildung des Handwerkers ergänzen595
|A 166| 595Vergl. Die Lehr- und Erz. -Anst.
, die Möglichkeit einer intellektuellen Betätigung øoder in gelenkter Geselligkeit die freie Zeit des Jugendlichen sinnvoll ausfüllen, der Kirche die Möglichkeit einer religiös-sittlichen Beeinflussung geben oder gar die Aufgabe politischer Bildung erfüllen596
|A 167| 596
Vergl. Hagen, Über nationale Erziehung, S. 138
: Solche Einrichtungen seien
um so notwendiger, weil in der Schule ... von Politik keine Rede ist und auch nicht zu sein braucht. Aber daß eine politische Bildung jedem vonnöten ist, der in allen Beziehungen wahrer Mensch sein will, wird auch von niemandem bestritten werden
. Hagen schlug vor, den Anfang solcher politischer Bildung
in den Sonntagsschulen zu machen, die doch allenthalben in Deutschland existieren
.
. Einer solchen Überbürdung freilich konnte sie nicht gewachsen sein; im Grund war sie nur als Instrument der Kirche oder der gewerblichen Fortbildung brauchbar.
[005:314] Diese Verschiedenheit in der inhaltlichen Zielsetzung traf in ähnlicher Weise auch für die Jugendvereine jener Jahrzehnte zu. Die vorhandene, gerade entstandene Form als Bedingung einer erzieherischen Möglichkeit wurde das Mittel zur Durchsetzung der verschiedensten Inhalte. Die berufliche Fortbildung spielte auch hier eine große Rolle und bestimmte den Charakter sehr vieler Vereine. Die weitaus größte Verbreitung aber fanden diejenigen mit ausgesprochen sozial-ethischer Zielsetzung, mehr oder weniger deutlich christlich auch in den Formen der Vereinslebens, wie sie etwa im Rheinisch-Westphälischen Jünglingsbund |A 120|zusammengeschlossen waren597
|A 167| 597Vergl. 5. ev. Kirchentag, S. 49 ff.; K. Krummacher, Die evang. Jünglingsvereine.
. Aber auch die Turn- oder Gesangsvereine sind unter diesem Aspekt zu betrachten, und die jeweils gepflegten Inhalte waren neben ihrer sachlichen Relevanz immer auch Mittel zu einem sozialerzieherischen Zweck598
|A 167| 598Eine typische Interpretation der Gesangvereine findet sich in der Baseler Preisschrift: Der Gesang sei ein Mittel zur Gesunderhaltung des Volkes und seiner Sittlichkeit
(S. 45 f.)
;
wo würdiges gesungen wird, ist Friede, Freude, Tugend, Segen. Der Gesang schließt sich gern und leicht allem Erlaubten und Edlen, dem Wein, dem Frohsinn, der Liebe, dem Familienfeste, der Natur, dem Hause, der Kirche an
und sei somit ein Mittel zur sozialen Integration
(S. 47)
, ein Mittel gegen die Gefahren der Fabrik, der Proletarisierung (!!)
(S. 78, 112)
.
.
[005:315] Die dauerhafteste Institution dieser Art war der Gesellenverein Kolpings, der die Erfahrungen der Jünglingsvereine mit der institutionellen Struktur von Sonntagsschulen und Klubhäusern bewußt verband599
|A 167| 599Ausgedehnte Überlegungen über die zweckmäßige Einrichtung des Vereins finden sich vor allem in: Aus Kolpings Briefen, Eine Auslese, von Th. Brauer, Köln 1935.
ø und der sich auf einen deutlich formulierten sozialethischen Inhalt verpflichtete. Er stellte ein
geselliges und bildendes Casino unter der Leitung eines Präses
dar600
|A 167| 600
An den Oberbürgermeister von Trier, 12.2.1853, a. a. O., S. 9
.
. Das Grundprinzip war
mögliche Freiheit in den Schranken der Ordnung
601
|A 167| 601
Undatierter Brief an einen Straßburger Geistlichen, a. a. O., S. 11
.
. Diese Ordnung war durch das Leitbild der patriarchalen Handwerksfamilie eindeutig bestimmt. Mit dem Gesellenverein verfolgte Kolping zunächst einen sozial-fürsorgerischen Zweck, wenn auch im Sinne einer reinen Vorbeugung und keinesfalls als Beseitigung etwa schon eingetretener Verwahrlosung. Die Motive, die zu der besonderen Struktur dieser Einrichtung führten, waren klare standespolitische Interessen, die Regeneration einer ursprünglichen Handwerksgesinnung und -Institution als Reaktion gegen den Prozeß der Industrialisierung; ferner die Erneuerung des Familienlebens durch eine vorwegnehmend zur Familie hinführende Einrichtung des Vereins, der seinem Sinne nach familienhafte Züge trug; und schließlich auch religiös-volkserzieherische Absichten, ähnlich den Bestrebungen der
Inneren Mission
. In dieser gelungenen institutionellen Verbindung von verpflichtenden Inhalten, konkret gesellschaftlichen Zwecksetzungen und geselligem Gemeinschaftsleben sehen wir den wesentlichen Beitrag Kolpings zur Sozialpädagogik602
|A 167| 602Vergl. besonders A. Kolping, Der Gesellenverein. Zur Beherzigung für alle, die es mit dem wahren Volkswohl gut meinen, Köln 1849; Ders., Der Gesellenverein und seine Aufgabe, hersg. von J. Nattermann, Köln 1921; A. Kolping spricht, Eine Auswahl aus seinen Schriften, hersg. von A. Stiefvater, Heidelberg 1947; ferner Joh. Nattermann, Adolf Kolping als Sozialpädagoge und seine Bedeutung für die Gegenwart, Leipzig 1925.
.
[005:316] Alle volkserzieherischen Funktionen, die solche Einrichtungen603
|A 167| 603In diesem Zusammenhang müssen die sogenannten Kleinkinder-Bewahranstalten, Vorläufer des späteren Kindergartens, wenigstens erwähnt werden. Sie waren eine direkte Folge der neuen Arbeitsverhältnisse und in ihren Anfängen eindeutig Fürsorge-Institutionen. In den 20er Jahren schon war die Diskussion um diese Einrichtung in vollem Gange. Von den alten Formen der Fürsorge setzte man sich aber auch in diesem Bereich bewußt ab und versuchte, eine pädagogische Gestalt zu gewinnen. Die Einrichtung von Kleinkinder-Bewahranstalten bedeutete in besonderem Maße das Eingeständnis, daß die Familie in ihrer pädagogischen Leistungsfähigkeit eine erhebliche Einbuße erlitten hatte. Vergl. dazu Wirth, Mitteilungen ..., Ausburg 1840; Weiß, Über Beurtheilung; Wessenberg, Die Elementarbildung des Volkes; Jahrbücher des Gefängniswesens, Bd. I, 1829; C. H. Zeller, Lehren der Erfahrung.
zu übernehmen imstande waren, scheinen sich dem Zeitgenossen im Idealbild des umfassenden Volksfestes repräsentiert zu haben als in einem Schauspiel erzieherischer Leistungen und einem letzten Mittel, eine in sich geschlossene, überschaubare, intakte Gesellschaft zu bewahren oder wiederzugewinnen604
|A 167| 604a. a. O., S. 39, 52 ff.; Hagen, a. a. O., S. 135; vergl. ferner auch Arndt, Jahn und Kolping.
. Die Tendenz dieser Bemühungen sprach Hagen zusammenfassend richtig aus: Es würde auf diese Weise
das Gefühl der Gemeinsamkeit, das Bewußtsein, einem größeren Ganzen anzugehören ... erst seine Befestigung erhalten, und dann würde es nicht leicht mehr verschwinden. Dieses Gefühl aber zu erzeugen, nicht nur im Kinde, im Jünglinge, sondern auch im Manne, muß am Ende die Aufgabe der wahren Erziehung sein: denn darauf muß doch zuletzt alle Menschenbildung ausgehen, den Menschen zum Manne im wahren Sinne des Wortes, zum Mitgliede einer höheren Gemeinschaft, zum Staatsbürger, zum Patrioten heranzuziehen
605
|A 167| 605Hagen, Über nationale Erziehung, S. 134.
.
|A 121|

Schluß: Probleme einer Theorie der Sozialpädagogik

1. Die ideologischen Momente der Sozialpädagogik

[005:317] In der Einleitung stellten wir fest, daß der Begriff von Sozialpädagogik, dem diese Untersuchung sich zunächst anschloß, durch eine dreifache geschichtliche Abhängigkeit gekennzeichnet ist: durch die Deutung der jüngeren Sozialgeschichte als Vorgang des Kulturverfalls, durch den Hintergrund einer neu entwickelten pädagogischen Praxis und durch den Impuls zu einer umfassenden sozialen Regeneration. Die Haltbarkeit der in diesem Begriff enthaltenen Theorie, ihre Gültigkeit über die geschichtliche Ursprungssituation hinaus muß noch nachgeprüft werden, um so einen Begriff zu gewinnen, der sich lediglich an der Sache, nicht aber an wechselnden Ideologien orientiert.
[005:318] Das aber – diese ideologische Position – war der entscheidende Antrieb in den Anfängen der Sozialpädagogik, wie wir sie im Vorangegangenen darzustellen versuchten. Aus der Tatsache, daß die Sozialnormen jener Generation und die soziale Wirklichkeit divergierten, erwuchs eine, speziell auf diese soziale Wirklichkeit gerichtete pädagogische Intention. Die Abwertung eigener Gegenwart, ihre Interpretation vom Standpunkt einer
unangepaßten
Theorie her, weckte die Energien zu deren Überwindung. Im Begriff
Verwahrlosung
kam dieser Sachverhalt anschaulich zur Geltung. Er ist das Symptom einer Bewußtseinshaltung, die auf Grund feststehender Vorstellungen eines intakten Sozialorganismus alle Abweichungen negativ akzentuiert und daher Anstalten zu deren Beseitigung trifft, bzw. deren Ursache in einer Fehlentwicklung der Gesamtgesellschaft aufsucht und die pädagogische Aufgabe entsprechend formuliert. In diesem Zusammenhang erhält jede einzelne sozialpädagogische Maßnahme ihren Stellenwert606
|A 167| 606Diese These vom ideologischen Ursprung der Sozialpädagogik wird noch gestützt durch die Tatsache, daß gerade die fortschrittlichen, der industriellen Entwicklung schnell sich anpassenden Kreise pädagogisch unproduktiv waren und optimistisch auf die Entwicklung und |A 168|die Wirksamkeit der traditionellen Erziehungswege und -Institutionen vertrauten. Zur positiven Funktion der Ideologien als
geistiger Energien
vergl. auch H. Nohl, Jugendwohlfahrt, S. 1 ff. und E. Weniger, Die Gegensätze in der modernen Fürsorgeerziehung.
. Für die Entstehung der Sozialpädagogik also erwies sich der Hiatus zwischen gesellschaftlicher Realität und nachhinkendem Bewußtsein als außerordentlich fruchtbar.
[005:319] Damit waren prinzipiell alle diejenigen Ansätze entwickelt, deren institutionelle Durchführung und Ausgestaltung wir in der Sozialpädagogik der Gegenwart antreffen. Sie haben ihren Ursprung in der eigentümlichen Verbindung sozialgeschichtlicher Tatsachen und geistesgeschichtlicher Strömungen, aus denen sich die Grundprobleme dieser Sozialpädagogik als einem pädagogischen Bereich, der der Gesellschaft neu dazu gewonnen war, |A 122|entwickelten. Dieser Bereich, seine Theorie und seine Praxis, ist mit der Struktur dieser Gesellschaft untrennbar verknüpft. In der kritischen Übergangszeit, die keineswegs auf jene hier dargestellten Jahrzehnte beschränkt blieb, trat sie zunächst und überwiegend in der Form reiner Nothilfe auf, als Korrektur sozialer Entwicklungsschäden, die die Gesellschaft während ihres Umwandlungsprozesses mit den vorhandenen Mitteln selbst nicht mehr bewältigen konnte. Wie weit aber dieser Sachverhalt auch für die Gegenwart noch zutrifft, und wie das durch die soziale Situation gestellte sozialpädagogische Probleme heute möglicherweise zu fassen bzw. eine sozialpädagogische Theorie anzusetzen sei, bleibt uns noch abschließend anzudeuten.
[005:320] Diese besondere Form sozialpädagogischer Haltung fand eine spezifische Ausprägung auch in der umfassenden Intention der Volkserziehung. Indem man von der Symptom- zur Ursachenbekämpfung fortschritt, wurde das Volksganze zum Gegenstand der Erziehung. Die Erneuerung des Volkslebens und seiner gesellschaftlichen Ausdrucksformen und Organe war die leitende Idee aller sozialpädagogischen Maßnahmen; in ihr erfuhren diese ihren einheitlichen Zusammenhang. Die besonderen Schwierigkeiten, die mit dem Entstehen der Industrie-Gesellschaft auftauchten, wurden als soziale Organminderwertigkeiten interpretiert, zurückzuführen auf eine Schrumpfung der sittlich-religiösen Potenz; die Aufgabe einer ethisch-sozialen Regeneration wurde daher als eine pädagogische Aufgabe angesehen; das Problem der modernen Gesellschaft galt als ein pädagogisches Problem, die soziale Frage war unter diesem Gesichtspunkt eine Erziehungsfrage. Gleichgültig, ob es sich um die Bekämpfung von Verwahrlosung und Kriminalität, um die Humanisierung der Industrie-Arbeit, die soziale Befriedung des Proletariats, die Überwindung der Standes- und Klassengegensätze, die Erhaltung gesunden Familienlebens, die Aufgabe neuer Gemeindeordnungen handelte: immer wurden diese Einzelaufgaben aus einer primär pädagogischen Verantwortung und Intention abgeleitet, die sich nicht nur auf den einzelnen Notstand, sondern auf das gesellschaftliche Ganze richtete.
[005:321] Die Einheit aller sozialpädagogischen Maßnahmen bestand somit in dieser Aufgabe gesellschaftlicher Regeneration. Die gemeinsamen Ursachen aller sozialen Notstände wurden in der Verwahrlosung, dem Abweichen von den Normen sozialethischen Verhaltens gesehen; die gemeinsame Verantwortung ging angesichts einer solchen Bewertung der Gegenwart als die Verpflichtung zu umfassender Erziehungshilfe, zu einer humanen Lebensordnung auf; diese, eine wieder gewonnene organische Volks- und Gesellschaftsordnung, war das gemeinsame Ziel. Die Träger dieser Sozialpädagogik waren im wesentlichen Gemeinden, Vereine und |A 123|einzelne Erzieher. Unter ihrer Obhut wurde die Vielfalt sozialer Hilfsmaßnahmen, Fürsorge, Unterstützung, Bewahrung, Erziehung, als eine einheitliche volkspädagogische Aufgabe verstanden. Was sich heute als spezialisierte Maßnahmen unter verschiedenen Bezeichnungen institutionalisiert hat, etwas als Sozial-, Jugend oder Gesundheitsamt, das galt, durch die mit der Erziehungsabsicht verbundene umfassende Sozialkritik, als die eine Erziehungspflicht zu sozialer Erneuerung und Gesundung.

