Hier ist das Cover von Die Familienerziehung zu sehen.
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Vorwort

[054:1] Obwohl die Literatur zu Fragen der
»Sozialisation«
– und in diesen Zusammenhang würde auch Familienerziehung gehören – nahezu uferlos geworden ist, zahlreiche familiensoziologische Veröffentlichungen vorliegen und Kulturanthropologie und Psychoanalyse eine kaum noch überschaubare Fülle von Studien, Fallberichten, Theoremen zusammengetragen haben, gibt es bis heute, wenn wir recht sehen, keine in wissenschaftlicher Absicht geschriebene Darstellung der Probleme der Familienerziehung. In dieser Situation ist ein Buch wie das hier vorgelegte ein Risiko. Wissenschaftler vom Fach werden in ihm gewiß das vermissen, was ihnen je wichtig erscheint. Sie werden vermissen,
  • [054:2] daß auf die Fülle familiensoziologischer Daten, die in den letzten Jahrzehnten akkumuliert wurden, wenig Bezug genommen ist;
  • [054:3] daß psychoanalytische Theorie höchstens in Andeutungen Erwähnung findet;
  • [054:4] daß von der breiten empirischen Forschungslage zum Sozialisationsprozeß kaum Gebrauch gemacht wird;
  • [054:5] daß die gesellschaftstheoretische Verortung der Familie nicht den gewünschten Raum einnimmt;
  • [054:6] daß wichtige Probleme, wie z. B. die frühe Mutter-Kind-Beziehung, die Erwerbstätigkeit von Müttern, die familialen Autoritätsstrukturen keine systematische Darstellung finden;
  • [054:7] daß streckenweise der
    »common sense«
    anscheinend mehr gilt als bewährte Theorie;
  • [054:8] daß überhaupt die Autoren offenbar über keine
    »Theorie der Familienerziehung«
    verfügen.
[054:9] Indessen: Wir haben dieses Buch nicht für die theoretischen Vorlieben von Sozialisationsforschern, Psychoanalytikern, Marxisten, Interaktionisten, Familiensoziologen usw. geschrieben, sondern als eine Einführung in Probleme der Familienerziehung. Nun könnte natürlich auch eine solche Einführung so aufgebaut sein, daß sie ein didaktisch geschickt arrangiertes Sammelreferat sogenannter Forschungsergebnisse ist. Das aber entspräche nicht unserer Absicht.
[054:10] Fragen der Familienerziehung – und das unterscheidet sie wesentlich von den meisten anderen Objektbereichen der Erziehungswissenschaft – sind in unserem Kulturkreis für nahezu jeden potentiellen Leser schon einmal Bestandteil seiner unmit|A 8|telbaren Erfahrung gewesen. Nicht nur in der sinnlich wahrnehmbaren Realität, sondern auch in der sogenannten
»schönen Literatur«
wimmelt es von Familien. Auf Schritt und Tritt begegnen uns – sei es tatsächlich, sei es in der Erinnerung –
»Mütter«
,
»Väter«
,
»Töchter«
,
»Söhne«
,
»Geschwister«
. Der Gegenstand, dem wir uns zuwenden wollen, ist – jedenfalls unter gegenwärtigen Bedingungen – so universal, die Bildungsprozesse innerhalb der Familie sind so fundamental, daß eine systematische Behandlung des Themas sich zu einer Theorie der Erziehung überhaupt auswachsen würde, wollte man nicht willkürliche Beschränkungen vornehmen. Bücher, in denen versucht wurde – und selbst dort nicht mit vollem Erfolg –, so etwas zu leisten, sind deshalb in der Regel auch mehr als 500 Seiten dick, sofern es nicht die verbreiteten Sammelreferate sind, die aber in der Regel zwar einiges Wissen anhäufen, für die Erkenntnis jedoch wenig erbringen.
[054:11] Schmerzlicher ist schon, daß in unserer Einführung eine gründliche und verläßliche historische Darstellung, wenigstens der letzten zwei Jahrhunderte, fehlt. Andererseits wollten wir uns an der Unvernunft, historische Darstellungen größerer Zeiträume in Aufsatzform abzuhandeln, nicht beteiligen. Die wenigen Stichworte, die sich im ersten Kapitel finden, sind deshalb auch nur als Anregung für den Leser, nicht aber als historische Darstellung zu verantworten. Da aber gerade im Falle unseres Gegenstandes seine Geschichte eine unerläßliche Quelle für seine Erkenntnis ist, hat Ulrich Herrmann eine annotierte Bibliographie verfaßt, die sich im Anhang findet.
[054:12] Den Zweck der vorliegenden Einführung haben wir so bestimmt: Sie soll zeigen, wie Fragestellungen angesichts eines von jedem Leser erfahrenen oder erfahrbaren Gegenstandes entwickelt werden können, welche Hilfe dabei schon vorliegende wissenschaftliche Begriffe und Theorien bieten können, wie sich solche Fragestellungen zu immer komplexeren Begriffssystemen auswachsen können – immer vorausgesetzt, daß man bemüht ist, nicht spekulativ über den Alltag hinwegzugehen. Aus diesen Gründen auch beginnen wir mit der Alltagserinnerung an das, was
»Familie«
in pädagogischer Absicht bedeuten könnte. In einem zweiten Schritt (zweites Kapitel) versuchen wir, familiale Lebenswelt zu interpretieren, und zwar nicht mit Hilfe von wissenschaftlichen Untersuchungen, sondern im Sinne einer verstehenden Ermittlung dessen, was sich in den dargestellten Beispielen abspielt. Wir hoffen, daß besonders dieses Kapitel die |A 9|Aufgaben einer wirklichen Einführung in den Problemzusammenhang erfüllt, d. h. zu Reflexion, eigenem Nachdenken und weiterem Interesse anregt. Erst dann folgen wir strikter dem erkenntnisnotwendigen Prinzip, aus dem Fluß der komplexen Erfahrung einzelne Fragestellungen auszugrenzen und speziell zu erörtern. Daß wir uns dabei auf Kommunikation, Kognition und Verkehrsform beschränken, hat Gründe, die in unseren theoretischen Annahmen liegen. Sie lassen sich vereinfacht in drei Sätzen zusammenfassen:
  • [054:13] Die Familie ist – in der Form, zu der sie sich bis heute entwickelt hat – ihren Mitgliedern unmittelbar und vorwiegend in den alltäglichen Interaktionen gegeben, in denen sie versuchen müssen, die für die Erhaltung der Gruppe notwendige Verständigung (Kommunikation) zu vollbringen.
  • [054:14] Diese Interaktionen sind nicht willkürlich oder zufällig, sondern sie folgen Regeln der Darstellung und Mitteilung von Erfahrung, die als kognitive Schemata gleichsam das Gerüst für die Bildungsprozesse der Kinder darstellen.
  • [054:15] Sie sind auch insofern nicht willkürlich, als familienpädagogische Ereignisse nicht außerhalb der gesellschaftlichen Erscheinungen angesiedelt, sondern deren Teil sind. Das betrifft insbesondere auch die Formen des innerfamilialen Umgangs, die wir hypothetisch als Momente übergreifender gesellschaftlicher Verkehrsformen verstehen wollen.
[054:16] Es ist uns nicht gelungen, diese drei theoretischen Komponenten so darzustellen, wie wir selbst es von einer Einführung erwarten würden. Das liegt unter anderem daran, daß Probleme, die in der wissenschaftlichen Diskussion noch keineswegs geklärt und abgeschlossen sind, auch kaum in Form handlicher Zusammenfassungen dargestellt werden können, sollen die Fragestellungen nicht verkürzt werden. Durch immer erneuten Rückgriff auf Beispiele haben wir indessen wenigstens den Versuch gemacht, für die Probleme, die uns wichtig erscheinen, die Anschauung zu sichern und so den Leser nicht zu voreiligen Abstraktionen zu verleiten.
»Familienerziehung«
ist eben ein Gegenstand, der nicht zur Wiederholung des Bekannten, zur Anhäufung von Wissensbeständen, zu sogenannten begrifflichen
»Ableitungen«
verführen sollte; er sollte vielmehr zur produktiven Reflexion, zu sensiblem Reagieren auf andere, zu kritischer Prüfung der eigenen Handlungsgewohnheiten anregen.
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1. Kapitel
Einführung in die Problemstellung

Die Familie: Wert oder Unwert

[054:17] Offenbar hat die Pädagogik, haben vor allem diejenigen, die sich mit der Vielfalt des Phänomens
»Erziehung«
wissenschaftlich auseinandersetzen, mit Problemen der Familienerziehung eigentümliche Schwierigkeiten. Jede noch so abstrakte Problemstellung hat, eigentlich von Beginn dieser Wissenschaft an, anscheinend mehr Interesse gefunden als die konkrete Institution
»Familie«
, in der doch immerhin ein beträchtlicher, wenn nicht vielleicht sogar der wichtigste Anteil an Erziehungsarbeit erbracht wird. Bis vor wenigen Jahren noch mußte, wer sich über pädagogische Probleme der Familie orientieren wollte, soziologische, vor allem aber psychoanalytische Literatur zur Hand nehmen. Neuerdings ist das jedoch ein wenig anders geworden; indessen ist immer noch wenig von
»Familie«
, um so mehr dafür von
»Sozialisation«
die Rede. Immerhin scheint es, als sei mit diesem ebenso abstrakten wie modisch gewordenen Begriff ein beträchtlicher Teil von dem gemeint, was innerhalb von Familien sich an Erziehung vollzieht.
[054:18] Aber was sind
»Familien«
?
[054:19] Diese Frage ist nicht nur rhetorisch. Zwar werden wir uns beim Schreiben dieses Buches für eine sowohl eindeutige wie auch praktisch sinnvolle Bestimmung des Gegenstandes entscheiden müssen. Zuvor jedoch scheint es nützlich, die Fragen terminologischer Einigung und Festsetzung außer acht zu lassen, und dies aus einem praktischen Grund: Überall dort, wo Erwachsene mit Kindern sich anschicken, in einem gemeinsamen Haushalt zu leben und zu lernen, stehen die Lebensperspektiven aller Beteiligten auf dem Spiel. Der praktisch-institutionelle Rahmen für die Lösung solcher Probleme ist bei uns im Regelfall noch durch die zivilrechtliche Institution der
»Ehe«
und der
»Familie«
vorgegeben; gleichwohl aber sind einerseits die Folgen dieser Vorgabe höchst unterschiedlich und existieren andererseits gemeinsame Haushalte von Erwachsenen und Kindern auch ohne jenen rechtlichen Bedingungsrahmen. Werden nun die
»Lebensperspektiven der Beteiligten«
diesen selbst problematisch – und das ist gegenwärtig zunehmend der Fall, wenn auch noch nicht in |A 12|statistisch gravierendem Ausmaß –, dann ist zu erwarten, daß auch die Bestimmungen, die die
»Gruppenmitglieder«
diesem Mehrgenerationen-Haushalt geben, sich ändern, die Beteiligten ihre gemeinsame soziale Situation neu
»definieren«
. Bei uns nun ist ein solcher Prozeß seit einiger Zeit im Gange; zwar können wir ihn zunächst nur eher als Randerscheinung wahrnehmen; er kündigt aber – besonders unter Berücksichtigung ähnlicher und schon länger zurückliegender Vorgänge in anderen Ländern, zumal den USA – die Möglichkeit einer Verschiebung in der Definition jenes sozialen Feldes und seiner Normen an, in dem die Erziehung der nachwachsenden Generation beginnt.
[054:20] Die im Prozeß der bürgerlichen Gesellschaft idealtypisch herausgestellte
»bürgerliche Kleinfamilie«
hat es immer nur in einem Teil, den mittleren sozialen Schichten der Bevölkerung gegeben. Die
»proletarische Familie«
war von ihr schon immer unterschieden. Daneben treffen wir auch heute noch die alte
»Produktionsfamilie«
an, wenngleich selten und nur noch in Resten der bäuerlichen Bevölkerung. Die Institution
»Familie«
aber wird erst in Frage gestellt, wenn in
»Wohngemeinschaften«
,
»Kommunen«
oder
»Großfamilien«
die erwachsenen Mitglieder nicht mehr oder nicht nur durch die Institution der
»Ehe«
, die Kinder in ihrer Beziehung zueinander nicht mehr durch natürliche Verwandtschaft, die Beziehungen zwischen den beiden Generationen nicht mehr oder nicht nur durch natürliche Kindschaft definiert sind, aber das Ganze dennoch in der Form des privaten Haushalts organisiert ist. Solche Vorgänge bringen das normative System in Bewegung und lassen es unvernünftig erscheinen, in einer Erörterung der
»Familienerziehung«
die Institution Familie naiv als eine in ihrer Geltung problemlos zu akzeptierende soziale Einrichtung zu unterstellen. Auf die Spitze getrieben wird solche Unsicherheit, wenn von der
»family«
des Charles Manson die Rede ist, jener zwischen archaischen Kultübungen, Hippie-Kommune und krimineller Gang angesiedelten Gruppe junger Leute, die Ende der sechziger Jahre in Kalifornien eine nur schwer verständliche Lebensweise praktizierte (Sanders 1972).
[054:21] Stärker noch als diese Schwierigkeit, den Gegenstand
»Familie«
eindeutig zu bestimmen, wirkt sich vermutlich für die Beschäftigung mit diesem Thema aus, daß in unserem Kulturkreis jeder, der sich der Familienerziehung theoretisch zuwendet, sie zuvor schon praktisch erfahren hat und die Erinnerung daran in der Regel sein Leben lang nicht los wird. Eine soziale Einrichung |A 13|mit derart
»universalen«
praktischen Folgen ist deshalb immer auch Objekt heftiger Bewertungen: Wo die einen die Quelle des Glücks sinnvollen sozialen Daseins sehen, vermuten die anderen eine der gewichtigsten ideologischen Bastionen der kapitalistischen Gesellschaften. Die Urteile reichen denn auch von naiv sentimentaler Verehrung dieser Institution bis zum Haß, der ihre Liquidierung will. 1854 schrieb der Sozialtheoretiker W. H. Riehl in seiner
»Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Sozialpolitik«
:
[054:22]
»Die Familie ist nicht bloß religiös, sondern auch sozial und politisch ein Heiligthum. Denn die Möglichkeit aller organischen Gliederung der bürgerlichen Gesellschaft ist in der Familie im Keim gegeben, wie der Eichbaum in der Eichel steckt. In der Familie ist gegründet die sozial-politische Potenz der Sitte, aus welcher das Gesetz hervorgewachsen ist. Die Familie ist überhaupt die nothwendige Voraussetzung aller öffentlichen Entwicklung der Völker. Die Familie antasten, heißt aller menschlichen Gesittung den Boden wegziehen.«
[054:23]
»Die Familie steht unter der natürlichen Obervormundschaft der Eltern und speziell des Familienvaters. Diese Obervormundschaft ist ein Urrecht, in der Natur der Sache gegeben. Weil Vater und Mutter die Auctores, die Urheber der Familie sind, darum besitzen sie von selber auch die Auctoritas, die Macht der Autorität. Weil aber die Autorität die Gewalt des Urhebers ist, so ist sie andererseits gegründet auf die natürliche Liebe und Aufopferung des Erzeugers für sein Kind ... So war es seit die Welt stehet und so wird es bleiben«
(Riehl 1855, S. 115 und 116)
.
[054:24] Mit dem Vokabular sind wir inzwischen vorsichtiger geworden; aber Ähnlichkeit mit Äußerungen aus unserer Gegenwart ist nicht zu leugnen, so z. B. in den folgenden Aussagen:
[054:25]
»Überall in der Welt ist die Familie die primäre gesellschaftliche Instanz, die für die biologischen Bedürfnisse des Kindes sorgt und zugleich seine Entwicklung lenkt, so daß aus ihm eine integrierte Person werden kann, die imstande ist, in der Gesellschaft zu leben und deren Kultur zu bewahren und weiterzugeben«
(Lidz 1971, S. 3)
.
[054:26] In einer Rezension des
»Tagesmütterprojektes«
der Bundesregierung – jenes Versuchs, erwerbstätigen Müttern mit Kleinkindern dadurch zu helfen, daß die Betreuung von immer mehreren solcher Kinder in einem quasi privaten Rahmen von anderen Müttern übernommen wird – referiert Hassenstein das leitende Konzept so:
»Die drohenden oder schon eintretenden Funktionsverluste der Kernfamilien nicht abzufangen und mit allen verfügbaren Mitteln rückgängig zu machen, sondern die anwachsenden Lücken in den Betreuungs- und Erziehungsleistungen fortschreitend von Institutionen ausfüllen zu lassen«
– und gibt dazu sein eigenes Urteil ab:
»Inhaltlich ist dieses Konzept von unabsehbarer Tragweite. Ich halte es für verhängnisvoll: Es durchbricht die Grenzen der naturgegebenen menschlichen Anpassungsfähigkeit«
(Hassenstein 1974, S. 944)
.
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[054:27] Indirekt kommt diese Position auch dort zum Vorschein, wo der Familie zwar nicht ausdrücklich eine besondere Werthaltigkeit zugeschrieben, diese Institution aber fraglos als bewahrungswürdig unterstellt wird. Bei allen Formen der Familientherapie und der familienorientierten Erziehungsberatung ist das in der Regel der Fall. Gerade dadurch, daß hier die Aufmerksamkeit den Störungen und Konflikten und deren Lösungen gilt und dabei an dem familialen Rahmen des Lebensalltags festgehalten wird, wird – gleichsam zwischen den Zeilen – die Familie selbst in ihrer sozialen Grundstruktur als positiv genommen. Sie erscheint dann zwar als problematischer Kampfplatz miteinander streitender Mitglieder, aber – um im Bild zu bleiben – aus dem
»Kampfplatz«
könnte prinzipiell, bei entsprechender Änderung der Regeln und Handlungsgewohnheiten der Mitglieder, ein Park für befriedigende Lern-Spiele und Diskurse gemacht werden. Bei H. E. Richter heißt es in diesem Sinne:
[054:28] nicht die Familie als Institution sei problematisch, sondern nur ein falsches Bild von ihr:
»Die klassische Harmonievorstellung muß revidiert werden. Nicht das Vorhandensein stärkerer Konflikte, sogar eklatanter Kontroversen, beweist einen Defekt der Familie, sondern nur die Unfähigkeit ihrer Mitglieder, derartige Spannungen auszuhalten und miteinander zu klären, ohne einander zu verstoßen, zu bestrafen oder in regelrechte Symptombildungen hineinzutreiben«
(Richter 1970, S. 30)
. Eben nur einen Defekt!
[054:29] Allerdings hat es den Anschein, als seien sich die modernen, insbesondere die
»interaktionistisch«
orientierten Therapeuten nicht mehr so sicher. Daß sie sowohl positiv wie negativ wertende Aussagen über die Familie als gesellschaftliche Institution möglichst vermeiden, hängt nicht etwa damit zusammen, daß sie an dieser Frage uninteressiert wären, sondern mit einem praktischen Grundsatz: Diejenigen Menschen, die in einer Familie eine gemeinsame Lebenspraxis haben, sollen, wenn sie miteinander in Konflikte geraten, imstande sein, diese Konflikte selbst zu lösen, ihre Beziehungen womöglich neu zu definieren, den institutionellen Rahmen (Familie), in dem sie leben, zu verändern. Der Ausgangspunkt solcher Autoren und Therapeuten ist deshalb auch von dem Ausgangspunkt Riehls (
»So war es, seit die Welt steht«
) grundsätzlich verschieden und läßt sich in der Maxime zusammenfassen: Ob etwas so bleiben soll oder nicht, ist Sache der Gruppenmitglieder; wer eine Familie im Hinblick auf die Lösung ihrer Probleme berät, hat deshalb in jedem Fall davon auszugehen, wie diese Gruppe sich selbst defi|A 15|niert; in der Regel wird sie sich so verhalten, als wäre sie eine Einheit (Satir 1973).
[054:30] Die Verfasser des Grundgesetzes konnten sich zu einer derart offenen Bestimmung nicht entschließen. Den kritiklosen Bewunderern der Familie stehen sie wohl doch ein wenig näher als den skeptischen Therapeuten. Im Artikel 6 des Grundgesetzes heißt es unter anderem:
[054:31]
»(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung. [054:32] (2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.[054:33] (3) Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur aufgrund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.«
Und natürlich ist die Ehe nach wie vor
»im Prinzip«
eine lebenslange Gemeinschaft.
[054:34] Die bürgerliche Ehe und Kleinfamilie sollen also nach dem Willen des Gesetzgebers ausdrücklich beibehalten werden. Versuche, diese Institution generell abzuschaffen oder systematisch zu schädigen, laufen also dem Grundgesetz zuwider
(vgl. von Münch 1974, S. 249 ff.)
. Auch die
»natürliche Obervormundschaft der Eltern«
, wie Riehl es ausdrückte, soll erhalten bleiben; eine
»allgemeine staatliche Kollektiverziehung außerhalb der Familie«
, jedenfalls bis zum schulpflichtigen Alter der Kinder, bleibt ausgeschlossen
(von Münch 1974, S. 257)
. Soweit scheint das Grundgesetz den Werturteilen Riehls zu folgen, wenngleich in einer eher nüchternen Umformulierung.
[054:35] Zwei Eigentümlichkeiten des Artikels 6 des Grundgesetzes aber machen deutlich, daß es wichtige Abweichungen von der absolut gemeinten Wertentscheidung Riehls gibt. Dieser Grundgesetzartikel gehört nicht zu den unabänderlichen. In Zukunft also wäre es möglich, auch anderen Formen des Zusammenlebens von Zwei-Generationen-Haushalten den
»besonderen Schutz der staatlichen Ordnung«
zuteil werden zu lassen. Außerdem ist die Entwicklung neuer sozialer Institutionen neben der überlieferten Familienform – also z. B. Wohngemeinschaften mit ehelich nicht verbundenen Erwachsenen und Kindern – durchaus mit dem Grundgesetz verträglich, nur stehen solche Formen eben nicht unter dem besonderen Schutz nach Artikel 6; d. h. daß der Gesetzgeber, jedenfalls vorläufig noch, der Ehe als der Form, in der das Sexualverhalten gebunden bleiben soll, und der Familie als der Gruppe, die die primäre Erziehungsarbeit zu verrichten |A 16|hat, entschieden den Vorrang einräumt. Daß es sich dabei nicht um ein Naturrecht handelt, das auf unveränderliche universal gültige Werte gegründet ist, sondern um eine historisch bestimmte Wertsetzung, das ist kaum noch strittig.
[054:36] Bei der Frage nach der Historizität, d. h. der geschichtlich durch die Menschen gemachten und deshalb in zukünftiger Geschichte auch änderbaren Form der Institution für die primäre
»Pflege und Erziehung der Kinder«
setzen daher auch in der Regel die Gegner der Familie an: Nur weil diese Einrichtung historisch begriffen werden kann, ist es auch sinnvoll, Alternativen zu fordern oder vorzuschlagen. Ebenso bedingungslos, wie Riehl den Wert der Familie und ihre pädagogische Leistungsfähigkeit hervorhebt, wird dieser Wert bisweilen auch geleugnet:
[054:37]
»Die wichtigste Zeugungsstätte der ideologischen Atmosphäre des Konservativismus ist die Zwangsfamilie. Ihr Grundtypus ist das Dreieck: Vater, Mutter und Kind«
(Reich 1966, S. 105)
.
[054:38]
»In sexualideologischer Hinsicht fällt in der kleinbürgerlichen Familie die gesellschaftliche Eheideologie mit dem Kern der Familie überhaupt, der dauermonogamen Ehe zusammen. So miserabel und trostlos, leidvoll und unerträglich die Ehesituation und Familienkonstellation ist, ideologisch muß sie nach außen sowohl wie nach innen von den Familienmitgliedern verfochten werden. Die gesellschaftliche Notwendigkeit dieses Seins zwingt zum Vertuschen der Misere und zum ideologischen Hochhalten der Familie und Ehe, erzeugt auch die weit verbreitete Familiensentimentalität und die Schlagworte vom
Familienglück
, vom
trauten Heim
, vom stillen
Ruhepunkt
und vom Glück, das die Familie angeblich für die Kinder bedeutet«
(a.a.O., S. 107 f.)
.
[054:39]
»Die Familie«
also, so fährt Reich an späterer Stelle fort
»erzeugt den autoritätsfürchtigen, lebensängstlichen Untertanen und schafft derart immer neu die Möglichkeit, daß Massen durch eine Handvoll Machthabender beherrscht werden können«
(a.a.O., S. 114)
.
[054:40] Diese vernichtend gemeinten Urteile W. Reichs über die
»Fabrik autoritärer Ideologien und konservativer Strukturen«
ist vornehmlich geleitet durch die psychoanalytische Vorstellung von der Möglichkeit einer die Sexualität nicht unterdrückenden Moral. Nicht weniger hart fällt indessen auch das Urteil Coopers aus, der vor allem die Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern im Auge hat und darüber hinaus, wie auch Reich, einen Zusammenhang mit dem ökonomischen System des Kapitalismus vermutet. Sein Buch
»Der Tod der Familie«
beginnt so:
[054:41]
»In dieser Kritik an der Familie werde ich mich paradigmatisch vor allem auf den Familienverband als Kern der heutigen kapitalistischen Gesellschaft beziehen. Der größere Bezugsrahmen sowie die meisten |A 17|meiner allgemeinen Feststellungen haben jedoch mit den sozialen Auswirkungen der Familie als einer ideologischen Einrichtung zur Konditionierung (diese nicht-menschliche Formulierung ist bewußt gewählt und notwendig) in jeder Ausbeutungsgesellschaft zu tun – das heißt in jeder Sklavengesellschaft und in jeder kapitalistischen Gesellschaft, von ihrer primitivsten Entwicklungsphase im letzten Jahrhundert an bis zu den neokolonialistischen Gesellschaftssystemen in der Ersten Welt von heute. ... Der bourgeoise Familienkern (um in der Sprache seiner Vertreter, der akademischen Soziologen und Politologen zu bleiben) ist in unserem Jahrhundert zur endgültig perfektionierten Form der Nicht-Begegnung geworden und daher äußerste Verleugnung der Trauer, des Todes, der Geburt und der Erfahrungswelt, die der Geburt und Empfängnis vorausgeht«
(Cooper 1972, S. 7)
.
[054:42] Eine kältere, entschiedenere und zugleich erlebnisdichtere Ablehnung der Familie (an späterer Stelle heißt es in dem zitierten Buch lapidar:
»Die Familie wird schwachsinnig«
) läßt sich kaum denken. Sie ist ein ziemlich gelungenes Gegenbild zu dem, was Riehl gezeichnet hatte, und liest sich fast wie eine direkte Entgegnung. Andere erwärmen sich schon gar nicht mehr an dem Thema und kündigen nur lakonisch das Ende einer Institution an, über die es nur noch lohnt, wie über ein Ding zu reden:
[054:43]
»Die gegenwärtige typische Kleinfamilie stellt somit den kurzlebigen Rest eines einstmals politisch und ökonomisch unabhängigen sozialen Gebildes dar«
(Milhoffer 1973, S. 65)
.
[054:44]
»Die bürgerliche Kleinfamilie scheint eine überholte Erscheinung in der technisierten Leistungsgesellschaft zu sein«
(Feil 1972, S. 20)
.
[054:45] Jeder, der über den Gegenstand Familie so oder anders urteilt, vermeint
»Daten«
und
»Analysen«
anführen zu können, um sein Urteil zu bekräftigen, um es nicht als das Werturteil eines praktisch Beteiligten, sondern die gültige Aussage des theoretisch Diagnostizierenden erscheinen zu lassen. Davon wird später noch viel die Rede sein. Was an dieser Stelle zunächst festzuhalten ist – und wir halten dies für außerordentlich wichtig –, ist dies: In allen jenen Urteilen stecken, mehr oder weniger gut durch wissenschaftliches Vokabular verdeckt, persönliche Erfahrungen mit diesem Teil der
»gesellschaftlichen Realität«
. Schließlich gibt es kaum einen individuellen Bildungsprozeß, der nicht durch solche Erfahrungen berührt, beeinflußt oder geprägt wurde, kaum ein Individuum, das nicht in irgendeiner Form unter
»seiner Familie«
gelitten hätte, aber auch kaum jemanden, der nicht auch wenigstens über Spuren befriedigender Erinnerungen verfügt.
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[054:46] Nun ist die subjektive Erinnerung und das damit verknüpfte Wertgefühl alles andere als eine verläßliche Grundlage für eine auch objektiv zutreffende Beschreibung und Erklärung der Sachverhalte. Das bedeutet aber nicht, daß es gleichgültig sei, ob theoretische Sätze über pädagogische Sachverhalte auch subjektiv nachvollzogen werden können,
»Evidenz«
auch in Rücksicht auf die eigene Erfahrung haben. Wir möchten solche Art subjektive Evidenz für erziehungswissenschaftliche Aussagen sogar, als ein Kriterium unter anderen, fordern, und zwar aus zwei Gründen:
  • [054:47] Wir nehmen an, daß Theorien der Familienerziehung nur dann pädagogisches Handeln aufklären und leiten können, wenn sie den Handelnden zugleich zur Selbstreflexion anleiten; das aber ist nur möglich, wenn die Theorien immer mit seiner Erfahrung vermittelt bleiben können.
  • [054:48] Die Weise, in der ein Subjekt ein soziales Ereignis erlebt – beispielsweise das Kind seine streitenden Eltern –, und die Erinnerung daran ist ein Bestandteil der Realität so gut wie die Ursache, die für den Streit und das Verhalten der Streitenden gefunden werden mag.
[054:49] Aber gerade dann, wenn die subjektive Erinnerung in den Erkenntnisvorgang mit hineingenommen wird, ergeben sich diejenigen Schwierigkeiten, die in dem kontroversen Charakter der zitierten Urteile sich andeuten: Was mache ich mit meinen Erinnerungen?
[054:50] Was mache ich mit einer Erinnerung, in der die Familie mir terroristisch erscheint, unterdrückend und Angst erzeugend – so wie zum Beispiel Franz Kafka das in seinem
»Brief an den Vater«
darstellt?
[054:51] Was mache ich mit einer Erinnerung, in der mir meine Herkunftsfamilie als eine kleine solidarische Gruppe von Erwachsenen und Kindern erscheint, deren Versuche, sich zu akzeptieren und glückliche Beziehungen aufzubauen, an den einschränkenden materiellen Lebensbedingungen immer wieder scheitern – wie das in vielen Autobiographien von Arbeitern aus dem 19. Jahrhundert nachzulesen ist?
[054:52] Was mache ich mit einer Erinnerung an eine heitere bürgerliche Kindheit mit liberalen Eltern, wenn ich von den ganz anderen Erinnerungen anderer erfahre?
[054:53] Was mache ich mit solchen Erinnerungen, wenn eine
»Theorie«
, der ich gerade folge, mir diese oder jene Erinnerung zu verleugnen nahelegt oder gebietet?
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[054:54] Schließlich: Was mache ich mit meiner Erinnerung – und d. h. wie verhalte ich mich zu mir selbst –, wenn ich entdecke, daß sie sich mit meinem Lebensalter, mit meinen Freunden, mit meiner Arbeit ändert?
[054:55] Und endlich: Was mache ich, wenn die skeptische Bewegung, die damit begonnen hat, mein Verständnis von meinem ganzen Bildungsprozeß ergreift, den Raum, den meine Familie darin einnimmt, die Zeit, die sie von mir beansprucht hat und in meiner Erinnerung immer noch beansprucht? Kann ich dann nur wie Marcel Proust, in gleichsam endloser Reflexion, mich auf die
»Suche nach der verlorenen Zeit«
begeben?