2. Die Aufgabe einer Entideologisierung des sozialpädagogischen Ansatzes

[005:322] Es ist nun zu fragen, ob dieser strukturelle geschichtliche Zusammenhang von sozialpädagogischer Maßnahme und ideologischer Position der Sache nach notwendig und infolgedessen für die Bestimmung der Sozialpädagogik unerläßlich ist. Ein bestimmtes Verhältnis zur eigenen Gegenwart, eine bestimmte Interpretation der gegenwärtigen sozialen Zustände wäre in jenem Falle die Voraussetzung für das Vorhandensein von Sozialpädagogik. Mit der Lösung der
sozialen Fragen
im weitesten Sinne des Wortes auf Grund einer gesamtgesellschaftlichen Neugestaltung wäre jene Diskrepanz von Bewußtsein und Wirklichkeit aufgehoben, die wir die ideologische nannten; die Sozialpädagogik hätte sich selbst überflüssig gemacht.
[005:323] Eine Entscheidung in dieser Frage wäre schneller zu finden, hätte sich die aufgewiesene ideologische Struktur auf die Ursprungssituation beschränkt. Im Zusammenhang mit Kulturkritik und Jugendbewegung tauchte sie aber in neuer Gestalt in der Sozialpädagogik wieder auf als ein zentrales Motiv sozialpädagogischer Arbeit; nun zwar nicht mehr als Behauptung ständisch-patriarchaler Leitbilder, sondern in der allgemeineren Form sozialreformerischer Ideen607
|A 168| 607Die Darstellung dieser Ideen, soweit sie in der sozialpädagogischen Literatur unseres Jahrhunderts enthalten sind, überschreitet den Rahmen dieser Arbeit. Sie lassen sich aber besonders in den von der Jugendbewegung und vom Sozialismus beeinflußten Kreisen der Sozialpädagogen nachweisen, so etwa bei C. Mennicke; ferner bei den Theoretikern der sozialen Berufsausbildung G. Bäumer, M. Offenberg, A. Salomon; schließlich in den Äußerungen aus d. sozialpäd. Praxis (Vergl. Hermann, Die sozp. Bewegung).
und organologischen Gemeinschaftsdenkens608
|A 168| 608Vergl. Fußn. 607). Den deutlichsten Ausdruck fand dieses Denken in der von Tönnies eingeführten Entgegensetzung von Gemeinschaft und Gesellschaft. Es handelt sich dabei im Grunde um eine Wiederaufnahme romantischer Gedankengänge, um die Formalisierung und Systematisierung von Ideen, die ursprünglich durch den konkreten Hintergrund der ständischen Gesellschaft oder aus ihr abgeleiteter inhaltlicher Vorstellungen bestimmt waren. Dieser Vorgang der Formalisierung begann in der Romantik und setzte sich über Jugendbewegung und Kulturkritik im Sinne Tönnies’ in die Sozialpädagogik hinein fort. Vergl. dazu auch G. Lukacs, Die Zerstörung d. Vernunft, S. 466ff.
. Die soziale Entwicklung wurde auch von diesen Positionen her als ein Prozeß der Wertauflösung, die sozialpädagogische Aufgabe im weitesten Sinne als eine erneute Hinführung zu den vorgestellten Sozialnormen verstanden. Der letzte Sinn jeder einzelnen sozialpädagogischen Maßnahme erschloß sich – wie hundert Jahre zuvor – aus der Diskrepanz von Sozial-Theorie und Sozial-Realität als pädagogischer Auftrag zur Gestaltung einer neuen Volksordnung.
[005:324] Das Selbstverständnis der drei in der Einleitung genannten Typen
sozialpädagogischer
Theoriebildung koinzidiert in diesem ideologischen Sachverhalt; die Abwertung sozialer Gegenwart und die Ideen zur sozialen Erneuerung scheinen in der Tat für das Vorhandensein wie für eine Theorie der Sozialpädagogik konstitu|A 124|tiv zu sein. Sozialpädagogik wäre demnach immer abhängig von dieser speziellen Interpretation der sozialen Wirklichkeit; der Begriff wäre somit nicht bestimmt durch eine sachliche pädagogische Notwendigkeit, sondern durch spezifische ideologische Voraussetzungen der erziehenden Generation.
[005:325] Indessen setzen wir mit dem Hinweis auf den ideologischen Charakter solcher Position schon voraus, daß in ihr die soziale Entwicklung, bzw. die Situation der Gegenwartsgesellschaft mit unangemessenen Mitteln, in unangemessener Weise zu erfassen versucht wird609
|A 168| 609Zur Problematik des Ideologie-Begriffs vergl. H. Pleßner, Abwandlungen des Ideologiegedankens, in Zwischen Philosophie und Gesellschaft, S. 218 ff.
. Die jüngere Sozialgeschichte als eine Dekadenzentwicklung zu betrachten, bedeutet zunächst die Anwendung eines Aspektes, der nicht aus dieser Gesellschaft selbst, sondern aus einem nachhinkenden oder vorgreifenden Bewußtsein gewonnen wird. Es ist aber sehr die Frage, ob die sozialpädagogische Praxis eine Sinngebung durch ein derartig interpretierendes Bewußtsein nötig hat. Zumindest kann dieses ideologische Selbstverständnis nicht zu einem systematischen Begriff führen und keine Begründung einer entsprechenden Theorie liefern. Eine solche Theorie bliebe immer an spezifische Voraussetzungen, an diese besondere Interpretation der sozialen Phänomene gebunden.
[005:326] Eine Analyse der modernen Gesellschaft ergibt denn auch, daß es sich um einen neuen Typus gesellschaftlicher Organisation handelt, dem – wenigstens hypothetisch als Bedingung einer sachgerechten Erkenntnis – zunächst eine Eigenwertigkeit zugesprochen werden muß, ohne von vornherein seine Minderwertigkeit, gemessen an einer ehemals anderen oder für die Zukunft erhofften Sozialordnung, zu konstatieren. Daß diese Gesellschaft besondere Schwierigkeiten zu bewältigen hat, ist damit nicht geleugnet. Da diese Schwierigkeiten ihr aber wesensmäßig zugehören, kann der Antrieb zu ihrer Bewältigung, soweit er wissenschaftlich begründet werden soll, nicht aus einer romantischen Negation der industriellen Gesellschaft, sondern nur aus der Besinnung auf die in ihr enthaltenen Möglichkeiten gewonnen werden. Die sozialpädagogische Aufgabe besteht mithin in jedem Falle darin, ein akutes, mit der Struktur der modernen Gesellschaft wesensmäßig gegebenes und im Vergleich zur alten Gesellschaft neues Erziehungsbedürfnis zu befriedigen, das nicht ohne weiteres auf eine Minderwertigkeit, sondern auf eine Andersartigkeit dieser Gesellschaft zurückzuführen ist 610
|A 168| 610Über einer solchen
Entideologisierung
darf allerdings nicht vergessen werden, daß mit der These, es gehe in der Sozialpädagogik um eine neue Volksordnung, ein entscheidender Sachverhalt getroffen ist: mit dem Beginn der industriellen Gesellschaft setzte für die Erziehung eine neue Epoche ein (vergl. dazu neuerdings R. Dahrendorf, Soziale Klassen und Klassenkonflikt in der industriellen Gesellschaft, Stuttgart 1957, S. 63 ff.), nicht nur im Hinblick auf die zentrale Stellung der Bildungseinrichtungen, sondern – was auch von Dahrendorf unberücksichtigt blieb – vor allem durch die Ausweitung ihres Wirkungskreises und ihrer institutionellen Formen. Diese neuen Maßnahmen sozialer Eingliederung als Erziehungsaufgabe im weitesten Sinne erkannt zu haben, ist der positiv pädagogische und bleibende Sinn der These von der Erziehung des Volkes zu einer neuen Volksordnung. Die
Entideologisierung
indessen ist notwendig, da durch jene Orientierung pädagogischer Maßnahmen an romantischen Leitideen das beabsichtigte Ziel, gesellschaftliche Eingliederung, gerade nicht erreicht, sondern verfehlt wird.
. Dieser Verzicht auf Ideologien ergibt sich aber auch als Konsequenz aus dem Selbstverständnis der Pädagogik. Die Formulierung der konkreten gesellschaftlichen Erziehungsaufgabe und ihre Bewältigung nämlich erfordern das Vermögen,
sich im Alltag dieser Erziehung notfalls zunächst einmal unabhängig zu halten von seinen eigenen religiösen, weltanschaulichen und politischen Voraussetzungen ..., ob man sie nun als |A 125|Missionierung und Bekehrung des heillosen Volkes zum Heil oder als Überwindung der bürgerlichen durch die proletarische und dahinter die klassenlose Gesellschaft oder durch andere neue Lebensordnungen
versteht611
|A 168| 611
E. Weniger, Erziehung im Zusammenhang unserer Lebensordnung, in Die Eigenständigkeit der Erziehung ..., S. 363
.
.
[005:327] Noch eine weitere Zurücknahme der in den Anfängen der Sozialpädagogik enthaltenen Voraussetzungen erscheint heute notwendig. In jenen Anfängen konnten – durch die Überschaubarkeit der sozialen Gebilde, den institutionellen Zusammenhang und die Undifferenziertheit der Maßnahmen bedingt – die verschiedensten sozialen Hilfeleistungen unter dem gemeinsamen Aspekt einer Erziehung des ganzen Volkes angegangen werden. Inzwischen hat sich aber nicht nur in dem Prozeß beständiger Differenzierung die Struktur der industriellen Gesellschaft immer deutlicher herausgebildet; auch der Komplex
Soziale Arbeit
612
|A 168| 612Was heute als in sich sehr differenzierte
Soziale Arbeit
bezeichnet wird, war für den in unserer Untersuchung dargestellten Zeitraum ein eindeutig pädagogisch verstandener Komplex von Maßnahmen.
hat sich aufgegliedert, sodaß die ursprünglich pädagogisch verstandene Einheit aller dieser Einzelleistungen nicht mehr der Realität zu entsprechen scheint. Der Versuch der sozialpädagogischen Bewegung der zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts, im Prinzip der
persönlichen Hilfe
613
|A 168| 613Die These, Fürsorge sei
persönliche Hilfe
, entsprang der Praxis der Fürsorgetätigkeit und deren Tradition als Maßnahme der christlichen Caritas. Sie bekam einen polemischen Gehalt dadurch, daß das fürsorgerische Grundanliegen gegen den Trend zur Bürokratisierung |A 169|verteidigt werden mußte. Die Problematik des
Sozialbeamten
wurde daher geradezu auf diesen zu bewältigenden Gegensatz zurückgeführt: Notwendigkeit einer persönlichen Beziehung zwischen Fürsorger und
Klient
einerseits, Fürsorge als Verwaltungstätigkeit mit einem entsprechenden Beamtenapparat andererseits.
Vergl. dazu: Fürsorge als persönliche Hilfe, Festgabe f. Prof. Dr. Chr. J. Klumker
; ferner: C. J. Klumker, Fürsorgewesen; E. Wex, Vom Wesen der sozialen Fürsorge; Polligkeit, Die Bedeutung der Persönlichkeit in der Wohlfahrtspflege, in Die Stellung der Wohlfahrtspflege ...; A. Fischer hat das Problem auf die Formel gebracht;
Beamtentum hat einen unpersönlichen Charakter, soziale Hilfe beruht auf persönlichem Vertrauen
(Die Problematik d. Sozialbeamtentums (1925), in Leben und Werk III/IV, S. 320)
. Vergl. auch
H. Nohl, Jugendwohlfahrt, S. 11
:
Es bleibt gewiß immer eine eigentümliche Schwierigkeit: daß diese Jugendwohlfahrtsarbeit an den Einzelnen sich in Wahrheit vor der Masse sieht, der gegenüber allein Gesetz, Organisation und beamtenmäßige Ordnung durchkommen
. – Diese persönliche Beziehung in der Fürsorgearbeit legt es nahe, in ihr eine Analogie zu dem von H. Nohl als
Pädagogischer Bezug
bezeichneten und für die Erziehung konstitutiven Sachverhalt zu sehen und schließlich die fürsorgerische Beziehung als einen päd. Bezug zu verstehen. So bei
Nitzsche, Die erzieherischen Aufgaben der Wohlfahrtsschule
: Die Beziehung der
Fürsorgerin zum
Hilfsbedürftigen
müsse als
Erziehungswirklichkeit
anerkannt werden
(S. 97)
.
diese Einheit in einem pädagogischen Zentrum wiederzugewinnen, kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß eine theoretische Bewältigung dieses Problems noch nicht geleistet ist614
|A 169| 614Auch in dieser Untersuchung können wir nichts anderes, als die entscheidenden Probleme aufzeigen, die eine Theorie der sozialen Arbeit und Sozialpädagogik zu bewältigen hätte.
.
[005:328] Neben dem
sozialpädagogischen
Selbstverständnis der sosialen Arbeit sind andere Entwicklungsrichtungen immer klarer hervorgetreten, deren Verhältnis zueinander zu bestimmen ist. Die Fürsorge, auf eine lange Tradition zurückgreifend615
|A 169| 615Vergl. dazu Liese, Geschichte der Caritas; Uhlhorn, Gesch. d. christlichen Liebestätigkeit; Klumker, Vom Werden deutscher Jugendfürsorge.
, hat Ansätze zu einer eigenen Theorie entwickelt; ähnlich hat auch der Gedanke der sozialen Einzelhilfe, durch die Aufnahme psychologischer Theorien und Methoden, im
Casework
eine spezielle Praxis und Theorie gefunden616
|A 169| 616Vergl. vor allem H. Kraus, Casework in USA, Frankfurt 1950; H. Lattke, Soziale Arbeit und Erziehung, Freiburg 1955; A. Salomon, Soziale Diagnose, 1925; S. Wronsky, Methoden der Fürsorge, Berlin 1930.
; und schließlich spielt auch die Sozialpolitik als wesentliches Moment in der sozialen Arbeit eine immer größere Rolle. So steht die soziale Arbeit heute, will sie ihren einheitlichen Zusammenhang bestimmen, vor dem Problem, mit den in solchen Teilbereichen wirksamen und miteinander konkurrierenden Leitbildern sozialer Hilfeleistung fertig zu werden. Eine unreflektierte Okkupation durch die Pädagogik ist ebensowenig mehr möglich, wie die Abdrängung der Pädagogik auf die eng umgrenzten Aufgaben der Jugendfürsorge und Jugendpflege.

3. Das Problem der konkurrierenden Leitbilder sozialer Hilfeleistung

[005:329] Wir stellten fest, daß die soziale Arbeit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, da sie sich selbst als umfassende Erziehungs|A 126|aufgabe verstand, durchgehend vom pädagogischen Gedanken her bestimmt war und daher mit Sozialpädagogik gleichzusetzen ist. Mit dem Anwachsen der Aufgaben und der notwendigen Differenzierung der Hilfeleistungen machten sich aber Divergenzen innerhalb dieser Arbeit bemerkbar, deren Tatbestand auch die theoretischen Bemühungen nach dem ersten Weltkrieg nicht beseitigen konnten; so vor allem im Bereich der Fürsorge. Obwohl im Prinzip der persönlichen Hilfe in der Fürsorgearbeit ein scheinbares, auch zur Pädagogik hinweisendes Zentrum gefunden war, wurde doch mehr und mehr deutlich, daß die Fürsorge in einer eigenen Tradition wurzelte und ein Leitbild menschlicher Hilfeleistung enthielt, das mit Erziehung nicht ohne weiteres gleichzusetzen war.
[005:330] Klumker definierte:
Fürsorge ist Erziehung Unwirtschaftlicher, Versorgung Unwirtschaftlicher, Verwertung Unwirtschaftlicher. Ihr Ziel ist rein wirtschaftlich bestimmt; darin liegt ihre Selbständigkeit und Unabhängigkeit, darin auch ihre sichere Umgrenzung
617
|A 169| 617C. J. Klumker, Fürsorgewesen, S. 73.
. Erziehung ist hier als eine Funktion der Fürsorge genannt neben anderen; sie kann also, nach dieser Bestimmung, nicht mehr das zentrale Motiv aller Fürsorgearbeit sein. Das darin enthaltene Problem wird nur verdeckt, wenn die persönliche Beziehung des
Pflegers
zum Fürsorgebedürftigen als eine erzieherische bezeichnet wird und als unabdingbare Voraussetzung, als
Kern der Armenpflege
618
|A 169| 618a. a. O., S. 75.
.
[005:331] Achinger, um zu einer eigenständigen Theorie der Fürsorge zu gelangen, und ein angemessenes Selbstverständnis zu gewinnen, versuchte die Bedingungen einer Fürsorgetheorie und deren Ansätze gerade dadurch zu erhellen, daß er jenes persönliche Fürsorge-Verhältnis ausdrücklich vom pädagogischen absetzte und unterschied. Die Aufgaben von Erziehung und Fürsorge seien zwar häufig die gleichen,
so daß es nur der Ausbreitung zur Sozialpädagogik’ zu bedürfen scheint, um große Teile des fürsorgerischen Verhaltens mit zu beschreiben und zu bestimmen
619
|A 169| 619
H. Achinger, Zur Theorie der Fürsorge, in Fürsorge als persönliche Hilfe, S. 4
ø
. Aber
nicht in ihrer sozialen Aufgabe, sondern aus ihrer besonderen Einstellung, die aus der sozialen Intention allein nicht deduziert werden kann, scheint uns der Ansatzpunkt der Theorie (der Fürsorge) zu liegen
620
|A 169| 620
a. a. O., S. 11
.
. Das fürsorgerische Verhalten als ein
seelisches Grundverhältnis
eigener Art621
|A 169| 621
a. a. O., S. 12
.
und dessen Phänomenologie erst könne die Grundlage für eine Theorie der Fürsorge liefern und diese gegen die
Okkupationen
der Nachbardisziplinen Pädagogik, Soziologie, Volkswirtschaft und Rechtswissenschaft sichern622
|A 169| 622a. a. O., S. 3 ff.
. Dieser Ansatz Achingers hob die These, Fürsorge sei persönliche Hilfe, keineswegs auf, vielmehr sollte sie gerade in ihrem Eigenrecht erkannt und begründet werden. Ihre eindeutige Bestimmung als pädagogische These aber |A 127|sollte damit zurückgewiesen sein; Fürsorge konnte nicht mehr als primär pädagogische Aufgabe betrachtet, ihr Selbstverständnis nicht aus der Pädagogik abgeleitet werden.
[005:332] Daneben und aus den Bedürfnissen und Erfordernissen der Praxis entwickelte sich ein spezieller Typus der sozialen Hilfe, in dem der Gedanke persönlicher Einzelhilfe, heute unter dem Terminus
Casework
, in besonderer, methodisch detaillierter Ausprägung erscheint. Diese Art fürsorgerischer Einzelhilfe623
|A 169| 623Bei H. Lattke, Soziale Arbeit und Erziehung, findet sich folgende-Definition des Caseworks, das dort mit Fürsorge identifiziert wird
(S. 40)
:
Social Casework ist eine Kunst, bei der Erkenntnisse der Wissenschaft von den menschlichen Beziehungen und die Fertigkeit in der Pflege dieser Beziehungen dazu benutzt werden, Kräfte im Einzelmenschen und Hilfsquellen in der Gemeinschaft zu mobilisieren, die geeignet sind, eine bessere Einordnung des Klienten in seine ganze Umwelt oder in Teile seiner Umwelt herbeizuführen
.
hat inzwischen soweit an Verbreitung und Bedeutung gewonnen, daß das in ihr enthaltene Leitbild sozialer Arbeit, so wie es von deren Vertretern dargestellt wird, als eine Konkurrenz des ursprünglichen sozialpädagogischen Ansatzes bezeichnet werden muß. Die schlichte Behauptung nämlich, es handele sich im Casework um Erziehungsprozesse624
|A 169| 624Wie wenig Einsicht in und Bemühungen um die damit verbundenen pädagogischen Fragen in solchen Arbeiten vorhanden ist, dafür ist die |A 170|genannte Schrift von H. Lattke ein anschauliches Beispiel. Lattke schreibt:
Es ist nicht schwer anzuerkennen, daß Fürsorgearbeit eine Kunst ist (vergl. Definition Fußnote 623), wenn man anerkennt, daß sie eine Erziehungsarbeit ist
(Soziale Arbeit und Erziehung, S. 41)
. Darin erschöpft sich Lattkes Aussage über das Verhältnis von Fürsorge bzw. Casework und Erziehung. Der Charakter der Fürsorge als pädagogische Maßnahme wird ohne jede weitere Überlegung vorausgesetzt, womit weder einer Theorie der Fürsorge noch der Pädagogik ein guter Dienst geleistet sein kann.
, kann nichts daran ändern, daß das pädagogische Problem dieser Arbeitsmethoden und dieses Arbeitsbereiches noch keineswegs erfaßt ist.
[005:333] Schon die Anfänge unter dem Begriff
Soziale Therapie
führten – wenn ein pädagogischer Sachverhalt intendiert gewesen sein sollte – wenigstens terminologisch in die Irre625
|A 170| 625Vergl. die Verwendung der Begriffe
Soziale Therapie
und
Soziale Diagnose
bei
A. Salomon, Soziale Diagnose
; ferner
S. Wronsky, Methoden der Fürsorge
– und die von ihr verwandten Termini wie
Sozialer Heilprozeß
,
Soziale Anamnese
,
soziale Untersuchung
,
soziale Prognose
,
soziale Therapie
. Die Methode der Fürsorge sei
die Bekämpfung der vorhandenen Energiemängel und die Beeinflussung der sozialen Widerstände der Umwelt
(S. 25)
.
Die Begriffe ihrer (d. Fürsorge) neuen Methoden sind aus der Medizin (wir ergänzen: und aus der Psychologie) entnommen worden
(S. 11f.)
. Selbst wenn es sich nur um terminologische Mißgriffe handeln sollte, ist solchen Darstellungen mit Skepsis zu begegnen, da sie die Klärung der Sachverhalte durch schon in ihrem Bedeutungsfeld festgelegte Begriffe zumindest erschweren.
. Die entsprechende Theorie weicht denn auch nicht nur von dem Selbstverständnis der Pädagogik, sondern auch von den Ansätzen einer Fürsorgetheorie ab, die sich das zitierte fürsorgerische Verhalten zur Grundlage machte:
So wie die scheinbar größere Evidenz naturwissenschaftlicher Urteile in der westlichen Soziologie dazu geführt hat, mit dem Gedankenkreis der physique sociale den kulturwissenschaftlichen Gehalt gesellschaftlicher Erscheinungen zuzudecken, so fürchten wir, daß in einem viel bescheideneren Kreis des Nachdenkens Ausdrücke wie soziale Diagnose und soziale Therapie einem Versuch Vorschub leisten könnten, Begründung und Durchführung fürsorgerischer Arbeit auf einfache, aber mechanistische Formeln zu bringen, die nicht mehr erkennen lassen, worum es sich im Grunde handelt
626
|A 170| 626H. Achinger, a. a. O., S. 3 f.
. Das unter dem Begriff Casework heute zusammengefaßte System von Methoden praktischer Fürsorgearbeit hat ohne Zweifel seine Bedeutung und Berechtigung. Das in ihm prinzipiell vertretene Leitbild sozialer Arbeit aber bleibt zu prüfen und in einer Theorie der sozialen Arbeit auch in seinem Verhältnis zur Erziehung zu bestimmen.