Die Familie: ein theoretischer Gegenstand

[054:56] Mit dem Hinweis auf die Rolle der subjektiven Erinnerung und Bewertung beim Zustandekommen theoretischer Aussagen über Familie und Familienerziehung haben wir gleichsam nur einen Zipfel des Problems in die Hand bekommen, noch dazu scheinbar willkürlich ausgewählt. Welches Gewicht diese Sichtweise haben könnte, von welcher historischen und theoretischen Bedeutung sie ist, bleibt noch offen. Auch wollten die zitierten Autoren allesamt ja nicht eigentlich ihre Erinnerungen an die Familie, ihre subjektiven Erfahrungen oder die subjektiven Erfahrungen anderer zum Ausdruck bringen, sondern sie wollten etwas Gültiges über die Erziehungsleistungen aussagen, die Familien heute und unter unseren gesellschaftlichen Bedingungen erbringen.
»Familie«
ist für sie nicht nur der Inbegriff für eine Reihe praktischer Problemstellungen, sondern zugleich ein
»theoretischer Gegenstand«
. Wie kam es dazu?
[054:57] Eingangs schon behaupteten wir, daß die Pädagogik eigentümlicherweise noch keine Theorie der Familienerziehung entwickelt habe. Sofern auch das wissenschaftliche Erkennen ein gesellschaftliches Ereignis ist, muß es historische Gründe dafür geben, daß dieses Thema solange nur im Bereich vorwissenschaftlichen Erkennens verblieb. Familie hat es mit dem gesellschaftlichen Leben der Menschen zu tun, sie konnte deshalb eigentlich auch erst dann zu einem wissenschaftlichen Gegenstand werden, als
»Gesellschaft«
dazu wurde, und das war der Fall in dem langen Prozeß der Bildung bürgerlicher Gesellschaft und bürgerlichen Bewußtseins, der mit Auguste Comte (1798–1857) zum erstenmal zum Entwurf einer Gesellschaftswissenschaft führte. Eigen|A 20|artig ist nun, daß eben diese bürgerliche Gesellschaft die Familie aus ihrer wissenschaftlichen Reflexion lange Zeit nahezu ausgeblendet hatte. Über Familie und Familienerziehung wurde nur normativ geredet, d. h. in der Beschreibung von Zuständen, wie sie sein sollten, bzw. – was nur die negative Entsprechung ist – in der Beschreibung von beklagenswerten Sachverhalten. W. H. Riehl ist dafür ein Beispiel; obwohl als wissenschaftliche
»Naturgeschichte«
des Volkes gemeint, ist sein Buch (1855) doch nichts anderes als eine normative Soziallehre der Familie. Auch Pestalozzi, der doch immerhin die Fragen einer pädagogischen Methode schon wissenschaftlich-empirisch anzupacken versuchte, behandelte die Probleme der Familie spekulativ und eher in der Manier eines
»Künders«
:
[054:58]
»O! es ist ein heiliger Ort um die Wohnung des Menschen; da kennt, da versteht man einander, da geht einem so alles ans Herz; da soll man einander lieb seyn, wie man sonst nirgends auf der Welt lieb ist; da ist es so still; da ist nichts Fremdes und kein Schulgewühl; da schneidet ein Sohn Rübenø und rechnet mit dem Vater; da spinnt die Tochter, und lernt im Spinnen die Lieder alle, die ihre Mutter neben ihr singt; da hält man keine Hand still um des Lernens willen; und für das Landvolk ist das, keine Arbeitszeit beym Lernen verlieren, und keine Hand beym Lernen stille halten, das Allerwichtigste ... denn Arbeiten ist für das Landvolk das Nötigste.«
[054:59] Die beschwörende Diktion läßt indessen das Problem ahnen: Die Wirklichkeit war anders. Was hier idealisierend als Einheit von Arbeit, Interaktion und Lernen dargestellt wird, erscheint wenige Jahrzehnte später auch der bürgerlichen Öffentlichkeit als Ausbeutung der proletarischen Familie, als deren Reduzierung auf nacktes Überleben. Dennoch wurde die Familie auch im 19. Jahrhundert kein
»relativ autonomer Gegenstand«
(Elias 1970)
der Wissenschaft. Über die Gründe dafür lassen sich einige Vermutungen anstellen, und zwar im Hinblick sowohl auf die subjektiven wie die objektiven Komponenten der Entwicklung:
[054:60] Die Form, in der die Menschen seit dem Hochmittelalter sich über ihre Familien-Erfahrung Rechenschaft gaben, die Form der Selbstvergewisserung dieses Bestandteils ihres gesellschaftlichen Daseins, war die Familienchronik. Sie bestand in einer Reihung der
»äußeren«
Ereignisse: Geburt, Arbeit und Tod, Schicksalsschläge und Wechselfälle des Lebens, über das – da es in den traditionell vorgezeichneten Bahnen verlief – nichts
»Individuelles«
, nichts an
»Beziehungen«
oder
»Empfindungen«
mitgeteilt zu werden brauchte. Diese Darstellungsform liegt nahe |A 21|für eine Institution, die die organisatorischen Probleme einer Arbeits-, Erziehungs-, Versorgungs- und Wohngemeinschaft (Milhoffer 1973, S. 56) zu lösen hatte und dies nur unter der Bedingung institutioneller Kontinuität mit Erfolg leisten konnte.
[054:61] Mit dem Frühkapitalismus, zunächst und vor allem in den italienischen Stadtstaaten, entstand allmählich eine neue Form der Auseinandersetzung mit den familialen Erfahrungen, und zwar einerseits in der Autobiographie, andererseits in der thematischen Erweiterung der Familienchronik: Die
»Familienchronik wurde immer mehr individualisiert, aus der Geschichte des Geschlechts (bzw. des Hauses, des Oikos – K. M.) wurde endlich die eines Individuums«
(Neumann 1970, S. 180
. Dieser Strukturwandel der menschlichen Selbsterfahrung vollzog sich jedoch, wie es scheint, nur in einem Teil der Bevölkerung, in jenem, der mit dem Geldverkehr in spezifische Berührung geriet. Dieser Prozeß, der im spätmittelalterlichen Minnesang – an denjenigen Höfen, die mächtig genug waren und sich dem internationalen Geldverkehr anschließen konnten (vgl. dazu Elias 1939) – begann (Misch 1955), entfaltete sich über die italienische Renaissance (Benvenuto Cellini) und die französische Aufklärung (Jean Jaques Rousseaus Confessions) bis zu den Endprodukten dieser bürgerlichen Literaturgattung im 19. Jahrhundert. Goethe, der Übersetzer der Autobiographie Cellinis, hat in seinem Nachwort den Zusammenhang zwischen jenem Typus von Selbsterfahrung und ihrer materiellen Basis deutlich, wenngleich in idealistischer Verkürzung, formuliert:
[054:62]
»Erwerben, Erhalten, Erweitern, Mitteilen, Genießen gehen gleichen Schrittes, und in diesem lebendigen Ebenmaß läßt uns die bürgerliche Weisheit ihre schönsten Wirkungen sehen«
(Goethe 1957, S. 319)
.
[054:63] Im Vergleich zur Selbstdarstellung des Individuums, seiner Bildungsgeschichte, erscheint die Familie nur noch als Herkunftsort, als Lernmilieu, häufig auch als beschränkte und beschränkende Institution, von der das Individuum sich in mühsamen Akten der Emanzipation – so in der Autobiographie des Philipp Moritz
»Anton Reiser«
– zu einem erst in Wahrheit selbständigem Individuum befreien muß.
[054:64] Die Erfahrungen, die andere Teile der Bevölkerung mit der Familie machten, unterschieden sich jedoch deutlich von dem, was in solchen die Individualität ins Zentrum der Wahrnehmung und der Reflexion rückenden Darstellungen zum Ausdruck |A 22|kommt. Nach wie vor bleibt der Typus der Familienchronik erhalten. Sowohl die Handwerker des 18. und 19. Jahrhunderts (vgl. Fischer 1957) wie auch das Proletariat im 19. Jahrhundert (vgl. Emmerich 1974) verwenden, der Darstellungsstruktur nach, diese Form. Im Vergleich zu den Problemen des täglichen materiellen Überlebens kommen jene Fragen nach individueller Selbstverwirklichung und -darstellung, die die bürgerliche Selbsterfahrung kennzeichnen, gar nicht erst auf. Die Familie ist der institutionelle Rahmen, innerhalb dessen das Leben bewältigt werden muß und ein Minimum an persönlicher Zuwendung, an emotionaler Befriedigung, an Solidarität garantiert scheint. Bei Emmerich, dem Herausgeber
»Proletarischer Lebensläufe«
, heißt es dazu:
[054:65]
»Unter der Vielzahl der Faktoren und Instanzen in der Sozialisation des proletarischen Kindes dominiert eindeutig seine Unterwerfung unter ein exploitatives Arbeitsverhältnis, der Zwang, seine Arbeitskraft zu verkaufen, noch ehe es auch nur scheinbar zum mündigen Individuum geworden ist. Verhaltenszumutungen der Arbeitsdisziplin ohne erkennbaren Sinn, der Askese, der totalen physischen Verausgabung, die schon von Erwachsenen kaum ertragen werden können, drohen einen 8-, 10- oder 12jährigen im wörtlichen Sinn bzw. moralisch zu verkrüppeln, noch ehe er überhaupt die körperliche Reife erreicht hat«
(Emmerich 1974, S. 91 f.)
.
[054:66] Zu einem eindeutigen Erkenntnisgegenstand wird die Familie unter solchen Bedingungen noch nicht, denn für die
»proletarische Familie«
stehen die nackten Existenzbedingungen, steht ihre
»materielle Reproduktion«
im Vordergrund; hier besteht eine Kontinuität zwischen den Darstellungsformen proletarischer Autobiographien und den Reportagen über die Lage der Arbeiterfamilie von Friedrich Engels (Engels 1845). Der epische Bericht ist vorerst wichtiger als die wissenschaftliche Analyse. Und die bürgerliche Familie hat noch keinen praktischen Anlaß gehabt, an sich zu zweifeln; in der Literatur (z. B. Theodor Fontane, später Thomas Mann) entsteht zwar schon eine ironische Distanz, die Institution aber wird nicht grundsätzlich zum Problem. Das ändert sich erst, als die Familie in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts unter Druck von verschiedenen Seiten gerät:
  1. 1.
    [054:67] Die Verwirklichung der allgemeinen Schulpflicht (um 1850) und die Einführung der für alle Bevölkerungsteile obligatorischen Grundschule (1920) setzten die Familie unter einen bis dahin nicht gekannten Leistungszwang: ihre Kinder als schulreif
    »abzuliefern«
    .
  2. |A 23|
  3. 2.
    [054:68] Die bürgerliche Familie – in der großen Zahl der Fälle ihrer ehemals institutionellen Basis des produzierenden Hauswesens (Oikos) beraubt – wird mehr auf die Regelung ihrer
    »Beziehungsprobleme«
    verwiesen. Was in der proletarischen Familie des 19. Jahrhunderts schon ein wesentliches Bestimmungsmerkmal war, bildet sich nun auch in der bürgerlichen Familie heraus: Stätte der täglichen Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit zu sein.
  4. 3.
    [054:69] Die proletarische Lebenswelt gerät unter den normativen Druck von Familienleitbildern, die, von der Bourgeoisie herkommend, über das Kleinbürgertum nun sie erreichen.
  5. 4.
    [054:70] Für die
    »bürgerliche«
    und für immer größere Teile der ehemalig proletarischen Familie stellt sich als wesentliches Problem die Regelung der affektiven Beziehungen und die Erziehung des Nachwuchses. Unter diesem Druck definiert sie sich zunehmend als
    »Unity of interacting persons«
    unter der Bedingung der Haushaltseinheit.
  6. 5.
    [054:71] Schließlich gerät sie unter einen
    »Problematisierungsdruck«
    , wenngleich zunächst nur andeutungsweise. Alternative Formen primärer Gruppierungen entstehen, um aus der befürchteten Sackgasse dieser abendländischen Institution herauszukommen, freilich unter sehr verschiedenen materiellen und ideologischen Voraussetzungen: Die Kommunen in der Sowjetunion, die Kibbuzim der Zionisten, die christlichen Bruderhöfe.
[054:72] Diese Veränderungen werden von einer umfangreichen Literatur begleitet und seismographisch registriert: Kafkas
»Brief an den Vater«
, die Theaterstücke von Sternheim und Wedekind, Döblins
»Berlin Alexanderplatz «
, des weiteren Thomas Manns
»Buddenbrooks«
und
»Felix Krull«
, die Romane von Thomas Wolfe, vor allem nach der Mitte des Jahrhunderts die Schauspiele von Tennessee Williams, von Edward Albee und James Saunders. Früher schon (1936) wird das praktische Problemfeld in dem von Max Horkheimer herausgegebenen Sammelband
»Autorität und Familie«
zum erstenmal zu einem konsistenten theoretischen Gegenstand; aber erst seit der Mitte des Jahrhunderts gibt es das, was mit Recht eine theoretisch-systematische Familienforschung genannt werden kann.
[054:73] In der vorstehenden Skizze wurde nicht die tatsächliche Geschichte der Familie in der bürgerlichen Gesellschaft umrissen, sondern lediglich auf die Geschichte ihrer Darstellungsmuster, die nur ein Teil jener tatsächlichen Geschichte ist, hingewiesen. Es sollte damit auf das Problem aufmerksam gemacht werden, |A 24|das darin liegt, daß ein soziales Phänomen zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Theorie wird und dieses
»Zum-Gegenstand-werden«
keine willkürliche Setzung oder Entscheidung des Wissenschaftlers ist, sondern an praktische Probleme im Gegenstands-Feld anschließt. Damit ist es auch nicht beliebig, was innerhalb eines solchen Gegenstands-Feldes zum Thema wird. Zu dieser Frage gibt es jedoch auch andere Positionen, wie z. B. die von Friedhelm Neidhardt:
[054:74]
»Als was Familie sich darstellt, hängt zuerst vom analytischen Zugriff ab. Mit ihm werden bestimmte Aspekte des jeweils Interessanten isoliert und eingefangen, andere übersehen. So kann Familie als eine ökonomische Einheit begriffen und damit spezifischer Gegenstand wirtschaftlicher Betrachtung werden; sie kann als Objekt privat- und öffentlichrechtlicher Regulierungen aufkommen und dann dem normativen Denken der Rechtswissenschaft zufallen; oder sie mag einer Familientheologie als
Stiftung Gottes
und als
Schöpfungsordnung
im Lichte metaphysischer Verbindlichkeiten erscheinen. Biologische, psychologische und soziologische Analysen implizieren weitere je besondere Weisen, die Phänomene familialen Lebens anzuschauen, auszuwählen und abzuhandeln. [054:75] Von welcher Seite man dem Objekt sich derart nähert, ist eine Entscheidungsfrage, d. h.: Man kann darüber nicht rational streiten; es sind Interessen und Vorlieben im Spiel, denen der eine akklamiert, der andere nicht«
(Neidhardt 1968, S. 202)
.
[054:76] Richtig daran scheint mir zu sein, daß, wer heute sich den Problemen der Familie, insbesondere deren pädagogischen Problemen, zuwendet, vor einer Mehrzahl möglicher Betrachtungsweisen steht, zwischen denen er auswählen kann. Er sollte aber diese Wahlsituation und die zur Entscheidung stehenden Alternativen nicht geschichtslos betrachten. Schon, daß es überhaupt
»Familie«
als wissenschaftliches Thema gibt, ist eine solche geschichtliche Vorgabe; ebenso, daß es unterschiedliche, ungleiche Lebensbedingungen gibt, die für die Familien je besondere Probleme stellen; schließlich auch, daß theoretische Entscheidungen eine geschichtspraktische, eine politische Perspektive haben: Entscheide ich mich dafür, die Familienerziehung unter dem Gesichtspunkt zu analysieren, daß sie der Ort ist, an dem die Arbeitskraft für ihren Verkauf einerseits in der heranwachsenden Generation (freilich nur in einem ersten Schritt auf diesem Wege) gebildet, andererseits in der Erwachsenengeneration wiederhergestellt wird, dann hat meine Forschung andere thematische Akzente, eine andere praktische Bedeutung, andere praktische Folgen, als wenn ich Familienerziehung unter dem Gesichtspunkt betrachte, daß sie aus einem Netz von zwischenmenschlichen Beziehungen |A 25|besteht, in dem Konflikte gelöst oder nicht gelöst werden und darin interpersonelles Verhalten gelernt wird. Petra Milhoffer zieht daraus eine programmatische Konsequenz:
[054:77] Was Marx
»für die wissenschaftliche Behandlung der Familie vorschlug: [054:78]
diese Familie, die im Anfang das einzige soziale Verhältnis ist, wird späterhin, wo die vermehrten Bedürfnisse neue gesellschaftliche Verhältnisse erzeugen, zu einem untergeordneten (ausgenommen in Deutschland) und muß alsdann nach den existierenden empirischen Daten, nicht nach dem
Begriff der Familie
, wie man in Deutschland zu tun pflegt, behandelt und entwickelt werden
, [054:79] weist methodologisch die Richtung, wie über den bürgerlichen Familienbegriff als ein den Klassencharakter dieser Institution notwendig nur deskriptiv (nämlich in der Klassifikation schichtspezifischer Sozialisationsmerkmale) erfassender hinauszugelangen ist. Die analytische Durchdringung von
Familie
in ihrem Doppelcharakter als empirisch-konkretes Phänomen und Konstrukt bürgerlicher Ideologie erfordert in einem: Die Reflexion über ihre politischen und ökonomischen Funktionen im Rahmen kapitalistischer Produktion und Reproduktion, die Darstellung ihrer geschichtlichen Entwicklung und die Kritik der herrschenden Gedanken über Familie, da diese Aspekte in systematischem Zusammenhang stehen«
(Milhoffer 1973, S. 15)
.
[054:80] Um die Reichweite dieser Behauptung beurteilen zu können, auch die darin enthaltene These – jede andere als die vorgeschlagene Form der Bearbeitung des Themas sei
»notwendig nur deskriptiv«
– prüfen zu können, und schließlich auch, um entscheiden zu können, ob eine
»Reflexion über ihre ... Funktionen im Rahmen kapitalistischer Produktion und Reproduktion, die Darstellung ihrer geschichtlichen Entwicklung und die Kritik der herrschenden Gedanken über Familie«
die pädagogische Bedeutung des Gegenstandes angemessen erfaßt oder gar vollständig abdeckt, ist eine Kenntnis der theoretischen Wahlmöglichkeiten zwischen Betrachtungsweisen notwendige Voraussetzung.
[054:81] Wir haben zu Beginn dieses Abschnitts die vorstehende Skizze als
»Vermutungen«
bezeichnet. Das bedeutet, daß die behaupteten Entwicklungen und Zusammenhänge einerseits genauerer Nachprüfungen bedürfen. Andererseits sind auch Ergänzungen nötig, die indessen ein besonderes Studium des geschichtlichen Verlaufs erforderlich machen würden (eine solche Verlaufsskizze findet sich übrigens bei Milhoffer 1973, S. 17 ff; vgl. außerdem Weber-Kellermann 1974; Möller 1969). Zudem war fast nur die Rede von der Geschichte der Darstellungsmuster, nicht aber von den geschichtlichen Bedingungen, die solche Dar|A 26|stellungsmuster (die zugleich ja Deutungsmuster enthalten) erzeugen. Allerdings sind solche Deutungsmuster, d. h. also die Begriffe, in denen Familien von sich reden, Schlüsselphänomene mindestens jeder erziehungswissenschaftlichen Analyse. Praktisches und theoretisches Interesse fallen hier zusammen. Therapeuten, Lehrer, Sozialarbeiter, Vorschulerzieher, die mit Familien zu tun haben, haben zunächst keine Legitimation außer der, von dem Begriff auszugehen, den die Personen, die die Familie bilden,
»von sich aus«
haben – mag ihnen dieser Begriff nun
»ideologisch«
, als eine
»Rationalisierung«
, als
»Mystifikation«
oder wie immer die theoretischen Voreingenommenheiten sich ausdrücken mögen, erscheinen. Freilich ist auch dies nur programmatisch; es gibt keine wissenschaftliche Theorie, die nicht mit
»Konstrukten«
arbeitete, mit Begriffen und Modellen, die nur versuchsweise an die Wirklichkeit herangebracht, mit Beobachtungen konfrontiert werden. Sie muß sich aber – wie der Erziehungspraktiker – letzten Endes immer legitimieren können vor den Lebensperspektiven derjenigen, für die sie entworfen sind.

Einige Daten zur Lage der Familie und Familienerziehung in der Gegenwart

[054:82] Ehe wir in den folgenden Kapiteln damit beginnen, die Fragen zu diskutieren, die sich bei dem Versuch ergeben, Familienerziehung, ihre Formen, Bedingungen und Probleme darzustellen, sollen wenigstens die wichtigsten Sachverhalte benannt werden, die unter den verschiedenen Einzelwissenschaften, die sich mit unserem Gegenstand befassen, kaum noch strittig sind. Die Grundinformationen, die heute für jede familienpädagogische Erörterung unerläßlich, weil für den Bildungsprozeß der Kinder folgenreich sind, lassen sich in den folgenden Thesen zusammenfassen:
[054:83] 1. Der vorherrschende Familientyp in der Gegenwart der BRD ist die Kleinfamilie, die aus zwei Generationen besteht und durchschnittlich zwei Kinder hat. Die Großelterngeneration wie auch andere Verwandte gehören nicht mehr zu den Familienmitgliedern, mit denen Tag-für-Tag-Interaktionen aufrechterhalten werden und die mit der
»Kernfamilie«
(Vater-Mutter-Kind) zusammen einen einheitlichen Haushalt bilden. Die Tatsache, daß die Lage in der bäuerlichen Bevölkerung sich (noch?) |A 27|anders darstellt, kann als ein Hinweis darauf genommen werden, daß Veränderungen in familialen Strukturbedingungen von ökonomischen Faktoren abhängig sind.
[054:84]

Tabelle 1: Familien (mit Kindern) nach ihrer Haushaltsstruktur

Familien insgesamt darunter Familien, die allein in einem Haushalt leben
1961 1972 1961 1972 1961 1972
1000 %
Familien insgesamt 19 845 22 405 15 049 19 184 75,8 85,6
Familien mit Kindern 10 918 11 165 8 746 9 951 80,1 89,1
(Quelle: Statistisches Bundesamt)
[054:85]

Tabelle 2: Durchschnittliche Zahl der Lebendgeborenen pro Ehe nach 19½jähriger Ehedauer in Deutschland

1900: 4,1 1940: 1,8
1910: 3,0 1945: 1,9
1920: 2,3 1950: 1,9
1930: 2,2 1955: 2,0
1935: 2,1 1960: 2,1
(Zit. nach Neidhardt 1975, S. 39)
[054:86] 2. Die Familie ist nicht mehr der soziale Ort, an dem Arbeit und Erziehung derart miteinander verbunden sind, daß die Familie als Produktionssubjekt erscheint und damit auch die familialen Erziehungsfunktionen ihre inhaltliche Bestimmtheit durch den Gegenstand der elterlichen Arbeit erhalten. Statt dessen hat sich, beginnend gegen Ende des 18. Jahrhunderts und insbesondere durch die Entstehung des Proletariats im Rahmen der sich formierenden Klassengesellschaft, eine Trennung von Wohnung und Arbeitsplatz vollzogen, die für die Familie einerseits jene Entleerung um die arbeitsbestimmten Gehalte, andererseits eine Privatisierung des Familienlebens mit sich brachte.
[054:87] 3. Dergestalt auf den privaten Aspekt des Lebens, die persönlichen Beziehungen der Familienmitglieder und ihrer Probleme verwiesen, treten die emotionalen Aspekte stärker hervor, werden diese für das Überleben der Gruppe als soziale Einheit bedeutsamer. Das bedeutet, daß auch die Aufmerksamkeit sich stärker den interpersonellen Beziehungen, dem eigentlich prekär gewordenen Problembereich zuwenden.
|A 28|
[054:88] 4. Trotz solcher Veränderungen sind die innerfamilialen Rollenzuschreibungen in ihrem Grundmuster gleich geblieben, obschon in den letzten Jahrzehnten eine Verschiebung in der Ausprägung zu verzeichnen ist. Die Haushalts- und Erziehungsfunktionen fallen immer noch vorwiegend der Frau zu, verbunden mit einer Struktur der Ehebeziehung, in der der Mann in der Regel dominiert. Allerdings hat sich hier eine Änderung vollzogen, die einerseits in einer geringeren Differenz zwischen den sozialen Schichten und andererseits einer geringeren Ausprägung der Vater-Dominanz allgemein zum Ausdruck kommt.
[054:89]

Tabelle 3: Aufwand für Hausarbeit der Frauen und Männer in ausgewählten Städten verschiedener Länder

Land/Stadt Std. pro Woche Anteil in %
Frau Mann Gesamt Frau Mann Gesamt
Bulgarien/Kazanlak 24,5 11,8 36,3 67,5 32,5 100,0
UdSSR/Pskow 28,7 9,8 38,6 74,7 25,4 100,0
Ungarn/Györ 32,2 11,2 43,4 74,2 25,8 100,0
BRD/Osnabrück 33,1 7,7 40,8 81,1 18,9 100,0
USA/Jackson 33,2 7,7 40,9 81,2 18,8 100,0
Frankreich ⌀ von 6 Städten 37,5 10,5 48,0 78,1 21,9 100,0
Belgien ⌀ von mehreren Städten 37,5 5,6 43,1 87,0 13,0 100,0
DDR/Hoyerswerda 37,1 10,5 47,6 78,0 22,0 100,0
CSSR/Olomouc 35,7 14,0 49,7 71,8 28,2 100,0
(Zit. nach Menschick 1974, S. 146)
[054:90]

Tabelle 4: Einflußsphäre und Einflußstärke der Mutter in der Familie

Mutter Vater beide andere
Kontakt mit dem Lehrer hat vor allem 51 16 22 11
Das Kind wendet sich um Hilfe bei den Schularbeiten an 53 13 15 19
Mädchen sprechen über geschlechtliche Fragen mit 32 1 4 63
Jungen sprechen über geschlechtliche Fragen mit 14 10 9 67
Anregungen zum Verwandtenbesuch gibt 37 6 30 27
(Zit. nach: Bericht über die Lage der Familien in der Bundesrepublik Deutschland 1968)
|A 29-30|
[054:91]

Tabelle 5: Frauen im Alter von 15 und mehr Jahren im April 1970 nach Alter und Zahl der Kinder in der Familie sowie Beteiligung an Erwerbsleben und Wirtschaftsbereichen (in 1000)

Erwerbstätige Erwerbstätige
Zahl der Kinder in der Familie Insgesamt zusammen dar. außerhalb der Land- und Forstwirtschaft Erwerbslose/Nichterwerbspersonen Insgesamt zusammen dar. außerhalb der Land- und Forstwirtschaft Erwerbslose/Nichterwerbspersonen
Frauen insgesamt Verheiratete Frauen
Kein Kind 14 342 5 519 5 071 8 824 5 713 2 044 1 821 3 669
Mit Kindern ohne Altersbegrenzung Mit Kindern ohne Altersbegrenzung
1 4 693 1 824 1 598 2 869 3 924 1 482 1 287 2 442
2 3 513 1 213 942 2 300 3 273 1 090 832 2 183
3 1 482 489 317 993 1 407 456 289 951
4 und mehr 878 291 151 587 835 274 138 561
Mütter insgesamt 10 566 3 817 3 007 6 750 9 438 3 302 2 547 6 136
Kinder insgesamt 20 305 7 069 5 115 13 236 18 625 6 306 4 446 12 320
Mit Kindern unter 18 Jahren Mit Kindern unter 18 Jahren
1 3 666 1 546 1 360 2 120 3 348 1 329 1 155 2 018
2 2 803 927 716 1 876 2 695 864 657 1 831
3 1 132 355 230 777 1 097 340 216 757
4 und mehr 629 197 99 431 606 189 92 417
Mütter zusammen 8 230 3 025 2 406 5 204 7 745 2 722 2 120 5 032
Kinder zusammen 15 588 5 367 3 925 10 221 14 841 4 941 3 530 9 900
Mit Kindern unter 15 Jahren Mit Kindern unter 15 Jahren
1 3 446 1 420 1 234 2 026 3 195 1 246 1 068 1 949
2 2 471 775 593 1 696 2 390 729 548 1 661
3 925 273 173 652 899 261 162 638
4 und mehr 466 140 68 327 452 135 65 317
Mütter zusammen 7 309 2 608 2 068 4 701 6 935 2 371 1 843 4 564
Kinder zusammen 13 276 4 412 3 236 8 864 12 716 4 090 2 933 8 626
Mit Kindern unter 6 Jahren Mit Kindern unter 6 Jahren
1 2 783 938 770 1 845 2 672 861 696 1 811
2 871 205 138 666 855 199 132 657
3 119 29 15 91 117 28 14 89
4 und mehr 13 / / 9 12 / / 9
Mütter zusammen 3 786 1 175 923 2 611 3 657 1 090 842 2 566
Kinder zusammen 4 936 1 449 1 093 3 487 4 784 1 354 1 003 3 429
(Quelle: Statistisches Bundesamt)
|A 31|
[054:92] 5. Eine Verschiebung der Ehe-Beziehung in der Autoritäts- oder Dominanz-Dimension wird – so scheint es – begünstigt durch die zunehmende Berufstätigkeit von Müttern. Allerdings betrifft dies die sozialen Schichten in unterschiedlicher Art: In den mittleren sozialen Gruppen bedeutet die Berufstätigkeit der Mutter einen tatsächlichen Gewinn an Macht-Gleichgewicht in der Familie zwischen Mann und Frau; in den unteren Schichten jedoch hat das eher den Effekt einer Mehrfachbelastung, besonders sofern vom Mann die traditionelle Hausfrauen- und Erziehungsrolle weiterhin der Frau unverkürzt zugeschrieben wird. Da die Bedeutsamkeit der Berufstätigkeit der Mütter für das pädagogische Geschehen in der Familie in hohem Maße mit Zufriedenheit im Beruf, dem Ausmaß der Identifikation mit dieser Rolle als einer sinnvoll erlebten Arbeit zusammenhängt, andererseits aber das Berufsmotiv der Mütter mit sinkendem Einkommen des Mannes verständlicherweise das
»Dazuverdienen«
ist, ergibt sich für die pädagogischen Folgen eine problematische Situation: Die Berufstätigkeit der Frau, ihrer eigenen Emanzipation wegen und um des Abbaus des familialen Autoritätsvorsprungs des Mannes willen zu wünschen, bringt gerade in den einkommensschwachen Schichten der Bevölkerung, jedenfalls gegenwärtig, eine eher negativ zu bewertende Belastung mit sich.
[054:93]

Tabelle 6: Autorität des Ehemannes nach Berufstätigkeit der Ehefrau in fünf Ländern (1960–1967)

Ehefrau ist
Land berufstätig nicht berufstätig
Vereinigte Staaten 4,46 5,28
Bundesrepublik 4,52 5,40
Frankreich 1,90 2,03
Jugoslawien 1,94 2,79
Griechenland 2,33 2,78
Die Indexzahlen sind nur innerhalb eines jeden Landes vergleichbar. Je höher der Indexwert, desto größer die Autorität des Ehemannes.
(Zit. nach Lupri in Lüschen 1970, S. 342)
[054:94] 6. Nach wie vor ist bei dem weitaus größten Teil der Eltern in der BRD die Familie eine mit positiven Einstellungen besetzte Institution. Die meisten Mütter identifizieren sich mit ihrer Rolle und wünschen keine Alternative. Entsprechend ausgeprägt ist die Gruppengrenze der Familie, die zwischen privatem und öffentlichem Bereich trennt und durch die die gesellschaftliche Kontrolle des innerfamilialen Geschehens zurückgewiesen wird.
|A 32|
[054:95]

Tabelle 7: Einstellung von Müttern zur Mutterrolle

Vorgegebenes Statement %
Ein Mutter sollte während der ganzen Ehe, also auch, wenn die Kinder klein sind und die Mutter am meisten brauchen, die Möglichkeit haben, ihren Interessen nachzugehen 20
Eine Mutter sollte, solange die Kinder noch klein sind und sie notwendig brauchen, ihre eigenen Interessen zurückzustellen 52
Eine Mutter sollte immer für die Familie da sein; auch wenn die Kinder größer sind, findet sie in ihrer Sorge für Ehemann und Kinder hinreichend Befriedigung 22
Keine Angaben 7
(Quelle: Repäsentativerhebung
»Familie und Sozialisation 1973«
, Frage 568) (Zitiert nach: Bericht über die Lage der Familie in der Bundesrepublik Deutschland 1975)
[054:96] 7. Angesichts der These zur Berufstätigkeit von Müttern wurde schon deutlich, daß die Feststellung allgemeiner, d. h. für alle Familien geltender Merkmale nicht darüber täuschen darf, daß es in der faktischen Lebens- und Erziehungssituation schwerwiegende Unterschiede zwischen den sozialen Schichten gibt (zur Problematik des Begriffs
»Schicht«
und seiner Stellung zum Begriff
»Klasse«
vgl. das 5. Kapitel). Schon die Unterschiede im Einkommensniveau sind beträchtlich:
[054:97]
»1969 gab es in der Gesamtheit von Ehepaaren mit zwei Kindern auf der einen Seite 9,7 %, deren Haushaltseinkommen unter 1000 DM lag, auf der anderen Seite 14,1 %, denen monatlich mehr als 2500 DM zur Verfügung standen. Solche Unterschiede wirken sich nicht nur darin aus, daß die einen mehr als die anderen Konsumchancen, Gebrauchsgüter, finanzielle Sicherungen, gute Wohnungen und eigene Häuser besitzen; sie beeinflussen darüber hinaus auch Art und Weise der innerfamilialen Beziehungen: Die Themen der Kommunikation, Art und Ausmaß der Toleranz, Häufigkeit und Gegenstände von Spannungen und Streit«
(Bericht über die Lage der Familie in der Bundesrepublik Deutschland. Zweiter Familienbericht 1975, S. 19)
.
[054:98] Für nahezu alle familienpädagogischen Dimensionen wirken sich Unterschiede im Bildungsniveau der Eltern merklich aus. Trotz der Bemühungen der Bildungsreform hat sich an der ungleichen Verteilung der Bildungschancen erst wenig geändert. Die Unterschiede in Erziehungszielen und Erziehungsmitteln sind, in Abhängigkeit von der Variable
»Bildungsniveau«
gemessen, bisweilen so ausgeprägt, daß es nicht abwegig scheint, von einer je anderen familienpädagogischen Kultur zu sprechen.
|A 33|
[054:99]

Tabelle 8: Ausgewählte Familienvorstände im April 1971 nach Familienstand und monatlichen Nettoeinkommensgruppen*
*Ergebnis des Mikrozensus
; nur mit Kindern unter 18 Jahren

Familienstand des Familienvorstandes Insgesamt Davon
hat der Familienvorstand ein Nettoeinkommen von ... bis unter ... DM ist der Familienvorstand selbständiger Landwirto.Mith. Fam.angehöriger hat der Familienvorstand
unter 300 300–600 600–800 800–1 200 1 200–1 800 1 800 und mehr keine Angaben gemacht kein Einkommen
1 000 %
Verheiratete Männer 7 888 0,3 1,8 12,2 45,3 22,3 10,7 4,6 2,2 0,4
Verwitwete Frauen 220 7,9 37,1 19,3 12,9 5,0 / 5,9 9,4 /
Geschiedene Frauen 210 7,8 30,7 26,6 20,8 4,2 / / 4,2
(Quelle: Statistisches Bundesamt)
|A 34|
[054:100] 8. Das Bildungsniveau hängt indessen mit der Stellung der Eltern bzw. des Vaters im System der Arbeitsteilung eng zusammen. Die Erfahrungswelt des Arbeitsplatzes wirkt sich in die pädagogischen Komponenten des Familienlebens hinein vermutlich besonders deshalb aus, weil sie einen je besonderen Typus des Verkehrs unter Menschen prägt, eine je besondere kommunikative Erfahrung vermittelt, die über ihre Form und über ihre Inhalte das Familiengeschehen beeinflußt. Im Fall der Schichtarbeit erzwingt dies, über die entstehenden Organisationsprobleme für die Familie, daß die Muster des innerfamilialen Umgangs und der Rollenzuschreibung sich den Regeln der Arbeitsorganisation und des Arbeitsrhythmus unterwerfen.
[054:101]

Tabelle 9: Zusammenhang zwischen der Bewertung von Selbständigkeit bzw. Anpassungsfähigkeit (conformity) als Erziehungsorientierung und Ausmaß der am Arbeitsplatz verlangten Selbstsicherheit (self-reliance)