4. Das Problem einer theoretischen Grundlegung der Einheit sozialer Arbeit

[005:334] Mit der Erwähnung der Fürsorgetheorie und der Theorie sozialer Therapie oder des Caseworks sollte verdeutlicht werden, daß der Begriff Sozialpädagogik, auf die Gesamtheit sozialer Arbeit in ihren Ursprüngen mit Recht angewandt, heute in einem neuen |A 128|Zusammenhang gesehen werden muß, mindestens die Theorien und Leitbilder einer fürsorgerischen, sozialpädagogischen und sozialtherapeutischen Hilfeleistung stehen nebeneinander. Indessen stehen sie doch nach wie vor in einem Zusammenhang
Sozialer Arbeit
. Vor der Aufgabe, die Einheitlichkeit dieses Zusammenhanges zu erkennen und ihn darzustellen, sahen und sehen sich aber vor allem die Ausbildungsstätten für die soziale Berufsarbeit. Daß es sich dabei nicht um ein lediglich abstrakt-theoretisches, sondern durchaus praktisch-theoretisches Problem handelt, erhellt aus den Diskussionen um die Ausbildungsrichtlinien und Lehrpläne627
|A 170| 627
Vergl. G. Bäumer, Die sozialpädagogische Erzieherschaft und ihre Ausbildung, in Handbuch der Pädagogik, hersg. v. H. Nohl und L. Pallat, Bd. V, S. 209
:
Der innere Ertrag der pädagogischen Entwicklung fixiert sich in der Ausbildung für den pädagogischen Beruf. So läuft auch für die Sozialpädagogik die ganze geistige Arbeit an Aufbau, Methoden und Zielen schließlich zusammen in der Frage, wie nun die Kräfte beschaffen und ausgerüstet sein müssen, denen man dieses Werk anvertraut
. Vergl. ferner: E. Magnus, Zur Ausbildung der deutschen Sozialarbeiter, Frankfurt 1953; A. Salomon, Die Ausbildung zum sozialen Beruf, Berlin 1927; Ch. Dietrich, Zur Gestaltung der Wohlfahrtsschulen, in: Die Erziehung V 1930; F. v. Gonthard, Grundforderungen zur sozialen Ausbildung, Hamburg 1953; H. Francke, Die Ausbildung der Jugendrichter, in: Zeitschr. f. Kinder., 29. Bd. 1924; C. Mennicke, Das Seminar f. Jugendwohlfahrt in Berlin, in: Zentralbl. f. Jugendrecht u. Jugendwohlf. XVI/4, 1924, S. 84 ff.; H. Nohl, Die Ausbildg. d. Sozialpädagogen, in: Zeitschr. f. Kinderforschg., Bd.29, 1924; H. Scherpner, Das Gemeinsame in d. Arbeit d. sozialpäd. Berufe, in: Unsere Jugend, II/4 1952, S. 121 ff.; F. Siegmund-Schultze, Ausbildungsfragen der Jugendwohlf., in: Zeitschr. f. Kinderforschg., Bd.29, 1924, S. 1 ff.; E. Spranger, Über die Gestaltung d. Lehrplans in Psych. u. Päd. an den Wohlfahrtssch., in: Kindergarten, 63. Jg. 1922.
.
[005:335] In zweierlei Hinsicht versuchte man der Aufgabe gerecht zu werden: im Auffinden einer grundlegenden wissenschaftlichen Disziplin und in der Besinnung auf das Wesen sozialer Berufstätigkeit628
|A 170| 628G. Bäumer in Internat. Konf., S. 1.
. Besonders in diesem letzteren Bemühen versuchte man am nachdrücklichsten, die Vielfalt sozialer Arbeit in einem ethisch begründeten beruflichen Leitbild zusammenzufassen. Die Ausbildung des Sozialarbeiters müsse, so sagte man,
auf die Gewinnung und Gestaltung einer großen und sozialen Bildungsidee gerichtet sein
629
|A 170| 629Richtlinien, S. 4.
. Das
soziale Ethos
sei die
Wertidee
, der Mittelpunkt jeder sozialen Arbeit630
|A 170| 630
Ch. Dietrich, Zur Gestaltung ... S. 686
.
. Der Formalismus solcher Aussagen konnte für die konkrete Begründung der Ausbildung – trotz der heftigen Diskussionen – wenig leisten. Im einzelnen Falle wurde und wird denn auch die
soziale Bildung
631
|A 170| 631Richtlinien, S. 12.
, das Ziel des
sozialen Menschen
632
|A 170| 632a. a. O., S. 13.
, mit konkreten, aus der sozialen Arbeit selbst nicht abgeleiteten und ableitbaren Inhalten erfüllt, die sich in Formulierungen ankündigen wie:
Dienst an der Volkskultur
633
|A 170| 633A. Salomon, in Richtlinien, S. 4.
oder:
Es darf nicht nur um die Fakten, es muß um den Sinnzusammenhang dieses menschlichen Lebens gehen, einen Sinnzusammenhang, der sich nur vom Religiösen her erschließt
634
|A 171| 634F. v. Gonthard, Grundforderungen d. soz. Ausbildg., S. 10, S. 11.
. So wenig von solchen weltanschaulichen Antrieben völlig abzusehen ist, so vergeblich muß andererseits jeder Versuch bleiben, eine allgemeinverbindliche und zugleich formale Aussagen überwindende Grundlegung der sozialen Arbeit auf diese Weise zu finden.
[005:336] Wichtiger und in der Tat auch folgenreicher ist das sachliche Problem einer Grundwissenschaft der sozialen Arbeit, von der her die Vielfalt heterogener Aufgaben begründet und verstanden werden kann. Bei derartigen Versuchen wird immer wieder auf die Sozialwissenschaften zurückgegriffen635
|A 171| 635In solchem Rückgriff auf die Sozialwissenschaften als Grunddisziplin für die Ausbildung zur sozialen Arbeit drückt sich zum Teil die ganze Unsicherheit in der theoretischen Begründung dieser Arbeit aus. Sie sind der scheinbare Ausweg aus dem Dilemma, das sich aus dem Fehlen einer echten Theorie der sozialen Arbeit ergibt. Da die Probleme, vor die die soziale Arbeit gestellt ist, wesentlich mit dem Verhältnis von Mensch und Gesellschaft zusammenhängen, glaubt man in den Sozialwissenschaften die grundlegende Theorie gefunden zu haben, läßt dabei aber gerade den gewonnenen und einzig positiven Ansatz bei dem Problem der fürsorgerischen Beziehung wieder außer acht. Somit bleibt als Sinn solcher Forderungen nur, daß man die gesellschaftliche Umwelt zur Beurteilung und Behandlung des Hilfsbedürftigen beachten müsse;
dieser Gedanke ist für die praktische Arbeit gewiß von bleibendem Wert und verdient immer wieder Beachtung. Aber er ist nicht neu und noch weniger eine Inhaltsangabe dessen, was die Soziologie für die Fürsorge bedeuten könnte
(Achinger, Fürsorge und Soziologie, in Zentralblatt für Jugendrecht und Jugendwohlfahrt, XIX/8, 1927, S. 211)
. Zur Forderung sozialwissenschaftlicher Grundausbildung vergl. besonders A. Salomon, Die Ausbildung zum sozialen Beruf, Berlin 1927; ferner Richtlinien für die Lehrpläne der Wohlfahrtsschulen, hersg. vom Preußischen Ministerium für Volkswohlfahrt, Berlin 1930; E. Magnus, Zur Ausbildung der deutschen Sozialarbeiter, Frankfurt 1953. – Eine echte Schwierigkeit bedeutet die Vielfältigkeit zu berücksichtigender Ausbildungsziele, durch die Differenziertheit des sozialen Berufs bedingt. Sozialwissenschaftlicher Ekklektizismus ist daher eine Gefahr, die durch die Ausbildungsaufgabe und die Bemühung um eine gemeinsame Ausbildung für alle sozialen Berufszweige selbst hervorgerufen wird. Diese Gefahr – auch wenn man ihr eben nicht immer entging – wurde deutlich gesehen. Die Forderung eines
Berufsbildes
, der Erziehung zu einer, aller sozialen Arbeit gemeinsamen
Haltung
fungierte daher im Grunde auch als Korrektiv zu solchem Ekklektizismus. – Einen besonderen Fall stellt die Position Felds dar (W. Feld, Die akademische Ausbildung für die soziale Arbeit, Deutsche Zeitschrift für Wohlfahrtspflege, 1925 I/8, S. 357 – 362). Die Forderung der Sozialwissenschaft als Grunddisziplin ergibt sich für ihn, vom Sozialismus herkommend, aus dem Primat gesellschaftlicher Umgestaltung vor der persönlichen Einzelhilfe. In diesem Sinne polemisierte er gegen die pädagogischen Thesen Sprangers:
In Wahrheit kommt es erheblich mehr auf die Höherbildung der Umwelt an
(S. 357)
.
In den Gesellschaftswissenschaften muß demnach das wissenschaftliche Zentrum für die Ausbildung der Sozialbeamten liegen
(S. 359)
. Vergl. dazu die Kritik H. Nohls in Jugendwohlfahrt, Leipzig 1927, S. 10; in demselben Sinne auch
H. Achinger, Zur Theorie der Fürsorge, S. 6
:
So sehr einer ernsthaften wissenschaftlichen Überlegung in dieser Richtung das Wort zu reden wäre, so gewiß ist es ... daß damit nicht das geleistet werden kann, was Dilthey ... nennt
aus einem Teilinhalt der Wirklichkeit von ihm aus bewiesene und fruchtbare Sätze zu entwickeln
. Eben die leichte und so naheliegende Anwendbarkeit auch auf fürsorgerisches
Verhalten
wie auf so viele gesellschaftliche |A 172|Erscheinungen, weist auf den formalen Charakter hin, den alle soziologischen Untersuchungen letztlich an sich tragen
.
. Es zeigt sich aber, daß das Ergebnis einer solchen Bemühung nichts anderes sein kann, als das Nebeneinander der verschiedenen sozialwissenschaftlichen Forschungsrichtungen, die hier nur im Hinblick auf ihre Relevanz für die soziale Arbeit herangezogen werden. Von ihnen ist die theoretische Begründung einer auf ein bestimmtes |A 129|soziales Handeln gerichteten Intention nicht zu erwarten, es sei denn, die soziologische Analyse der sozialen Phänomene würde mit konkreten sozialen Leitideen im Sinne einer normativen Soziallehre erfüllt. Das aber läßt der Wissenschaftscharakter der Sozialwissenschaften nicht zu. Zudem wären die rein pädagogischen Bereiche innerhalb der sozialen Arbeit in diesem Falle von vornherein ihres eigenständigen Ansatzes beraubt.
[005:337] Die Frage könnte – im Anschluß an die Ausführungen Achingers – eine Antwort erfahren durch eine Theorie, die sich an die der sozialen Arbeit zugrunde liegenden Phänomene anschließt, an den besonderen Typus menschlicher Beziehung, in dem sie sich realisiertø und an diejenigen Erscheinungen, die diese menschliche Beziehung als Hilfeleistung erforderlich machen. Es besteht Einigkeit darin, daß alle soziale Arbeit letztlich auf das Vorhandensein sozialer Not und Notstände zurückzuführen ist. Eine Theorie, die sich die Erhellung dieses Sachverhalts zur Aufgabe macht, würde somit eine theoretische Grundlegung leisten können, zumal sich aus ihr – als Lehre entsprechenden Handelns – eine Theorie der Nothilfe ableiten ließe, nicht an sozialethischen Leitbildern oder religiösen, weltanschaulichen oder politischen Inhalten orientiert, sondern lediglich an dem gesellschaftlichen und personalen, durch die jüngere Sozialgeschichte gleichsam freigesetzten Phänomen der Not.636
|A 172| 636Im Phänomen der Not, und zwar in seiner konkreten gesellschaftlich-geschichtlichen Gestalt, liegt der faktische Ansatz jeder sozialen Arbeit. Jede dieser Maßnahmen ist zunächst als eine unmittelbare Gegenwirkung zu verstehen. Auf diesen Sachverhalt, der auch in den Ursprüngen der Sozialpädagogik deutlich hervortritt, ist in aller sozialpädagogischen Literatur immer wieder hingewiesen worden. Vergl. dazu besonders die theoretische Erhellung dieses strukturellen Zusammenhanges von E. Weniger, Sozialpädagogik, in Enzyklopädisches Handbuch des Kinderschutzes und der Jugendfürsorge; ferner
C. J. Klumker, Fürsorgewesen, S. 21
:
Bei dem Wandel der Wirtschaftsformen wird stets ein Teil derer, die vorher ihren festen Platz hatten, den Halt verlieren und verarmen ... Ändert sich der wirtschaftliche Aufbau einer Klasse, eines Standes, eines Berufes, so können nicht mehr alle, die bisher darin waren, sich der neuen Wirtschaftlichkeit anpassen, sie sich aneignen.
Daraus folgt die sozialpädagogische Gegenwirkung:
Alle Fürsorge will die Schäden und Schwierigkeiten dieser Übergänge mildern, sie ist im weitesten Maße darauf angewiesen, die Kräfte dieser (der sozialen) Gebilde
... zu wecken und
ihren Schützlingen ... den rechten Platz zu verschaffen
(Ders., in Die Stellung der Wohlfahrtspflege ..., S. 102)
. Vergl. auch A. Salomon, Leitfaden der Wohlfahrtspflege, S. 1;
W. Flitner, Pestalozzis sozialpäd. Gedanken .... S. 399
.
An allen Punkten, wo auf heile Volksordnung nicht mehr gerechnet werden kann, entsteht die Aufgabe einer solchen Notstandspädagogik, entsteht das sozialpädagogische Problem
.
H. Nohl, Jugendwohlfahrt, S. 1
:
Eine geistige Bewegung wie die Jugendwohlfahrtsarbeit ... ist das Schicksal einer Not. Diese Not diktiert auch die Züge der geistigen Gegenwirkung, die sie überwinden soll.
Vergl. schließlich
A. Fischer, Leben und Werk, III/IV, S. 330
: Fischer setzt
die Notstände selbst als gegebenen Anlaß und Angriffspunkt der organisierten, schließlich der öffentlichen Fürsorge voraus
.
Eine solche Grundlagentheorie hätte sozial-anthropologischen Charakter.637
|A 172| 637Ansätze dieses Gedankens, die Historizität des Phänomens überschreitend, finden sich bei
A. Fischer, a. a. O., S. 345
: Er müsse
doch mit aller Entschiedenheit darauf aufmerksam machen, daß keine Gesellschaftsordnung an sich die volle Garantie gegen Entstehung oder Wiederkehr von Nöten einschließt ... Die Wurzel dieser meiner Überzeugung ist die Anschauung von der Natur des Menschen. Der Mensch ist ein Versuch, der einzelne, die Völker, die Gattung. Diese Versuchsmäßigkeit ... schließt mit Notwendigkeit nicht nur den möglichen ... Fortschritt ein, sondern ebenso auch das unvermeidliche Versagen und Absinken von einzelnen oder Gruppen von solchen
.
S. 346
:
Die ganze Institution des Sozialbeamtentums ... erhält in dieser Einstellung einen neuen und tieferen Sinn: Es ist nicht Vollzugsorgan einer bestehenden Ordnung, sondern der Schrittmacher einer stetig darunter werdenden.
(Vergl. auch F. Trost, Erz. im Wandel, Darmstadt 1955).
Das so theoretisch erhellte Grundproblem sozialer Arbeit würde dann in seinen jeweiligen Variationen in den verschiedenen institutionellen Bereichen (Jugendhilfe, Fürsorge, Erziehungsberatung etc.) darzustellen sein; das in ihnen realisierte soziale Verhalten müßte in den je besonderen theoretischen Zusammenhängen von Pädagogik, Fürsorge-Theorie, Psychologie, Volkswirtschaftslehre behandelt werden. Ein solcher Versuch liegt noch nicht vor. Indessen wären gegen ihn auch wesentliche Bedenken vorzubringen.

5. Die Theorie der Sozialpädagogik als Grundlagentheorie für die soziale Berufsausbildung

[005:338] Zweifellos ist das Entstehen eines institutionellen Komplexes wie die soziale Arbeit von dem Vorhandensein realer Notstände im Dasein des Einzelnen oder von Gruppen gar nicht zu trennen; die entscheidenden Antriebe dieser Arbeit liegen in dem Willen, den Einzelnen aus seiner Gebundenheit in solche Notstände – seien sie nun gesellschaftlicher oder individueller Natur – zu befreien, um ihm so erst die volle Teilhabe am kulturell-sozialen Leben zu ermöglichen. Obwohl nun aber das Ziel – als Selbstbestimmung des Einzelnen, als soziale Mündigkeit – in positiven Formulie|A 130|rungen erscheint, bleiben der Ansatz und besonders eine Theorie der Not und Nothilfe als Grundlage der sozialen Arbeit doch immer dadurch charakterisiert, daß sie sich an dem Vorgang einer Reparatur orientieren, daß sie sich beziehen auf eine eingetretene Schädigung des jeweiligen Lebensraumes. Es erhebt sich die Frage, ob ein dieserart negativer theoretischer Ansatz für das Selbstverständnis der sozialen Arbeit zuträglich, ob er überhaupt notwendig ist. Insbesondere ergibt sich diese Frage für den speziellen und eindeutig pädagogischen Bereich der Jugendhilfe. Wenn schon die Motivierung sozialer Arbeit durch eine negative Bewertung der Gegenwart keine Allgemeingültigkeit beanspruchen kann, und wenn darüber hinaus der neue Aufgabenbereich lediglich einen mit dem modernen Gesellschaftstypus wesensmäßig gegebenen institutionellen Zuwachs darstellt, ist es zumindest fraglich, ob eine entsprechende Theorie auf Grundbegriffen basieren darf, in denen eine solche Abwertung der gegenwärtigen Sozialordnungen vorausgesetzt wird.
[005:339] Vor allem die neuen sozialpädagogischen Einrichtungen können ihre theoretische Begründung und Einheit nur in der positiven, durch die Gesellschaft neu gestellten Erziehungsaufgabe erfahren638
|A 172| 638
Vergl. G. Bäumer, Die sozialpädagogische Aufgabe in der Jugendwohlfahrt, in Die Stellung der Wohlfahrtspflege ... S. 83
:
Jugendwohlfahrtspflege ist ihrem Sinne nach nicht wesentlich Nothilfe. Sie |A 173|ist es in einem doppelten Sinne nicht. Erstens nicht insofern, als das, was auf diesem Gebiet geschieht, nicht negativ, finster und moros einfach als Verhütung eines Chaos von sozialen Gefahren aufgefaßt werden darf, sondern daß es sich um Positives, um die Pflege noch reifender, in ihren Möglichkeiten noch garnicht festgelegter und entschiedener Kräfte handelt. Zweitens aber darf sie auch in dem Sinne nicht Nothilfe sein, daß sie ihre Färbung nicht aus dem ganzen Begriffskomplex
Fürsorge
im alten Sinne bekommen darf. Und zwar deshalb nicht ... weil die gesellschaftliche Hilfe, die kollektive Leistung für den Nachwuchs heute nicht einfach nur in einem Negativen gegründet werden kann, nämlich im Versagen der Familie und nicht nur an früheren Gesellschaftsformen gemessen werden kann, indem man etwa sagt: früher leistete das die Familie, heute ... bedauerlicherweise nicht mehr.
Vergl. auch dies., Die sozialpädagogische Erzieherschaft ..., in Handbuch d. Päd., hrsg. von H. Nohl und L. Pallat, Bd. V, S. 216 f.; ferner
A. Fischer a. a. O., S. 346
: Die Institution des Sozialbeamtentums gipfele darin, daß sie
Schrittmacher
einer werdenden Gesellschaft sei;
der Staat selbst gewinnt die Struktur der Erziehung im großen, damit schließlich seinen fruchtbarsten Sinn
. Über die sozialgeschichtliche Argumentation Bäumers hinaus hat H. Nohl von Systematisch-Pädagogischen her eine positive Begründung gegeben: Der Fürsorger habe neben dem juristischen, medizinischen oder sozialpolitischen einen eigenen Gesichtspunkt.
Diesen eigenen Gesichtspunkt scheint mir nun das Wort
Wohlfahrtspflege
genau zu bezeichnen: das Ziel ist nicht das Recht oder die Gesundheit oder die wirtschaftliche Leistung oder das Seelenheit – das sind alles nur Teilmomente – sondern eben das
Wohl
.
(Jugendwohlfahrt, S. 19)
.
. So handelt es sich beispielsweise in Jugendpflege, Betriebspädagogik, Elternberatung nicht primär um die Behebung von Mißständen, sondern je um einen neuen Komplex der Gesamtaufgabe gesellschaftlicher Eingliederung. Soziale Arbeit ist, im Ganzen gesehen, so wenig und so viel Behebung einer menschlichen Not, wie es jede andere Maßnahme ist, die getroffen wird, um den Einzelnen in ein positives Verhältnis zur Gesellschaft zu setzen639
|A 173| 639Nicht nur die Sozialpädagogik ist in ihren Ursprüngen
Nothilfe
. Alle Maßnahmen, die mit fortschreitender Komplizierung der Sozialverhältnisse notwendig werden, haben eine analoge geschichtliche Struktur, bis sie als selbstverständlicher Bestandteil in die gesellschaftliche Ordnung mit aufgenommen werden; so etwa die Volksschule, die Erwachsenenbildung, der Kindergarten, die Berufsbildung.
Nothilfe
ist daher eine historische Kategorie zum Verständnis der Entwicklung. Ihre Beibehaltung als systematisch begründender Begriff muß infolgedessen Mißverständnissen Vorschub leisten. Vergl. E. Weniger, Sozialpädagogik, in Enzyklopäd. Handbuch... Die Grenze des Begriffs in seiner Anwendung auf die gegenwärtigen Verhältnisse ergibt sich auch aus der entscheidenden Rolle, die den neuen pädagogischen Institutionen (Freizeitpädagogik) in der soziologischen Literatur zugesprochen wird.
. Wenn andererseits aber der Begriff
Not
anthropologisch gedeutet würde, dergestalt, daß mit ihm auf ein Grundphänomen alles – von geschichtlichen Besonderungen unabhängigen – menschlichen Daseins gewiesen werden soll, dann würde die Allgemeinheit dieses Begriffes alle kulturell-sozialen Erscheinungen betreffen und wiederum eine besondere Theorie der sozialen Arbeit erst erforderlich machen. Das Problem wäre nicht gelöst, sondern lediglich verschoben640
|A 173| 640Vergl. als Beispiel die Theorie F. Trosts, Erz. im Wandel.
.
[005:340] So scheint uns der Sache nach eine positive Begründung der sozialen Arbeit notwendig und einzig angemessen zu sein. Eine solche Theorie aber, auch als grundlegende theoretische Besinnung in der sozialen Ausbildung, wäre mit der Pädagogik in der spezifischen Form einer Sozialpädagogik gegeben641
|A 173| 641Vergl. dazu neuerdings auch Chr. Hasenclever, Die Problematik der sozialen Ausbildung für die Jugendhilfe, in: Mitteilungen d. Arbeitsgemeinschaft für Jugendpflege und Jugendfürsorge, Jg. 1937, Heft 23, S. 1 - 12.
. Dabei wäre von folgenden Problemen auszugehen:
  1. 1.
    [005:341] Die Soziale Arbeit ist an die Entwicklung der industriellen Gesellschaft gebunden; mit dieser erst ist ihr Ursprung und ihre Notwendigkeit gegeben.
  2. |A 131|
  3. 2.
    [005:342] Durch die mit dem Übergang in eine neue Gesellschaftsstruktur entstandenen sozialen und individuellen Notstände hervorgerufen, war sie zunächst reine Nothilfe als unmittelbare Gegenwirkung.
  4. 3.
    [005:343] Der Versuch, den Zusammenhang der vielfältigen Maßnahmen zu verstehen und zugleich die Ursachen der Not zu bekämpfen, implizierte eine Deutung der sozialen Situation.
  5. 4.
    [005:344] Diese Deutung darf nicht dahin führen, in romantischer oder utopischer Verkennung der konkreten Situation die soziale Gegenwartsaufgabe zu verfehlen.
  6. 5.
    [005:345] Diese Aufgabe besteht in der Eingliederung des Einzelnen in den sozialen Zusammenhang. Sie ist mithin eine Aufgabe, die vor Entstehung der Sozialen Arbeit von anderen sozialen Gebilden erfüllt wurde, in der differenzierten modernen Gesellschaft aber von besonderen Einrichtungen übernommen werden muß.
  7. 6.
    [005:346] Die Aufgabe einer planmäßigen Eingliederung des Einzelnen in die soziale Welt ist in ihrem letzten Sinn eine pädagogische Aufgabe. Die Institutionen sozialer Arbeit, die durch die veränderte Sozialstruktur über die traditionellen Erziehungseinrichtungen hinaus notwendig geworden sind, sind daher sozialpädagogische Institutionen.
  8. 7.
    [005:347] Die Gemeinsamkeit dieser Institutionen besteht, abgesehen von der gemeinsamen geschichtlichen Erfahrung, darin, daß sie sich nicht nur der Erziehungseinwirkungen in personaler Begegnung (in Jugendhilfe, Heimerziehung, Kriminalpädagogik etc.) bedienen, sondern wesentlich erziehungsplanende Funktionen übernehmen, um die Voraussetzungen für eine gelingende Erziehung zu schaffen. Darin liegt der pädagogische Sinn der Fürsorge-These von der
    Hilfe zur Selbsthilfe
    , der sozialpolitischen Sicherung eines die soziale Eingliederung sichernden Lebensraumes, besonders aber des Jugendamtes.
  9. 8.
    [005:348] Eine Theorie der Sozialpädagogik als Grundlagendisziplin für die Soziale Arbeit kann daher weder – infolge der beständigen Gefährdung des sozialen Eingliederungsprozesses, durch die Kompliziertheit der industriellen Gesellschaft bedingt – ihren faktischen Nothilfe-Charakter verleugnen, noch darf sie ihre systematische Begründung aus solchen situationsbedingten Handlungsimpulsen ableiten. Diese Begründung darf sich nur positiv auf die durch die Differenzierung der Gesellschaft notwendig gewordene institutionelle Differenzierung der sozialen Eingliederungsmittel beziehen.
[005:349] Der entscheidende Einwand gegen die Pädagogik als Grundlagentheorie der Sozialen Arbeit enthält die Behauptung ihrer Unzulänglichkeit im Hinblick auf die institutionellen Aufgaben von Fürsorge und Versorgung und im Hinblick auf die sozialpolitischen |A 132|Anforderungen. Daraus nun ableiten zu wollen, daß die Sozialwissenschaft diejenige Disziplin sei, die als Grundlagentheorie fungieren könne, ist deshalb nicht angängig, weil der Sinn der zu lösenden Aufgaben nur durch einen alle Einzelmaßnahmen umgreifenden Aspekt erschlossen werden kann. Dieser Aspekt aber ergibt sich aus den genannten Aufgaben sozialer Eingliederung, die eine gesellschaftliche Erziehungsaufgabe darstellen. Dieser, bereits in den Ursprüngen der Sozialen Arbeit vertretene Ansatz ist ein bleibender Bestandteil auch des weit differenzierteren und arbeitsteiligeren Komplexes moderner Sozialer Arbeit.
[005:350] Überdies wird der Gegensatz der pädagogischen und sozialwissenschaftlichen, sozialpolitischen Gesichtspunkte, die in der Diskussion meist als ergänzendes Nebeneinander dargestellt werden, in der besonderen Struktur sozialpädagogischen Denkens schon aufgehoben. Dieses Denken nämlich zeichnet sich, wie aus unserer geschichtlichen Untersuchung hervorgeht, durch das Fortschreiten von der individuellen Situation des Einzelnen, über den Rückgang auf die Ursachen, zur Situation der Gesamtgesellschaft aus. Mit der Hilfe für das notleidende Individuum war immer auch das Nachdenken über die Reform der Voraussetzungen, der Gesellschaft verbunden. In den sozialpädagogischen Institutionen war der Gegensatz gebunden in der Form neuer sozialer Ordnungsgefüge, mit pädagogischen Sinn erfüllt und nach gesellschaftlicher Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit gestaltet. Die sozialtheoretischen Leitideen, die allgemeine sozialpädagogische Aufgabe auf ein begrenztes Bildungsideal einengend, können so neu verstanden werden: sie sind der inhaltliche Ausdruck dieser wesenhaften Struktur sozialpädagogischen Denkens; in ihnen sollte das dialektische Verhältnis von sozialer Eingliederung des Einzelnen und Gestaltung der gesellschaftlichen Ordnung in einem Idealbilde überwunden werden, damit aber freilich, als inhaltlich-konkrete Vereinseitigung, eine systematische Grundlegung unmöglich machend. Diese kann nur von dem Wesen sozialpädagogischer Institutionen und sozialpädagogischen Denkens ausgehen und von der Tatsache, daß in dem Phänomen
Soziale Arbeit
ein mit der Eigenart der industriellen Gesellschaft notwendig verbundenes System neuer Maßnahmen gesellschaftlicher Integration gegeben ist, das seine innere Einheit durch die pädagogische Sinngebung erfährt.
|A 174|