Middle Class Working Class
Least Self-Reliance (Next Least) (Next Greatest) Greatest Self-Reliance Least Self-Reliance (Next Least) (Next Greatest Greatest Self-Reliance
Proportion of Fathers who:
Value selfdirection .05 .46 .57 .83 .14 .37 .41 .65
(Intermediate) .58 .26 .24 .00 .33 .28 .21 .21
Value Conformity .37 .28 .19 .17 .53 .35 .38 .14
Total 1.00 1.00 1.00 1.00 1.00 1.00 1.00 1.00
Number of cases (19) (50) (70) (24) (36) (64) (42) (14)
p < 0.01 p < 0.01
(Quelle: Kohn 1969, S. 147)
[054:102] 9. Neben der Bildung und der Arbeitssituation treten schließlich auch die Wohnbedingungen als bedeutsamer Faktor für das familiale Lernmilieu hervor. Für die pädagogischen Wirkungen ist dieser Faktor im Hinblick auf die Schulleistungen nachgewiesen, allerdings nur in Großbritannien (Douglas 1969). Je schlechter die Wohnsituation, und zwar nach dem Zustand, der Größe und der Zimmerzahl beurteilt, um so niedriger sind die schulischen Leistungen der Kinder (die mögliche Wirkung des Faktors
»soziale Position der Familie«
konnte dabei ausgeschlos
|A 35|
[054:103]

Tabelle 10: Anteil vollständiger Familien, die – gemessen an den
»Kölner Empfehlungen 1971«
über erforderliche Wohnungsgrößen – unterversorgt sind

Anzahl der Kinder unter 18 Jahren Von der
»Kölner Empfehlung«
zugrundegelegter Mindestbedarf in qm
Unterversorgte vollständige Familien mit einem Einkommen (in %)
unter 800 DM 800 bis unter 1 200 DM 1 200 bis unter 1 800 DM 1 800 bis unter 2 500 DM 2 500 DM und darüber
0 51 37,3 29,6 20,5 12,7 5,6
1 64,5 44,2 47,8 37,8 24,9 11,2
2 69,5 40,1 46,8 36,9 23,8 10,3
3 92,0 58,7 71,7 65,2 45,8 24,8
4 107,0 66,2 81,8 75,1 61,0 31,0
5 115,0 80,0 85,7 78,5 67,0 39,6
6 121,0 72,0 88,8 81,2 79,8 52,5
[054:104] (Quelle: Statistisches Bundesamt)
|A 36|
[054:105] sen werden). Dabei ist die Wirkung auf Mädchen stärker als auf Jungen. Erklären kann man sich den Einfluß auf die Schulleistungen dadurch, daß ökologische Bedingungen besonders die Interaktionsformen beeinflussen (Interaktions-Dichte, Konflikthäufigkeit, Ausweichen der Kinder auf die Straße usw.) und diese wiederum (vgl. das 3. und 4. Kapitel), da sie ja das primäre Lernmilieu bilden, für die Bildungsprozesse der Kinder folgenreich sind. Unter diesen Umständen sind die Folgen des kapitalistischen Wohnungsmarktes für die Wohnversorgung der Familien und deren Erziehungsfähigkeit von besonderem Interesse.
|A 37|

2. Kapitel
Die Komplexität des familialen Lernfeldes

Familiale Lebenswelt

[054:106] Mit den Erörterungen im letzten Abschnitt haben wir dem Erkenntnisgang vorgegriffen: Wir haben schon Behauptungen über die Familie zusammengestellt, die eigentlich nicht am Anfang, sondern eher am Ende einer Theorie der Familienerziehung sinnvoll angebracht wären; denn jene Behauptungen setzen bereits eine Theorie voraus, in wissenschaftlicher Arbeit entwickelt und empirisch bewährt. Nun wiesen wir schon darauf hin, daß die Familie für nahezu niemanden von uns – die Leser und die Autoren – ein fremder Gegenstand ist, mit dem wir uns erst durch ein künstliches Arrangement von Informationen (z. B. in der Form von Literatur) bekannt machen müßten. Vor jeder wissenschaftlichen Theorie
»haben«
wir diesen Gegenstand schon,
»hat«
er für uns eine Bedeutung,
»hat«
die Familie uns in unseren Erinnerungen und
»haben«
wir sie in den Bildern, die wir aus Wahrnehmungen, Gefühlen, Gedanken, vor allem aber aus den vielen Ich-Du-Konstellationen in den 15 oder mehr Jahren ihrer Herrschaft über uns montiert haben. Der theoretische Gegenstand
»Familie«
ist uns zuallererst vor jeder wissenschaftlichen Theorie subjektiv gegeben, in durchaus problematischer Weise – unsere Erinnerung an ihn ist im Regelfall gebrochen.
[054:107] Die
»Brechung«
der Erinnerung erscheint – wiederum im Regelfall – in zweierlei Weise:
[054:108] Zum einen sind in ihr verschiedene und häufig widersprüchliche Erfahrungsteile miteinander verknüpft. Die Familie erscheint uns als der gesellschaftlich sonst seltene Fall, in dem die Mitglieder einer Gruppe sich wechselseitig relativ vorbehaltlos akzeptieren (wie ein Jugendlicher sagte:
»Familie ist, wo man nicht rausgeschmissen wird, auch wenn andere einen für einen Versager halten«
) und wo durch die
»auf Bedürfnisbefriedigung gerichtete eigene Produktionsweise der Frau«
(Negt/Kluge 1972, S. 50)
die interpersonellen Beziehungen (noch?) nicht auf Tauschbeziehungen reduziert sind. Sie erscheint uns aber auch als der Ort, an dem uns Triebunterdrückung gelehrt, Angst vor Sanktionen beigebracht, das Selbständigwerden erschwert wurde, und zwar auf eine Weise, daß dies für uns meistens ein lebenslanges Problem bleibt.
|A 38|
[054:109] Zum anderen ist unsere Erinnerung an die Familie, als eines theoretischen Gegenstandes, auch dadurch gebrochen, daß wir in der Reflexion – z. B. jetzt, wo es nicht darum geht, eine Autobiographie niederzuschreiben, sondern ein Thema theoretisch, d. h. mit Anspruch auf Gültigkeit abzuhandeln – nicht nur das Abstraktum
»Familie«
, sondern die Erinnerung an die besondere lebensgeschichtliche Bedeutung, die die Familie für uns hat, zum Gegenstand machen. Diese Brechung besteht darin, daß wir die eigene oder die Erinnerung anderer konfrontieren mit den Mustern ihrer Deutung. Wenn beispielsweise gerade eben von
»Bedürfnisbefriedigung«
, von
»Produktionsweise der Frau«
, von
»Triebunterdrückung«
und
»Sanktionen«
die Rede war, dann waren das nicht die unmittelbaren sprachlichen Ausdrücke für ein erfahrenes Geschehen; der autobiographische Report, wenn er
»echt«
sein wollte, würde vermutlich ganz andere sprachliche Formen wählen. Es war vielmehr die versuchte Zusammenfassung von subjektiver Erfahrung mit den Mitteln von Deutungsmustern, die von solcher Erfahrung schon relativ abgehoben sind. In diesem Fall handelte es sich um solche Deutungsmuster, die den Traditionen wissenschaftlicher Theoriebildung entstammen, z. B. der marxistischen und der psychoanalytischen Theorie.
[054:110] Das Eigentümliche eines Deutungsmusters wissenschaftlicher Art besteht darin, daß durch die Nötigung, subjektive Erfahrung in der Form eines auch intersubjektiv gültigen und an der Erfahrung überprüfbaren Satzes auszudrücken, die Aufmerksamkeit sich in solchen Fällen nicht mehr der ganzen Erfahrungsfülle des Subjektes zuwendet, sondern nur noch einem Ausschnitt. Jedenfalls ist dies der Regelfall bei der Verwendung wissenschaftlicher Deutungsmuster. Die praktischen Problemstellungen des
»Alltagsbewußtseins«
und die theoretischen Problemstellungen des
»wissenschaftlichen Bewußtseins«
decken sich nicht. Außerdem aber gibt es noch eine dritte, eine Zwischenzone von Deutungsmustern, die für das ganze Problemfeld eine wichtige Funktion hat. Diese drei Ebenen von Deutungsmustern seien an folgendem Beispiel illustriert:
[054:111] Nehmen wir den Fall an, daß abends vor dem Fernsehgerät die Eltern mit einem zehnjährigen Kind sitzen. Der Vater ist eine Stunde vorher von der Arbeit nach Hause gekommen und sieht nun beispielsweise eine Sportsendung. Das Kind möchte eine Kindersendung im anderen Programm sehen und bittet darum; die Mutter verhält sich unentschieden angesichts dieses Versuchs; der Vater aber lehnt kategorisch ab, das andere Programm einzuschalten, gibt auch keine Begründung |A 39|dafür, droht vielmehr dem Kinde, es aus dem Zimmer zu schicken, falls es seine Bitten nicht unterläßt. – Das ist freilich eine Klischee-Situation, es läßt sich an ihr jedoch unsere Frage nach den verschiedenen Ebenen von Deutungsmustern demonstrieren.
  1. 1.
    [054:112] Deutungsmuster der primären subjektiven Erfahrung: Der Vater denkt:
    »Ich bin müde und abgespannt. Es ist für mich einfach zuviel, daß ich jetzt auf das Kind eingehen soll.«
    Die Mutter denkt:
    »Er könnte ruhig dem Kind auch mal seinen Willen lassen; aber ich weiß in solchen Situationen meistens nicht, zu wem ich halten soll.«
    Das Kind denkt:
    »Es hat ja doch keinen Zweck; immer, wenn der Vater nach Hause kommt, denkt er nur an sich.«
    Alle drei haben vielleicht noch diesen gemeinsamen Gedanken:
    »Irgendwie müßte das anders sein; so wie wir uns in dieser Situation verhalten, wird keiner so recht glücklich.«
  2. 2.
    [054:113] Theoretische Deutungsmuster der Wissenschaft: Der vorliegende Fall erscheint, unter dem Gesichtspunkt der Familienstruktur, als ein Beispiel für das Problem der
    »Dominanz«
    in der Familie, z. B. meßbar in Form eines
    »Autoritäts-Index«
    (Lupri in Lüschen 1970). Unter dem Lerngesichtspunkt wird das Lernfeld für das Kind in diesem Fall vielleicht eingeordnet als
    »depriviertes Sozialisationsmilieu«
    , unter dem Gesichtspunkt der verbalen Kommunikation als
    »restriktives Sprachmilieu«
    . Die Entstehung dieser Merkmale – die der konkreten Erfahrung gegenüber abstrakt sind – wird vielleicht erklärt mit Hilfe einer Lerntheorie, einer Theorie sozialen Wandels oder einer psychoanalytischen Theorie.
  3. 3.
    [054:114] Zwischen diesen beiden Deutungsmustern ist ein drittes eingelagert, das wir vorläufig Zwischenzone nannten und in dem kollektive, kulturspezifische Erfahrungen zusammengefaßt werden. Es ist bezogen auf die
    »soziale Mitwelt«
    (A. Schütz), also nicht nur auf die Personen, mit denen ich konkret zusammenlebe, sondern auch auf den weiteren Kreis derer, von denen ich zwar keine unmittelbare Erfahrung habe, die aber durchaus Gegenstand meiner Erfahrung sein könnten, vor allem also die Angehörigen meiner Kultur. Im Falle der Familienerziehung handelt es sich dabei also um jene Deutungsmuster, in denen sich die Erfahrungen von Familien in gleicher oder ähnlicher sozio-kultureller Lage kristallisieren, die Bedeutung nicht nur für diese, sondern auch für andere Familien haben. Im vorliegenden Beispiel könnte es sich etwa um die folgenden Schemata handeln:
    »Das Verhalten von Kindern beeinflußt man am |A 40|besten dadurch, daß ein verbaler Appell mit einer Sanktionsdrohung verknüpft wird«
    (Vater);
    »in Konfliktfällen ist es besser, wenn die Regulierung dem Vater überlassen wird und die Mutter sich zurückhält«
    (Mutter);
    »es hat keinen Zweck, sich gegen die Anordnung des Vaters zu stellen; einerseits ist er sowieso der Stärkere, andererseits weiß ich, daß es den anderen Kindern in meinem Alter ähnlich ergeht«
    (Kind).
[054:115] Unsere Interpretation des Beispiels im Hinblick auf die erste und die dritte Klasse der Deutungsmuster ist natürlich fiktiv. Erst durch eine genaue Beschreibung des Falles und vor allem durch eine Selbstexplikation der Beteiligten wären wir in der Lage, den Sachverhalt zutreffend zu ermitteln; denn um herauszubekommen, mit welchen Kategorien die Subjekte einer solchen Situation diese deuten, müssen wir notwendigerweise mit ihnen reden. Indessen kommt es hier ja auch nur darauf an, deutlich zu machen, daß familienpädagogisch relevante Erkenntnis sich nicht naiv den in der Wissenschaft angesammelten Theorie-Traditionen anschließen, sondern zunächst bemüht sein sollte, die Dimensionen zu ermitteln, in denen sich Familienerziehung für das Alltagshandeln
»konstituiert«
, d. h. in denen sie Bedeutung für die Familienmitglieder hat. Daß ein solches Vorgehen gleichwohl nicht unproblematisch ist, seine Fallstricke hat, wird noch zu zeigen sein.
[054:116] Im folgenden nun sollen zunächst zwei Beispiele für familiale
»Lebenswelten«
vorgestellt und interpretiert werden. Wir wollen dabei so vorgehen, daß wir sie nicht als Einzelfälle behandeln, die irgendeine der vorhandenen wissenschaftlichen Theorien nur illustrieren würden – ein solches Verfahren wäre nur sinnvoll, wenn wir die zu illustrierende Theorie als zweifelsfrei gültig unterstellen, uns also dogmatisch verhalten wollten. Vielmehr wollen wir sehen, was in den Texten selbst – beide gehören nicht der wissenschaftlichen Literatur an – über Familie zur Sprache gebracht wird.
[054:117] Erstes Beispiel: Die Bütows*
*Mit freundlicher Genehmigung, Verlag Eremitenpresse, Düsseldorf (früher Stierstadt), aus
Gabriele Wohmann: Die Bütows, 1. Auflage 1967, 6. Auflage 1975
(leicht gekürzter Text).
[054:118]
»Die Bütows sind beliebt. Karl Bütow war in sämtlichen Semesterferien Werkstudent. Als Pharmazeut handelte er klug, Else, die Apothekerstochter, zu heiraten. Er hat die Schwiegereltern rasch von seinen Fähigkeiten überzeugt und leitet längst die Apotheke allein, eine Goldgrube. [054:119] |A 41|[054:120] Es sieht freundlich aus bei den Bütows. Else schafft jetzt alles ohne fremde Hilfe. Die Kinder kann sie zu immer größeren Aufgaben heranziehen. Die Bütows sind keine Langweiler. Karl ist beispielsweise sehr witzig. Mit der Frage nach der Übersetzung des lateinischen Wortes Miserere bringt er Gäste zum Lachen: Sein
Erbarme dich
ist die Krankheit namens Darmkoterbrechen. Beide Bütows treiben Sport. Das Familienmotto heißt Ertüchtigung. Neben Schwimmen, Ski und Rodeln, Diskus und Gymnastik pflegen die Bütows auch den Tennissport. Die Kinder bewähren sich ebenfalls in verschiedenen Sportarten, außer Tennis mit seinen hohen Clubgebühren. [054:121] Der Kleinste ist jetzt vier. Die Eltern werden ihn insgesamt jeder schätzungsweise zweihundertmal geschlagen haben, im ersten Lebensjahr noch gar nicht. Alle Bütow-Kinder sind vorzüglich erzogen. Gäste kommen gern ins Haus. Die Kinder fallen niemandem lästig. Bloß die Bütow-Eltern selber werden auf winzige Untaten aufmerksam, die Fremden durchaus entgehen. Die Bütows bestrafen ihre Kinder sehr gern vor Zeugen. Scham verschärft den Schmerz der Schläge. Karl und Else schlagen aber immer nur mit der Hand. Karl schlägt meistens auf den Hinterkopf, Else schlägt mütterlicher, schlägt ins Gesicht, da trifft sie, als Linkshänderin, die linke Ohrgegend ihrer durchweg tapferen Kinder. Die Bütows nennen ihre Erziehung Vorbereitung fürs Leben. In der Bütowschen Garderobe hängt holzgerahmt und hinter Glas ein Register von Benennungen, die in dieser Familie keiner verdienen will: Weichling, heulendes Elend, Tränentier, Jammergestalt, Schwachmatikus, Wrack, Bubi und Pole. [054:122] [054:123] Die Frau sei dem Mann untertan: Es gibt nicht viele Bibelstellen, die Karl Bütows Auffassung vom Zusammenleben der Geschlechter so präzise wiedergeben. Auf die Frage des Pfarrers, ob sie Karl gehorchen wolle, habe doch Else mit Ja geantwortet, sagt er den Leuten, die sich über die Einmütigkeit dieses Paares wundern. Auch du hast seine Beweisführung sehr verständig gefunden. Seit wann soll Else nicht mehr mein Vorbild sein? [054:124] Die Bütows geben Geld aus für die Winterfütterung des einheimischen Wildes. Karl Bütow wirft geangelte Fische zurück ins Wasser. Den Kirschbaum in ihrem kleinen Garten verteidigen sie allerdings. Die Amseln haben sich sehr vermehrt. Karl findet, es schade nichts, wenn die Söhne einige mit dem Luftgewehr abknallen. Er hat Verständnis für die Kinder. Die Bütows besitzen eine deutsche Dogge mit einer Widerristhöhe von genau achtzig Zentimetern. Das ist der höchste Widerrist, der bei deutschen Doggen gemessen wird. Dieses Tier namens Hasso kann überhaupt als Vorbild gelten. Sein Oberschädel ist stark entwickelt, der Stirnabsatz deutlich, an der kurzen Schnauze hängt genug überschüssige Haut, die vorschriftsmäßig Lefzen bildet. Karl Bütows Erziehungskunst hat sich auch bei Hasso bewährt. Hasso hört aufs Wort. Die Bütows lassen ihn sogar im Wald frei laufen. Es ist immer sehr komisch mitanzusehen, wie Hasso, der furchterregend aussieht, nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene erschreckt. Die Bütows lehnen Leute ab, die sich vor Hunden fürchten. Ihr Ältester hat vor kurzem die Pflege Hassos übernehmen dürfen, eine ehrenvolle |A 42|Verantwortung. Für die kleineren Kinder reichen Pflichten. Sogar der etwa vierhundertmal geschlagene Vierjährige darf jetzt schon helfen, die Pflanzen zu betreuen. Das Zweitälteste trat in den Bund für Vogelschutz ein. Dieses Kind hat eine Zeitlang um einen eigenen Vogel gebettelt: ein ziemlich unwürdiges Verhalten für einen Bütow. Um dieses etwas aufsässige Kind abzulenken, ließ man ihm Musikunterricht erteilen. Zwar ist es so wenig musikalisch wie alle Bütows – um so besser, um so härter die Schulung. Das Klavier steht dadurch auch nicht nutzlos herum. Karl will es nicht nur um des Sachwerts willen seiner Schwiegermutter abgeluchst haben. [054:125] Karl ist ein guter Vater, Else ist eine gute Mutter. Alle Kinder sollen Gemeinschaftsgeist und Einsatzbereitschaft lernen. Es scheint, als liebten die Bütows Substantive, die auf
schaft
enden. Die Bütows finden es schwierig, für die Kinder die richtigen Gruppen auszusuchen. Uniformen werden ja kaum noch getragen. Ideale sind im Schwinden. Es bleiben eigentlich nur noch die verlorenen Territorien, für die daher zwei der Bütow-Kinder trommeln. Und religiöse Jugendverbände. Die Bütows aber sind nicht religiös. Trotzdem werden alle Kinder konfirmiert, sind auch getauft; wozu anecken? Jedoch in neun Jahren, wenn der Jüngste konfirmiert ist, werden die Bütows Schluß mit der Kirche machen.[054:126] [054:127] In seinem Beruf opfert Karl sich so ziemlich auf. Nicht nur mit langer Arbeitszeit. Kranke verachtet er. Beide Bütows entrüsten sich über die Tränentiere und Wracks und Schlappschwänze, die nicht einmal am Rost die Schuhsohlen abstreifen können, törichte Fragen stellen, Schirme vergessen und sich immer wieder an der Apothekentür irren: Innen steht ziehen, da drücken sie, außen steht drücken, da ziehen sie. Karl wird nicht müde, während wir auf den netten Bütowschen Geselligkeiten Elses süßsaure Salate verspeisen, Anekdoten über die Torheit seiner Kunden zu erzählen. Die Bütows nehmen auch am kulturellen Leben der Stadt teil. Im Theater sind sie auf Premieren abonniert. Das bedeutet, daß sie ihre Nerven nicht schonen, denn sie kommen meist verärgert nach Haus. Der Spielplan wird immer schlechter, laut Karl.[054:128] [054:129] Karl ist so gutmütig, sagt Else von Karl. Else ist sehr weichherzig, sagt Karl von Else. Trotzdem müssen die Strafen in die Alben der Kinder eingetragen werden, wo zwischen den Fotos alle wichtigen Ereignisse verzeichnet sind, also alle Sprechverbote, Geldstrafen, Zimmerarreste und Wiedergutmachungsbußen. [054:130] Daß die Bütows gute Eltern sind, habe ich sicher bereits erwähnt.«
[054:131] Im vorliegenden Text handelt es sich um einen Bericht, in dem das Bemühen um Distanziertheit und außerordentliche Sachlichkeit in die Augen springt. Die Autorin enthält sich selbst jeder ausdrücklichen Bewertung der Ereignisse; alle vorgenommenen Wertungen sind auf eine Art mitgeteilt, die den Eindruck erzeugt, es seien die Wertungen der beschriebenen Personen. So fremd auch der Text durch die distanzierte Darstellungsform |A 43|anmuten mag – was über diese Familie mitgeteilt wird, ist deutlich
»dimensioniert«
die Ereignisse werden offenbar nach Maßgabe eines Begriffs familialer Struktur mitgeteilt, in dem sie aufeinander bezogen und damit in ihren Bedeutungen klargemacht werden. Es ist nicht nur von einem einzelnen Aspekt der Sache die Rede, sondern vom
»Ganzen«
. Das Erziehungsgeschehen wird deshalb auch nicht isoliert, sondern als ein Moment dieser
»Lebenswelt«
bestimmt.
[054:132] Versuchen wir nun, die Dimensionen zu ermitteln, in denen diese Familie sich uns darstellt, und zwar noch ohne sie schon zu gewichten, d. h. nach dem Grad ihrer Bedeutsamkeit (Relevanz) zu fragen:
  1. 1.
    [054:133] Der Text beginnt mit einem Hinweis auf die Beziehung zwischen der Familie und der Sozialwelt.
    »Die Bütows sind beliebt.«
    Dieser Satz sagt etwas über den Status, das Prestige der Familie aus, darüber, daß sie anerkannt wird, offenbar mit herrschenden Normen übereinstimmt. Diese Zugehörigkeit zu den
    »Herrschenden«
    wird nicht nur für die Dimension der normativen Orientierungen konstatiert, sondern auch für das tatsächliche Verhalten der Familie: Menschen, die anderen Normen folgen, werden diskriminiert (
    »Pole«
    ,
    »Leute, die sich vor Hunden fürchten«
    ,
    »Schlappschwänze«
    , die die in der Apotheke geltenden Regeln nicht befolgen).
  2. 2.
    [054:134] Diese Lokalisierung der Familie in der Herrschaftsstruktur der Sozialwelt hat eine materielle Basis: die Apotheke. Es ist indessen auffallend, daß die damit angesprochene Dimension
    »Arbeit«
    nicht ausgeführt wird. Die Familie verdankt dieser Dimension zwar ihre Gründung (
    »Als Pharmazeut handelte er klug, Else, die Apothekerstochter, zu heiraten«
    ), das aber verblaßt vor dem sich offenbar verselbständigenden familialen Alltagshandeln.
  3. 3.
    [054:135] Der Text bringt ferner die von der Familie angestrebten Werte, die normative Orientierung zur Sprache.
    »Das Familienmotto heißt Ertüchtigung«
    ;
    »Gemeinschaftsgeist und Einsatzbereitschaft«
    gelten als besonders wichtige Normen;
    »Ideale«
    sollen angestrebt werden, insbesondere eine Identifikation mit den
    »verlorenen Territorien«
    . Allerdings will die Familie nicht riskieren, als Außenseiter zu gelten (
    »wozu anecken?«
    ).
  4. 4.
    [054:136] Solche normativen Orientierungen gelten für die Familie absolut. Es gibt über sie keine Reflexion, kein auch nur versuchsweises In-Zweifel-Ziehen. Infolgedessen werden Menschen mit anderem kulturellen Habitus diskriminiert. Im Selbstver|A 44|ständnis der Familie wird das durch die Identifikation mit der Berufstätigkeit motiviert (
    »In seinem Beruf opfert Karl sich so ziemlich auf ... Kranke verachtet er. Beide Bütows entrüsten sich über diese Tränentiere ...«
    ), aber zugleich zu einem allgemeinen dogmatischen Wertungsmuster generalisiert (vgl. die in der Familie gebräuchlichen negativen Benennungen).
  5. 5.
    [054:137] Die Wertorientierung der Familie drückt sich auch auf der Ebene der pädagogischen Zielvorstellungen aus. Sie nennt
    »ihre Erziehung Vorbereitung fürs Leben«
    , die Kinder
    »bewähren sich ... in verschiedenen Sportarten«
    , müssen
    »Pflichten«
    und
    »Aufgaben«
    übernehmen. Diese Zielvorstellungen aber sind formal; um welche inhaltlichen Aufgaben es sich dabei handelt, bleibt dahinter verborgen (
    »Die Bütows sind nicht religiös. Trotzdem werden alle Kinder konfirmiert«
    ).
    »Gemeinschaftsgeist«
    und
    »Einsatzbereitschaft«
    gelten als Werte für sich, nicht im Hinblick auf die inhaltlichen Aufgaben, die durch solche Tugenden verwirklicht werden könnten.
  6. 6.
    [054:138] Die Familie folgt in ihrem pädagogischen Handeln einer bestimmten Lerntheorie, d. h. einer Vorstellung (instrumentellen Annahmen) darüber, auf welchen Wegen die angestrebten Ziele am zweckmäßigsten erreicht werden können. Auch dieses Deutungsmuster, mit dem sie sich die pädagogischen Zweck-Mittel-Beziehungen verständlich macht, ist formal, wie der Vorgang bei der Tierdressur (
    »Karl Bütwos Erziehungskunst hat sich auch bei Hasso bewährt«
    ). Beim Musikunterricht geht es nicht um Musik, sondern um die
    »harte Schulung«
    ; als
    »wichtige Ereignisse«
    der Familienerziehung (
    »Sprechverbote, Geldstrafen, Zimmerarreste und Wiedergutmachungsbußen«
    ) erscheinen den Bütows offenbar vornehmlich Strafen, die bei der Verhaltensregulierung verwendeten negativen Sanktionen.
  7. 7.
    [054:139] Eine in ihrer besonderen Bestimmtheit ebenso selbstverständliche wie für die Familien-Struktur dominante Dimension ist die Beziehung der Eheleute zueinander, die Rollenstruktur des Ehesystems (
    »die Frau sei dem Manne untertan«
    ). Diese Form der Beziehung ist bereits mit der Eheschließung gesetzt, in der
    »Else«
    nur in ihrer Qualität als
    »Apothekerstochter«
    erscheint. Beide werden in ihrer Beziehung zu den Kindern (Rollen-Struktur des Eltern-Kind-Systems) ebenso eindeutig und ohne Reflexion als
    »guter Vater«
    ,
    »gute Mutter«
    , wechselseitig noch einmal gespiegelt als
    »gutmütig«
    und
    »weichherzig«
    bestimmt.
  8. 8.
    [054:140] Eine letzte Dimension wird aus dem Text nur erkennbar durch ihre betonte Abwesenheit: Von der Perspektive der |A 45|Kinder ist nicht die Rede, es sei denn aus der diskriminierenden Sicht der Eltern (
    »dieses Kind hat eine Zeitlang um einen eigenen Vogel gebettelt; ein ziemlich unwürdiges Verhalten ...«
    ).
[054:141] Der auf diese Weise
»dimensionierte«
Text versucht, Gewichtungen möglichst zurückzuhalten. Die Dimensionen erscheinen vorwiegend beschreibend; dennoch aber werden ursächliche Verknüpfungen nahegelegt; durch die Beschreibung hindurch wird ein Deutungsmuster erkennbar, in dem die Dimensionen gleichsam hierarchisch angeordnet erscheinen, vorgeblich das eine aus dem anderen folgt, eben ein
»Muster«
sichtbar wird, das wir versuchsweise schematisch darstellen wollen:
(Die gestrichelten Linien sollen anzeigen, daß Beziehungen zwischen den
»Dimensionen«
(oder auch
»Kategorien«
) im Text kaum angedeutet sind; die durchgezogenen Linien sollen anzeigen, daß im Text durchaus Abhängigkeiten zwischen denjenigen Ereignissen oder Tatbeständen hergestellt werden, die den Kategorien je zuzuordnen sind.)
[054:142] An unserem Schema ist dem Leser gewiß eines aufgefallen: es erweckt einen überraschend geordneten (systematischen) Eindruck; wie kommt es zu der Symmetrie, die sich in der Anordnung der Begriffe andeutet? Diese Symmetrie ist keinesfalls eine Eigentümlichkeit des Berichts über die Familie Bütow; sie ist vielmehr ein Merkmal, das den Deutungsmustern der Interpreten zugehört. In anderen Worten: das Schema ist ein Konstrukt unserer intellektuellen Arbeit, in das zwar die Dimensionen des Berichtes eingegangen sind, in dem aber zugleich diese Dimensio|A 46|nen auf eine besondere Weise verarbeitet wurden, und sei es nur in der Weise der graphischen Anordnung. Dennoch zeigt sich an unserer Interpretation mindestens folgendes:
  1. 1.
    [054:143] Wählt man nicht von vornherein eine Art des Zugangs zu Fragen der Familienerziehung, für die – etwa nach Maßgabe irgendeiner wissenschaftlichen Tradition – aus dem ganzen ein einziger Aspekt zum Gegenstand des Nachdenkens wird, dann erscheint Familienerziehung als ein Moment in einem Geflecht von Ereignissen, Familie als ein komplexes Feld mit mannigfachen Interdependenzen (wechselseitigen Abhängigkeiten) sowohl im Inneren als auch nach außen (soziale Mitwelt, Arbeit).
  2. 2.
    [054:144] Dieses Geflecht erscheint dem Darstellenden nicht chaotisch, sondern in bestimmter Weise geordnet, nach Dimensionen, die er für bedeutsam hält oder als bedeutsam erfahren hat, gegliedert.
  3. 3.
    [054:145] In solcher Darstellung drückt sich schließlich die besondere Perspektive des Darstellenden aus, seine Art, Erfahrung zu machen und diese auch mitzuteilen. Der Darstellende ist also nicht mit seinem
    »Gegenstand«
    allein, sondern seine Perspektive ist mitbestimmt durch diejenigen, denen seine Mitteilung gilt.
[054:146] Im vorliegenden Fall war der Autor des Berichts nicht die Familie selbst oder ein Familienmitglied, sondern ein Außenstehender. Er hat zwar versucht, durch angestrengte Sachlichkeit, soweit wie möglich die Perspektive der Familie Bütow zur Geltung zu bringen. Wir können aber nicht sicher sein, ob ihm das gelungen ist; wir haben keine Möglichkeit, das zu prüfen. Ob sich also wirklich das Bewußtsein der Familie von sich selbst in den herausgestellten Dimensionen
»konstituiert«
, d. h. in ihnen sich notwendig und zutreffend ausdrückt, das läßt sich nicht entscheiden, denn die Perspektiven der Familienmitglieder kamen nicht durch diese selbst zur Sprache. Es bedeutet aber auch, daß von den drei im Anfang dieses Kapitels aufgeführten Deutungsmustern (der primären subjektiven Erfahrung, der kollektiv-kulturspezifischen Erfahrung und der wissenschaftlichen Erfahrung) das erste in dem vorgelegten Familienbericht fehlt. Wir wollen deshalb noch ein weiteres Beispiel diskutieren, in welchem nun ein Familienmitglied selbst spricht, und zwar in der Form einer Autobiographie:
[054:147] Zweites Beispiel: Eine Glasmacherfamilie aus dem 19. Jahrhundert (Auszüge aus den Erinnerungen Josef Peukerts)
[054:148]
Die Erinnerungen aus meiner frühesten Jugendzeit sind traurige Bilder des Proletarierelends, wie sie in tausendfältigen Formen in der moder|A 47|nen Gesellschaft überall zu Tage treten. Bitterste Not und Entbehrung verursachten den frühen Tod meiner Mutter durch die schreckliche Proletarierkrankheit, welche zwei Fünftel der Bevölkerung meiner Heimat dahinraffte, obwohl der ganze Distrikt, im Isergebirge und den Ausläufern des Riesengebirges, von Natur aus ein wahrer Luftkurort für Schwindsüchtige sein sollte. Allein die Glasindustrie, auf welche neun Zehntel der Bevölkerung in den Thälern und Bergen für ihren Lebensunterhalt angewiesen sind, fordert ununterbrochen ihre Opfer, speziell unter den
»Schleifern«
und
»Bläsern«
. Die Produkte, die in Gestalt von Perlen, Prismen, Knöpfen, Broschen, Ohrgehängen und sonstigem Aufputz für Frauen, Kinder und Männer in der ganzen Welt verbraucht werden, lassen nicht erkennen, welche unendliche Summen von Leiden, Elend und Menschenleben darin krystallisiert glänzen. Besonders in Zeiten geschäftlicher Depression, wenn die Glasarbeiter nicht das nötigste zum Leben verdienen, wie es gerade in meiner frühen Kindheit der Fall war, wirkt die Schwindsucht entsetzlich.[054:149] Mein Vater, an dem ich trotz seiner übergroßen Strenge mit zärtlicher Liebe hing, war ein unermüdlich fleißiger und freisinniger Mann, welcher damals nicht im Stande war, genug zum Lebensunterhalt der Familie zu verdienen. Sowohl die kranke Mutter, wie ich im Alter von 6 Jahren, mußten vom frühen Morgen bis in die späte Nacht arbeiten, um einige Kreuzer dazu zu verdienen. Später, als die Mutter schon gestorben, und ich ungefähr 10 Jahre alt war, hoben sich die Geschäfte, mein Vater machte sich selbständig, schaffte von 4 Uhr morgens bis 9 Uhr abends, und ich mußte desgleichen tun. Nach vollendetem 11. Lebensjahr wurde ich trotz allen Sträubens aus der Schule genommen, um die verschiedenen Zweige des Geschäfts zu erlernen. Meine Lern- und Wißbegierde war so groß, daß ich so etwas wie
»Schuleschwänzen«
gar nicht kannte; und ich erinnere mich, daß ich wiederholt in mit Lumpen zusammengehaltenen Schuhen im tiefsten Schnee noch zur Schule ging, um ja keine Stunde zu versäumen; und es war das schrecklichste Leid für mich, wenn ich einmal aus einem triftigen Grunde nicht zur Schule durfte. So kam es auch, daß ich mit 11 Jahren meinen Altersgenossen voraus und in der damals noch dreiklassigen Dorfschule kaum noch viel zulernen konnte. Aber ich wollte auf die höhere Schule, am liebsten
»studieren«
, wovon mein Vater jedoch nichts wissen wollte. Seine Meinung war, ich sollte vor allen Dingen arbeiten lernen, ein tüchtiger Arbeiter werden, nebenbei könne ich – wenn ich fleißig sei – noch Privatunterricht nehmen, um meine Schulkenntnisse zu erweitern, dabei blieb es. Gleich meinem Vater arbeitete ich im Sommer von 4 Uhr, im Winter von 5 Uhr morgens bis 8 und 9 Uhr abends, soweit es meine noch kindlichen Kräfte erlaubten; und durfte wöchentlich zweimal abends und Sonntags einen Privatlehrer besuchen, der mich in die Geheimnisse der Mathematik, Buchführung, Korrespondenz usw. einweihen sollte
(zit. nach Emmerich 1974)
.
[054:150] Auch in dieser Darstellung – obwohl autobiographisch und mithin aus der Perspektive eines beteiligten Familienmitgliedes verfaßt – kommen die Deutungsmuster der primären subjektiven |A 48|Erfahrung nur gebrochen zum Vorschein; oder vielleicht genauer: sie scheinen in kollektiven Deutungsmustern aufgehoben zu sein und werden allenfalls durch diese hindurch sichtbar. Eine solche Behauptung ist jedoch eine Hypothese, die auch in diesem Fall angesichts der Quellenlage (wir verfügen eben nur über den gerade zitierten autobiographischen Bericht) nicht überprüft werden kann. Wir werden noch sehen, ob die verwendeten Sprachformen uns vielleicht mit Hinweisen versorgen können. Indessen: Eine Dimensionierung der familialen Lebenswelt, der eigenen Erfahrungen des Autors von dieser Lebenswelt, ist auch in diesem Text deutlich erkennbar. Wir versuchen wiederum, diese Dimensionen zu ermitteln:
  1. 1.
    [054:151] Der Autor beginnt scheinbar mit einer individuellen Erinnerung; aber schon, was von den
    »Erinnerungen«
    ausgesagt wird (
    »traurige Bilder des Proletarierelends«
    ) und noch deutlicher die Generalisierung auf die
    »moderne Gesellschaft«
    hin zeigt, daß Individuelles hier nur beispielhaft genommen werden soll, als das Besondere, an dem Allgemeines sich zeigt. Der Bezug zur Sozialwelt wird hier nicht über einen kulturellen Status (
    »beliebt«
    ) hergestellt, sondern über die ökonomische Situation.
  2. 2.
    [054:152] Mit diesen Hinweisen auf den ökonomischen Aspekt wird sogleich die zweite mögliche materielle Dimension verknüpft: der Körper in den Seinsweisen von Krankheit und Tod. Diese biologische Dimension, da sie als der frühe Tod der Mutter angesprochen wird, erscheint als wesentliche Bedingung der familialen Wirklichkeit, nicht nur als Ereignis unter anderen, sondern als elementar im genauen Sinne des Wortes: Der Autor spricht seine Erfahrung aus, daß Gesundheit und Krankheit Alternativen sind, mit denen die Familie täglich konfrontiert wird und die unmittelbar ihren Bestand, ihre Überlebenschance betreffen.
  3. 3.
    [054:153] Überleben ist aber eindeutig an Arbeit gebunden. Mehr noch: Die biologische Dimension ist für den Autor bedeutsam vor allem im Hinblick darauf, daß sie unmittelbar die eigene Arbeitskraft bestimmt bzw. daß Krankheit den physischen Verschleiß durch die Arbeit anzeigt: diese Dimension erscheint im Text als
    »die Glasindustrie«
    , die
    »ihre Opfer«
    fordert: als ein allgemeines Subjekt also, dem
    »neun Zehntel der Bevölkerung«
    schutzlos ausgeliefert sind. Das Bild, das der Autor verwendet, um die Stellung dieser Dimension in seinem Lebenszusammenhang zu umschreiben, macht das Deutungsmuster ganz klar, mit dem er auf die Sache hinsieht:
    »Die Produkte … lassen nicht |A 49|erkennen, welche unendliche Summen von Leiden … darin krystallisiert glänzen.«
    Mit außerordentlicher Anschaulichkeit wird hier die große Distanz zwischen dem vom Elend bedrohten
    »Proletarier«
    und seinem Arbeitsprodukt, das in diesem Fall als Luxus-Gegenstand, als
    »Aufputz«
    zum Tausch und Gebrauch hergestellt wird, zur Darstellung gebracht. (Was in wissenschaftlichen Theorien
    »Arbeitskraft als Ware«
    ,
    »Entfremdung«
    ,
    »Herrschende Klasse«
    bezeichnet wird, scheint hier in Form symbolisch dargestellter sinnlicher Erfahrung auf.)
  4. 4.
    [054:154] Vor dem Hintergrund dieser als fundamental erlebten Dimensionen werden nun erst die ins familiale Detail gehenden Probleme angesprochen. Die Mutter tritt – womöglich ihres frühen Todes wegen – stark zurück. Die Dimension der Erwachsenen-Kind-Beziehung wird nur im Hinblick auf den Vater entfaltet, den der Autor gleichsam im Schnittpunkt zweier Funktionskreise oder Subsysteme darstellt: als dominierenden Garant der Stabilität der Familienstruktur (
    »übergroße Strenge«
    ) und als Orientierungspunkt der Sympathie-Beziehungen, der emotionalen Bedürfnisse (
    »an dem ich … mit zärtlicher Liebe hing«
    ).
  5. 5.
    [054:155] Diese Erfahrung von Ambivalenz in den Dimensionen der familialen Situation spricht sich auch im Hinblick auf Lernen und Bildung aus. Die starken, über die eigene soziale Situation hinausdrängenden Motive des Wissenserwerbs (
    »… im tiefsten Schnee noch zur Schule ging, um ja keine Stunde zu versäumen«
    ) werden gebremst durch die im Vater verkörperte Nötigung,
    »die verschiedenen Zweige des Geschäfts zu erlernen«
    und der Familie die produktive Funktion zurück- und damit die Freiheit von Lohnarbeit (scheinbar) wiederzugewinnen. Wie groß der damit verbundene Konflikt und wie wichtig dem Autor deshalb diese Problemdimension ist, zeigt sich schon an dem relativ breiten Raum, den sie in der Darstellung einnimmt, und der verschachtelten Art, in der die Aussagen über seine
    »Wißbegierde«
    und den entgegenstehenden Arbeitszwang sich aneinanderreihen.
  6. 6.
    [054:156] Mit der
    »Lern- und Wißbegierde«
    aber ist noch eine weitere Dimension verknüpft: die kulturell-normative Orientierung.
    »Studieren«
    zu wollen, bedeutet sozialen Aufstieg, bedeutet den Wechsel in eine andere Lebenswelt, bedeutet das Anstreben von als fremd empfundenen kulturellen Werten. Davon wollte
    »mein Vater jedoch nichts wissen«
    .
    »Arbeiten lernen, ein tüchtiger Arbeiter werden«
    ist hier die zusammenfassende Formel |A 50|für diejenigen Normen, an deren Geltung kein Zweifel besteht. Die
    »emanzipatorischen«
    Motive des Sohnes werden zwar nicht vollends verdrängt, können aber nur am Rande,
    »nebenbei«
    verwirklicht werden.
[054:157] Die Unterschiede zu den
»Bütows«
springen in die Augen, und zwar nicht nur im Hinblick auf die unterschiedlichen Inhalte – soziale Lage, historische Situation, kulturelle Werte, Arbeitsinhalte usw. –, sondern vor allem auch im Hinblick auf die Form, in der die familiale Lebenswelt erfaßt wird. Die Kategorien – so können wir auch sagen –, in denen die Familie als Lebensraum begrifflich erfaßt wird, weichen voneinander ab, besonders aber auch die gleichsam geheime Systematik, die verborgene Theorie der Autoren dieser Berichte. Ehe wir versuchen wollen, aus dem Vergleich beider einigen theoretischen Gewinn zu ziehen, soll jedoch vorerst auch der Bericht des Josef Peukert in einer schematischen Skizze zusammengefaßt werden:
[054:158] Einige Unterschiede zwischen den hier in Dimensionen ausgedrückten Gesamt-Deutungsmustern zwischen den
»Bütows«
und den
»Peukerts«
fallen vornehmlich auf:
  • [054:159] Die Dimensionen, in denen die proletarische Familie beschrieben wird, sind stärker ursächlich (im Schema durch Pfeile angedeutet) miteinander verknüpft. Arbeit und Gesundheit werden nachdrücklich als die entscheidenden Determinanten erlebt, und zwar nicht nur für den familialen Einzelfall, sondern für das proletarische Schicksal überhaupt.
  • [054:160] Bei den Glasmachern werden die Dimensionen Arbeit, Wertorientierung und Lernperspektive in ein Kontinuum gebracht. Für die Bütows erscheint solche Lernperspektive, jedenfalls auf |A 51|Wissen und Bildung bezogen, weniger bedeutsam, eher als ein kultureller Besitz, der nur im Kontext von Wertorientierungen und Sozialwelt interpretiert wird.
  • [054:161] Die kommunikativen Beziehungen innerhalb der Familie der Bütows werden als ein System von undiskutierbaren Regeln gedeutet; ihr repressiver Charakter besteht, von ihrem Inhalt abgesehen, auch darin, daß ihre Genese den Familienmitgliedern verborgen bleibt; sie sind nur noch Ausdruck von Einstellungen. Die kommunikativen Beziehungen der Peukert-Familie dagegen sind zwar auch in Regeln gefaßt, in ihrem konkreten Zweck und ihrer Herkunft nach erscheinen sie für die Familienmitglieder (den Autor) aber begründet und also auch verstehbar, vor allem in den beiden Komponenten der materiellen Sicherung und der sozial-affektiven Bindung.
  • [054:162] Im ersten Text war die Rede von
    »den Bütows«
    und damit von einer genealogischen Identität. Im zweiten Text ist die Rede von
    »Proletariern«
    und damit von einer in der Gleichzeitigkeit lokalisierten Gruppen- bzw. Klassen-Identität.

Das Ehe-System

[054:163] Die Interpretation der vorgestellten beiden Fälle von familialer Lebenswelt, des je auf besondere Weise strukturierten familialen Lernmilieus, hat gezeigt, daß Familien auf vielfältige Weise mit der Umwelt verbunden sind. Jede Familie hat nicht nur ihre je eigene Umwelt, sondern in dieser Umwelt steckt auch Allgemeines, das sie mit anderen Familien teilt. Wir versuchen für gewöhnlich, uns dieses Allgemeine in Begriffen wie
»gemeinsame historische Situation«
,
»kulturelle Situation«
,
»Klassenlage«
,
»soziale Schicht«
,
»bürgerliche Familie«
,
»proletarische Familie«
und ähnlichem begreiflich zu machen. Solche Begriffe werden in erklärender Absicht gebildet; und zwar sollen sie erklären, warum die konkrete Gestalt einer familialen Lebenswelt, das, was sich der Phänomenbeschreibung darbietet, so und nicht anders aussieht. Die unabhängigen Variablen der Erklärung, die
»Ursachen«
also oder die
»Faktoren«
, von denen vermutet wird, daß sie die Gestalt der je besonderen Familie beeinflussen, werden mit Hilfe solcher Begriffe nicht in den Familien angenommen, sondern außerhalb ihrer. Hätten wir hier eine Soziologie der sozialen Institution Familie im Auge, müßten wir unsere Aufmerksamkeit ganz auf diese Beziehungen und |A 52|Wechselbeziehungen richten. Wir interessieren uns jedoch für Familienerziehung, also für den Bildungsprozeß des Kindes und den Anteil, den die Familie daran hat. Nun sind zwar auch für diesen Bildungsprozeß Bestandteile der gesellschaftlichen Realität von Bedeutung, die jenen das Allgemeine anzielenden Begriffen entsprechen. Der Sohn des zitierten Glasmachers beispielsweise erfährt einige Aspekte der mit dem Begriff
»Klassenlage«
zusammenhängenden Formen unmittelbar, was in der Familie des Apothekers offenbar nicht der Fall ist. Andererseits aber gilt für beide Fälle – und über sie hinaus läßt sich diese Behauptung verallgemeinern für jede Erscheinungsform von Primär-Sozialisation unter der Bedingung der Familie –, daß dem Kind sein primäres Lernmilieu als ein Ensemble interagierender Personen gegeben ist. Oder anders ausgedrückt: Die Welt der Dinge, der sozialen Beziehungen, die Orientierungen in der Zeit – alles dies wird dem Kind zunächst und intensiv durch die Regeln präsentiert, denen die interagierenden Familienmitglieder, vorab die Eltern, folgen. Jenes gesellschaftlich Allgemeine ist entweder in diesen Interaktionen enthalten oder es wird für den Bildungsprozeß des Kindes – in den frühen Phasen – unbedeutend bleiben.
[054:164] Innerhalb dieses Ensembles von Interaktionen kommt der Beziehung zwischen den Erwachsenen, dem Ehe-Subsystem, besondere Bedeutung zu. Über wichtige Aspekte der Familienstruktur und damit über relativ dauerhafte Elemente des familialen Bildungsmilieus wird hier entschieden. Diese Behauptung wird indirekt gestützt durch die Erfahrung, daß Bemühungen in der Vorschulerziehung offenbar nur dann mit dauerhaftem Erfolg rechnen können, wenn es gelingt, die Eltern in die Bildungsprozesse mit einzubeziehen (Bronfenbrenner 1974). Wir wollen deshalb – wiederum an einem Beispiel entlang – zunächst sehen, was alles in der Interaktion zwischen Ehepartnern enthalten sein und wie es interpretiert werden kann:
[054:165] Protokoll einer nur schwach strukturierten Interviewsituation:
[054:166]
Interviewer
Frau gerichtet):  
Arbeiten Sie gern oder würden Sie aufhören, wenn Sie nicht Geld verdienen müßten?
[054:167]
Frau:  
Wenn ich keines verdienen müßte, würde ich gern aufhören. Für drei Kinder sorgen, damit die Familie auch die Mutter hat, ist doch ganz logisch. Na, ja, wenn’s nun nicht geht.
[054:168]
Mann:  
Es ist nur so, eh, sie kann nur diese Art Tätigkeit nehmen, ich meine, es spielt ja keine Rolle, ob sie nun geht als Raumpflegerin oder sonst dergleichen, ne. Das ist die beste Zeit, um ½2 fängt sie an in der |A 53|Schule, sie macht in der Schule, X-Schule, da macht sie sauber, ja, das ist die einzige Zeit, wo sie arbeiten gehen kann. Vormittags geht’s nicht, abends geht’s überhaupt nicht, dann müssen die Kinder versorgt werden, ja und als Mann kommt man mit drei Kindern nicht allein zurecht, das geht nicht, da muß dann die Frau zu Hause bleiben. Vor allen Dingen, die Schularbeiten müssen mit dem Ältesten gemacht werden, abends ...
[054:169]
Frau:  
Na, ja, das könnte ja auch der Mann machen, ne?
[054:170]
Mann:  
Na ja, das könnte ich auch machen, aber ich bin doch froh, wenn ich von der Arbeit komme und mal eine Stunde ausruhen kann oder wie gesagt, ja ...
[054:171]
Frau:  
Ja, das ... na, ich will dazu nichts sagen ...
[054:172]
Mann:  
Na, nu!
[054:173]
Frau:  
Da gibts dann ... gibts dann wieder Meinungsverschiedenheiten.
[054:174]
Mann:  
Ach so, meine Frau meint, daß ich vielleicht erst mal heimkomme, wenn ich einen getrunken habe oder so (lacht), das meint sie jetzt vielleicht, weil, wie soll man das sagen, von trinken ... tut jeder ...
[054:175]
Frau:  
Man kann sich normalerweise auf dich nicht verlassen.
[054:176]
Mann:  
Nu ja ...
[054:177]
Frau:  
(unterbricht): Wenn man da nicht hintersitzen würde, so könnte man sich auf dich nicht verlassen, dann könnte ich überhaupt nicht arbeiten gehen.
[054:178]
Mann:  
... also meine Frau ist der Meinung, daß ich ...
[054:179]
Frau (unterbricht):  
Also ich bin der Meinung, daß, wenn ich weggehe, muß der Mann zu Hause bleiben, damit die Kinder unter Kontrolle sind. Sie dürfen in diesem Alter noch nicht allein gelassen werden. Die, die können ja sonst was anstellen, anstellen in der Zeit. Wer dafür verantwortlich ist, ist in erster Linie die Mutter, und deshalb bin ich da ... also wenn ich zur Arbeit gehe, deshalb ist es so gut, wenn er von der Arbeit kommt, daß ich gehen kann. Es gibt ewig Meinungsverschiedenheiten bei uns. Dann kommt er um ½3 Uhr nach Hause oder es ist schon oft vorgekommen, daß um 5, wenn ich von der Arbeit kam, dann kam er erst nach Hause. Und das klappt dann eben so ...
[054:180]
Mann:  
Na ja, es ist eben auch ...
[054:181]
Frau:  
Da bin ich nicht mit einverstanden, sowas ...
[054:182]
Mann:  
Aber aufgrund der Tatsache, daß ..., also wenn ich nur ... morgens um 6 aufstehen sollte, meine Arbeit verrichte und dann abends hierherkomme und hier in der Stube sitze, auf die Kinder aufpasse, abends vielleicht etwas im Fernsehen sehe oder lese oder sonst dergleichen und dann ins Bett gehe und das so Tag aus Tag ein machen sollte, dann ...
[054:183]
Frau:  
Also wie gesagt, ... ihr wart alle damit einverstanden, daß ich arbeiten gehe, also mußt du auch die Konsequenzen daraus ziehen und zu Hause sein, wenn ich gehe, und auf die Kinder aufpassen. Das sind nur 3½ Std., die ich arbeite, und ich schaffe ja praktisch den ganzen Tag. Das ist doch die Gleichberechtigung, du kannst doch auch auf die Kinder aufpassen.
[054:184]
Mann:  
Na ja, als Mann ...
[054:185] |A 54|
Frau:  
Wieso hat ein Mann mehr Freiheiten wie eine Frau, das versteh ich nicht, also das verstehe ich auch nicht.
[054:186]
Mann:  
Na also, ich seh es aus dem Grunde, weil ich Kollegen habe, wo die Frauen nicht arbeiten, weil sie es vielleicht auch nicht nötig haben, die von zu Hause aus vielleicht recht begütert sind, die, also ich möchte sagen, weniger, also ein Kollege hat beispielsweise drei Häuser, also wie gesagt, dem gehts sehr gut.
[054:187]
Mann und Frau:  
(sprechen unverständlich durcheinander)
[054:188]
Mann:  
Also, es gibt doch noch welche, die vielleicht verheiratet sind und noch keine Kinder haben, wo die Frauen zu Hause sind und die Männer arbeiten, und die können doch noch mal ein Glas Bier trinken zusammen oder die können Skat spielen zusammen ... Und das verstehen sie nicht, daß ich immer grundsätzlich um 1 Uhr schnellstens nach Hause muß, um auf die Kinder aufzupassen.
[054:189]
Frau:  
Wenn ich z. B. es so machen würde wie du und würde sagen, bleibst einfach zwei Stunden länger weg und laß doch die Kinder mit dem Vater machen, was sie wollen, wenn ich auch so denken würde ...
[054:190]
Mann:  
Hm.
[054:191]
Frau:  
Ja, was meinst du, was dann los wär?
[054:192]
Mann:  
Na ja, auf alle Fälle ... bin ich der Meinung, ein bißchen Freiheit muß man als Mensch schon haben, wenn man das schon ... sowieso angebunden sein wollte, kommt nach Hause, auf die Kinder aufpassen, arbeiten, abends vielleicht Fernsehen gucken und dann schlafen gehen, nein ist nichts, also ...
[054:193]
Frau:  
Das hat doch keiner gesagt ...
Mann:  
Also der Meinung bin ich nicht ...
[054:194]
Frau:  
Ich mein, ich würde gern abends einmal in der Woche ausruhen, wo du mit deinen Kollegen zusammen bist, wo du Karten spielst und auch einmal ein Bier trinkst, aber das braucht nicht … auf … auf Dauer zu sein, ich mach es doch auch nicht …
[054:195]
Mann:  
Na ja, weg gehen wir sowieso nicht, die Kinder kann man nicht allein lassen, man könnte zwar ... klar. Nachbarn und so ... würden mal aufpassen, aber erstens, wenn man weggeht, das kostet nur viel Geld und das kann man sich nicht erlauben, daß wir jede Woche ein- oder zweimal Weggehen, das ginge nicht, denn wenn man das Geld zusammenrechnet im Monat, da kommt allerhand Geld zusammen, ne. Und das ist doch, wie gesagt dadurch ... Ich bin abgespannt von der Arbeit.
[054:196]
Frau:  
Du bist abgespannt, weil du morgens um ½6 losgehst. Nun frag mich mal, wann ich mal abgespannt bin. Das dürfte ich an und für sich überhaupt nicht sein bei dir.
[054:197]
Mann:  
Na gut, man muß das mit den Schularbeiten anders regeln, daß der Junge nicht Schularbeiten abends macht.
[054:198]
Frau:  
Das hat mit den Schularbeiten überhaupt nichts zu tun.
[054:199]
Mann:  
Das hat auch damit zu tun. Wenn er von der Schule kommt, kann er gleich nach dem Essen seine Schularbeiten machen.
[054:200]
Frau:  
Ja, wenn der Vater dabeisitzen würde und sagen, nun hör mal A., jetzt machst du mal die Schularbeiten; wenn du fertig bist, zeigst du sie mir mal, dann guck ich sie mal schnell nach, dann braucht das die Mutter abends nicht mehr zu tun, wenn sie von der Arbeit kommt; dann wäre die ganze Sache ja auch erledigt. Aber du setzt ja mit dem |A 55|Jungen dich nicht, beschäftigst dich nicht mit den Schularbeiten, das ist es. Du guckst ja abends noch nicht mal nach, ob es richtig ist oder ob er was falsch gemacht hat.
[054:201]
Mann:  
Das sollst du doch machen!
[054:202]
Frau:  
Wofür bin ich noch alles da?!
[054:203]
Mann:  
Wie gesagt, er kann ja seine Schularbeiten mittags machen und abends werden sie dann nachgeguckt.
[054:204] Der Interviewer knüpft bei der zuvor im Gespräch erwähnten Erwerbstätigkeit der Frau (Raumpflegerin in einer Schule) an mit der Vermutung, daß anhand dieses Themas wichtige Probleme des Ehe-Systems zur Sprache kommen. Offenbar bestätigt sich seine Annahme. Nicht nur illustriert der Text die vielfältige Verflochtenheit mannigfacher Dimensionen des familialen Lebens, er zeigt auch durch die Intensität der Auseinandersetzung des Ehepaares, daß so etwas wie ein Schlüsselproblem der Familie zur Darstellung kommt. Wie in den Quellen-Texten, die wir in dem vorangegangenen Abschnitt interpretierten, wird auch hier von den Gesprächspartnern eine Dimensionierung ihrer Situation vorgenommen. Wiederum wollen wir diese im Text enthaltene Gliederung des angesprochenen Problemfeldes zu rekonstruieren versuchen. Da es sich hier nicht nur um einen, sondern um zwei
»Autoren«
handelt, müssen wir allerdings berücksichtigen, daß die Dimensionierung von beiden möglicherweise auf unterschiedliche Art vollzogen und gewichtet wird. Wir rekonstruieren die Dimensionen deshalb für Mann und Frau getrennt:
[054:205] 1. Die Ehepartner bestimmen (
»definieren«
) ihre Situation als Aufgaben-Konflikt.
[054:206]
Frau: Mann:
Es ist vornehmlich ihr Konflikt, da die Familie einerseits
»die Mutter haben muß«
(
»ist doch ganz logisch«
), andererseits aber durch deren Erwerbstätigkeit Schwierigkeiten für die Erfüllung der Aufgabe entstehen.
Es ist vornehmlich der Konflikt der Frau, denn
»als Mann kommt man mit drei Kindern nicht allein zurecht«
. Seine eigene Arbeit und die mit ihr verbundene Belastung schließt eine intensivere Beschäftigung mit den Kindern aus.
[054:207] 2. Die Ehepartner bestimmen ihre Situation als Beziehungs-Konflikt.
|A 55-56|
[054:208]
Frau: Mann:
Sie sieht den Konflikt über die Tatsache der
»Meinungsverschiedenheit«
hinaus als Solidaritätsproblem (
»Du bist abgespannt ... nun frag mich mal, wann ich mal abgespannt bin«
) und zugleich als Problem der
»Gleichberechtigung«
, als rein innerfamiliale Aufgabe der Beziehungsregelung.
Ihm erscheint der Konflikt, da er irreversible Grundeinstellungen (
»Na ja, als Mann ...«
) für sich in Anspruch nimmt, als nicht lösbar. Als Determinante der Unlösbarkeit führt er seine Bezugsgruppe
»Kollegen«
und die damit verbundenen Verpflichtungen im Hinblick auf die Außenbeziehungen der Familie an.
[054:209] 3. Die Konflikte werden in der Dimension der familialen Arbeitsteilung, der geschlechtsspezifischen Erwachsenen-Rollen bestimmt.
[054:210]
Frau: Mann:
Sie akzeptiert grundsätzlich ihre Rollen-Definition als Hausfrau und Mutter, als Hauptverantwortliche für das Erziehungsgeschehen; sie interpretiert sich aber der Möglichkeit nach im Hinblick auf eine andere Rollendefinition (
»Nun ja, das könnte ja auch der Mann machen«
) und gibt da für eine materielle Begründung (
»wenn ich keines verdienen müßte, würde ich gern aufhören«
). In anderen Worten: unter der Bedingung tendenziell gleicher Belastungen durch Erwerbstätigkeit müssen auch die innerfamilialen Rollenbeziehungen adäquat gestaltet werden. Andernfalls wird die Rolle der erwerbstätigen Mutter zur
»totalen Rolle«
(
»Wofür bin ich noch alles da?«
).
Er akzeptiert nicht nur, sondern bekräftigt die Rollendefinition und wehrt die Problematisierungen seiner Frau ab. Diese Abwehr vollzieht sich in zwei Dimensionen: er verweist auf seine Berufstätigkeit und die mit ihr verbundenen Belastungen als eines unveränderlichen Datums (
»ich bin abgespannt von der Arbeit«
), und er verweist auf seine Rolle als Mann, dem die Kindererziehung nicht als Aufgabe zugeschrieben werden darf (
»Das sollst du doch machen!«
).
[054:211] 4. Die zur Sprache gebrachten Probleme werden immer mit Bezug auf Arbeit und die materielle Reproduktion erörtert.
|A 56-57|
[054:212]
Frau: Mann:
Sie interpretiert ihre Arbeit als reinen Gelderwerb, als zusätzliche, aber notwendige Belastung. Ihr Selbstverständnis bezieht sie nicht aus dieser Funktion, sondern aus ihren innerfamilialen Aufgaben. Allerdings sieht und akzeptiert sie auch die Funktion, die die Arbeit für ihren Mann hat und interpretiert daher Arbeit bzw. Berufstätigkeit als eine fundamentale Dimension. Sie geht aber dabei davon aus, daß dennoch Dispositionsspielräume für die Gestaltung des familialen Lebens verbleiben. Arbeit und Gelderwerb sind zwar fundamental, aber nicht zwanghaft determinierend. Für ihn verknüpft sich mit
»Arbeit«
mehr als nur Gelderwerb: sie bestimmt einen Aspekt seiner lebenslangen Rolle. Deshalb bilden die Arbeitskollegen für ihn auch eine relevante Bezugsgruppe, auf deren Normen er Rücksicht nimmt und von der er sich seinen Status bestimmen läßt (
»Und das verstehen die nicht, daß ich immer grundsätzlich um 1 Uhr schnellstens nach Hause muß, um auf die Kinder aufzupassen, das sehen die nicht ein«
). Für ihn scheint zwischen seiner Berufsrolle und seinem Verhalten innerhalb seiner Familie ein zwanghafter Zusammenhang zu bestehen, der es verhindert, seine innerfamiliale Selbstdefinition zu verändern. Seine
»Identität«
bestimmt er eher von seiner Berufswelt als von seiner familialen Lebenswelt her. Für seine Frau indessen scheint ihm solche Identifikation mit der Erwerbsrolle nicht bedeutsam (
»... ob sie nun als Raumpflegerin geht oder sonst dergleichen ...«
).
[054:213] 5. Die Ehepartner bestimmen die Lösungsmöglichkeiten für die Konflikte in der Dimension der Organisation des Familiengeschehens.
[054:214]
Frau: Mann:
Sie erörtert das Problem als eines, das unmittelbar mit ihren eigenen Interessen verknüpft ist. Sie verweist auf den Konsensus (
»Ihr wart alle damit einverstanden, daß ich arbeiten gehe«
) und dringt auf die Folgen, die in der Form neuer Regeln für die familiale Organisation akzeptiert werden müssen (
»Also mußt du auch die Konsequenzen ziehen ... und auf die Kinder aufpassen«
). Ihr Organisations-Vorschlag enthält indessen im Grunde die Notwendigkeit einer Neudefinition der Rollen der Ehepartner und bekräftigt das durch die fiktive Erwägung des Rollentauschs (
»Wenn ich z. B. es so machen würde wie du ...«
).
Auch er akzeptiert die Notwendigkeit einer organisatorischen Lösung (
»Na gut, dann muß man das mit den Schularbeiten anders machen«
), diese ist für ihn aber nicht von grundsätzlicher Bedeutung. Er muß keine Interessen gegen Widerstände durchsetzen, sondern versucht nur, seinen gegenwärtigen Status zu behaupten. Sein Organisationsvorschlag beschränkt sich deshalb auf Details (
»... kann er gleich nach dem Essen seine Schularbeiten machen«
). Während das Interesse der Frau an einer befriedigenderen Organisation des Familienlebens schon an die Familien-Struktur, insbesondere die Struktur der Ehe-Beziehung rührt, geht das Interesse des Mannes ganz dahin, gerade diese Struktur zu verschonen und nur gleichsam
»an der Oberfläche«
zu organisieren.
|A 58|
[054:215] 6. Beide Ehepartner verwenden in ihren Argumentationen bestimmte Deutungsmuster.
[054:216] Sie akzeptieren beide die für das Ehe-System überlieferte Trennung der familialen Funktionen, nach der dem Manne die materielle Versorgung, der Frau die Sorge für die Kinder obliegt; mit diesem Sachverhalt gehen sie gleichsam wie mit einer Natur-Tatsache um, die zwar modifiziert, nicht aber grundsätzlich geändert werden kann (
»... ist doch ganz logisch«
,
»... das geht nicht«
). Die damit scheinbar grundsätzlich von beiden akzeptierte Norm ist aber für die Frau gebrochen durch die konkurrierende Norm der
»Gleichberechtigung«
, und zwar dann, wenn – wie im vorliegenden Fall und aus der Sicht der Frau – die geltende Arbeitsteilung gegen die Interessen eines Partners verstößt. Um diesen Verstoß zu vermeiden, wäre eine Modifikation in den Regeln der familialen Interaktion nötig. Dieses
»Um-Zu«
-Muster
nimmt bei der Frau die Form eines moralischen Appells an den Mann an, beim Mann dagegen die Form einer technisch-organisatorischen Empfehlung. Man könnte auch sagen, daß die Frau ein kommunikatives, der Mann ein instrumentelles Deutungsmuster für die Lösung des Interaktionskonfliktes bevorzugt. Beide indessen versuchen auch, sich ihre Situation nach ihren Ursachen zu erklären. Dabei scheint die Frau in der Konstruktion von erklärenden
»Theorien«
produktiver zu sein als der Mann; in ihrer
»Theorie«
verwendet sie verschiedene
»Variablen«
: Ihre eigenen Motive, die Gewohnheiten des Ehemannes, den Familienkonsens, die Belastung durch die Erwerbstätigkeit beider Ehepartner, die sozialen Normen, die Lernfähigkeit. Der Mann hingegen kümmert sich weniger intensiv um Erklärungen; in seiner
»Theorie«
tauchen fast nur die Variablen
»sein Beruf«
,
»Arbeitskollegen«
und
»Schularbeiten des Kindes«
auf. Das auf Erklärung zielende Deutungsmuster der Frau ist im Vergleich erheblich komplexer; vor allem gibt sie zu erkennen, daß sie in ihre Deutungsversuche noch eine fundamentalere Schicht der Beziehungen mit einbeziehen möchte (
»Das hat mit den Schularbeiten überhaupt nichts zu tun«
), die in der protokollierten Interaktion noch kaum zur Sprache kam. Für die ganze Interaktion aber gilt, daß die Deutungsbemühungen nur einen Teil der möglichen
»Faktoren«
der Situation erfassen; vor allem zwei Bereiche bleiben nahezu unberührt: Das Gespräch berührt weder die politischen Aspekte der Situation noch wird die Form der Interaktion zwischen den Partnern zum Thema gemacht.
[054:217] Mit unserem Interpretationsversuch haben wir – wie der Leser gewiß schon festgestellt hat – die Informationsfülle des Protokolls keinesfalls ausgeschöpft. Neben den herausgestellten Dimensionen lassen sich unschwer weitere ermitteln: die Freizeit, das Geld, die Schularbeiten als Auswirkung der Schule; außerdem scheint es, als seien in der Situation einige Probleme tabu, die aber gleichsam zwischen den Zeilen oder zwischen den einzelnen Statements den Interaktionspartnern dennoch bewußt sind. An dieser Stelle jedoch kommt es für uns nicht darauf an, für diese |A 59|eine Familie eine zutreffende und erschöpfende Interpretation vorzulegen, sondern vielmehr nur darauf, zu zeigen, wie komplex bereits die Thematik des Ehe-Systems ist und für wie bedeutsam wir dieses als Komponente des familialen Erziehungsgeschehens einschätzen müssen.
[054:218] Und noch etwas anderes sollte dabei gezeigt werden: Wir haben keinerlei Recht, gegenüber der Alltags-Reflexion unserer wissenschaftlichen
»Objekte«
, der Menschen nämlich, die das Erziehungsgeschäft Tag für Tag betreiben, uns besserwisserisch als Theoretiker zu definieren, die das
»Wesen«
hinter der
»Erscheinung«
, die
»Motive«
hinter dem
»Verhalten«
, die
»Ideologie«
hinter der
»Selbstdarstellung«
immer schon zu erkennen wähnen. Der Unterschied zwischen der Reflexion der Familienmitglieder und der Reflexion des Wissenschaftlers besteht lediglich darin, daß diese auf systematische Weise, unter Zuhilfenahme auch anderer Fälle und mit grundsätzlicher Skepsis gegenüber der eigenen Meinung vollzogen wird.
[054:219] So mag der
»Wissenschaftler«
bisweilen an seinem Gegenstand etwas wahrnehmen, was dieser selbst nicht zur Sprache gebracht hat und was teils nur indirekt erschlossen werden kann. Im Falle unseres Protokolls z. B.
  • [054:220] die Verschiedenheit in der Dimensionierung der Probleme durch die beiden Ehepartner,
  • [054:221] die Unterschiedlichkeit der verwendeten Gesprächstaktiken, der Kommunikationsmuster,
  • [054:222] den Unterschied zwischen direkter Interaktion und einem Nachdenken über das, was sich in der Interaktion eigentlich abspielt,
  • [054:223] die Veränderung während des Interaktionsprozesses,
  • [054:224] die Definition der Familie als eines gegen die Öffentlichkeit abgeschlossenen Intimbereichs mit deutlicher Gruppengrenze,
  • [054:225] die Bildungsgeschichte der Ehepartner selbst und das, was aus dieser Bildungsgeschichte in ihr gegenwärtiges familiales Handeln eingeht.