Literatur-Verzeichnis

[005:351] (Im Text häufiger zitierte Werke wurden in den Fußnoten jeweils nur mit dem abgekürzten Titel angeführt. Die Zitate wurden der modernen Rechtschreibung angeglichen.)

    A. Primäre Literatur zu den Ursprüngen der Sozialpädagogik

    [005:352] d’Alinge, Eugène Besserung auf dem Wege der Individualisierung. Erfahrungen eines Praktikers über den Strafvollzug der Gegenwart, Leipzig 1865.
    [005:353] Arndt, Ernst Moritz Werke. Auswahl in 12 Teilen. Herausgegeben mit Einleitungen und Anmerkungen versehen von August Leffson und Wilhelm Steffens, Berlin o. J.
    [005:354] von Arnim, Albrecht H. Bruchstücke über Verbrechen und Strafen, 3 Tle., Frankfurt und Leipzig 1803.
    [005:355] von Baader, Franz Sämmtliche Werke, Bd. VI, Leipzig 1854.
    [005:356] Bergsträßer, Wilhelm Die königlich sächsischen Strafanstalten mit Hinsicht auf die amerikanischen Pönitentiarsysteme. Insbesondere die Strafanstalten zu Hubertusburg, nebst einer Geschichte des Schlosses und Beschreibung seiner übrigen Anstalten, Leipzig 1844.
    [005:357] Bühlau, Fr. Der Pauperismus, in: Deutsche Viertel-Jahrsschrift, l. Jahrg. 1838, S. 86ff.
    [005:358] Deutsche Viertel-Jahrsschrift, Tübingen 1838 ff. (Abgekürzt als DV)
    [005:359] Diesterweg, Adolf Darstellung seines Lebens und seiner Lehre und Auswahl aus seinen Schriften von Dr. E. von Sallwürk, 3 Bände, Langensalza 1911², 1899, 1900.
    [005:360] Ders. Beiträge zur Lösung der Lebensfrage der Civilisation, Essen 1837.
    [005:361] Ders. Wegweiser zur Bildung für Deutsche Lehrer, 3 Bände, Essen 1874, 1875, 1877, fünfte Auflage.
    [005:362] Dobschall, J. G. Nachrichten und beurtheilende Bemerkungen über die in den neuesten Zeiten in der Provinz Schlesien begonnenen Unternehmungen zur Erziehung sittlich-verwahrloseter Kinder, Liegnitz 1836.
    [005:363] Falk, Johannes Daniel Erziehungsschriften, Herausgegeben von Rudolft Eckart, Halle a. S. 1913.
    [005:364] Ders. Aufruf zunächst an die Landstände des Großherzogthums Weimar und sodann an das ganze deutsche Volk und dessen Fürsten, über eine der schauderhaftesten Lücken unserer Gesetzgebungen, die durch die traurige Verwechselung von Volkserziehung mit Volksunterricht entstanden ist, Leipzig 1818.
    [005:365] von Fellenberg, Emanuel Darstellung der Armen-Erziehungsanstalt in Hofwyl. Aus dem vierten Heft der landwirtschaftlichen Blätter von Hofwyl besonders abgedruckt, Aarau 1813.
    |A 175|
    [005:366] Frantz, Anton Blicke in die Schattenseite unserer Zeit. Ein Beitrag zur Würdigung unserer Zeit und zur Beurtheilung ihrer Erscheinungen, Brandenburg 1843.
    [005:367] Fichte, Johann Gottlieb Sämtliche Werke, Berlin 1845/46.
    [005:368] Fröbel, Friedrich Gesammelte pädagogische Schriften, 3 Bände, herausgeg. von Wichard Lange, Berlin 1862/63.
    [005:369] Ders. Ausgewählte Schriften, herausg. von H. Hoffmann, 2 Bände, Godesberg 1951.
    [005:370] Freiburger Katholisches Kirchenblatt vom 24.10.1857, 28.11.1857, 7.1.1858, 20.1.1858.
    [005:371] Hagen, Karl Fragen der Zeit vom historischen Standpunkte betrachtet, 2 Bände, Stuttgart 1843/45.
    [005:372] Ders. Über nationale Erziehung. Mit besonderer Rücksicht auf das System Friedrich Fröbels (1845); abgedruckt in: Erika Hoffmann, Fr. Fröbel und K. Hagen. Ein Briefwechsel aus den Jahren 1844-1848, Weimar 1948.
    [005:373] Harkort, Friedrich 9. offener Brief; abgedruckt in: W. Schulte, Volk und Staat, Münster 1954.
    [005:374] Ders. Bemerkungen über die Preußische Volksschule und ihre Lehrer, Hagen 1842.
    [005:375] Heinroth, J. C. A. Über Erziehung und Selbstbildung, Leipzig 1837.
    [005:376] Hermann, Georg Das Biedermeier im Spiegel seiner Zeit. Briefe, Tagebücher, Memoiren, Volksszenen und ähnliche Dokumente, Leipzig 1931.
    [005:377] Hirscher, Johann Baptist Die Sorge für sittlich verwahrloste Kinder, Freiburg 1856.
    [005:378] Hitzig, J. E. Annalen der deutschen und ausländischen Criminalrechtspflege.
    [005:379] Jahn, Friedrich Ludwig Deutsches Volksthum, 2. Auflage, Leipzig 1817.
    [005:380] Jahrbücher des Preußischen Volksschulwesens; herausg. von Dr. Ludolph Beckedorff, Berlin 1825 - 1828.
    [005:381] Jahrbücher der Straf- und Besserungsanstalten, Erziehungshäuser, Armenfürsorge, und andere Werke der christlichen Liebe, Berlin 1829-33.
    [005:382] Julius, Nikolaus Heinrich Vorlesungen über Gefängniß-Kunde, oder über die Verbesserung der Gefängnisse und sittliche Besserung der Gefangenen, entlassenen Sträflinge usw., gehalten im Frühlinge 1827 zu Berlin, Berlin 1828.
    [005:383] Kapff, M.S.C. Die Württembergischen Brüdergemeinden Kornthal und Wilhelmsdorf, ihre Geschichte, Einrichtung und Erziehungs-Anstalten, Kornthal 1839.
    [005:384] Kiesselbach, W. Drei Generationen. Social-historische Skizze aus der Gegenwart, in: Deutsche Viertel-Jahrsschrift, 23. Jg. 1860, S. 1 ff.
    [005:385] Kolping, Adolf Der Gesellenverein. Zur Beherzigung für Alle, die es mit dem wahren Volkswohl gut meinen, Cöln und Neuß 1849.
    [005:386] Ders. Der Gesellenverein und seine Aufgabe. Herausgegeben von Joh. Nattermann, Köln 1921. (Erstdruck im
    Vereinsorgan
    , Beilage zum Rheinischen Kirchenblatt, 1850, Nr. 2-8).
    |A 176|
    [005:387] Ders. Aus Kolpings Briefen. Eine Auslese von Prof Dr. Th. Brauer, Köln (1935).
    [005:388] Krummacher, Fr. Wilh. Eine Selbstbiographie, Berlin 1869.
    [005:389] Die Lehr- und Erziehungsanstalten der Provinz Westphalen. Für den Provinzial-Landtag abgedruckt, Münster 1830.
    [005:390] Lotz, Johann Friedrich Eusebius Ideen über öffentliche Arbeitshäuser und ihre zweckmäßige Organisation, Hildburghausen 1810.
    [005:391] Marenholtz-Bühlow, Bertha Die Arbeit und die neue Erziehung nach Fröbels Methode, Berlin 1866.
    [005:392] Mittermeier, K.Die Gefängnisverbesserung, insbesondere die Bedeutung und Durchführung der Einzelhaft im Zusammenhange mit dem Besserungsprinzip, Erlangen 1858.
    [005:393] Moll, Carl Bernhard Die Besserung der Strafgefangenen. Ein Wort an alle Freunde des Staates und der Kirche, Berlin 1841.
    [005:394] Müller, J. N. (Übersetzer) W. H. Suringer Suringar, Christliche Besuche im Gefängnisse. Vorträge und Ansprachen zum Heile der Gefangenen, Karlsruhe 1843.
    [005:395] Obermaier, G. M. Anleitung zur vollkommenen Besserung der Verbrecher in den Strafanstalten, Kaiserslautern 1835; neu herausgegeben von M. Liepmann, Hamburg 1925.
    [005:396] Oldenberg, Friedrich Candidatur und innere Mission. Hamburg 1952.
    [005:397] Reinthaler, Karl Jahresberichte des Martinsstiftes, 7.-19. Jg., Erfurt 1826 – 1838.
    [005:398] Reinthaler, Paul Karl Reinthaler, Königlicher Rektor des Martinsstiftes in Erfurth und seine Familie. Aus dessen Aufzeichnungen und nach eigener Erinnerung dargestellt, Hamburg 1897.
    [005:399] Riecke, Emil Die Gefängnisreform in Deutschland, in: Deutsche Viertel-Jahrsschrift, 1843, Heft 4, Seite 96 – 125.
    [005:400] Riecke, G. Ad. Über Armen-Erziehungs-Anstalten im Geiste der Wehrli-Anstalten zu Hofwyl, Tübingen 1823.
    [005:401] Riecke, Emil Über Strafanstalten für jugendliche Verbrecher, Heilbronn 1841.
    [005:402] Riehl, Wilhelm Heinrich Die bürgerliche Gesellschaft, 9. Auflage, Stuttgart 1897 (1. Aufl. 1852).
    [005:403] Ders. Die Familie, 12. Auflage, Stuttgart und Berlin 1904 (1. Aufl. 1854).
    [005:404] Ders. Land und Leute, 11. Auflage, Stuttgart und Berlin 1908 (1. Aufl. 1853).
    [005:405] Ristelhueber, J. B. Über die Nothwendigkeit der Errichtung von Arbeite- und Erziehungs-Anstalten für sittlich verwahrloste Kinder, nebst Anleitung, wie dergleichen Institute zu errichten und zu verwalten sind, Stuttgart und Tübingen 1828.
    [005:406] Ders. Die Straf- und Besserungsanstalten nach den Bedürfnissen unserer Zeit, Mainz 1843.
    [005:407] Schleiermacher, Friedrich Pädagogische Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor Schulze hrrausgegeben von Erich Weniger, 2 Bände, Godesberg 1957.
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    [005:408] Schlipf, J. A. Die Erziehungsanstalt für Kinder aus Vagantenfamilien in Weingarten, Göppingen 1831.
    [005:409] Schmidlin, Johann Gottlieb Über Klein-Kinder-Schulen, insbesondere deren Zweck, Bestimmung, äußere und innere Einrichtung, Stuttgart 1835.
    [005:410] Spangenberg, Ernst Über die sittliche und bürgerliche Besserung der Verbrecher mittels Pönitentiarsystem, nach dem Englischen frei bearbeitet, Landshut o. J. (Original von William Roscoe, London 1819).
    [005:411] von Stein, Lorenz Die Gesellschaftslehre. System der Staatswissenschaften Bd. II, Stuttgart 1856.
    [005:412] Vom Stein, Karl Frh. G. H. Pertz, Das Leben des Ministers Frh. vom Stein, 6 Bände, Berlin 1849-54.
    [005:413] Thiersch, Heinrich W. J. Über christliches Familienleben, Frankfurt 1854.
    [005:414] Über die Veredelung der Vergnügungen der arbeitenden Klassen, Zwei gekrönte Preisschriften, herausgegeben von der Baslerischen Gemeinnützigen Gesellschaft, Basel 1840.
    [005:415] Verhandlungen des 5. deutschen evangelischen Kirchentages zu Bremen 1852, Berlin 1852.
    [005:416] Völter, Ludwig Beiträge zu einer christlichen Pädagogik und Didaktik.
    [005:417] Ders. Geschichte und Statistik der Rettungsanstalten f. arme Verwahrloste in Württemberg, Stuttgart 1845.
    [005:418] Wagnitz, H. B. Über die moralische Verbesserung der Zuchthaus-Gefangenen, Halle 1787.
    [005:419] Ders. Ideen und Pläne zur Verbesserung der Policey-und Criminalanstalten, Halle 1801/02.
    [005:420] Wahlberg, Wilhelm Emil Das Princip der Individualisirung in der Strafrechtspflege, Wien 1869.
    [005:421] Weiß, Christian Über Beurtheilung und Behandlung verwahrloseter Kinder, Halle 1827.
    [005:422] Wessenberg, Ignaz Heinrich Die Elementarbildung des Volkes in ihrer fortschreitenden Ausdehnung und Entwicklung. Neue, ganz umgearbeitete und doppelt vermehrte Auflage, Constanz 1835.
    [005:423] Weveld, Baron von Freimütige Gedanken über die Verminderung der Criminal-Verbrechen, München 1810.
    [005:424] v. Wick, F. Die Isolirung der Sträflinge, mit Rücksicht auf die Erfahrungen in der mecklenburgischen Landes-Strafanstalt Dreibergen, Schwerin und Bützow, 1848.
    [005:425] Wichern, Johann Hinrich Gesammelte Schriften, 6. Bd., Hamburg 1901-1908.
    [005:426] Wirth, Johann Georg Mittheilungen über Kleinkinderbewahranstalten, Augsburg 1840.
    [005:427] Wolff, Wilhelm Gesammelte Schriften. Nebst einer Biographie Wolffs von Friedrich Engels. Mit Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von Fr. Mehring, Berlin 1909.
    [005:428] von Würth, Joseph Die neuesten Fortschritte des Gefängnißwesens in Frankreich, England, Schottland, Belgien und der Schweiz, Wien 1844.
    |A 178|
    [005:429] Wurster, Peter Gustav Werners Leben und Wirken, Reutlingen 1888.
    [005:430] Zeller, Christian Heinrich Lehren der Erfahrung für christliche Land- und Armenschullehrer, Basel 1827.