Das Eltern-Kind-System

[054:226] In dem gerade interpretierten Protokoll einer Auseinandersetzung zwischen zwei Ehepartnern war von den Kindern in einer merkwürdigen Weise die Rede: Man spürte wenig davon, daß |A 60|es sich um Personen mit einer eigenen
»Würde«
handelt; vielmehr gewinnt man den Eindruck, daß sie wie Variablen in einem organisatorischen Planspiel fungieren, Faktoren, die nicht vernachlässigt werden können, weil sie unleugbar Bestandteile dessen sind, was sich den Eltern täglich als die Realität der Familie darstellt, die aber gleichsam, für sich selbst genommen, von nur eingeschränkter Bedeutung sind. Sie und ihre Probleme verblassen vor den Problemen, die die Eltern für sich, als Erwachsene in dieser Gesellschaft, in dieser Familie zu lösen haben. Solche Beobachtung ist ein wichtiger Aspekt dessen, was wir die Übermacht der Erwachsenen über die Kinder nennen: Diese Übermacht drückt sich vielleicht darin am stärksten und symbolkräftigsten aus, daß die Familie zwar ihre gemeinsame Aufgabe notwendigerweise auch in der Dimension der Erziehung definieren muß, daß dies aber – wir vermuten das jedenfalls für den Regelfall und in freilich unterschiedlich starker Ausprägung – unter dem Druck der von den Eltern als Erwachsene zu bewältigenden Aufgaben geschieht. Anders formuliert: Nicht die Probleme der Eltern erscheinen in deren Selbstdeutung als ein Aspekt der Erziehungsaufgaben, sondern die die Kinder betreffenden Probleme werden als Modifikationen, Varianten, im schlimmsten Fall als Störfaktoren des Erwachsenenlebens definiert, freilich als unumgehbare. Aus diesem Grunde auch haben wir die Probleme der Eltern vor denen der Kinder behandelt. So wie die Therapie eines Kindes die Therapie des ganzen Systems
»Familie«
, insbesondere des Ehe-Systems, zur Bedingung hat (vgl. Richter 1970; Satir 1973; Minuchin 1967), so ist für eine Erörterung der Familienerziehung unerläßlich, vorab davon Kenntnis zu nehmen, daß das Subsystem der Erwachsenen in den Inhalten der Erwachsenen-Lebenswelt, seinen Deutungsweisen, seinen Beziehungsproblemen eine Identität gewinnt, durch die – der Herrschaftsbeziehung zwischen Eltern und Kindern wegen – die Probleme des familialen Erziehungssystems allemal gebrochen erscheinen. Freilich ist diese Hypothese als eine Skala mit vielen Übergängen zu denken. Was sich indessen als das gleichsam negative Ende dieser Skala darstellt, hat Franz Kafka in einer Tagebuchnotiz, gleich alle Erziehungsinstanzen zusammenfassend, erschreckend prägnant ausgedrückt:
[054:227]
»Oft überlege ich es und immer muß ich dann sagen, daß mir meine Erziehung in manchem sehr geschadet hat. Dieser Vorwurf geht gegen eine Menge Leute, allerdings sie stehn hier beisammen, wissen wie auf alten Gruppenbildern nichts miteinander anzufangen, die Augen nie|A 61|derzuschlagen fällt ihnen gerade nicht ein und zu lächeln wagen sie vor Erwartung nicht. Es sind da meine Eltern, einige Verwandte, einige Lehrer, eine ganz bestimmte Köchin, einige Mädchen aus Tanzstunden, einige Besucher unseres Hauses aus früherer Zeit, einige Schriftsteller, ein Schwimmeister, ein Billetteur, ein Schulinspektor, dann einige, denen ich nur einmal auf der Gasse begegnet bin, und andere, an die ich mich gerade nicht erinnern kann, und solche, an die ich mich niemals mehr erinnern werde, und solche endlich, deren Unterricht ich, irgendwie damals abgelenkt, überhaupt nicht bemerkt habe, kurz es sind so viele, daß man achtgeben muß, einen nicht zweimal zu nennen. Und ihnen allen gegenüber spreche ich meinen Vorwurf aus, mache sie auf diese Weise miteinander bekannt, dulde aber keine Widerrede. Denn ich habe wahrhaftig schon genug Widerreden ertragen, und da ich in den meisten widerlegt worden bin, kann ich nicht anders, als auch diese Widerlegungen in meinen Vorwurf mit einzubeziehen und zu sagen, daß mir außer meiner Erziehung auch diese Widerlegungen in manchem sehr geschadet haben«
(Kafka 1954, S. 15 f.)
.
[054:228] Die Aussage dieses Textes war für Kafka offenbar von besonderer Bedeutung: Es gibt von ihm drei Versionen, die in seinen Tagebüchern aufeinander folgen. Der Text scheint harmlos zu beginnen, denn wer könnte nicht von seiner Erziehung sagen, daß sie ihm
»in manchem«
geschadet habe, immerhin jedoch
»sehr geschadet«
. Dann aber entwickelt sich der Gedanke lawinenartig, wie zu einem erdrückenden Alptraum, wird in seinem Vorwurf total, nicht nur Eltern, Erzieher und andere Bezugspersonen mit in den Sog des erinnernden Gedankens reißend, sondern auch
»einige, denen ich nur einmal auf der Gasse begegnet bin«
, und schließlich prinzipiell jeden, der irgendwie mit dem Autor in Berührung kam. Was in der Familie geschieht, die Konfrontation von Eltern mit ihren Kindern, wird von Kafka erlebt als die gleichsam nur vorderste Front einer Jahre oder Jahrzehnte währenden Auseinandersetzung, in der fortwährend – und offenbar doch wohl gegen den Willen derer, die solche Erziehung veranstalten – den Kindern Schaden zugefügt wird, mehr oder weniger leicht erkennbar. Nun muß eine solche Meinung kapriziös klingen, übertrieben oder vielleicht nur für wenige Fälle zutreffend. Kafka aber will solche Widerrede nicht hören, und – obwohl meistens in seiner Meinung widerlegt – bezieht er
»auch diese Widerlegungen«
in seinen Vorwurf mit ein: Sie sind für ihn nichts als die Fortsetzung des Schadens, der ihm zugefügt wurde. Es geht – so sagt uns der Text – nicht um rationale Abwägung von Gründen und Gegengründen, denn die Nötigung der rationalen Rechtfertigung von Behauptungen, |A 62|in denen Erlebtes sich ausdrückt, ist selbst ein Teil der Schädigung, der Unterdrückung, die Kindern zugefügt wird; es geht vielmehr um die Art des Umgangs zwischen Erwachsenen und Kindern, um das, was in diesem Umgang dominiert: die Zweckorientierung an einem gesellschaftlich gewünschten (nützlichen) Resultat des Erziehungsvorgangs oder die Orientierung an der erlebten kommunikativen Wirklichkeit der personalen Beziehungen und ihrer Darstellung in der Interaktion.
[054:229] Solche Formulierungen indessen klingen angesichts des Textes blaß und abstrakt; vor allem geht in ihnen die Paradoxie verloren, die Kafka in seine Aussagen durch den letzten Satz eingebaut hat. Wir können sie uns in ihrer familienpädagogischen Bedeutung am besten klar machen, wenn wir sie als eine Metapher für den Grundwiderspruch aller Familienerziehung verstehen, die einerseits das Glück dieses konkreten Kindes will, andererseits zur Tüchtigkeit in einer historisch bestimmten Gesellschaft, in der dieses Glück immer schon Abstriche erfahren hat, vorbereitet. Es ist das gleiche Problem, das schon in unserem Eheprotokoll sichtbar wurde: Die kommunikativen Bedürfnisse (im Falle der Frau: nach Solidarität, Gleichberechtigung, Verständnis) werden den instrumentellen Anforderungen (im Falle des Mannes: Beruf, organisatorische Regelungen des Familienlebens,
»Zweckmäßigkeit«
der familialen Rollentrennung) geopfert. In der zweiten Fassung des Kafka-Textes heißt es deshalb auch:
»Dieser Vorwurf windet sich wie ein Dolch durch die Gesellschaft und keiner, ich wiederhole, leider keiner ist dessen sicher, daß die Dolchspitze nicht einmal ganz plötzlich vorn, hinten oder seitwärts erscheint.«
Das Bild erinnert daran, daß nicht nur die Gestaltung der
»äußeren«
Natur durch Arbeit, sondern auch die Gestaltung der
»inneren«
Natur durch Erziehung ein mühevoller und konfliktreicher Vorgang ist. (Man mag sich daran erinnern, daß zu den wortgeschichtlichen Grundbedeutungen von Arbeit
»Mühsal«
und
»Bedrängnis«
gehörten, was für die Auseinandersetzung mit der inneren Natur gleichermaßen in Anspruch genommen werden kann.) Dieses Bild im Zusammenhang des ganzen Textes erinnert ferner daran, daß solche Gestaltung (der in der neueren sozialwissenschaftlichen Literatur der beschönigende Name
»Sozialisation«
gegeben wurde) unter der Bedingung der Herrschaft der Eltern über ihre Kinder beginnt, daß diese Bedingung für die Kinder ausweglos und mit ihr schon in der Familie die Grundfrage aller Erziehung aufgeworfen ist.
|A 63|
[054:230] Vieles aus dem poetischen Werk Kafkas kann in diesem Sinne wie eine große Metapher für die Ambivalenzen gesehen werden, in die die
»Primär-Sozialisation«
, das Heranwachsen von Kindern also in der Familie, allemal gerät: das Sich-Bilden eines Organismus zu einem sozial handlungsfähigen Individuum und das Einzwängen eben dieses Individuums – mit dem vorgeblichen Ziel, soziale Handlungsfähigkeit zu erzeugen – in das Korsett eines vorgegebenen Rahmens gesellschaftlich und kulturell bereitstehender Muster, Normen und Inhalte des Handelns.
[054:231] Drückt man den gemeinten Sachverhalt in dieser Weise aus, dann liegt der Verdacht nahe, daß man von historisch besonderen Bedingungen vielleicht doch zu stark abgesehen hat. Womit Familienerziehung täglich zu tun hat, ist ja nicht diese abstrakt-allgemeine Form des Problems, sondern seine besondere historische Ausprägung. Eltern präsentieren durch ihre Interaktionen den Kindern nicht Kultur, Gesellschaft, Herrschaft überhaupt, sondern die antizipierten Erwartungen der Schule, die Bedingungen des Arbeitsmarktes, ihre eigenen Erfahrungen in Produktion und Konsum, die gerade herrschenden Werte, ihre sozialen Hoffnungen und Enttäuschungen, kurz: das
»Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse«
(Marx), soweit es in ihr Verhalten Eingang gefunden hat, zum Bestandteil ihrer Verkehrsformen, zu Inhalt und Form ihrer Interaktion mit ihren Kindern wurde. Eine solche Behauptung ist indessen eher ein Erkenntnis-Programm. Sehen wir auf die Alltagsinteraktionen zwischen Eltern und Kindern, werden immer nur Ausschnitte davon sichtbar.
[054:232] Zur Veranschaulichung wenigstens eines solchen Ausschnittes und des hier gemeinten Problems, des pädagogischen Grundwiderspruchs bei der Gestaltung der inneren Natur des Menschen, verwenden wir wiederum eine Reihe von Protokoll-Auszügen. Es handelt sich um ein Protokoll, das R. Laing und A. Esterson im Rahmen therapeutischer Familienbehandlung aufgezeichnet haben. Das
»Kind«
, um das es dabei geht, ist zum Zeitpunkt des Interviews etwa 20 Jahre alt. Die Interaktionen haben teils die frühe Familiensituation aus der Kindheit des Mädchens zum Inhalt, teils spätere Phasen aus dem Jugendalter:
[054:233]
Interviewer:  
Hat sie mit Ihnen als sehr kleines Kind jemals so gespielt, daß sie Gegenstände über den Rand ihres Bettchens oder des Kinderwagens warf und wartete, bis Sie sie wieder auflasen?
Mutter:  
Nein, daran kann ich mich nicht erinnern – kann mich nicht erinnern, daß sie was getan hätte, nein.
|A 64|
Interviewer:  
Und ihre Gewöhnung ans Töpfchen, als sie trocken war – aus den Windeln – wann war sie aus den Windeln?
Mutter:  
Ich schätze, als sie zwei war. Sie war sehr gut in jeder Hinsicht, sie war nicht schwierig. Und wenn sie Kinderkrankheiten hatte, dann waren sie immer ganz leicht. Ich kann mich entsinnen, daß sie und mein Sohn – sie bekamen beide zur gleichen Zeit Mandelentzündung, und sie erholte sich sehr schnell davon.
[054:234] Der Vater stimmt damit völlig überein. [054:235]
Interviewer:  
Ihre Frau hat gesagt, sie habe in jener ersten Zeit ein sehr enges Verhältnis zu Ruth gehabt. Wie würden Sie Ihr Verhältnis zu Ruth beschreiben?
Vater:  
Nun ja, nicht so eng wie bei meiner Frau. Ein Mädchen und seine Mutter haben natürlich – aber ich hatte immer ein Interesse an allem, was vorging –
Mutter:  
Ein sehr rücksichtsvolles Kind.
Vater:  
Jawohl, das war sie.
Mutter:  
Ein sehr respektvolles Kind, mit ihr gab es nie irgendwelchen Ärger.
[054:236] Im weiteren Verlauf kommt das Gespräch auf das Verhalten der Tochter später, nach Einsetzen der
»Krankheit«
: [054:237]
Mutter:  
Sie ist manchmal sehr beleidigend und nicht – sie haßt uns jetzt lange nicht mehr so wie in einem früheren Stadium ihrer Krankheit.
Interviewer:  
Wann meinen Sie?
Mutter:  
Nun, Sie wissen, sie ist jetzt schon seit vielen Jahren krank, und sie hat immer gesagt, wir seien schuld daran, wir wollten sie für immer in die Klinik stecken und es liege an uns, daß sie krank sei, und sie hat auch gelegentlich nach uns geschlagen, wissen Sie, aber sie gibt uns jetzt nicht mehr so sehr die Schuld dafür.
Interviewer:  
Wie erklären Sie sich, daß sie Ihnen die Schuld gibt? Wie erklären Sie sich das?
Mutter:  
Nun, ich mache einfach – ich erkläre es mir überhaupt nicht, ich mache mir einfach, mache mir klar, daß sie krank ist und ziemlich durcheinander und nicht weiß, was sie sagt.
Interviewer:  
Wissen Sie, was sie meint, wenn sie –
Mutter:  
Sie hat nämlich nach uns geschlagen, wissen Sie, und im nächsten Augenblick entschuldigt sie sich dann dafür –
»Ach, das tut mir leid, Mami, das hab ich nicht gewollt, das hab ich nicht gewollt.«
[054:238] Die Mutter behauptet, ihre Tochter habe früher viele gesellige Veranstaltungen besucht, jetzt jedoch tue sie das nicht mehr: [054:239]
Interviewer:  
Ist sie überhaupt nicht mehr gesellschaftlich aktiv?
Mutter:  
Eigentlich nicht. Sie hat Kontakt zu älteren Leuten, hat eine Freundin – sie gehen aus – sie geht ganz selten einmal mit dieser einen Freundin aus.
Interviewer:  
Aber im großen ganzen mischt sie sich nicht unter junge Leute?
|A 65|
Mutter:  
Nein – aber ich möchte, daß sie ein normales, aktives Leben führt und daß sie auch mehr unter die Leute geht als jetzt. Sie scheint, seit sie krank ist, alle ihre Freunde verloren zu haben; sie hat überhaupt kein gesellschaftliches Leben mehr; sie hat immer viel gelesen – heute liest sie überhaupt nicht mehr; sie kann sich nicht konzentrieren. Ich möchte, daß sie sich mehr jungen Leuten anschließt.
[054:240] Die Tochter sieht das anders: [054:241]
Ruth:  
Nun, in die Lokale, die ich mag, lassen mich meine Eltern nicht gerne gehen.
Mutter:  
Zum Beispiel?
Ruth:  
Eddies Club.
Mutter/Vater:  
Ach du liebe Güte. Du wirst doch nicht –
Ruth:  
Aber ja.
Interviewer:  
Was ist
»Eddies Club?«