    B. Darstellungen und Monographien zur Sozialgeschichte und Geschichte der Sozialpädagogik

    [005:431] Abraham, Karl Der Strukturwandel im Handwerk in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und seine Bedeutung für die Berufserziehung, Köln 1955.
    [005:432] Anton, Günther K. Geschichte der preußischen Fabrikgesetzgebung bis zur ihrer Aufnahme durch die Reichsgewerbeordnung, Leipzig 1891.
    [005:433] Beeking, Joseph Familien- und Anstaltserziehung in der Jugendfürsorge. Eine grundsätzliche und entwicklungsgeschichtliche sozialethische Untersuchung, Freiburg im Breisgau 1925.
    [005:434] Bollnow, Otto Friedrich Die Pädagogik der deutschen Romantik von Arndt bis Fröbel, Stuttgart 1952.
    [005:435] Bopp, Hartwig Die Entwicklung des deutschen Handwerksgesellentums im 19. Jahrhundert, Paderborn 1932.
    [005:436] Bornitz, Maria Adolf Diesterweg und die Kinderfürsorge, Langensalza 1930.
    [005:437] Briefs, Götz Das gewerbliche Proletariat; in: Grundriß der Sozialökonomie, Bd. XI, Tübingen 1926, Seite 142 - 240.
    [005:438] Büttel, Minna Die Armenpflege zu Frankfurt am Main mit besonderer Berücksichtigung der Kinderpflege im 18. und 19. Jahrhundert, Frankfurt/Main 1913.
    [005:439] Conze, Werner Vom Pöbel zum Proletariat. Sozialgeschichtliche Voraussetzungen für den Sozialismus in Deutschland; in: Vierteljahrsschrift f. Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 41. Bd. 1954, S. 333-64.
    [005:440] Dehn, Paul Die katholischen Gesellenvereine in Deutschland, Berlin 1882.
    [005:441] Dilthey, Wilhelm Gesammelte Schriften, Bd. XII, Leipzig und Berlin 1936.
    [005:442] Dahrendorf, Ralf Soziale Klassen und Klassenkonflikt in der industriellen Gesellschaft, Stuttgart 1957.
    [005:443] Eberhard, Otto Die Kräfte der Lebenserziehung in Falks und Wicherns Pädagogik, Langensalza 1922.
    [005:444] Fink, Fritz Johann Daniel Falk, der Begründer der Gesellschaft der Freunde in der Not, Weimar 1934.
    [005:445] Freyer, Hans Die Romantiker; in: Gründer der Soziologie; Reihe sozialwissenschaftlicher Bausteine, Jena 1932.
    [005:446] Geck, L.H. Adolf Die sozialen Arbeitsverhältnisse im Wandel der Zeit. Eine geschichtliche Einführung in die Betriebssoziologie, Berlin 1931.
    [005:447] Gehlen, Arnold – Schelsky, Helmut Soziologie. Ein Lehr- und Handbuch zur modernen Gesellschaftskunde, Düsseldorf/Köln 1955.
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    [005:448] Gillmann, Joseph Die Entwicklung der Waisen- und Armenkindererziehung in Baden, Diss. Freiburg 1927.
    [005:449] Goldbeck, Gustav Technik als geistige Bewegung in den Anfängen des deutschen Industriestaates, Berlin 1934.
    [005:450] Gravenstein, Viktoria Die Anfänge staatlicher Jugendfürsorge im Gebiete des nachmaligen Landes Baden, Diss. Freiburg 1946 (Maschinenschrift).
    [005:451] Haccius, Edmunde Die pädagogische Bewegung in Herders Reisejournal; Göttinger Studien zur Pädagogik, Heft 32, Langensalza 1939.
    [005:452] Höber, Kerrin Die merkantilistische Nationalerziehung, Diss. Göttingen 1935, Göttingen 1936.
    [005:453] Hoffmann, Julius Die Hausväterliteratur und die Predigten über den christlichen Hausstand. Ein Beitrag zur Geschichte der Lehre vom Hause und der Bildung für das häusliche Leben, Diss. Göttingen 1954 (Maschinenschrift).
    [005:454] Iven, Kurt Die Industriepädagogik des 18. Jahrhunderts, Göttinger Studien zur Pädagogik, Heft 15, Langensalza 1929.
    [005:455] Keilhacker, Martin Jugendpflege und Jugendbewegung in München von den Befreiungskriegen bis zur Gegenwart, München 1926.
    [005:456] Klumker, Christian Jasper Vom Werden deutscher Jugendfürsorge, Berlin 1931.
    [005:457] Krohne, Karl Lehrbuch der Gefängniskunde unter Berücksichtigung der Kriminalstatistik und Kriminalpolitik, Stuttgart 1889.
    [005:458] Lempp, Eduard Geschichte des Stuttgarter Waisenhauses 1710 - 1910, Stuttgart 1910.
    [005:459] Liese, Wilhelm Geschichte der Caritas, Freiburg 1922.
    [005:460] Ders. Wohlfahrtspflege und Caritas, München-Gladbach 1914.
    [005:461] Lukacs, Georg Die Zerstörung der Vernunft. Der Weg des Irrationalismus von Schelling zu Hitler, Berlin 1955.
    [005:462] Magdeburg, Ernst Die ständische Form der Handwerkserziehung, ihre Entwicklung und ihre Theorie, Diss. Göttingen 1938.
    [005:463] Mahling, Friedrich Beiträge zur Geschichte der Entwicklung der Inneren Mission – mit besondere Beziehung auf Hamburg, Hamburg 1898.
    [005:464] Michel, Ernst Sozialgeschichte der industriellen Arbeitswelt, Frankfurt/Main 1947.
    [005:465] Mitgau, Hermann Gemeinsames Leben, Wolfenbüttel 1948.
    [005:466] Nattermann, Johannes Adolf Kolping als Sozialpädagoge und seine Bedeutung für die Gegenwart, Leipzig 1925.
    [005:467] Neunobel, G. H. Die evangelischen Erziehungsvereine, Neukirchen 1930.
    [005:468] Pleßner, Helmut Zwischen Philosophie und Gesellschaft. Ausgewählte Abhandlungen und Vorträge, Bern 1953.
    [005:469] Ders. Das Schicksal des deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche, Zürich und Leipzig 1935.
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    [005:470] Proesler, Hans Hauptprobleme der Sozialgeschichte, Erlangen 1951.
    [005:471] Rehm, Max Das Kind in der Gesellschaft. Abriß der Jugendwohlfahrtspflege in Vergangenheit und Gegenwart, München 1925.
    [005:472] Reis, Trude Johannes Falk als Erzieher verwahrloster Jugend, Berlin 1931.
    [005:473] Ritter, Anna Die Frage der Bewußtheit in der Erziehung des Einzelnen und des Volkes bei E. M. Arndt, Göttinger Studien zur Pädagogik, Heft 1, Langensalza 1939.
    [005:474] Ritschl, Albrecht Die Geschichte des Pietismus in der lutherischen Kirche des 17. und 18. Jahrhunderts, 3 Bände, Bonn 1880 - 1886
    [005:475] Ruth, Karl Die Pädagogik der süddeutschen Rettungshausbewegung, Berlin 1927.
    [005:476] Schell, Otto Das badische Fürsorgewesen in seiner geschichtlichen Entwicklung, Bruchsal 1927.
    [005:477] Schelsky, Helmut Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart, 3. Auflage, Stuttgart 1955.
    [005:478] Schmid, Erika Strukturstudien zur Pädagogik des Sozialismus, Diss. Göttingen 1934, Göttingen 1935.
    [005:479] Schmidt, Hermann Die InnereMission in Württemberg, Hamburg 1879.
    [005:480] Schmoller, Gustav Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert. Statistische und nationalökonomische Untersuchungen, Halle 1870.
    [005:481] Ders. Die soziale Frage. Klassenbildung, Arbeiterfrage, Klassenkampf, München 1918.
    [005:482] Schnabel, Franz Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, 4 Bände, 1947 (3. Aufl.), 1949 (2. Aufl.), 1950 (2. Aufl.) und 1951 (2. Aufl.).
    [005:483] Schulte, Wilhelm Volk und Staat. Westfalen im Vormärz und in der Revolution 1848/49, Münster 1954.
    [005:484] Schnaubert, Giudo Das Lebenswerk von Johannes Falk, Weimar 1912.
    [005:485] Schöpff, Karl und Vogel, W. Ein Menschenfreund, Adelbert Graf von der Recke von Volmerstein, Gütersloh 1922.
    [005:486] Schütze, O. Die InnereMission in Schlesien, Hamburg 1883.
    [005:487] von Schulze-Gaevernitz, G. Zum socialen Frieden. Eine Darstellung der socialpolitischen Erziehung des englischen Volkes im 19. Jahrhundert, 2 Bände, Leipzig 1890.
    [005:488] Sombart, Werner Sozialismus und Soziale Bewegung, 5. Auflage, Jena 1905.
    [005:489] Ders. Die deutsche Volkswirtschaft im neunzehnten Jahrhundert und im Anfang des 20. Jahrhunderts, 8. Auflage, Darmstadt 1954.
    [005:490] Stadelmann, Rudolf Soziale und politische Geschichte der Revolution von 1848, München 1948.
    [005:491] Stadelmann, R. und Fischer, Wolfram Die Bildungswelt des deutschen Handwerkers um 1800. Studien zur Soziologie des Kleinbürgers im Zeitalter Goethes, Berlin 1955.
    [005:492] Troeltsch, Ernst Die Soziallehren der christlichen Kirchen und|A 181| Gruppen; Gesammelte Schriften Bd. I, 3. Auflage, Tübingen 1823.
    [005:493] Ders. Der Historismus und seine Probleme, Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie; Gesammelte Schriften Bd. III, Tübingen 1922.
    [005:494] Thyssen, Simon Die Berufsschule in Idee und Gestaltung, Essen 1954.
    [005:495] Tönnies, Ferdinand Die Entwicklung der sozialen Frage bis zum Weltkriege, Berlin 1926.
    [005:496] Uhlhorn, G. Die christliche Liebestätigkeit seit der Reformation, Stuttgart 1890.
    [005:497] Vigener, Fritz Ketteler. Ein deutsches Bischofsleben des neunzehnten Jahrhunderts, München und Berlin 1924.
    [005:498] Weil, Hans Die Entstehung des deutschen Bildungsprinzips, Bonn 1930.
    [005:499] Wüllenweber, Fritz Dessau und Ifferten. Eine Struktur-Studie zur Theorie der pädagogischen Internate, Diss. Göttingen 1931.

    C. Literatur zu Begriff und Theorie der Sozialpädagogik und Sozialen Arbeit

    [005:500] Achinger, Hans Fürsorge und Soziologie, in: Zentralblatt für Jugendrecht und Jugendwohlfahrt, XIX Jg. Heft 8, 1927, S. 211 ff.
    [005:501] Ders. Soziale Sicherheit. Eine historisch-soziologische Untersuchung neuer Hilfsmethoden, Stuttgart 1953.
    [005:502] Ders. Zur Theorie der Fürsorge, in: Fürsorge als persönliche Hilfe, Berlin 1929, S.4ff.
    [005:503] Bäumer, Gertrud Der Anteil der Wissenschaften an der sozialen Berufsbildung, in: Internationale Konferenz für Wohlfahrtspflege und Sozialpolitik, Paris 1928.
    [005:504] Dies. Pädagogik und Sozialpädagogik, in: Pädagogisches Zentralblatt, VII Jg. 1927, S. 757 ff.
    [005:505] Dies. Die sozialpädagogische Aufgabe in der Jugendwohlfahrtsfplege, in: Die Stellung der Wohlfahrtspflege zur Wirtschaft, zum Staat und zum Menschen, Karlsruhe 1931.
    [005:506] Dies. Die Sozialpädagogische Erzieherschaft und ihre Ausbildung, in: Handbuch der Pädagogik, hrsg. von H. Nohl und L. Pallat, Bd. V, Langensalza 1929.
    [005:507] Dies. Wesen und Aufgabe der öffentlichen Erziehungsfürsorge, in: Handbuch der Pädagogik, hrsg. von H. Nohl und L. Pallat, Bd. V, Langensalza 1929.
    [005:508] Bamberger, Elisabeth Jugendnot und Jugendhilfe, in: Unsere Jugend, I. Jg. 1949 Heft 6.
    [005:509] Baum, Marie Familienfürsorge, Berlin – Hannover – Frankfurt/M. 1951.
    [005:510] Blaum, Kurt Die Jugendwohlfahrt, Leipzig 1921.
    [005:511] Bondy, Kurt und Eyferth, Klaus Bindungslose Jugend. Eine sozialpädagogische Studie über Arbeite- und Heimatlosigkeit, her|A 182|ausgegeben von der Gilde Soziale Arbeit München/Düsseldorf 1952.
    [005:512] Deutsche Zeitschrift für Wohlfahrtspflege. Herausgeg. von O. Karstedt, S. Wronsky, Fr. Ruppert, Berlin 1925 ff.
    [005:513] Dietrich, Charlotte Zur Gestaltung der Wohlfahrtsschulen, in: Die Erziehung, V. Jg. 1930, S. 684 ff.
    [005:514] Feld, Wilhelm Die akademische Ausbildung für die soziale Arbeit, in: Deutsche Zeitschrift für Wohlfahrtspflege, I. Jg. 1928, Heft 8.
    [005:515] Fischer, Aloys Leben und Werk. Herausgeg. von Dr. Karl Kreitmair, Bd. III/IV: Gesammelte Abhandlungen zur Soziologie, Sozialpädagogik und Sozialpsychologie, München (1954).
    [005:516] Francke, Herbert Soziale und politische Einstellung in der Jugendwohlfahrt, in: Zeitschrift für Kinderforschung, 1925, S. 190 ff.
    [005:517] Fürsorge als persönliche Hilfe. Festgabe für Prof. Dr. Christian Jasper Klumker zum 60.Geburtstage am 22. Dezember 1928. Herausgeg. von Dr. W. Polligkeit, Dr. Scherpner, Dr. H. Webler, Berlin 1929.
    [005:518] Geck, L. H. Adolf Die sozialpädagogische Aufgabe der Gegenwart, in: Pädagogisches Zentralblatt, X. Jg. 1930, S. 76 ff.
    [005:519] von Gonthard, Fides Grundforderungen zur sozialen Ausbildung. Schriftenreihe der Gilde Soziale Arbeit, Nr. 2,o. J.
    [005:520] Gritschneider, Max Der Begriff der Sozialpädagogik in der deutschen erziehungswissenschaftlichen Literatur des 19. Jahrhunderts, Diss. München 1920(Maschinenschrift).
    [005:521] Grundsätzliche Fragen zur Ausgestaltung der staatlich anerkannten Wohlfahrtsschulen. Eine Sammlung von Vorträgen. Herausgegeben vom preußischen Ministerium für Volkswohlfahrt, Berlin 1926.
    [005:522] Handbuch der Jugendwohlfahrt. Herausgegeben von Dr. Heinrich Lades, Dr. Friedrich Scheck und Dr. Fritz Stippel, München/Düsseldorf 1950.
    [005:523] Hasenclever, Christa Die Problematik der sozialen Ausbildung für die Jugendhilfe, in: Mitteilungen der Arbeitsgemeinschaft für Jugendpflege und Jugendfürsorge, Jg. 1957, Heft 23, S. 1 – 12.
    [005:524] Herrmann, Gertrud Die sozialpädagogische Bewegung der zwanziger Jahre, Weinheim/Berlin 1956.
    [005:525] Internationale Konferenz für Wohlfahrtspflege und Sozialpolitik, Paris, 9. bis 13. Juli 1928 (Vorberichte).
    [005:526] Kehrer, Fritz Sozialpädagogik seit 1900. Nach ihren Ursprüngen dargestellt, Diss. Tübingen 1955 (Maschinenschrift).
    [005:527] Klumker, Christian Jasper Fürsorgewesen, Leipzig 1918.
    [005:528] Kraus, Hertha (Hersg.) Casework in USA. Theorie und Praxis der Einzelhilfe, Frankfurt am Main 1950.
    [005:529] Lattke, Herbert Soziale Arbeit und Erziehung, Freiburg/Brsg. 1955.
    [005:530] Magnus, Erna Zur Ausbildung der deutschen Sozialarbeiter, Frankfurt am Main 1953.
    [005:531] Mayer-Kulenkampf, Lina Zur augenblicklichen Lage der sozialen Aus|A 183|bildung, in: Unsere Jugend, V. Jg. 1953, S. 2 ff., S. 59 ff.
    [005:532] Mennicke, Carl Jugendbewegung und öffentliche Wohlfahrtspflege. Ein Beitrag zum sozialpädagogischen Problem der Gegenwart, in: Pädagogisches Zentralblatt, IV. Jg. 1924, Heft 10.
    [005:533] Ders. Die persönlichen Voraussetzungen der sozialen Arbeit. Grundsätzliches und Methodisches zur Ausbildungsfrage, in: Deutsche Zeitschrift für Wohlfahrtspflege, I. Jg. 1925, Heft 2, S. 49ff.
    [005:534] Ders. Zum Problem des erziehlichen Wirkens in der Jugendfürsorge, in: Zentralblatt f. Jugendrecht und Jugendwohlfahrt, XX Jg. 1928, Heft 2, S. 35 ff.
    [005:535] Ders. Das Seminar für Jugendwohlfahrt in Berlin. Tatsächliches und Grundsätzliches, in: Zentralbl. f. Jugendr. u. Jugendwohlfahrt, XVI Jg. 1924, Heft 4, S. 84 ff.
    [005:536] Ders. Das sozialpädagogische Problem in der gegenwärtigen Gesellschaft, in: Kairos. Zur Geisteslage und Geisteswende, hersg. von Paul Tillich, Darmstadt 1926.
    [005:537] Nohl, Herman Jugendwohlfahrt. Sozialpädagogische Vorträge, Leipzig 1927.
    [005:538] Ders. Pädagogik aus dreißig Jahren, Frankfurt am Main 1949.
    [005:539] Ders. Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie; dritte, unveränderte Auflage, Frankfurt am Main 1949.
    [005:540] Ders. Die Ausbildung der Sozialpädagogen durch die Universität, in : Zeitschrift für Kinderforschung 1924, S. 5 ff.
    [005:541] Nitzsche, Elisabeth Die erziehlichen Aufgaben der Wohlfahrtsschule, in: Richtlinien für die Lehrpläne der Wohlfahrtsschulen, Berlin 1930.
    [005:542] Offenberg, Maria Wohlfahrtsschule und deutsches Volkstum, in: Richtlinien für die Lehrpläne der Wohlfahrtsschulen, Berlin 1930.
    [005:543] Ottenheimer, Hilde Sozialpädagogik im Strafvollzüge. Eine entwicklungsgeschichtliche Studie, Berlin 1931.
    [005:544] Poelchau, Harald Das Menschenbild des Fürsorgerechts, Potsdam 1932.
    [005:545] Polligkeit, W. Die Bedeutung der Persönlichkeit in der Wohlfahrtspflege, in: Die Stellung der Wohlfahrtspflege zur Wirtschaft, zum Staat und zum Menschen, Karlsruhe 1931.
    [005:546] Richtlinien für die Lehrpläne der Wohlfahrtsschulen. Herausgegeben vom Preußischen Ministerium für Volkswohlfahrt, Berlin 1930.
    [005:547] Salomon, Alice Die Ausbildung zum sozialen Beruf, Berlin 1927.
    [005:548] Dies. Die deutsche Volksgemeinschaft. Wirtschaft, Staat, Soziales Leben. Eine Einführung, 2. Auflage, Leipzig 1926.
    [005:549] Dies. Leitfaden der Wohlfahrtspflege, Berlin 1921.
    [005:550] Dies. Soziale Diagnose – Ein Versuch zu einer Ana|A 184|lyse der Ermittlung, in: Deutsche Zeitschrift für Wohlfahrtspflege, I. Jg. 1925 Heft 3, Seite 114 ff.
    [005:551] Dies. Soziale Diagnose, Berlin 1926.
    [005:552] Scherpner, Hans Das Gemeinsame in der Arbeit der sozialpädagogischen Berufe, in; Unsere Jugend, II. Jg. 1950, Heft 4, S. 121 ff.
    [005:553] Soziale Arbeit heute Berichte und Empfehlungen der Gilde Soziale Arbeit zur Fürsorge und Rentenreform, herausgegeben vom Institut zur Förderung öffentlicher Angelegenheiten, Frankfurt am Main (1951).
    [005:554] Sozialpädagogik Sonderdruck aus dem Handbuch der Pädagogik. Herausgegeben von Herman Nohl und Ludwig Pallat, Langensalza 1929.
    [005:555] Die Stellung der Wohlfahrt spflege zur Wirtschaft, zum Staat und zum Menschen. Bericht über den 41. Deutschen Fürsorgetag in Berlin am 26. und 27. November l930 anläßlich der 50-Jahr-Feier des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, Karlsruhe 1931.
    [005:556] Trost, Friedrich Erziehung im Wandel, Darmstadt 1955.
    [005:557] Weniger, Erich Die Eigenständigkeit der Erziehung in Theorie und Praxis. Probleme der akademischen Lehrerbildung, Weinheim/Bergstr. (1952)
    [005:558] Ders. Das Erziehungsideal in der Jugendfürsorge, in: Zentralblatt für Jugendrecht und Jugendwohlfahrt, XX Jg. 1928, Heft 6, S. 155 ff.
    [005:559] Ders. Die Gegensätze in der modernen Fürsorgeerziehung, in: Die Erziehung, 2. Jg. 1927, S. 201 ff. und 342 ff.
    [005:560] Ders. Jugendpflege und Jugendführung als sozialpädagogische Aufgaben, in: Die Erziehung, III. Jg. 1928, S. 144 ff.
    [005:561] Ders. Sozialpädagogik, in: Enzyklopädisches Handbuch des Kinderschutzes und der Jugendfürsorge, 2. vollständig umgearbeitete Auflage, Leipzig 1930.
    [005:562] Wex, Else Vom Wesen der sozialen Fürsorge, Berlin 1929.
    [005:563] Wronsky, Siddy Methoden der Fürsorge, Berlin 1930.