Mutter:  
Es ist ein Club, in dem getrunken wird. Sie trinkt eigentlich nicht. Es ist nur, sie lernt gern verschiedene Typen kennen.
Interviewer:  
Es klingt so, als hätte sie das Gefühl, Sie mißbilligten die Leute, mit denen sie ausgehen will.
Mutter:  
Möglicherweise.
Vater:  
Ja.
Mutter:  
Möglicherweise.
[054:242] Schließlich sind die Eltern mit dem Zustand zum Zeitpunkt des Interviews zufrieden: [054:243]
Mutter:  
Wir empfinden weitgehend so wie sie. Ich meine, wir gehen mit ihr aus – sie ist nicht – sie ist kein Stubenhocker, wissen Sie, die ganze Zeit. Wir gehen mit ihr ins Kino oder wohin sie auch immer gehen mag. Ich meine, unser Leben dreht sich in diesen Tagen ganz um sie.
Vater:  
Das stimmt, ganz ohne Zweifel.
Interviewer:  
Sie wollen damit sagen, Sie tun nichts, was Sie sonst für sich unternehmen würden?
Mutter:  
Mehr oder weniger, ja. Wir sind aber dabei sehr glücklich.
[054:244] Die Tochter aber hat Zweifel: [054:245]
Ruth:  
Über diese Sache bin ich mir nicht ganz im klaren. Nicht über alle Sachen der Welt, nicht über alles – nicht alles – doch über diese Sache bin ich irgendwie ein bißchen im Zweifel, weil doch die meisten Menschen auf Beatniks und solche Dinge herabsehen, oder nicht? Ich weiß, meine Freundin würde nicht ertragen, mit ihnen auszugehen.
Interviewer:  
Nun, das ist ein anderer Standpunkt, nicht wahr?
Ruth:  
Ja, es ist ein anderer Standpunkt.
Interviewer:  
Aber haben Sie das Gefühl, Sie müßten mit dem, was die meisten Leute um Sie herum glauben, übereinstimmen?
Ruth:  
Nun, wenn ich das nicht tue, lande ich gewöhnlich in der Klinik.
«
(Laing/Esterson 1975, S. 180 ff.)
|A 66|
[054:246] Die im Kafka-Text zum Ausdruck kommende Ambivalenz des Erziehungsgeschehens nimmt im vorliegenden Protokoll nicht nur die gleiche bedrohliche Form wie dort an, sondern wird für uns darüber hinaus konkret und anschaulich durch die Interaktionen zwischen Eltern und Kind. Das Protokoll erschließt sich der Interpretation am besten, wenn wir am Ende beginnen:
»Wenn ich das nicht tue, lande ich gewöhnlich in der Klinik.«
Das ist nur der Extremfall einer Erfahrung, die von Kindern in vielleicht weniger dramatischen Situationen so ausgedrückt wird:
»Wenn ich das nicht tue, sind mir meine Eltern böse«
,
»... hat mich meine Mutter nicht lieb«
,
»... denken meine Eltern, ich bin ein Versager«
oder ähnlich. Die Grundstruktur dieses interpersonellen Geschehens betrifft die Identität des Kindes: Es kann sich selbst positiv nur im Rahmen dessen definieren, was von den Eltern zugelassen wird; verläßt es in dieser Selbstdefinition diesen Rahmen, werden ihm Eigenschaften zugeschrieben, die sein Selbstbild verletzen: Es ist
»ungezogen«
,
»frech«
,
»undankbar«
,
»rücksichtslos«
– oder wie immer die negativen Zuschreibungen heißen mögen; in extremen Fällen ist es, wie hier,
»krank«
und wird aus der Gemeinschaft ausgegliedert, in die Klinik verwiesen. Damit wird jedoch mehr vollzogen als nur die Durchsetzung eines innerhalb der Familie geltenden Standards, denn die Tochter hat ja das Gefühl, daß die Eltern nur vollziehen, was allgemein gilt,
»was die meisten Leute um sie herum glauben«
.
»Übereinstimmung«
wird als Identität ausgegeben; aber irgendwie ist das falsch, denn
»meine Freundin würde nicht ertragen, mit ihnen (den Eltern) auszugehen«
, sie aber gilt nicht als rücksichtslos, abweichend, krank. Die für das Kind entstandene paradoxe Situation besteht darin, daß es einerseits anscheinend von den Eltern akzeptiert wird, daß andererseits aber dieses Akzeptieren an die Bedingung geknüpft ist, so zu sein, wie die Eltern es wünschen, und daß schließlich auch weder gegen die Übereinstimmung mit den Eltern noch auch mit ihnen die Tochter Identität gewinnen kann, da sie – zunächst jedenfalls – von der Totalität des emotionalen Gehäuses
»Familie«
in allen ihren Bedürfnissen abhängig ist. Wer versucht, aus dieser Paradoxie auszubrechen, dem wird gesagt, daß er
»krank«
ist oder
»schuldig«
. Im vorliegenden Fall trifft ersteres zu. Franz Kafka, dem in eben diesem Sinne seine
»Erziehung in manchem sehr geschadet«
hat und der den Grund dafür nicht etwa nur bei den Eltern, sondern in unübersehbar vielen sozialen Positionen suchte (
»wie ein Dolch«
win|A 67|det sich ja sein Vorwurf
»durch die Gesellschaft«
), hat denn auch seine Roman- und Erzählungs-Figuren sich immer wieder mit dem bedrohlich und unauflöslich erscheinenden Schuld-Vorwurf auseinandersetzen lassen.
[054:247] Demgegenüber erscheint die Art, in der die Eltern die Schuldfrage erörtern, oberflächlich. Sie fragen nur nach eindeutig bestimmbaren Ursachen, wo es sich doch – nach der Wahrnehmung der
»Betroffenen«
, der Tochter in diesem Fall – um etwas ganz anderes handelt: um die wechselseitige Bestimmung oder Definition nämlich einer Beziehung, in der die Form der Darstellung von Bedürfnissen und Intentionen, von Regelungen der Beziehung, immer neu ausgehandelt, nicht aber auf ein einziges Darstellungsmuster festgelegt werden sollte. Der nach Meinung der Eltern von der Tochter erhobene
»Schuld-Vorwurf«
wird auf eigenartige Weise behandelt: Während
»Schuld-Haben«
in diesem Fall noch Beziehungsprobleme thematisiert – ich reagiere so, weil du mich so behandelst, oder auch: du reagierst so auf mich, weil du mich in einer bestimmten Weise siehst –, schieben die Eltern das Problem ganz aus dem familialen Beziehungsgeflecht heraus und behandeln das Verhalten der Tochter als ein geheimnisvolles Geschehen innerhalb des Organismus:
»Ich erkläre es mir überhaupt nicht ... ich mach mir klar, daß sie krank ist ... und nicht weiß, was sie sagt.«
[054:248] Überhaupt scheint die Ambivalenz von tatsächlicher Beziehung und Beziehungsverleugnung, von Zuwendung und Abweisung, Bestätigung und Verwerfung eine Art Grundmuster dieses Eltern-Kind-Systems zu sein. Einerseits wünschen die Eltern, daß ihre Tochter viel liest, gesellschaftliches Leben hat,
»ein normales aktives Leben führt und ... unter die Leute geht«
; andererseits:
»in die Lokale, die ich mag, lassen mich meine Eltern nicht gehen«
. Und wie zur Bestätigung dieser Meinung der Tochter erfolgt auf die Erwähnung eines solchen Lokals hin auch jenes
»Ach du liebe Güte, du wirst doch nicht –«
. Das Mädchen ist, solange sie emotional an die Eltern gebunden bleibt, in einem für sie unauflöslichen Konflikt: Sie kann versuchen, ihre Identität zu finden, muß dann aber die Entrüstung der Eltern und vermutlich mehr noch als dies, nämlich die emotionelle Abwendung riskieren; oder sie vermeidet diese Störung oder gar Zerstörung der Beziehung zu den Eltern, setzt dann aber eine für sie befriedigende Identitätsentwicklung aufs Spiel. Nirgends als in der Familie können sich Probleme dieser Art so zuspitzen; oder besser: Probleme dieser Art sind für die Familie keine |A 68|Ausnahme-Situationen, keine extremen Fälle; sie zeigen vielmehr, aus welchem Stoff das Eltern-Kind-System gemacht ist und was für eine Gratwanderung die Familienerziehung ist. Einerseits hat sie die emotionale Solidarität der Familien-Mitglieder zu ihrer notwendigen Voraussetzung, andererseits aber kann diese Solidarität in ein Gefängnis umschlagen, in dem schon das Experimentieren mit Alternativen des Wertens, Handelns und Vorstellens als Bedrohung dieses sozialen Mikrokosmos gedeutet werden kann.
[054:249] Der vorliegende Fall zeigt, daß dieses Problem sich keineswegs erst mit dem Jugendalter der Kinder einstellt, sondern die dauerhafte Struktur der innerfamilialen Beziehungen betrifft. Schon die Kindheitssituation der Tochter wird von den Eltern in den Alternativen ja – nein, für uns – gegen uns, gut – böse
»skaliert«
. Zwar fehlt, jedenfalls in der Erinnerung der Eltern, das negative Ende der Skala; sie interpretieren aber die Fragen des Interviewers ganz in diesem Sinne. Die Fragen des Interviewers sind Sachfragen, die eine Antwort im Sinne von Beschreibung erwarten lassen. Die Eltern jedoch antworten mit Werturteilen, klassifizieren das Erfragte sogleich nach erlaubt oder unerlaubt, erwünscht oder unerwünscht. Natürlich soll ein Kind keine Gegenstände aus dem Bett werfen, frühzeitig reinlich sein; und die Tochter war es; sie war sogar wesentlich mehr noch:
»sehr gut in jeder Hinsicht«
,
»nicht schwierig«
, immer nur
»leicht krank«
,
»respektvoll«
und
»rücksichtsvoll«
. Es zeichnet sich darin die Vorstellung von einem Kinde ab, das in seinem Verhalten mit den Normen der Eltern vollständig übereinstimmt, ihnen selbst Befriedigung und die Vorstellung verschafft, ihre und des Kindes Identität seien ein und dasselbe; das deshalb auch innerhalb des familialen Beziehungsnetzes keine ernsthaften Probleme aufwirft, für das aber auch – um die andere Sichtweise auf diese Phänomene zu pointieren – die zeitliche Perspektive ohne besondere inhaltliche Hoffnung ist, die Wünsche und Projektionen nur Gehalte einer gänzlich irrealen Traumwelt sind, die Zukunft leer bleibt.
[054:250] Wir können dieses Netz von Beziehungen und Beziehungsproblemen als den Rahmen betrachten, innerhalb dessen sich die einzelnen Erziehungsakte nicht nur abspielen, sondern der sie in ihrer Bedeutung determiniert. Was eine Verhaltenserwartung an ein Kind, was ein zur Sprache gebrachter Inhalt, ein möglicher Gegenstand seines Interesses, ein möglicher Gehalt seiner Wünsche für es bedeutet, entscheidet sich an der Art, wie solche Sach|A 69|verhalte in die familiale Interaktion eingebracht, in welche Perspektive für das Handeln des Kindes sie gerückt werden. Erstarrt dieser Interaktions-Zusammenhang zum Ritual, bei dem jegliche Abweichung als verboten, unnormal oder gar krank gedeutet wird, sprechen Laing und Esterson vom
»Prozeß«
: Das familiale Geschehen läuft nach Regeln ab, die nicht mehr in Frage gestellt werden, die Ereignisse werden als zwangsläufig notwendig, nicht änderbar interpretiert; eine geheime, aber akzeptierte Mechanik (
»... ich erkläre es mir überhaupt nicht«
) scheint das Familiengeschehen zu bestimmen. Dem stellen sie die
»Praxis«
einer Familie gegenüber:
»Vorfälle, Begebenheiten, Ereignisse können von Tätern getane Taten sein«
(Laing/Esterson 1975, S. 21)
;
»wenn das, was in irgendeiner Gruppe von Menschen vor sich geht, auf die Tätigkeiten wirkender Kräfte zurückverfolgt werden kann, nennen wir das Praxis«
(ebd.)
. Anders ausgedrückt: Das Interaktionsgeschehen in einer Familie soll so sein (diese normative Bestimmung steht hinter jener Unterscheidung), daß die Familienmitglieder sich als die Subjekte des Geschehens, nicht als seine Objekte verstehen können. Dieses Postulat ist jedoch – angesichts des Machtgefälles – für die Beziehung zwischen Eltern und Kindern problematischer, als es zunächst den Anschein hat. Das zeigt sich nicht nur bei den affektiven Problemen. Beziehungsprobleme im Eltern-Kind-System haben es nicht nur mit dieser Seite des Verhaltens zu tun. Auch für das kognitive Lernen, für das Stellen und Lösen von Problemen, geben sie den Beziehungsrahmen ab, denn allemal sind es vorwiegend die Eltern, die für ihre Kinder die ersten Aufgaben stellen und die ersten Lösungsstrategien vermitteln; was sich für sie als
»Praxis«
darstellen mag, kann den Kindern durchaus als
»Prozeß«
erscheinen.
[054:251] Um die Aufmerksamkeit nun aber auf die kognitive Dimension des Eltern-Kind-Systems zu lenken, präsentieren wir wiederum einige Beispiele:
[054:252] In einer Untersuchung zur Frage des kognitiven Stils im Umgang von Müttern mit ihren Kindern
(Hess/Shipman, in: Frost 1968)
wurden die Mütter aufgefordert, ihren Kindern zu vermitteln, wie Gegenstände von unterschiedlicher Form und Farbe geordnet werden können. Hier drei von den Autoren als typisch bezeichnete Beispiele für das Verhalten der Mütter:
[054:253]
1. Beispiel:
Mutter:  
Also, Susan, dieses Brett hier ist die Stelle, wohin wir die kleinen Spielsachen legen; zuerst achte mal darauf, wie man sie nach |A 70|ihrer Farbe zusammenstellen kann. Kannst du das? Alle Dinge, die die gleiche Farbe haben, tust du auf eine Stelle; auf die zweite Stelle stellst du die mit einer anderen Farbe, und auf die dritte Stelle stellst du die mit der letzten Farbe. Hast du verstanden? Oder möchtest du gern, daß ich es dir vormache?
Kind:  
Ich möchte es machen.
[054:254] 2. Beispiel:
Mutter:  
Nun werde ich alles vom Brett runternehmen; und tu du alles wieder auf das Brett zurück. Was sind dies?
Kind:  
ein Lastauto.
Mutter:  
Gut, lege es hierhin, den anderen lege dahin; gut, und lege das andere dorthin.
[054:255] 3. Beispiel:
Mutter:  
Ich habe hier ein paar Stühle und Autos; möchtest du damit spielen?
Das Kind antwortet nicht.
Mutter:  
Na gut; was ist dies?
Kind:  
Ein Wagen?
Mutter:  
Hm?
Kind:  
Ein Wagen?
Mutter:  
Das ist kein Wagen, was ist es?
[054:256] Die Situation, wie sie durch die Versuchsanordnung für die Mütter und Kinder vordefiniert wurde, ist zwar künstlich, aus dem gleichsam spontanen Fluß des Alltags herausgehoben; wir dürfen aber dennoch vermuten, daß der
»Stil«
der Mütter nicht beträchtlich von ihrem Normalverhalten abweicht. Außerdem kommt es uns an dieser Stelle – wie bei vorangegangenen Beispielen auch schon – nicht darauf an, Aussagen über das Erziehungsverhalten dieser drei Mütter zu machen, sondern darauf, an diesen Beispielen eine Reihe von Fragestellungen zu demonstrieren (ebensogut hätten wir Beispiele erfinden können, sie hätten den gleichen Zweck erfüllt).
[054:257] Es handelt sich offensichtlich um eine Situation, in der dem Kinde etwas
»beigebracht«
werden soll und die zu diesem Zweck nicht nur durch den Versuchsleiter, sondern auch durch die Mütter geordnet wird. Die Mutter des ersten Beispiels spricht das dem Kinde gegenüber auch deutlich aus:
»You're supposed to learn how to place...«
. Wir haben diesen Satz, um dem Alltagsreden deutscher Mütter etwas näher zu kommen, recht frei übersetzt:
»Zuerst achte mal darauf...«
. Obwohl weniger wortreich, drückt sich diese Intention auch in den anderen beiden Beispielen aus: durch die thematisch gerichtete Zuwendung der Mutter zum Kind, durch das Ansprechen der Aufmerksamkeit |A 71|des Kindes, das Einführen der Gegenstände in den Interaktions-Zusammenhang. Das würde zweifellos noch deutlicher hervortreten, wenn wir nicht nur ein Wortprotokoll, sondern die ganze Situation so vor Augen hätten, daß wir auch die para- und nicht-verbalen Bestandteile (z. B. Intonation, Gesten) der Interaktion beobachten könnten. Aber schon dieser Ausschnitt aus der
»Wirklichkeit«
der Interaktion zeigt, wie differenziert das pädagogische Geschehen selbst in so
»mikroskopischen Details«
ist, in welchen Dimensionen und Alternativen die Fragestellungen bestimmt werden können. Wir wollen diese Fragestellungen genauer betrachten.
[054:258] 1. Die offensichtlich dominierende Charakteristik der Situation ist die Tatsache, daß dem Kinde vom Erwachsenen etwas gezeigt wird, das zu kennen und zu lernen als bedeutungsvoll gilt; in unserem Fall ist das eine bestimmte kognitive Operation, die das Lernen von Begriffen, das Bilden von formalen Merkmalsklassen (Form, Farbe) zum Zweck hat. Die Mütter präsentieren den Kindern also nicht nur Gegenstände, sondern auch Probleme, deren Lösung im Umgang mit Gegenständen erlernt werden soll. Sie tun das freilich auf unterschiedliche Weise. Während die Mutter des ersten Beispiels auf dem Weg über die Gegenstände sogleich versucht, das Problem vorzuzeigen, bleibt die Mutter des zweiten Beispiels zunächst bei den Gegenständen stehen und thematisiert die dritte Mutter eine mögliche Beziehung des Kindes und seiner Motivation zu den Gegenständen (
»Möchtest du damit spielen?«
). Man kann sich vorstellen, daß es für das kognitive Lernen des Kindes folgenreich ist, ob in der alltäglichen Eltern-Kind-Interaktion die Aufmerksamkeit für kognitiv-formale Probleme, für die Welt der Dinge oder für die konkrete Verwendung der Dinge im Bedürfnis-Kontext des Kindes im Vordergrund steht. Daß es sich dabei um drei Dimensionen der Interaktion handelt und nicht darum, daß der Erwachsene entweder nur das eine oder nur das andere ausschließlich tut, geht aus dem Beispiel deutlich hervor; nur werden die Akzente durch die Art der Vermittlung unterschiedlich gesetzt. Das zeigt sich gut an den verwendeten Strategien. Die Mutter des ersten Beispiels präsentiert das Problem durch eine relativ klare sprachliche Darstellung. Die beiden anderen Mütter verzichten darauf und suchen offenbar das Problem durch den Handlungsvorgang, den nicht-sprachlichen, aber sprachlich kommentierten Umgang mit den Gegenständen selbst
»vorzuzeigen«
.
|A 72|
[054:259] 2. Gegenstände, Probleme und ihre Lösungen sind nicht nur im Beziehungssystem zwischen Erwachsenem und Kind, sondern auch in Raum und Zeit lokalisiert. Auch das kann vorwiegend verbal oder vorwiegend nicht-verbal geschehen.
[054:260] Die Mutter des ersten Beispiels: Sie strukturiert die Situation sowohl in der räumlichen (
»... auf dieses Brett«
,
»... nach der Farbe zusammengestellt«
,
»... auf die eine Stelle«
,
»... auf die zweite Stelle«
) als auch in der zeitlichen Dimension; das Letztere vor allem dadurch, daß sie die ganze Operation in zeitlich aufeinander folgende Schritte zerlegt.
[054:261] Die Mutter des zweiten Beispiels: Auch sie strukturiert in beiden Dimensionen, allerdings mit einem wichtigen Unterschied; sie stellt die räumliche und zeitliche Ordnung nicht als ein Merkmal des Gegenstandes, des objektiven Problems dar, sondern als Merkmal ihrer eigenen bzw. der Operationen des Kindes, die sie sprachlich kommentiert:
»Ich nehme jetzt ...«
,
»... nun stelle du«
,
»... stell’ sie jetzt ...«
,
» ... stell’ die anderen ...«
; die zeitliche Dimension wird – so können wir sagen – nicht vorweggenommen, nicht antizipiert, sondern erscheint nur als Merkmal der selbstverständlichen impliziten Struktur des Handlungsablaufs.
[054:262] Noch stärker tritt dies bei der dritten Mutter hervor; dadurch, daß hier nur die Mutter handelt und daß das Kind lediglich die Antwort gibt, ist zwar die räumliche Strukturierung, wenngleich in sehr knapper Formulierung (
»Ich habe hier einige Stühle und Autos ...«
), explizit – man muß sich freilich auch die Gesten vorstellen, mit denen die Mutter ihre Worte begleitet, oder vielleicht eher umgekehrt, die Gesten, die durch ihre Worte begleitet werden. Die Zeitdimension aber wird für das Kind gleichsam zerhackt, es gewinnt keine Perspektive im Sinne eines Ausblicks auf das mögliche Ende, bleibt ganz an die unmittelbare Wahrnehmung und die einzelnen Zeige-Akte der Mutter gebunden.
[054:263] 3. Neben den Strategien des Zeigens und des raumzeitlichen Strukturierens des Problems erscheint in den Beispielen eine dritte: das Einbeziehen des Kindes. Auch hier ist es vermutlich sinnvoll, zwischen solchen Strategien des Einbeziehens zu unterscheiden, die auch sprachlich explizit werden und deshalb auch im Protokoll auftauchen, und solchen, die nur in der nicht-sprachlichen Zuwendung erkennbar werden. Da wir im Protokoll nur über Sprachmaterial verfügen, können wir auch nur dieses interpretieren; im Hinblick auf die nicht-sprachlichen |A 73|Bestandteile der Situation sind wir auf Spekulationen angewiesen. Besonders auffallend ist der Unterschied zwischen dem ersten und dem dritten Beispiel. Während im ersten Falle das Kind im Hinblick auf seine Fähigkeit der Problemlösung (
»ob du das kannst?«
) in die Interaktion einbezogen wird, bezieht sich die Mutter des dritten Beispiels auf das Bedürfnis des Kindes zu spielen (
»Möchtest du damit spielen?«
). Mit der Unterscheidung von Fähigkeit und Bedürfnis oder Motivation wird hier zugleich auch die Differenz zwischen einer kognitiven Problemorientierung im ersten und einer affektiven Handlungsorientierung im zweiten Fall erkennbar, die jedoch durch die unmittelbar folgende Frage-Antwort-Situation wieder aufgehoben wird (das Kind nahm das Handlungsangebot offenbar nicht auf). Überdies zeigt sich am ersten Beispiel, daß die Art, in der das Kind in eine Interaktion einbezogen wird, mit den Vorstellungen der Erwachsenen über das Lernen des Kindes, mit unterstellten Lernmodellen zusammenhängt; die Mutter stellt dem Kind gleichsam zwei Lernstrategien zur Auswahl: das
»Imitationslernen«
(
»Möchtest du, daß ich es dir vormache?«
) und das Lernen durch Einsicht in die Problemstruktur (
»Hast du es verstanden?«
). Die zweite und die dritte Mutter dagegen präsentieren dem Kind solche Alternativen nicht; sie vertrauen offenbar darauf, daß sich aus den punktuellen Anfangsschritten, aus dem Verlauf der Interaktion allmählich eine bestimmtere Lernstrategie herausbildet.
[054:264] 4. Diese Strategien der Strukturierung einer kognitiv bestimmten Situation und ihre Dimensionierung finden Verwendung in einem – wir wiesen schon darauf hin – Rahmen von Interaktionsregeln, denen das Verhalten der Beteiligten folgt. Es werden Beziehungen zwischen den Personen bestimmt (
»Also, Susan ... kannst du das? ... möchtest du lieber ...«
;
»nun, ich nehme ... nun legst du ...«
,
»ich habe hier ..., möchtest du ...?«
), Objekte sprachlich bezeichnet (
»die kleinen Spielsachen«
,
»... das alles ...«
,
»ein Lastauto ...«
,
»... einige Stühle und Autos ...«
,
»dies ist kein Wagen. Was ist es?«
), Verwendungssituationen für die Gegenstände angegeben (
»... sie nach der Farbe zu ordnen ...«
,
»... stellst du sie alle auf das Brett zurück ...«
,
»damit spielen ...«
usw.). Die Struktur der Interaktion nimmt gleichsam die Struktur der Vorstellungswelt des Kindes vorweg, und zwar darin, daß die symbolischen Glieder der Interaktion (Gesten, Wörter, Aussagen, Formen usw.) selbst eine solche Vorstellungswelt darstellen. Die ganze Situa|A 74|tion hat durch die Verwendung von Symbolen, die den Interagierenden bekannt sind oder in der Interaktion bekannt gemacht werden, eine Bedeutung (Semantik): Sie stellt für den Erwachsenen einen Teil seines kulturellen Horizontes dar, den er dem Kinde vorzeigen will. Dieses Vorzeigen erfolgt nach formalen Regeln der Rede und Wechselrede, der Verknüpfung von Gegenständen und Ereignissen (Syntaktik). Das Vorzeigen erfolgt schließlich in einem Handlungszusammenhang, in unserem Beispiel im Rahmen einer Versuchsanordnung und der Gemeinsamkeit zwischen Mutter und Kind, der dem Geschehen erst seinen konkreten Sinn verleiht (Pragmatik).
[054:265] Damit haben wir uns nun allerdings von dem engeren Bereich kognitiver Probleme im Erwachsenen-Kind-System entfernt. Das war aber von der Sache her geboten, denn die künstliche (analytische) Unterscheidung von affektiven und kognitiven Dimensionen der Familieninteraktion hat keinen anderen Zweck, als die Phänomene genauer, detaillierter beschreiben zu können. Im alltäglichen Erziehungshandeln indessen – wie wir gesehen haben – hängt
»alles mit allem zusammen«
: die Beziehung zwischen Mutter und Kind, die Welt der Objekte, die zu lernenden Probleme und Problemlösungen, die Methoden der Problemvermittlung (Sprache, Gesten, Objekte, Abbilder), die Handlungsnormen der Erwachsenen, die Fähigkeiten und Motivationen und schließlich auch die Struktur, in der dieser Zusammenhang
»interdependenter«
, d. h. wechselseitig voneinander abhängiger Bestandteile einer Erziehungssituation in der Struktur einer Interaktion zur Darstellung kommt. Eine Dimension jedoch soll noch gesondert hervorgehoben werden: Alles Geschehen innerhalb der Familie – und hier vielleicht mehr noch als in allen anderen Erziehungsfeldern – hat auch eine Phantasie-Dimension:
[054:266]
Gottlieb: Vater, was bedeutet dann das Pferd mit Flügeln, das da auf dem Bilde vorgestellt ist?
Vater: Es soll bloß eine Zierde des Ofens seyn, auf den man das gesetzt hat.
Gottlieb: Giebt es denn wohl solche geflügelte Pferde?
Vater: Nein! der Künstler, der es machte, hat sich bloß eingebildet, daß es dergleichen gäbe.
Gottlieb: O kann man sich denn wohl so was einbilden?
Vater: Warum nicht? – Ich kann mir ja einbilden, daß ich dich auf einem Truthahn reitend durch die Luft fliegen sehe.
Gottlieb: Potztausend das sollte einmal schön gehen! – Aber das ist doch nicht wahr? |A 75|
Vater: Nein! Aber unsere Seele kann sich auch etwas vorstellen, was wirklich nicht ist. Z. B. kannst du dir nicht vorstellen, wie das aussehen würde, wenn ich eine Nase hätte, die von hier bis an die Wand reichte?
Gottlieb: (lachend) o ja!
Vater: Und willst du wissen, wie man diejenige Kraft unserer Seele nennt, womit sie sich solche Vorstellungen macht?
Gottlieb: Nun?
Vater: Man nennt sie Phantasie, und die wunderbaren Vorstellungen welche man sich dadurch macht, die nennt man Phantasien.
Gottlieb: Soll ich auch einmal eine Phantasie machen?
Vater: Immerhin!
Gottlieb: Na, ich bilde mir ein, wie das aussehen würde, wenn der Truthahn eine Perücke mit einem großen Haarbeutel trüge, und wenn er den Hut unterm Flügel und einen Degen an der Seite hätte.
Vater: Das müßte eben so närrisch aussehen, als wenn seine Frau, die Truthenne, wie eine Dame frisiert wäre, und pariser Taschen trüge.
Gottlieb: Sieh! da hat Vater ja auch eine Phantasie gemacht.
(H. Campe, Kleine Seelenlehre für Kinder 1797; zitiert nach Henningsen 1974, S. 74 f.)
[054:267] Dies ist zwar ein alter Text aus der pädagogischen Literatur der Aufklärung. Aber er macht das Problem, um das es hier geht, deutlicher, als ein Protokoll-Auszug tatsächlich stattgehabter Eltern-Kind-Interaktionen es könnte. Auffallend ist – und das scheint nicht zufällig zu sein –, daß hier die Interaktion gleichsam symmetrisch ist; ein Herrschaftsgefälle ist nicht erkennbar, die Rollen könnten vertauscht werden,
»die Äußerungen sind nicht prinzipiell irreversibel«
, wie J. Henningsen, die technische Fachterminologie ironisch verwendend, anmerkt. Angesichts der gedachten Alternative zu dem, was
»wirklich«
ist, finden sich Eltern und Kinder in gleicher Lage. Aber selbst solche scheinbar
»herrschaftsfreien«
Phantasien folgen geheimen Regeln: Gottlieb und sein Vater folgen der
»Syntax«
literarisch-mythischer Phantasie-Gestalten, andere Eltern-Kind-Dyaden vielleicht dem, was in Reklame- und Reiseprospekten vorgebildet, was in der Form von Sozialutopien (vom
»Indianer«
bis zum
»Revolutionär«
) vorstellbar ist oder auf welche bessere oder doch wenigstens andere
»Wirklichkeit«
sonst die Aufmerksamkeit der schöpferischen Einbildungskraft sich lenken mag. Die Tatsache, daß auch diese Tätigkeit der Einbildungskraft allemal an die erfahrene Gegenwart gebunden bleibt, ermöglicht die symbolische Form, in der sie sich darstellt: Im phantasierten anderen kann ausgedrückt werden, was unmittelbar zu sagen schwerfällt oder verboten ist. Kinderverse und Kinderzeichnungen sind immer schon ein bevorzugtes Terrain für solche symbo|A 76|lischen Verschlüsselungen (Kodierungsleistungen) gewesen. Die Einbildungskraft ist in ihrer symbolischen Treffsicherheit offenbar so verläßlich, daß man daraus einen Test machen konnte:
»Die verzauberte Familie«
ist ein tiefenpsychologischer Zeichentest, in dem Kinder aufgefordert werden:
[054:268]
»Wir wollen jetzt miteinander ein wenig dichten. Du kennst doch Märchen? Wir werden nun ein eigenes Märchen machen ... Stell Dir vor, es kommt ein Zauberer und verzaubert eine Familie, und zwar alle Menschen dieser Familie, Große und Kleine ... Da hast Du ein Blatt Papier und einen Bleistift, und nun zeichne, was da geschehen ist!«
(Kos/Biermann 1973, S. 15)
.
[054:269] Viele Dimensionen, die wir bisher im Hinblick auf das Erwachsenen-Kind-System erörtert haben, werden von den Kindern in diesem Test, wenngleich in bildnerisch-symbolischer Verschlüsselung, zur Darstellung gebracht, vor allem natürlich solche Probleme, die in den Beziehungsstrukturen entstehen: Zuwendung und Ablehnung, Herrschaft und Ohnmacht, Wärme und Kälte, Furcht und Hoffnung, Gemeinsamkeit und Trennung, groß und klein. Freilich bleiben bisweilen auch die Fähigkeiten der Einbildungskraft aus:
[054:270]
»So schrieb ein 14jähriges Mädchen mit Asthma bronchiale, nachdem es zuvor bei durchschnittlicher zeichnerischer Begabung den Menschtest und Baumtest schnell gezeichnet hatte, lediglich auf das Blatt:
Es passiert nichts, weil der Zauberer die Familie nicht verzaubern kann.
Es fügt erklärend hinzu:
Es gibt doch keine Zauberer!
[054:271] Dieses, wie man es deutet, realitätsangepaßte Verhalten Jugendlicher kann in Pubertät und Adoleszenz einem Abwehrmechanismus in Form der Intellektualisierung entsprechen. Das Mädchen wußte auch über keinen einzigen Traum zu berichten. Dabei zeigte ein ständiges Fingernesteln während des Gesprächs seine innere Beunruhigung an«
(Kos/Biermann 1973, S. 16)
.
[054:272] Nicht nur für Pubertät und Adoleszenz wäre es fragwürdig, ein solches Verhalten als
»realitätsangepaßt«
zu bezeichnen, vielmehr muß man fragen, von welcher Art die Realität einer solchen Familie ist, in der es die Phantasie-Dimension jedenfalls für das Kind
»nicht gibt«
. Überhaupt: Was ist die
»Wirklichkeit«
einer Familie, wenn nicht das, als was sie sich in ihren Interaktionen, Erfahrungen und Deutungen selbst konstruiert?
|A 77|

Das Kinder-System

[054:273] In unseren bisherigen Erörterungen mag der Eindruck entstanden sein, daß Verhalten und Bildung der Kinder vollständig von den Erwachsenen, den Eltern, abhängen. Tatsächlich kann man sich diese Zusammenhänge als eine lineare Ursachenkette denken; ein solches Modell wird auch nicht selten im Bereich der Familien- und Sozialisationsforschung verwendet, beispielsweise in der folgenden Form:
[054:274] Die unzureichende materielle und soziale Situation, in der ein Kind heranwächst, führt zu (ist hinreichende Ursache für) einem relativ eingeschränkten Bildungsniveau; dieses hat zur Folge (ist hinreichend Ursache für) eine Berufstätigkeit an den unteren Rängen des Systems der Arbeitsteilung; daraus folgt sowohl die Orientierung an Verkehrsformen, die in der entsprechenden sozialen Lage üblich sind, wie auch die Gattenwahl; in der Ehe wiederholen sich, in der Form von Rollenzuschreibungen und Beziehungsproblemen, jene Verkehrsformen in einer familienspezifischen Weise; dadurch wachsen die Kinder durch Imitation des Erwachsenenverhaltens und durch die Sanktionsgewalt der Eltern über die Kinder in eben diese Verkehrsformen hinein, werden in ihrem Sinne gebildet; die Folge ist, daß ihr Bildungsgang dem der Eltern analog verläuft – die Geschichte beginnt wieder von vorn.
[054:275] Aus der zunächst angenommenen linearen Abhängigkeit der einzelnen Faktoren voneinander wird – durch die Abbildung dieser Denkweise auf einen Lebenslauf – ein Zirkel. Die Familienerziehung erscheint als ein Glied in einer längeren Kette sozialer Ereignisse, gleichsam unausweichlich oder – wie es häufig in mißbräuchlicher Verwendung dieses Ausdrucks heißt –
»notwendig«
. Nach einem solchen Modell sind innerhalb des Zirkels natürlich noch weitere Faktoren (besonders Schule und Berufsausbildung) anzunehmen, wenn der Lebenszyklus voll erfaßt werden soll. Hurrelmann hat das in einer schematischen Darstellung des
»zirkulären Verlaufs des Sozialisationsprozesses«
getan (siehe S. 78).
[054:276] Gegen eine solche Modell-Vorstellung ist nichts einzuwenden, wenn sie sich als bestätigungsfähig erweist und wenn die im Modell unterstellten Abhängigkeiten (Hypothesen) zwischen den einzelnen Gliedern der Kette sich durch empirische Prüfung als gültig herausgestellt haben. Indessen repräsentiert dieses Modell (wie prinzipiell jedes
»Bild«
, das wir uns von der |A 78|
(entnommen aus: Hurrelmann 1975, S. 140).
»Wirklichkeit«
machen) nur eine von vielen möglichen Sichtweisen. Es hebt deshalb auch einige Probleme besonders hervor, andere tauchen darin gar nicht auf, z. B. folgende:
[054:277] Man muß das familiale Lernfeld nicht im Hinblick auf seine Homogenität, die Gleichartigkeit ihrer einzelnen Elemente betrachten, sondern man kann die Aufmerksamkeit ebensogut gerade auf die Ungleichartigkeiten richten, die in der Familie, und zwar gleichzeitig, auftauchen. Was geschieht z. B., wenn die Erwartungen, die die Erwachsenen an das Kind richten, nicht übereinstimmen? Was geschieht, wenn das Kind Meinungsverschiedenheiten zwischen den Eltern beobachtet, die nicht zugunsten eines Elternteils entschieden werden? Was geschieht, wenn im Kind Bedürfnisse, Wünsche, Motive entstehen, die in der Familie keine Befriedigungs- und Handlungschancen haben, ohne allerdings derart durch Sanktionen bedroht zu sein wie im Falle des Familien-Protokolls im vorigen Abschnitt? Fälle dieser Art sind nur interpretierbar, wenn wir eine Eigentätigkeit des Kin|A 79|des annehmen, die sich jenem Zirkel nicht voll integrieren läßt. Angesichts offener Probleme, angesichts von Widersprüchen und Konflikten stellt es seine Tätigkeit ja nicht ein; es kann sich – wenigstens der Möglichkeit nach – produktiv verhalten, sei es, daß es trotz des Machtgefälles zwischen Erwachsenen und Kindern eine Position im Eltern-Kind-System nachdrücklich zur Geltung zu bringen sucht, sei es, daß es in der sozialen Beziehung zu seinen Geschwistern oder anderen Kindern sich ein Feld für eigene Aktionen verschafft. Die erste Möglichkeit steht dem Kind nur offen, wenn das Kontrollverhalten der Eltern es zuläßt; die zweite Möglichkeit ist dem Kind nur in pathologischen Grenzfällen verschlossen: Die Geschwister-Beziehungen bilden im Regelfall ein Subsystem der Familie, zunächst auf die eigenen Geschwister beschränkt, tendenziell aber immer auch andere Kinder schon miteinbeziehend. Zur Geschwister-Konstellation ein Beispiel:
[054:278]
...
»Du kannst überhaupt nichts ausstehen.«

Als sie das sagte, wurde ich noch viel deprimierter.
»Doch. Doch sicher. Sag das nicht. Warum zum Kuckuck sagst du so etwas?«

»Weil du gar nichts gern hast. Die Schule hast du nicht gern, und überhaupt alles hast du nicht gern. Einfach nichts.«

»Doch! Da täuschst du dich – in dem Punkt täuschst du dich wirklich! Warum zum Kuckuck mußt du so etwas sagen?«

Herr im Himmel, sie deprimierte mich wahnsinnig.
»Weil es so ist«
, sagte sie.
»Oder sag irgend etwas, was du gern hast.«

»Irgend etwas? Was ich gern habe?«
fragte ich.
»Schön.«
Dummerweise konnte ich mich nicht richtig konzentrieren. Manchmal ist das schwierig ...
»Du kannst überhaupt nichts aufzählen?«

»Doch, das kann ich. Doch, das kann ich.«

»Gut, dann sag’s.«

»Allie hab ich gern«
, sagte ich.
»Und was ich grade jetzt tue. Hier bei dir sitzen und reden und an alles Mögliche denken und –«
...
»Das ist nicht wirklich etwas!«

»Allerdings ist das wirklich etwas! Selbstverständlich! Warum zum Kuckuck denn nicht? Die Leute meinen immer, etwas sei nicht wirklich etwas. Das habe ich allmählich schon verdammt satt.«

»Hör auf zu fluchen. Also schön, sag etwas anderes. Sag etwas, was du gern sein möchtest.«
...
»Weißt du, was ich gern sein möchte?«
fragte ich.
»Weißt du, was ich sein möchte? Ich meine, wenn ich die Wahl hätte?«

»Was? Fluch nicht so.«

»Kennst du das Lied
Wenn einer einen anderen fängt, der durch den Roggen läuft
? ich wäre gern –«
|A 80|
»Es heißt
Wenn einer einen anderen trifft, der durch den Roggen läuft
«
! sagte Phoebe.
»Das ist ein Gedicht von Robert Burns«

»Das weiß ich auch, daß es ein Gedicht von Robert Burns ist.«

Sie hatte aber ganz recht. Es heißt
Wenn einer einen anderen trifft, der durch den Roggen läuft
. Damals wußte ich das allerdings noch nicht.
»Ich dachte, es hieße
Wenn einer einen anderen fängt
«
, sagte ich.
»Aber jedenfalls stelle ich mir immer kleine Kinder vor, die in einem Roggenfeld ein Spiel machen. Tausende von kleinen Kindern, und keiner wäre in der Nähe – kein Erwachsener, meine ich – außer mir. Und ich würde am Rande einer verrückten Klippe stehen. Ich müßte alle festhalten, die über die Klippe hinauslaufen wollen – ich meine, wenn sie nicht achtgeben, wohin sie rennen, müßte ich vorspringen und sie fangen. Das wäre alles, was ich den ganzen Tag lang tun würde. Ich wäre einfach der Fänger im Roggen. Ich weiß schon, daß das verrückt ist, aber das ist das einzige, was ich wirklich gern wäre. Ich weiß natürlich, daß das verrückt ist.«

(Salinger 1962, S. 215 ff.)
[054:279] Schon im Sprachspiel zeigt sich die Eigentümlichkeit dieses familialen Subsystems. Frage und Antwort unterliegen nicht dem Druck elterlicher Gewalt; die Überlegenheit des Jungen ist lediglich die Überlegenheit des fortgeschritteneren Bildungsprozesses, seine Rede ist komplexer. Außerdem beruht das Gespräch zwischen den Geschwistern auf einer Übereinkunft, aus der die Erwachsenen ausgeschlossen sind und in der Anzeichen einer kindlichen Gegenwelt auftauchen, in der Probleme sagbar werden, die vor den Standards der Erwachsenen keinen Bestand hätten (
»Die Leute meinen immer, etwas sei nicht wirklich etwas«
), eine Gegenwelt vor allem, in der andere Relevanz-Kriterien Geltung haben, in der Bedeutsames und Bedeutungsloses anders verteilt ist. Zu sagen, daß das eben die Phantasiewelt der Kinder ausmache, hieße das Problem verharmlosen. Die kindlich-jugendliche Utopie des
»Fängers im Roggen«
ist eben nur an ihrer einen Seite phantastisch; an der anderen ist sie der Ausdruck eines auf eine bestimmte Form sozialer Beziehung gerichteten Willens, der hier in den Symbolen des Spiels und des Schutzes verschlüsselt ist. Der Sprecher-Schreiber des zitierten Textes symbolisiert in dem
»Fänger«
nichts anderes als die Funktion, die er den Erwachsenen, Erziehern, Eltern zuschreiben möchte; im Spiel symbolisiert er die Tatsache, daß das Netz von Beziehungen, das Kinder unter sich im Spiel entfalten, durchaus den Charakter einer Sozietät hat, er weiß freilich,
»daß das verrückt ist«
, aber das Bild drückt dennoch seinen dringendsten Wunsch aus. Daß solche Utopie sich nicht außer|A 81|halb, sondern allenfalls am Rande der
»Realität«
bewegt, zeigt ein von Anna Freud berichtetes Beispiel, allerdings durch barbarische Umstände erzwungen:
[054:280]
»A. Freud und S. Dann (1961/62) berichten von einer Gruppe von sechs jüdischen Kleinkindern, die seit dem frühesten Alter im Konzentrationslager gelebt und ihre Eltern verloren hatten und auch keine Beziehungen zu anderen Erwachsenen anknüpfen konnten. Als sie nach Kriegsende nach England gebracht wurden, zeigte sich, daß die Kinder sich eng aneinander angeschlossen hatten, sie stellten eine fest verbundene Gruppe dar und konnten es nicht ertragen, wenn ein Kind auch nur für kurze Zeit von den anderen getrennt wurde. Neid und Wettstreit gab es zwischen ihnen nicht. Ihre Liebe hatte sich anstatt den Eltern oder vertrauten Erwachsenen den Gleichaltrigen zugewandt«
(Hundertmarck 1969, S. 14).
[054:281] Dies hat nun mit
»Spiel«
, wenn überhaupt, dann nur noch sehr entfernt etwas zu tun. Aber selbst in diesem extremen Fall tritt etwas von der oben erwähnten Utopie hervor, für die andere Regeln gelten als unter dem unmittelbaren Zugriff der Erwachsenen. Die Übernahme von
»Rollen«
, von dauerhaftem sozialen Verhalten anderen gegenüber, wird also nicht nur in der Beziehung zu den Erwachsenen gelernt – wiewohl dort allemal die Voraussetzungen erworben werden –, sondern auch in den Beziehungen der
»Kinderwelt«
. Die für die antiautoritäre Kinderladen-Bewegung wie auch für die
»Free-School-Bewegung«
leitende Vorstellung, die Kinder müßten in Auseinandersetzung mit ihresgleichen ihr soziales Handeln selbst regulieren (Claßen 1975), hat darin ihre Begründung. Soziales Verhalten von Kindern, ebenso wie ihr Umgang mit den Gegenständen ihrer Wahrnehmung und ihrer Einbildungskraft, sind immer auch mehr als eine Wiederholung, eine
»Reproduktion«
dessen, was in der Gesellschaft der Erwachsenen geschieht (die Frage ist nur, wie lange es sich halten kann angesichts der täglich erfahrenen Übermacht der Erwartungen von Eltern, Nachbarn und Bildungseinrichtungen).
[054:282] In dem kurzen
»Aufsatz«
eines etwa 10jährigen Mädchens aus einem
»Schülerladen«
zum Vergleich zwischen
»Schülerladen und Zuhause«
heißt es:
[054:283]
»Zu Hause muß ich hören, was meine Eltern sagen, aber hier darf ich mich so benehmen, wie ich es für richtig halte. Wenn hier mal jemand einen Ausdruck sagt, dann wird es gar nicht ernst genommen, im Gegenteil zu meinem Elternhaus, dort muß ich mich wie ein Mädchen benehmen, sagen meine Eltern. Hier wird mir bei den Schularbeiten geholfen, aber zu Hause hat niemand Zeit für mich, denn meine Eltern |A 82|haben nie Zeit, weil wir vier Kinder sind und meine Eltern alle beide arbeiten müssen, können sie sich nicht um uns kümmern, aber im Schülerladen kann man uns helfen, denn da sind sie für uns da. [054:284] Wenn ich zu Hause mal etwas kaputt mache, dann werde ich gleich angemeckert. Hier im Schülerladen ist das gar nicht so schlimm. Hier dürfen wir auch ab und zu mal rumtoben. Zu Hause heißt es immer gleich seid doch still, was sollen denn die Mieter von uns denken usw. Wenn man in der Wohnung laut ist, dann beschweren sich die Mieter beim Hauswart, und man wird gekündigt. Im Schülerladen dürfen wir auch nicht laut sein, aber wir dürfen uns doch immerhin noch so benehmen, wie wir es wollen. Wenn uns keiner was verbietet, können wir von uns aus leise sein«
(Autorenkollektiv 1971, S. 292)
.
[054:285] Die Orientierungen innerhalb des Kinder-Systems bilden, das zeigt sich an diesem Beispiel, eine Gegenwelt auch insofern, als sie sich auf die herrschaftsbestimmten Alltagserfahrungen beziehen, auf deren Belastungen und Verbote, Anforderungen und Tabus, und häufig nur Umkehrungen sind: Dem Verbot wird das Bedürfnis, der Vereinzelung die Gemeinsamkeit, der Leistung die Phantasie, dem Tabu die karikierende Offenheit entgegengesetzt. Es charakterisiert unser Verhältnis zu diesem Aspekt des Bildungsprozesses, daß die Erziehungsforschung sich bisher fast ausschließlich den von Erwachsenen kontrollierten Formen des Lernens zugewandt hat. Aussagen über das Kinder-Subsystem der Familie, aber auch über andere nicht durch den Eingriff von Erwachsenen bestimmte Handlungsfelder gleichaltriger Kinder, sind nahezu notwendig Vermutungen oder Berichte über subjektiv Erfahrenes. Indes gibt es doch schon einige Anhaltspunkte:
[054:286] 1. Daß Geschwister innerhalb der Familie ein eigenes Subsystem von Regeln und Inhalten ausbilden oder ausbilden können, hat sich in der Zwillingsforschung gezeigt. Die Kommunikation zwischen den Geschwistern kann so dicht werden, daß ein Zusammenhang spezifischer Symbole und Inhalte entsteht, der für Außenstehende nur noch schwer zu entschlüsseln ist. Insbesondere erreichen – was unter Kindern ohnehin noch stärker ausgeprägt ist als unter Erwachsenen – die nicht-sprachlichen Formen der Verständigung einen hohen Ausbildungsgrad und bewirken eine Abschließung gegen die soziale Umwelt. Diese Eigenständigkeit, da sie unter anderem auf Kommunikationsmerkmalen beruht, die öffentlich schwer zugänglich sind, also auf Privatsprache innerhalb eines Zweier-Systems, bedeutet gleichzeitig auch relative Nicht-Teilhabe an dem weiteren kommunikativen Geschehen, damit auch Einschränkung von Lern|A 83|perspektiven und Zurückbleiben des Bildungsprozesses (Lurija/Judowitsch 1970).
[054:287] 2. Als eigentliche Domäne der
»Kinderwelt«
galt seit je das Spiel (Flitner 1972). Markiert in der Kommunikation die Sprache bzw. die symbolische Funktion von Gesten den Anbindungspunkt des Kinder-Systems an das Erwachsenen-System, so ist es im Spiel die Tatsache, daß hier antizipierend gelernt wird, die kulturellen Gehalte in der Form von Spielen abbildend und in den Spielraum des Kindes transformierend. Das aber ist – wie wir schon gesagt haben – nur die eine Seite. Kinderspiele haben eine eigentümliche historische Konstanz; das rollenartige Durchspielen der an den Leib gebundenen Grundprobleme des familialen Haushaltes (Kochen, Pflegen, Heilen usw.), Ballspiele, Blinde Kuh, Reifen springen, Windmühle, Laufspiele, Drachen steigen usw. sind offenbar sowohl von historischen wie sozialen Umständen wenigstens relativ unabhängig oder ändern sich in wesentlich langsameren Rhythmen, als das in der Erwachsenen-Kultur der Fall ist (vgl. Boesch 1900). Dennoch ist der pädagogische Eingriff in diese Sphäre unverkennbar. Die ambivalente Einstellung der Eltern zur relativen Eigenständigkeit des Kinder-Subsystems ist im Kinderzimmer gleichsam architektonisch symbolisiert: Es sind eben die Eltern, die innerhalb des familialen Lebensraums das Kinderzimmer ausgrenzen und so eine Balance versuchen zwischen den kindlichen Bedürfnissen und ihren eigenen Kontroll-Interessen.
[054:288] 3. Im Spiel werden ferner Grundmuster der Interaktion erworben und stabilisiert. Nicht nur die Interaktionen mit den Eltern und die Wahrnehmungen der Beziehungen zwischen Mutter und Vater, sondern auch die Interaktionen der Kinder untereinander bilden den notwendigen Rahmen für den Erwerb der Fähigkeiten des interpersonellen Handelns (Flavell 1975). Im folgenden Beispiel wird zwar nicht über eine Geschwistergruppe berichtet; die Art der beobachteten Ereignisse aber gleicht dem Geschehen in Geschwister-Gruppen hinreichend, um sie hier zu diskutieren.
[054:289]
»Uwe (3;10) sitzt mit Hans (4;3) an der Tür. Beide haben kleine Lastautos beladen. Uwe liegt auf der Erde, macht Autogeräusche nach, fährt an der Puppenecke vorbei. Er stößt Hans an, der protestiert, Uwe bleibt stehen. Hans:
Du brauchst hier nichts zu machen!
Uwe bleibt da, er sieht Sigrid (4;8) zu, die eine Puppe in den Puppenwagen setzt. Monika (3;3), die dabeisteht, ruft:
Du sollst hier weggehen!
Uwe läßt das Auto ein Stück weit fahren, kippt dann die Steine aus. Monika tritt mit den Füßen dagegen, schiebt ihm dann aber einige Steine zu, die in die Puppenecke gefallen waren. Er belädt |A 84|nun auch das Auto, das Hans stehengelassen hat, und bringt es Hans, der wieder in der Bauecke ist. Hans baut einen sehr hohen Turm . Uwe läuft sechsmal mit Bausteinen zu ihm, sieht dann Peters Turm an und gibt die Steine nun abwechselnd Hans und Peter«
(Hundertmarck 1969, S. 20)
.
[054:290] In noch unausgebildeter Form deuten sich an diesem Beispiel verschiedene Fähigkeiten (Kompetenzen) an. Das Übernehmen einer Position (Autofahrer, Mutter); das Beobachten und Entschlüsseln der Handlungen und Äußerungen anderer (die beobachtende Haltung Uwes; der Protest:
»Du brauchst hier nichts zu machen«
); das Sich-Hineinversetzen in die Motive und Handlungsabsichten anderer, d. h. die Übernahme einer Rolle in bezug auf die Rolle des anderen (... belädt das Auto ... und bringt es Hans); die Kooperation in einem gemeinsamen Handlungskontext ( ... läuft sechsmal mit Bausteinen .. und gibt die Steine nun abwechselnd Hans und Peter). Die Beschreibung übernimmt offenbar die Perspektive Uwes; stünde Sigrid im Mittelpunkt der Darstellung, so würden sich vermutlich auch die Ereignisse anders anordnen; sie ist die Älteste in der Gruppe. Damit soll darauf hingewiesen werden, daß Hierarchien, die sonst nur in der von den Eltern abhängigen Position erlebt werden, auch im Kindersystem auftreten und daß dort, im Unterschied zur Beziehung zu den Eltern, vom Kinde selbst die Rolle des Älteren, Stärkeren, Fähigeren, Dominanten eingenommen werden kann.
[054:291] 4. Die nahezu ununterbrochene Nötigung, zwischen eigenen Impulsen (Bedürfnissen, Triebwünschen) und den von der Erwachsenen-Kultur nur zugelassenen Inhalten und Handlungen eine erträgliche Balance herzustellen, erzeugt die kindlichen Interaktionsrituale, die vor allem im Kindervers einen sprachlichen Ausdruck gefunden haben.
[054:292]
»Den Kindervers begreifen wollen, heißt, ihn in seinen sozialen Funktionen sehen und seine unterschiedlichen Erscheinungsformen als Funktionsmodelle. Wenn er nämlich etwas nicht ist, so etwa ein schönes Spielzeug des behüteten Einzelkindes. Auch als Unmutsventil ist er nicht zu trennen von einer Gemeinschaft der Unmutigen und ihrem Wunsch zur kollektiven Willenskundgebung. Auch als Ausdrucksmittel dient er vornehmlich dem Ausdruck einer verschworenen Spießgesellschaft, ja er ermöglicht überhaupt erst die Verschwörung. Was ohne ihn in ohnmächtiger Isolierung verharren müßte, weil es über keinerlei technischen Organisationsapparat verfügt, dem bietet sich hier ein differenziertes und doch wieder handliches Instrumentarium dar, geeignet, die dringendsten Sozialprobleme gemeinschaftlich zu erledigen. [054:293] |A 85|Er dient allerdings nicht allein der Regelung außenpolitischer Belange und der Grenzziehung gegenüber der institutionalisierten Autorität. Gleich unentbehrlich scheint seine Anwesenheit in allen möglichen internen Interessenstreitigkeiten. Bedenken wir bitte, daß gerade in so flüchtigen, mehr oder minder zufällig sich konstituierenden Gemeinschaften wie es Spielhorden, Straßenbekanntschaften, Kindergartencliquen sind, zunächst einmal alles strittig ist. Da taucht zum Beispiel immer wieder neu und dringend die Frage nach den Eigentumsverhältnissen auf; weshalb denn auch so Sprüchlein wie
Geschenkt ist geschenkt / Und Wiederholen ist gestohlen
unentbehrlich sind. Eine ständige Beunruhigung geht zwangsläufig von solchen Individuen aus, die dazu neigen, Gruppengeheimnisse an die Erziehungsbevollmächtigten zu verraten; also versucht man, die Denunzianten, Petzer, Streikbrecher, wo man sie rechtlich schwer belangen kann, zumindest unter moralischen Druck zu setzen:
Klafferkatt / Go no Stadt / Käup Di’n Putt vull Fiegen / Kannst Du gaut no swiegen
. Oder wie soll man sich etwa bündig gegen den Lügner versichern, einen Typus, der jedes Vertrauensverhältnis von Grund auf zunichte macht? Wie gegen den Angeber, der sich mit ungedeckten Versprechungen Vorteile erschleicht? Wie schließlich gegen die Wehleidigkeit, den weinerlichen Angsthasen, die beleidigte Leberwurst, die auf ihre Weise zum Spielverderber werden und die ungeschriebenen Solidaritätsgesetze verletzen? Nun, brachialer Terror erweist sich auch hier meist als das schlechteste aller Sozialisierungsmittel, und weil es zwar nicht an Klägern, wohl aber an Richtern und einem funktionskräftigen Justizapparat fehlt, übernimmt die Klage gleichzeitig den Part der Anklage, des Bannspruchs, der moralischen Pression«
(Rühmkorf 1967, S. 78 f.)
.
[054:294] Kinderverse sind ein sehr subtiles Mittel für Verhaltensregulierung; zugleich aber auch sind sie ein Mittel, unterdrückte Gehalte zur Sprache bringen zu können: Angriff gegen die Erwachsenen, fäkale und genitale Phantasien, Lügengeschichten und Sinn-Verdrehungen oder die Trivialisierung der pathetischen Rituale der Erwachsenen-Kultur (
»Macht hoch die Tür / die Tor macht auf / es kommt der Herr / im Dauerlauf«
). Dabei handelt es sich keineswegs nur, wie mancher meinen mag, um Form-Probleme. Einerseits ist, direkt oder indirekt, im Kindervers immer auch die normative Orientierung des Verhaltens angesprochen; die Auseinandersetzung mit den sozialen Normen, mit Verhaltenserwartungen von Erwachsenen und Gleichaltrigen, ist ja ein wesentlicher Inhalt des Lebens des Kindes. Andererseits sind auch die Taktiken des interpersonellen Verkehrs Inhalt kindlichen Lernens. Das Wahrnehmen des anderen, das Deuten seiner Motive, das Erkennen-Können seiner Absichten, das Regulieren von Streit-Situationen, das Herstellen von Gemeinsamkeit usw.
|A 86|

Zusammenfassung

[054:295] Im Durchgang durch die Aspekte der familialen Lebenswelt, des Ehe-, Eltern-Kind- und Kinder-Systems haben wir eine Fülle von Begriffen verwendet, Dimensionen ermittelt, Betrachtungsweisen durchgespielt – immer allerdings in lockerer Interpretation und nicht durchweg systematisch, nicht immer empirisch gesichert, von Beispielen und nicht von den Ergebnissen der Forschung ausgehend. Aber auch in dieser wenig strengen Form der Darstellung waren natürlich theoretische Annahmen leitend. Ehe wir in den folgenden Kapiteln diese Annahmen, ihre theoretischen Traditionen und praktischen Bedeutsamkeiten diskutieren, versuchen wir hier eine knappe Zusammenfassung der bisherigen Erörterungen und reduzieren dabei zugleich die Vielfalt der Informationen auf wenige Grundbegriffe:
  1. 1.
    [054:296] Die gegenwärtige Familie stellt sich ihren Kindern als ein nach Regeln geordnetes Lernmilieu dar, das die Struktur des Alltagshandelns hat – im Unterschied zu den professionell institutionalisierten Lernmilieus wie Kindergarten, Schule, Heim usw. Daß es nach Regeln geordnet ist, bedeutet nicht, daß es ein harmonisches Milieu ist; vielmehr ist die Familie ein Konfliktfeld, ein
    »battleground«
    , in dem verschiedene Bedürfnisse, Erfahrungen und Intentionen aufeinandertreffen und zu einem, wenn auch immer wieder revidierbaren, Konsensus gebracht werden müssen.
  2. 2.
    [054:297] Die Konflikte haben, in grober Einteilung, zwei Quellen: einerseits muß die Familie mit ihren materiellen Bedingungen fertig werden, vor allem mit Einkommen und Beruf, und sie muß diese Bedingungen zu einem halbwegs befriedigenden Stil des innerfamilialen Umgangs verarbeiten. Neben dieser, wie auch immer mittelbaren, Auseinandersetzung mit der
    »äußeren Natur«
    muß sie andererseits die Probleme der
    »inneren Natur«
    bewältigen: sie muß dem zunächst nur biologisch bestimmten Organismus des Kindes ein Bildungsangebot machen, das es diesem ermöglicht, im Prozeß der Person-Werdung eine Balance zwischen Bedürfnissen und kulturellen Anforderungen (sozialen Erwartungen) zu finden.
  3. 3.
    [054:298] Alle Probleme innerhalb der Familie stellen sich für die Kinder als Probleme der Interaktion dar, und zwar in drei sich überschneidenden Teil-Systemen: die Interaktion zwischen den Eltern, die die Kinder täglich erfahren; die Interaktion zwischen den Eltern und Kindern, die prinzipiell durch Abhängigkeit ge|A 87|kennzeichnet ist; die Interaktion zwischen den Kindern, die durch die Gehalte einer kindlichen
    »Gegenwelt«
    , durch die im Spiel wenigstens streckenweise realisierten Basisregeln von Interaktion eine relative Eigenständigkeit hat.
  4. 4.
    [054:299] In diesen Familien-Interaktionen werden Schemata der Erfahrung präsentiert, an denen das Kind lernt und die es in seine Vorstellungen (Begriffe) und seine Handlungen übernimmt.
  5. 5.
    [054:300] In diesem Interaktionsfeld dominieren die Erwachsenen, spielen sie den herrschenden Part. Ihre Probleme, ihre Interaktionsmuster und Erfahrungs-Schemata sind deshalb Schlüssel-Ereignisse der Familienerziehung.
  6. 6.
    [054:301] Durch tägliches Verflochtensein in Produktion und Konsum haben die Muster und Schemata mindestens in einigen – vermutlich den dominanten – Komponenten ihre
    »Basis«
    außerhalb der Familie. Die gesellschaftlich bestimmenden Verkehrsformen bestimmen so auch die Interaktion in der Familie, werden zu pädagogisch bestimmenden Verkehrsformen.
  7. 7.
    [054:302] Das bedeutet schließlich, daß die Familienerziehung – ihr empirischer Begriff – ein durch und durch historisches Phänomen ist. Alles was in ihr geschieht, erhält seine Bedeutung nur durch den geschichtlichen Zusammenhang, dessen Glied sie ist. Sie kann deshalb auch – selbst wenn unsere empirische Phantasie sich das gegenwärtig nicht vorstellen kann – durchaus historisch überflüssig werden; das gilt zumal dann, wenn wir bedenken, daß die Begriffe und Phantasien, die wir über die Familie entwickeln, durch einen Lernprozeß in eben dieser sozialen Institution mindestens mit-gebildet wurden.
|A 88|

3. Kapitel
Familienerziehung als Kommunikation

Die Familie:
»Unity of interacting persons«

[054:303] Bisher haben wir versucht, in immer neuen Interpretationen den Gegenstand
»Familienerziehung«
so zu umkreisen, daß dabei möglichst viele Fragen aufgeworfen, möglichst viele Begriffe eingeführt, möglichst viele Gesichtspunkte vorgestellt werden konnten. Wissenschaftliche Analyse ist aber so auf die Dauer nicht möglich oder zumindest wenig erfolgreich. Aus der Vielzahl von
»Momenten«
oder von Sichtweisen muß sie sich, wenigstens vorübergehend, auf wenige konzentrieren, wenn sie zu gültigen Aussagen kommen will, die zugleich praktisch bedeutsam sind. Gehen wir von der Weise aus, in der die Familie ihren Mitgliedern unmittelbar gegeben ist, im Hinblick auf die pädagogischen Probleme, dann erscheint sie als ein Zusammenhang von Austauschprozessen zwischen Personen, als ein gleichsam nicht abreißender Strom von Informationen und Verständigungen, der sich aus Absichten und Zwängen, Reden und Gegenreden, Anweisungen, Empfehlungen, Fragen und Antworten, aber ebenso auch aus nicht-sprachlichen Gesten und Handlungen zusammensetzt. Wir fassen diesen Komplex von Sachverhalten in den Begriff
»Kommunikation«
zusammen und drücken damit – im Unterschied zu dem Ausdruck
»Interaktion«
– aus, daß der Fluß der familialen Information, das, worauf hin diese gerichtet ist, die Verständigung der Familienmitglieder ist: In kurzer Zeitperspektive geht es dabei um die täglichen Regeln, die täglich zu leistende Organisation der Verbindung von Haushalt und Erziehung, in langer Perspektive um die Verständigung über den Ort ihrer Mitglieder in der Gesellschaft, ihre Bildungsschicksale, schließlich auch den
»Sinn«
ihres Lebens. Solche Verständigung – die in einzelnen Akten der
»Interaktion«
vollzogen wird – kann glücken oder nicht glücken, kann dauerhaft, verzerrt oder nur situationsabhängig gestört sein; die Balance zwischen den Bedürfnissen und Intentionen der Mitglieder kann gelingen oder verfehlt werden.
[054:304]
»Kommunikation«
als Sichtweise auf die Familie hervorzuheben, hat indessen noch einen anderen Grund. Die Erziehung in der Familie unterscheidet sich von den anderen institutionalisierten Lernfeldern des Erziehungswesens in einer wichtigen |A 89|Hinsicht: Das Lernen in den Bildungseinrichtungen verläuft – so intensiv auch die Bemühungen um Curriculum-Revision sein mögen –
»ausgrenzend«
; es werden aus dem scheinbar ungeordneten Feld von alltäglichen Lernreizen, Interessen, Lernwegen und -mitteln diejenigen ausgegrenzt, die dem Erwerb von Bildungsqualifikationen entsprechen, die im System gesellschaftlicher Arbeitsteilung verwertbar sind. Dies ist eines der entscheidenden Organisationsprinzipien des Bildungswesens. In der Familie dagegen ist das Lernen des Kindes ein Bestandteil des Alltagshandelns; es lernt im wesentlichen durch Teilhaben an der Praxis des familialen Lebens, d. h. in unserer Terminologie: Es lernt dadurch, daß es Teilnehmer in der Interaktion ist, die zum Zweck der Aufrechterhaltung dieser Haushaltsgruppe, der Befriedigung der Bedürfnisse ihrer Mitglieder tagtäglich stattfindet.
[054:305] Diese in der Form des Alltagshandelns ablaufenden Interaktionen – wir haben im zweiten Kapitel mehrere Beispiele dafür diskutiert – sind, so spontan sie im einzelnen Fall erscheinen mögen, nicht beliebig, sondern sie folgen bestimmten Regeln. Diese Regeln sind für uns am plausibelsten in der Sprache gegeben, durch die schon immer Gegenstände und Ereignisse benannt, in Klassen zusammengefaßt sind, in der bestimmte Operationen möglich sind, in der es Anrede-, Frage- und Antwortformen gibt, in der Behauptungen aufgestellt und in Zweifel gezogen werden können usw. Ähnliches aber spielt sich auch in nicht-sprachlichen Interaktionen ab: dadurch, daß auch Körpergesten Bedeutung haben, daß in die Interaktionen die familiale Objektwelt (Gegenstände des Haushaltes, Werkzeug, Spielzeug) Eingang findet, daß die Interaktionsteilnehmer, die
»Akteure«
auf der Familienszene aneinander Erwartungen richten, diese interpretieren und ihnen entsprechen oder nicht entsprechen. Die Grundbehauptungen, die sich auf diesen Aspekt der familialen Realität beziehen, hat Stryker so zusammengefaßt:
  1. »1.
    [054:306]
    Verhalten beruht auf einer klassifizierten Welt, und Klassifikationsbegriffe enthalten die Bedeutung, die aus geteilten Verhaltens erwartungen, entstanden durch soziale Interaktion, besteht. Durch Interaktion lernt man, wie Objekte zu klassifizieren sind und welche Erwartungen an das eigene Verhalten gegenüber diesen Objekten bestehen.
  2. 2.
    [054:307]
    Unter diesen Klassifikationsbegriffen sind Symbole, die die morphologischen Bestandteile der Sozialstruktur, genannt Positionen, bezeichnen; und diese Positionen enthalten die geteilten Verhaltenserwartungen, genannt Rollen.
  3. |A 90|
  4. 3.
    [054:308]
    Akteure innerhalb einer Sozialstruktur benennen sich gegenseitig, erkennen sich gegenseitig als Inhaber von Positionen und rufen so Erwartungen in bezug auf gegenseitiges Verhalten hervor.
  5. 4.
    [054:309]
    Akteure innerhalb einer Sozialstruktur benennen gleichfalls sich selbst und schaffen so verinnerlichte Erwartungen in bezug auf ihr eigenes Verhalten. Durch solche Anwendung positionaler Bezeichnungen auf sich selbst entwickeln sie ein Selbst, das aus einem Satz von unterschiedlichen Identitäten besteht.
  6. 5.
    [054:310]
    Akteure suchen stabile und kohärente Identitäten zu schaffen und zu erhalten. Akteure ziehen es vor, daß ihre Identitäten mit positiven Affekten umgeben sind, d. h. sie ziehen es vor, von sich selbst gut zu denken.
  7. 7.ø
    [054:311]
    Identitäten sind motivationale Kräfte; sie umfassen Antriebe zu einem Verhalten, das die Identitäten darstellt oder symbolisiert.
  8. 8.
    [054:312]
    Identitäten sind fixiert oder stabilisiert durch
    Verpflichtung
    . Die Beteiligung, die eine Person in ihrem Netzwerk von sozialen Beziehungen eingegangen ist, verstärkt die Bedeutsamkeit der Identität, auf der dieses Netzwerk gegründet ist, für den Akteur.
  9. 9.
    [054:313]
    Verhalten ist das Ergebnis eines Prozesses, nämlich der Rollen-Erschaffung, der eine Wechselwirkung von Definitionen des Selbst und der Reaktion der anderen darstellt. Alles soziale Verhalten beinhaltet eine Wechselwirkung der Forderungen der Identität und Anerkennung oder Ablehnung solcher Anforderungen.«
[054:314]
(Stryker, in Lüschen/Lupri 1970, S. 59 f.)
[054:315] Es ist vielleicht kein Zufall, daß – von der rein begrifflichen Diskussion abgesehen – die Familienrelevanz dieses Ansatzes vornehmlich im Hinblick auf solche Familien diskutiert und empirisch erprobt wurde, die als problematisch gelten können: Familien unter besonderen Belastungen, in Krisensituationen, mit psychischen Störungen einzelner Mitglieder, schließlich auch
»Problemfamilien«
, in denen eine Reihe von Faktoren zusamenwirken (materielles Elend, berufliche Desintegration, physische Krankheit, psychische Schädigung usw.) und so die Lösung der Schwierigkeiten aus eigener Kraft nahezu unmöglich machen. Es ist eine Eigentümlichkeit des Alltagshandelns, daß es im Regelfall sich seines Wissensbestandes (Klassifikation), seiner normativen Orientierungen (Erwartungen), seiner Schlüsselsymbole (Rollen), wechselseitiger Abhängigkeiten, Selbst- und Beziehungsdefinitionen usw. nicht ausdrücklich bewußt ist. Erst die Störung des erwarteten Ablaufs der Ereignisse, die Vergeblichkeit bei den Versuchen, Befriedigung zu finden, der dauerhafte Dissens schaffen die Voraussetzung dafür, daß über die Regeln der Alltagsinteraktionen reflektiert wird. So wie die Psychoanalyse ihre Theoreme durch die Analyse psychischer Störungen, die marxistische Theorie ihre Sätze durch die Analyse des
»gesellschaftlichen Leidens«
gewonnen haben, wurde die |A 91|Kommunikationstheorie der Familie – oder besser: der Versuch, zur Theorie der Familienerziehung durch die Analyse ihres Interaktionsnetzes beizutragen –, an Familien erprobt und weiterentwickelt, die
»unter Leidensdruck«
stehen: Familien unter starker äußerer Belastung (Hansen/Hill, in: Christensen 1964); Familien, die als Klienten in therapeutische Beratung geraten (Richter 1970; Satir 1973); Familien mit Kindern, die als schizophren diagnostiziert wurden (Bateson u. a. 1969; Laing 1975); Problemfamilien in Slums (Minuchin 1967). Allerdings – und das ist ein charakteristischer Unterschied zur Geschichte der Psychoanalyse – konnten diese therapeutisch oder an pädagogischen Interventionen interessierten Theoretiker auf ein Paradigma zurückgreifen, das gleichsam für den Normalfall der bürgerlichen Familie entworfen war:
[054:316] 1926 hatte Burgess die Familie als eine
»Einheit interagierender Personen«
definiert, und zwar als Resultat seiner Kritik an der Tatsache, daß die bisherige Familienforschung die Familie nahezu ausschließlich wie ein totes Ding, nicht aber wie ein lebendiges
»Wesen«
behandelt habe:
[054:317]
»By a unity of interacting Personalities is meant a living, changing, growing thing. I was about to call it a superpersonality. At any rate the actual unity of family life has its existence not in any legal conception, nor in any formal contract, but in the interactions of its members. For the family does not depend for its survival on the harmonious relations of its members, nor does it necessarily disintegrate as a result of conflicts between its members. The family lives as long as interaction is taking place and only dies when it ceases«
(zitiert nach Stryker, in: Christensen 1964, S. 144)
.
[054:318] Seitdem wurde in der Familienforschung ein Erkenntnis-Schwerpunkt entfaltet, der, wenngleich nicht immer mit übereinstimmenden theoretischen Konzepten, sich gerade pädagogisch als ergiebig erwiesen hat, weil er – anders als der Hauptstrom soziologischer Familienforschung und der Sozialisationsforschung – das Erziehungsgeschehen unmittelbar zum Gegenstand machen konnte.

Ein Begriffs-Rahmen zur Analyse von Familien-Kommunikation

[054:319] Familienerziehung ist eine Form von interpersonellem Handeln. Diese Behauptung erscheint trivial; denn geht nicht jeder, der überhaupt sich mit Fragen der Familienerziehung beschäftigt, seit je von dieser Tatsache aus, da doch der Begriff
»Erziehung«
|A 92|kaum anders gedacht werden kann? Indessen ist dies doch nur dem Anschein nach so. Betrachtet man die Forschungspraxis, dann fällt auf – und das gilt für die von ihren marxistischen Kritikern so genannte
»bürgerliche«
Familien- und Sozialisationsforschung wie für diese Kritiker selbst –, daß Gegenstand von Untersuchungen fast immer nur Väter, Mütter (diese vor allem) und Kinder sind, und zwar in getrennten Untersuchungsakten in Befragungen, Experimenten und Tests. Außerordentlich selten ist der Fall, daß die Interaktion zwischen Erwachsenen und Kindern selbst der Beobachtungsgegenstand ist. Erst durch die an familientherapeutischen Problemen interessierten und einerseits an psychoanalytischen, andererseits an interaktionistischen Theorie-Traditionen orientierten Forscher (Vogel/Bell 1968; Hansen/Hill in: Christensen 1964; Bateson u. a. 1969; Watzlawick u. a. 1969; Laing u. a. 1971 und 1975; vgl. auch Brumlik 1973 und Mollenhauer 1972) gewann die Forderung, nicht einzelne Familienmitglieder, sondern das Interaktionsgeschehen zum Gegenstand von Forschung und praktischer Intervention zu machen (z. B. Therapie) breitere Bedeutung. Wir stellen deshalb die Hauptbegriffe dieser Forschung hier knapp zusammen. Der Leser wird bemerken, daß einige schon in unseren exemplarischen Interpretationen des 2. Kapitels aufgetaucht waren.
[054:320] Ausgehend von Wundts Analyse der Geste, die nach ihm ein Phänomen ist, das in seinen Anfangsstadien Teil einer gesellschaftlichen Handlung ist, gelangt Mead über eine erweiterte Definition der Geste (jene Phase einer sozialen Handlung, in der die im gleichen Verhaltenskontext sich befindenden Individuen sich derart einander anpassen, daß eine einmal begonnene Handlungsfunktion zu Ende geführt werden kann) zur Bestimmung des Symbols als der in komplexen sozialen Situationen von Individuen wechselseitig antizipierten Geste. Indem Individuen mithin in die Lage versetzt werden, ihr eigenes Verhalten an dem anderer Individuen zu regulieren, werden sie zugleich der eigenen Handlung gewahr, d. h., sie bilden nach Mead Selbstbewußtsein aus. Dieses Selbstbewußtsein aber wird nicht durch beliebige, sondern nur durch signifikante Symbole ermöglicht. Sie unterscheiden sich von Gesten dadurch, daß sie für alle an einer Handlung beteiligten Individuen die gleiche Bedeutung haben, d. h. bei allen Individuen die gleiche Reaktion hervorrufen. Es ist die vokale, mithin sprachliche Geste, die den Signalgeber in der gleichen Weise beeinflußt wie den Signalempfänger, also dessen Reaktionen antizipieren läßt. Begreift man ganze Systeme |A 93|signifikanter Symbole und der mit ihnen jeweils gesetzten Verhaltensantizipationen als Rolle, so kann man mit Mead; sagen, daß soziales Verhalten in antizipativer Rollenübernahme besteht, es im wesentlichen
»taking the role of the other«
ist. Die Möglichkeit, selbst die Reaktionen der anderen auf das eigene Verhalten zu antizipieren, wird zum Kernpunkt personaler und sozialer Identität. Sie bildet sich in der Antizipation der Reaktionen von zunächst konkreten signifikanten anderen, später in der Antizipation abstrahierter, universaler Reaktionen eines
»generalized other«
aus. Das antizipative Reagieren auf allgemeine Verhaltensweisen erst erlaubt ein freizügiges, nicht mehr starr an bestimmte Klassen von Symbolen gebundenes Handeln.
[054:321] Handlungslenkung über Symbole, Antizipation der Verhaltensweisen anderer in Regelzusammenhängen, Ausbildung personaler Identität durch ständige Konfrontation individueller Initiativen mit generellen Verhaltenserwartungen sind also die Kernbegriffe der interaktionistischen Handlungslehre. Sie finden ihre Konkretisierung bzw. Präzisierung durch die von Thomas geprägten Begriffe der Situation bzw. der
»Definition der Situation«
. Situationen bestehen nach Thomas aus drei Komponenten, nämlich den objektiven Randbedingungen einer möglichen Handlung, momentan vorhandenen Einstellungen der betroffenen Individuen und den diversen Situationsdefinitionen. Goffman erläutert mit seiner Lehre von den
»Encounters«
die Bedingungen subjektiver und objektiver Art, die zur Bewältigung derartiger Situationen bzw. des sie ermöglichenden
»working consensus«
vonnöten sind, als die Fähigkeit zur Rollendistanz, die angesichts der
»Moralität der Situation«
, d. h. der Verpflichtung aller Beteiligten, sich an gewisse Regeln zu halten, unabdingbar ist. Diese Regeln schreiben vor allem vor: daß jeder Teilnehmer (im eigenen Interesse) dazu verpflichtet ist, ein gewisses Maß an Information über sich abzugeben, bzw. jeder Teilnehmer Anspruch auf eine Behandlung im Sinne seiner Selbstdefinition hat. Dies fordert mithin von jedem an der Situation Beteiligten, sei es auch nur um der Durchsetzung der eigenen Ansprüche willen, Zurückhaltung hinsichtlich der in die Situation eingebrachten Zwecke: Jede Situation geht bis zu ihrer endgültigen Definition durch ein Stadium des
»identity bargaining«
, d. h. des Aushandelns der in der Situation zugelassenen Bedürfnisse, Erwartungshaltungen und Verhaltensweisen.
[054:322] Während dieses Vorgangs wird sowohl die vertikale
»biogra|A 94|phische«
wie auch die horizontale
»soziale«
Identität der Beteiligten etabliert. Diese Identitäten sind freilich Fiktionen, denn weder ist die Einzigartigkeit des Individuums noch die volle Übereinstimmung mit anderen eine sinnvolle Unterstellung. Mithin ist von jeder Individualität im Rahmen der durch Situationen geprägten Sozialität eine balancierende Identität gefordert, d. h. die Fähigkeit, Einzigartigkeit wie Gemeinschaftlichkeit sowohl als Postulat in die Interaktion einbringen als auch in ihrer Gegensätzlichkeit bewahren zu können. Krappmann (1971) hat diese balancierende Identität als aus vier Komponenten (den
»Grundqualifikationen des Rollenhandelns«
) bestehend analysiert. Rollendistanz sei die Fähigkeit, sich jenseits der jeweils zugeschriebenen und erworbenen Rollen als mit der Rolle nicht identischer Rollenträger begreifen zu können; Ambiguitätstoleranz die Fähigkeit, sich gegenüber gleichzeitig mit gleicher Stärke sanktionierten Rollenerwartungen handlungsfähig zu erhalten, Empathie die Fähigkeit, sich in die Situation des anderen hineindenken und -fühlen zu können, Identitätsdarstellung endlich die Fähigkeit, die der kognitiven Kompetenz nach vielleicht vorhandenen Fähigkeiten tatsächlich in Interaktionen zur Geltung kommen zu lassen.
[054:323] Im Begriff
»Definition der Situation«
(vgl. dazu auch Mollenhauer 1972, S. 107 ff.) ist noch einmal hervorgehoben, daß die Person, also auch das Kind innerhalb der Familie, nicht als nur reagierendes, sondern auch als agierendes Wesen zu denken ist. Diese Annahme ist schon deshalb geboten, weil jede Interaktion, jede Erwartung einen Interpretationsspielraum enthält, den der Adressat ausfüllen muß. Es gibt also nicht nur das
»role taking«
, sondern auch das
»role making«
. Gerade Familieninteraktionen sind voll von Beispielen dafür, wie Kinder versuchen, die Spielräume für sich nutzbar zu machen, die in den Erwartungen, die die Eltern an sie richten, allemal enthalten sind. Gerade weil das Lernen in der Familie in den Fluß des Alltagshandelns eingebettet ist, ein Moment von diesem, und nicht in der Form formell festgesetzter Lernziele und Lernwege (schulische Curricula) verläuft, ist jenes
»role making«
ein Grundbestandteil des familialen Lernmilieus. Der Vorgang der Situationsdefinition – denken wir beispielsweise an ein Kind, das versucht, seinen Vater zur Beteiligung am Spiel zu bewegen – setzt nicht nur die Fähigkeiten von Rollenübernahme und Rollenausgestaltung voraus, sondern – gleichsam als Lernfolge davon – besonders auch die Fähigkeit des |A 95|Perspektivenwechsels: sich selbst durch die Perspektive des anderen sehen (Laing 1971), eine Interaktionsabfolge virtuell durchspielen können. Die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel ist die kognitive Komponente dessen, was oben Empathie genannt wurde. Und weiter: Nur wenn diese Fähigkeit ausgebildet ist, kann man damit rechnen, daß ein Kind auch imstande ist, Ereignisfolgen in der Interaktion flexibel zu interpunktieren (Watzlawick u. a. 1969).
»Interpunktion«
heißt diejenige Operation, in der eine Person versucht, ihr eigenes Verhalten in Beziehung zu dem ihres Partners zu bestimmen; verwendet die Person beispielsweise ein kausales Schema, dann kann sie entweder ihr Verhalten als
»Ursache«
(causa) für das Verhalten des Partners ansehen oder das Verhalten des Partners als
»Ursache«
für ihr eigenes. Auch dieses Phänomen gehört zum Erziehungsalltag der Familie: Treten Konflikte auf, wird die
»Schuld«
zwischen den Beteiligten hin- und hergeschoben. Eine flexible Handhabung der Interpunktion würde so aussehen, daß Eltern und Kinder den Konflikt als ein Interaktionsgeschehen behandeln, an dem alle in irgendeiner Weise, auf ihre Art, als
»Produzenten«
beteiligt sind.
[054:324] Überlegungen dieser Art haben dazu geführt, die Familie nicht nur als
»unity of interacting persons«
, sondern präziser als ein System zu betrachten, das zwar zur Umwelt hin offen ist (vgl. 5. Kapitel
»Figuration«
), aber im Inneren dennoch Regeln folgt, deren Zweck in der Erhaltung des innerfamilialen Gleichgewichts besteht. Damit läuft das in der von uns
»kommunikationstheoretisch«
genannten Forschungsrichtung bisher versammelte Wissen, der Zusammenhang der gerade referierten Grundbegriffe, auf eine allgemeine Hypothese hinaus:
[054:325] Je stärker die mit den verschiedenen Grundbegriffen, bezeichneten Merkmale der familialen Interaktion ausgeprägt sind, um so wahrscheinlicher ist es, daß die Familie Belastungen – mögen sie nun von
»außen«
oder von
»innen«
kommen – verarbeiten kann, ohne einzelne Mitglieder in psychisch problematische, in nicht oder nur schwer lösbare Situationen zu bringen. Je weniger ausgeprägt die Merkmale sind, um so größer wird die Wahrscheinlichkeit, daß ein Konflikt, eine Belastung, eine Krise nur auf Kosten der psychischen Gesundheit eines Familienmitgliedes (meistens eines Kindes) überstanden werden kann.
[054:326] Beispielhaft wird diese Hypothese von Vogel/Bell (in Bateson u. a. 1969) für die
»Sündenbockstrategie«
ausgeführt, eine Strategie, in der Konflikte zwischen den Ehepartnern dadurch bereinigt werden, |A 96|daß ein schwaches Familienmitglied (Kind) in eine problematische Position gebracht wird. Vogel/Bell untersuchten in einer intensiven Studie
»gestörte«
Familien mit je einem emotional gestörten Kind bzw. eine Kontrollgruppe
»normaler«
Familien, deren Kinder keine auffallenden Störungen zeigten. Für alle gestörten Familien war charakteristisch, daß ein Kind in die zwischen den Eltern herrschenden Spannungen verwickelt worden war, was bei der Kontrollgruppe insofern nicht der Fall war, als keine starken Spannungen zwischen den Eltern zu beobachten waren, bzw. diese so behandelt wurden, daß Kinder nicht in Mitleidenschaft gezogen wurden. Die
»gestörten«
Familien zeichneten sich aus durch geringen emotionalen Kontakt, Vermeidung offener Feindseligkeit zwischen den Ehepartnern und einen durchaus balancierten Gleichgewichtszustand; dieser allerdings war – nach Vogel/Bell – nur dadurch möglich, daß einem Kind die Rolle des
»Sündenbocks«
zugeschrieben wurde. Zugleich hegten diese Familien ängstlich ihre Beziehungen zur Außenwelt, an deren Anerkennung ihnen lag. Da aber das Vorhandensein des von der Familie
»produzierten«
Sündenbocks gerade jene Beziehungen zur Außenwelt – wenigstens prinzipiell – stören könnte, muß dieser seine Funktion unter prekären Bedingungen erfüllen: Hinsichtlich der Spannungen im Ehe-Subsystem soll er als Konfliktlöser fungieren, aber so, daß dadurch die Außenbeziehungen der Familie nicht gefährdet werden. Zugleich wird das Symptom, die negativ bewerteten Merkmale des kindlichen Verhaltens (z. B. Leistungsschwäche), einerseits negativ sanktioniert durch Mißbilligung, andererseits aber akzeptiert durch Formen ungebührlicher Aufmerksamkeit: es darf ja nicht verschwinden!
[054:327] Zusammenfassend wollen wir die wichtigsten der angeführten Momente der Interaktion in Form eines schematischen Modells darstellen:
|A 97|
[054:328] Die Grundtatsachen in diesem Beziehungssystem (nur der Einfachheit wegen enthält unser Schema nur ein Kind; der Leser kann sich auch die natürlich kompliziertere Struktur bei Familien mit zwei oder mehr Kindern konstruieren) sind die Erwartungen, die Familienmitglieder aneinander richten (↔) und die Vermutungen über die Erwartungen der je anderen, die in ihre eigenen Erwartungen, also auch ihr Verhalten eingehen (←--→). Dieses Interaktionsgeschehen vollzieht sich allerdings unter der Bedingung ungleich verteilter Macht, und zwar sowohl im Eltern-Kind-System als auch der Möglichkeit nach innerhalb des Ehe-Systems. Die wechselseitigen Erwartungen werden organisiert nach Maßgabe der in der Interaktion verwendeten Schemata (vgl. dazu auch das 4. Kapitel), und zwar mit Hilfe der Kommunikations-Medien, in erster Linie des Austauschs symbolischer (verbaler und nicht verbaler) Gesten. In unserem Modell müssen von jedem Familienmitglied drei Balance-Akte vollzogen werden (Vater-Mutter, Vater-Kind, Mutter-Kind), die voneinander abhängig sind. Am Beispiel des Kindes: Da das Kind sowohl mit dem Vater wie mit der Mutter eine dauerhafte Beziehung unterhalten muß – es kann die Situation nicht verlassen – und da sowohl Vater wie Mutter gleichzeitig Bestandteile dieser dauerhaften Situation sind, die Eigentümlichkeiten der Interaktion zwischen Vater und Mutter für das Kind also ein Problem darstellen, mit dem es
»fertig werden«
muß, muß es seine Identität dadurch bestimmen, daß es sich zum Vater, zur Mutter und zur Struktur der Vater-Mutter-Interaktion in Beziehung setzt.
[054:329] Will man die psychosoziale Organisation der Familie und das damit gegebene, für den Bildungsprozeß des Kindes relevante Interaktionsnetz beschreiben und verstehen, dann ist es nützlich, die aufgeführten Kategorien und Gesichtspunkte zu verwenden. Hess/Handel (1975) haben die Vielfalt jener Aspekte in fünf Themen zusammengefaßt, die jede Familie
»bearbeiten«
muß und die deshalb auch für die Analyse von Familien relevante Kategorien sein sollten:
  1. 1.
    [054:330] Jede Familie muß das Problem von Nähe und Distanz ihrer Mitglieder zueinander lösen.
  2. 2.
    [054:331] Sie muß ein Bild von sich selbst und von einzelnen Familienmitgliedern entwerfen und revidieren können.
  3. 3.
    [054:332] Sie hat einige zentrale Themen und muß Interaktionsweisen für diese Themen oder Probleme entwickeln.
  4. |A 98|
  5. 4.
    [054:333] Sie setzt Grenzen und Schemata ihrer Erfahrungswelt fest, definiert sich als Gruppe im Vergleich zu anderen Gruppen.
  6. 5.
    [054:334] Sie organisiert die grundlegenden Rollenprobleme (vor allem Generation und Geschlecht) im dynamischen Kontext ihres zeitlichen Wandels.
[054:335] Fragen dieser Art können beser beantwortet werden, wenn man dazu die differenzierteren Kategorien verwendet, die wir oben skizziert haben, z. B.: Situationsdefinition, Empathie, Perspektive (1), Identität (2), Interpunktion und Situationsdefinition (3), Deutungsmuster und Selbstbild (4), Rollendistanz und Rollenambiguität (5). Eine solche Zuordnung ist vorläufig, der Katalog an analytischen Begriffen noch unvollständig; d. h. für die Familienerziehungsforschung ist in dieser Hinsicht noch einiges zu tun.
[054:336] Indessen mag solche Differenzierung, die gewiß noch weiter getrieben werden könnte, kapriziös anmuten. Das liegt unter anderem daran, daß in diesem Modell die Inhalte der Interaktion verschwunden sind. Die Vermutung liegt nahe, daß eine solche Betrachtung der Familie erst sinnvoll ist, wenn sie außer der Aufrechterhaltung des Haushalts, der Unterhaltung ihrer Binnenbeziehungen, vor allem ihrer Erziehungsaufgabe, keine wesentlichen Probleme zu lösen hat, es sei denn in einer vermittelten Form dadurch, daß die gesellschaftlichen Erfahrungen der erwachsenen Mitglieder dem innerfamilialen Geschehen seine besondere Bedeutung verleihen. Wir haben dieses Problem versuchsweise in der Gegenüberstellung der
»Bütows«
mit der
»Glasmacher-Familie«
im 2. Kapitel demonstriert: Die durch Arbeit zu meisternde tägliche Reproduktion war hier der inhaltliche Brennpunkt der Familie, an ihm entschied sich, was bedeutsam war und was nicht; dort aber verschwand die Arbeitssphäre völlig hinter den Problemen der inneren Struktur, dem sogenannten Intimbereich – ein Hinweis darauf, daß nicht nur die Geschichte der Arbeitsteilung und die Geschichte der Familie zusammenhängen, sondern von diesen auch die Geschichte der Begriffe bestimmt wird, mit deren Hilfe wir Familienerziehung zu fassen versuchen. – Ehe indessen diese Frage unter dem Namen
»Verkehrsformen«
wieder aufgegriffen wird, soll der empirisch-praktische Gehalt des referierten Begriffsrahmens an einigen Einzelfragen herausgestellt werden.
|A 99|

Paradoxien, Erwartungen, Schemata

[054:337] Aus unserem Modell geht hervor, daß die vom Kind zu erbringende Leistung der Identitäts-Balance nicht gering ist, zumal, wenn man bedenkt, daß das alltägliche Familiengeschehen durchsetzt ist von äußeren Einflüssen und Problemen, denen gegenüber der Kommunikationszusammenhang nur den
»instrumentellen«
Charakter hat, Mittel zum Zweck der ökonomischen Lösung der Probleme zu sein. Schon dadurch, daß die Familie ein sozialer Ort ist, an dem einerseits die als fundamental geltenden Erwartungen nicht nur an das soziale Verhalten der Kinder, sondern auch an deren Objekt- und Problem-bezogene Vorstellungswelt gerichtet sind, und an dem andererseits die gesellschaftlich institutionalisierten Erwartungen (subkulturelle Normen, schulische Leistungen, antizipierter beruflicher Status des Kindes usw.) mit den Bedürfnissen von Eltern und Kindern vermittelt werden müssen, ist das familiale Kommunikationsnetz der Möglichkeit nach konflikthaft, widersprüchlich und häufig paradox.
[054:338] Eine Mutter beschreibt ihre Schwierigkeiten mit den Schulaufgaben ihres achtjährigen Sohnes so:
[054:339]
»Was ich sagen will, ist folgendes: Ich möchte, daß Andy lernt, das zu tun, was von ihm verlangt wird, und ich möchte, daß er es auch tatsächlich tut – aber er soll es von sich aus tun wollen. Ich meine, er könnte Anweisungen blind befolgen, ohne sie wirklich befolgen zu wollen. Ich weiß, daß ich da irgendeinen Fehler mache, doch ich komme nicht darauf, was ich falsch mache. Ich kann mich aber nicht damit abfinden, ihm einfach zu diktieren, was er tun soll. Und doch, wenn man das einem Kind völlig überläßt, dann wäre zum Beispiel sein Zimmer bald in völliger Unordnung. Nein, da sind – es gibt diese zwei Extreme. Ich möchte, daß er es von sich aus tut –, aber es ist mir klar, daß wir ihm das irgendwie beibringen müssen«
(Watzlawick u. a. 1969, S. 84)
.
[054:340] Diese Paradoxie hat mehrere Komponenten, die alle für die Kommunikationsspielräume in der gegenwärtigen Familie von grundlegender Bedeutung sind. Zunächst befinden Mutter und Sohn sich in einer Situation, die charakteristisch ist für eine
»Erziehungsmoral«
, nach der die Bildung der Selbständigkeit, der Selbstbestimmungsfähigkeit des Kindes unter allen Umständen die wichtigste Orientierung darstellt (
»er soll es von sich aus tun wollen«
). Diese Selbständigkeit, da sie sich nicht als die natürliche Folge von Reifungsprozessen einstellt, muß gebildet |A 100|werden, das aber heißt: sie kann nur entstehen im Kontext von Erwartungen, die sich auf eben diese Bildung richten.
[054:341] Die Paradoxie wäre weniger dramatisch, wenn nicht die Anforderung, im Hinblick auf welche Selbständigkeit gebildet werden soll, nicht nur dem Kind, sondern auch den Eltern gleichsam von außen vorgegeben wäre. Freilich können sie sich mit solchen Anforderungen mehr oder weniger identifizieren. Die Sorge um die rechte Ordnung im Zimmer liegt der Mutter vermutlich näher als die Norm der Schulaufgaben. Es ist indessen nicht zufällig, daß sich das Problem gerade für den Fall der schulischen Erwartungen zuspitzt. Die Verfügung über diese Normen, die Entscheidung darüber, ob sie innerhalb des familialen Erziehungsfeldes gelten sollen oder nicht, ist Eltern und Kindern entzogen, sie müssen sich also über eine Norm verständigen, der gegenüber es nur noch das technische Problem der zweckmäßigsten Durchsetzung gibt.
[054:342] Die dritte Komponente dieser Situation ist die Tatsache, daß viele der Erwartungen, mit denen Eltern ihre Kinder konfrontieren,
»abstrakt«
sind. Sie ergeben sich nicht aus Problemen, die im Zusammenhang inhaltlich bestimmter Aufgaben des gemeinsamen Lebens entstehen, sondern ragen als etwas Fremdes in diese Lebenswelt hinein; sie müssen aber dennoch, um den Preis einer befriedigenden Bildung zum geltenden Erwachsenenstatus hin, dem Kind vermittelt werden. Dadurch entsteht für die Familie die Aufgabe, solche Erwartungen derart mit den Bedürfnissen und
»privaten«
Orientierungen zu balancieren, daß der Kommunikationszusammenhang nicht entweder ritualisiert wird oder zusammenbricht. Es läßt sich vermuten, daß solche Probleme dort nicht auftreten, wo die Kommunikation zwischen Erwachsenen und Kindern sich um die für alle notwendigen Fragen beispielsweise der Produktion, der Arbeit herumgruppieren (vgl. Ottomeyer 1974, S. 127 ff.). Die Vermutung erhält jedoch (vorerst) ihre Bestätigung nur durch geschichtlich zurückliegende Beispiele (Produktionsfamilie, sogenannte
»primitive«
Gesellschaften, auch noch Reste der bäuerlichen Familie) oder durch Fälle, aus denen (noch) keine allgemeine These für die Chancen der Familienerziehung in modernen Industriegesellschaften gewonnen werden kann. Ein solches Dilemma der Familienerziehung diagnostizieren heißt also nicht, zugleich auch einen Ausweg angeben können.
[054:343] Stellt man sich vor, wie jene Mutter sich nun tatsächlich ihrem Sohn gegenüber verhalten wird, dann wird einem deutlich, daß |A 101|es sich nicht nur um ein kognitives, sondern auch um ein affektives Problem handelt. Eine der beiden sich widersprechenden Erwartungen (du sollst für die Schule arbeiten – du sollst für die Schule arbeiten wollen) ist vermutlich gefühlsmäßig stärker besetzt als die andere. Es lassen sich deshalb Situationen denken, in denen nicht nur für den Erwachsenen, sondern mehr noch für das Kind eine problematische Lage entsteht: Es sieht sich zwei Erwartungen gegenüber, von denen es nur eine erfüllen kann (Beziehungsfalle bzw. double-bind-Situation), also gegen irgendeine Norm verstoßen muß, denn es kann ja die Situation nicht verlassen. Besonders schwerwiegend ist der Fall dann, wenn – was im Familienalltag nicht selten ist – die eine Erwartung zwar offen ausgesprochen wird (z. B.:
»Ich helfe dir gern bei den Schularbeiten, wenn du das willst«
), die andere aber in einem nicht-sprachlichen Medium (durch Tonfall, Gestik oder Mimik) signalisiert wird (z. B. mit der Bedeutung: Du solltest eigentlich selbständig genug sein, um deine Arbeiten allein zu machen; außerdem macht es mir keinen Spaß, dir zu helfen). In einem solchen Fall ist
»Verständigung«
für das Kind kaum möglich, zumal die zweite Erwartung vermutlich das stärkere Gefühl enthält (Bateson u. a. 1969; Watzlawick1969).
[054:344] Die Familientherapie hat in jüngerer Zeit Sachverhalten dieser Art ihre besondere Aufmerksamkeit zugewandt. Die Tatsache, daß diese Therapie eben nicht mit vereinzelten Patienten arbeitet, sondern mit der Gruppe (Familie), in der die Patienten ihr Leben führen, ist eben der Einsicht in jene komplizierten Vorgänge zu verdanken, vor allem aber der Einsicht in die Tatsache,
  • [054:345] daß Interaktionen eine Affekt-Seite haben, die in der Regel nur schwer verbalisiert werden kann;
  • [054:346] daß Kommunikationsstörungen unter anderem mit Interaktionen Zusammenhängen, die sich durch Unvollständigkeit, Widersprüchlichkeit, Unbestimmtheit, Unechtheit auszeichnen;
  • [054:347] daß eine Grundvoraussetzung gelungener Kommunikation ihre Reziprozität ist, die Fähigkeit nämlich, wechselseitig Perspektiven nicht nur mitzuteilen, sondern auch die des anderen virtuell übernehmen zu können. Damit ist keine Übereinstimmung der Perspektiven gemeint; vielmehr ist gerade ihre Verschiedenheit ein wesentlicher Ausgangspunkt dieser Behauptungen. Diese Verschiedenheit aber muß kommuniziert werden können. In unserem Beispiel auf S. 63 ff. wird gerade die Verschiedenheit in den Sichtweisen von Eltern und Tochter in einer Art |A 102|Gemeinschaftlichkeits-Ritual verleugnet; der Tochter ist es nicht möglich, ihre eigene Perspektive zur Darstellung zu bringen (
    »... lande ich gewöhnlich in der Klinik«
    ), die Interaktionsmuster der Familie gestatten das nicht und erzwingen so eine oberflächliche Interaktion.
[054:348] Da es sich bei der Frage der Perspektivität (role taking) um einen Grundsachverhalt, wenn nicht um die überhaupt entscheidende Tatsache für die Bildung eines kompetenten Kommunikanten handelt, soll das Problem am Beispiel einer empirischen Untersuchung noch näher erläutert werden.
[054:349] Flavell u. a. wählten für eine Reihe von Untersuchungen zur Frage der
»Rollenübernahme«
bei Kindern im Alter zwischen 6 und 16 Jahren unter anderem folgende Testsituation: Zwei Versuchsleiter und ein Kind befinden sich in einem Raum; das Kind hat zwei umgekehrte Becher vor sich; im einen Becher ist innen ein Geldstück (
»Nickel«
), im zweiten sind zwei Geldstücke angeklebt. Einer der Versuchsleiter gibt folgende Instruktionen:
»Dies ist ein anderes Spiel, ein ganz anderes Spiel. Siehst du die zwei Becher? In einem ist ein Nickel innen angeklebt, und in dem anderen sind zwei Nickel angeklebt (zeigt). Das Geld, das von innen angeklebt ist, sagt dir, wieviel Geld drin ist. Du siehst (hebt den Becher hoch), ein Nickel unter diesem und zwei Nickel unter diesem. Jetzt erkläre ich dir, wie das Spiel geht. Zuerst mache ich meine Augen zu und Herr Fry hier (VL₂) nimmt aus einem Becher das Geld heraus, aber ich weiß nicht aus welchem, weil ich meine Augen zugemacht habe (VL₂ nimmt leise das Geld aus dem 2-Nickel-Becher heraus). Jetzt mache ich meine Augen wieder auf und suche mir einen Becher aus. Wenn ich jetzt denjenigen wähle, unter dem das Geld liegt, kann ich das Geld behalten. Wenn ich denjenigen wähle, unter dem kein Geld liegt, kann ich kein Geld behalten. Nehmen wir an, ich wähle diesen hier aus (nimmt den 1-Nickel- Becher). Da ist 1 Nickel drin, ich könnte also einen Nickel behalten. Wieviel bekäme ich, wenn ich den anderen wählen würde? (wenn die Vp. falsch antwortet, zeigt VL₁ es ihr). Jetzt nehmen wir an, ich schließe meine Augen, und nehmen wir weiter an, er hat das Geld unter dem 1-Nickel-Becher weggenommen (VL₂ tut dies) und dann hätte ich den Becher mit einem Nickel gewählt – wie viel würde ich bekommen? Und wieviel würde ich bekommen, wenn ich diesmal den 2-Nickel-Becher wählen würde? Du hast also gesehen, wie das Spiel geht. Gut.«
[054:350] – Der zweite Versuchsleiter verläßt den Raum und das Spiel beginnt; das Kind wird aufgefordert zu überlegen, welchen Becher wohl der draußen wartende Versuchsleiter nehmen wird, und dafür auch eine Begründung zu geben.
(Flavell u. a. 1975, S. 84 f.)
[054:351] Als Ergebnis fanden die Autoren heraus, daß es typische
»Strategien«
gibt, die sich altersabhängig verteilen, also vermuten las|A 103|sen, daß es sich bei der Bildung der Fähigkeit des
»role taking«
, des Perspektiven-Wechsels, um einen Prozeß handelt, der verschiedene Stadien durchläuft. Die eine Strategie kann dadurch charakterisiert werden, daß das Kind keine Annahmen macht über die Erwartungen, die der Mitspieler anstellt, um das Spiel zu gewinnen, sondern diesem Mitspieler unmittelbar bestimmte Motive und Absichten zuschreibt. Das folgende Protokoll ist für diese Strategie typisch:
[054:352]
»Soll ich es dir erzählen?«
(Hm, was glaubst du, wird er auswählen?)
»Die 10 Cent.«
(Du glaubst also, er wird den Becher mit 10 Cent nehmen. Warum meinst du, wird er diesen auswählen?)
»Er bekommt dann mehr Geld – wenn das Geld drunter ist«
(a.a.O., S. 86)
.
[054:353] Die zweite Strategie – sie wird mit zunehmendem Alter häufiger – ist demgegenüber komplexer. Hier nennt das Kind die vermuteten Motive des Mitspielers, aber darüber hinaus auch Erwägungen, die der Mitspieler über das mögliche Verhalten des Kindes anstellen könnte; sein eigenes Verhalten richtet es nach diesen Erwägungen ein. Ein Protokoll-Beispiel:
[054:354]
(Vp wählt den 1-Nickel-Becher). (Warum glaubst du, daß er den 1-Nickel-Becher nehmen wird?)
»Ich stelle mir vor, daß ich diesen nehmen würde (2-Nickel-Becher), weil ich das Geld behalten könnte. Aber er weiß ja, daß wir ihn täuschen wollen – oder versuchen wollen, ihn reinzulegen – und deshalb würde ich den mit der kleineren Geldmenge (den 1-Nickel-Becher) nehmen; ich würde diesen mit weniger nehmen«
(a.a.O., S. 87)
.
[054:355] Neben diesen beiden fanden die Autoren noch eine dritte Strategie, die im Prinzip der zweiten gleicht, nur die Komplexität der Überlegungen noch weiter treibt, dadurch, daß das Kind auch noch einbezieht, der Mitspieler könnte sich überlegen, welche Erwägungen es selbst, das Kind, über den Mitspieler anstellt. Die drei Stufen, die auf diese Weise ermittelt wurden, folgen ganz der Logik der Interaktion, die wir oben skizziert haben. Es scheint uns mindestens plausibel anzunehmen, daß der Erwerb solcher kognitiven Schemata (vgl. auch das 4. Kapitel) ein
»Milieu«
voraussetzt, in dem die Interaktionen nicht auf festgelegte Rollen mit geringem Variationsspielraum beschränkt sind, sondern wo das Alltagshandeln die Möglichkeit läßt, Verhalten und Beziehungen auszuprobieren, sich an Interaktionen spielerisch, ohne ernsthafte Folgen, zu beteiligen. Gegenwärtig noch bildet die Familie dieses Milieu aus, freilich mit mehr oder |A 104|weniger Erfolg. Das Beispiel der referierten Untersuchung ließe sich mühelos natürlich auch auf die emotionale Komponente von Interaktionen anwenden: vermutlich wären die Ergebnisse gleich. Auch die Tatsache, daß es Geldstücke sind, die hier den
»Reiz«
für das Kind ausmachen sollen, sollte nicht zu voreiligen Einwänden veranlassen. Dieser
»Reiz«
, in welcher Form auch immer, ist unerläßlich und weist darauf hin, daß es nicht Interaktion
»überhaupt«
gibt, sondern nur aus Anlaß oder im Hinblick auf Aufgaben und Inhalte, die als interpersonelle Problemstellungen erfahren werden können. Die Bezugspunkte der Situation sind also eine Sache (Problemstellung), die beiden Partner und denkbare andere in die Situation virtuell mit hineingenommene Personen. Abstrahiert man von der besonderen Testsituation, lassen sich drei Schemata (drei Komplexitätsebenen) konstruieren, die Flavell u. a. den drei Strategien zuordnen:
S = Selbst, O = der andere, X = die Problemstellung, O₁ = verschiedene weitere andere (nur virtuell) (Flavell u. a. 1975, S. 90).
[054:356] Überträgt man das Schema in die Realität gesprochener Sätze in einer Familiensituation, beispielsweise in einem Geschwisterstreit, dann könnten sich die drei Strategien – angesichts der an die Kinder gerichteten Frage, warum der Streit entstanden sei – ungefähr folgendermaßen darstellen:
|A 105|
[054:357] Zwei Geschwister (Sofie 11 Jahre, Paul 6 Jahre) haben sich um einen Besen gestritten; der Streit endete damit, daß Paul, der den Besen nicht hergeben wollte, von Sofie geschlagen wird. Die Szene wurde gefilmt und die beiden Kinder geben den folgenden Kommentar zum Geschehen:
1. Strategie (Paul):
»Ich fege die Straße ... und da steht Sofie. Sie guckt mich nicht sehr nett an. Sofie will den Besen haben. Ich will ihn ihr nicht geben. Da haut Sofie mir den Karton gegen den Kopf und dann streckt sie mir die Zunge raus.«

2. Strategie (Sofie):
»Der Paul, der fegt .... und er hat mir am Anfang versprochen, daß er mich auch mal fegen läßt – und da denke ich mir: jetzt will ich aber auch mal fegen. Und jetzt frage ich ihn, ob ich auch mal fegen darf; aber Paul sagt: nein! Ich sage: nur einmal! aber Paul sagt: nein! Er will es nicht. Ich frage ihn noch einmal, aber da fängt er gleich an, am Besen rumzuzerren, weil er das nicht will ...«
[054:358] Man sieht, daß
»Rollenübernahme«
keine begriffslose Imitation, auch kein nur emotionaler Vorgang der Übereinstimmung mit dem anderen ist, sondern eine begriffliche Strukturierung interpersoneller Situation. Der Komplexitätsunterschied zwischen beiden Strategien zeigt sich in verschiedenen Dimensionen: Die emotionale Differenzierung in der Wahrnehmung und der sprachlichen Darstellung, die Differenzierung von Beziehungsdefinitionen (
»hat mir ... versprochen«
,
»frage ich ihn«
), die Einbeziehung des inneren Monologs (
»da denke ich mir«
), die Verschränkung von Interaktions- und Zeitstruktur, die Begründungen für eigenes Verhalten und das des anderen.
[054:359] Wir gehen also davon aus, daß die Strukturierung von Interaktionen als Grundlage für die Kommunikationsprozesse in und außerhalb der Familie eine originäre Leistung eben dieser Gruppe ist. Diese Aufgabe zu lösen, ist offenbar nur eine Gruppe befähigt, die – wie die Familie – genötigt ist, täglich die Beziehungen der Mitglieder zu balancieren und den Kindern damit ein Modell für entwickelte, wir könnten auch sagen
»reife«
, Interaktionsstrukturen zu präsentieren. Die Belastung, die eine solche Leistung für alle Mitglieder bedeutet, ist besonders für Kinder nur dann zu bewältigen, wenn sie sich gleichzeitig auf die Solidarität der Gruppe verlassen können. Dies bedeutet, insbesondere für kleinere Kinder, daß für sie unbedingte emotionale Sicherheit die Grundvoraussetzung für die Bildung der Grundqualifikationen interpersonellen Handelns ist. Freilich gelingt diese Bildung nach Art und Intensität immer nur in verschiedenen Graden, je nach der Beschaffenheit der beteiligten Komponenten. Fehlt die Solidarität oder emotionale Sicherheit |A 106|bzw. ist sie schwach entwickelt, kann beispielsweise der täglich vergebliche Balanceakt zu grundsätzlichem Mißtrauen gegenüber sozialen Beziehungen führen; sind die familialen Beziehungen zum Ritual erstarrt, d. h., ist die Struktur der Interaktionsprozesse in jenen Balance-Akten für das Kind nicht mehr erfahrbar, bleiben auch Perspektivität und Empathie nur schwach entwickelt; ist die Familie derart als Gruppe nach außen hin abgeschlossen, daß kein oder nur noch ein minimaler Austausch mit der Umwelt stattfindet, dann können zwar die Interaktionsstrategien gebildet werden, aber womöglich auf Kosten der Fähigkeit, die erworbenen Kompetenzen flexibel anzuwenden, sowohl bei Veränderung der innerfamilialen Situation durch Belastungen wie auch im außerfamilialen Bereich.
[054:360] Wie immer es mit solchen Hypothesen bestellt sein mag: Mit ziemlicher Gewißheit können wir annehmen, daß die am familialen Bildungsprozeß des Kindes beteiligten Komponenten des Interaktionsgeschehens nicht nur die Art und Weise bestimmen, in der die Mitglieder miteinander umgehen, sondern allgemeine Schemata interpersoneller Erfahrung ausbilden. An die interaktions- und kommunikations-theoretischen Erfahrungen anschließend, hat D. Reiss mit Hilfe einer empirischen Untersuchung sich dieser Fragestellung zu nähern versucht:
[054:361] Ausgehend von der Grundkonstellation Familie-Umwelt, die als prinzipiell von jeder Familie zu lösendes Problem angesehen wird, entwickelt Reiss eine Typologie familialer Interaktions-Strukturen. Eine solche Struktur ist die einer jeden Familie eigentümliche Sichtweise, die sie entwickelt hat und mit der sie ihre Familienprobleme zu erklären und sich zu ihr in Beziehung zu setzen versucht.
[054:362] Der erste dieser drei Typen ist der Umwelt-orientierte Typus (
environment-sensitive variety
). Die Familie betreffende Probleme werden in diesem Typus stets als von
»draußen«
kommend erfahren, ihre Analyse und Lösung sind logischem Denken zugänglich und werden von den Familienmitgliedern als persönlich bedeutsam erlebt. Hieraus folgt eine betonte Aufmerksamkeit gegenüber von
»außen«
kommenden Hinweisen über die Ursache des gerade aktuellen Problems sowie die gemeinsame Einstellung, daß Erfahrungen und Gedanken anderer Familienmitglieder ebenfalls vor allem Reaktionen auf von außen kommende
»Hinweise«
sind. Beschlüsse über Handlungen werden solange wie möglich herausgezögert, bis alle relevanten Argumente ausgetauscht sind.
»Each individual recognizes that the solution he agrees to is a result of sharing ideas with his family as well as of his own efforts to analyze and solve the problem«
(Reiss 1971, S. 6)
. Die Angewiesenheit auf Wissen über die Außenwelt inspiriert eine kooperative Einstellung der Mitglieder zueinander.
|A 107|
[054:363] Anders bei dem zweiten Typ, der durch interpersonelle Distanz bestimmt wird (
interpersonal distance-sensitive variety
). Probleme sowie Problemlösungen werden hier von den Mitgliedern als Mittel zur Selbstdarstellung eingesetzt, mit deren Hilfe sie vor den anderen Mitgliedern Stärke und Unabhängigkeit zeigen. Diese Auffassung macht es unmöglich, Meinungen und Beiträge der anderen als relevant erscheinen zu lassen – mehr noch: ein Eingehen auf ihre Argumente gilt als Zeichen persönlicher Schwäche.
»In order to demonstrate their independence, individuals may reach decisions quickly based on little information or they may accumulate information indefinitely refusing to come to closure until long after others do«
(a.a.O.)
.
[054:364] Den dritten Typus nennt Reiss Konsensus-orientiert (
consensus-sensitive variety
). Probleme und deren Analyse werden vor allem als Mittel zum Aufrechterhalten einer unbedingten Übereinstimmung und Harmonie angesehen. Das Verbot, abweichende Meinungen zu zeigen, bewirkt es, daß die einzelnen Mitglieder nicht dazu kommen, eigene Vorstellungen zu entwickeln bzw. sie sehr schnell aufgeben. Diese auf schnellen Konsensus gerichtete Praxis der Familien-Interaktion führt letzten Endes dazu, daß weder die Familie als ganze ein Problem sorgfältig erörtern kann, noch daß individuelle Probleme in ihrer Bedeutung erkannt werden.
[054:365] Diese Typologie wurde im Rahmen der klinischen Familientherapie gewonnen. Dem ersten Typus gehörten in der Stichprobe vorwiegend Mittelschicht-Familien, dem zweiten Familien mit delinquenten und dem dritten Familien mit psychotischen Mitgliedern an. Die Chance, Familien in klinischen Situationen intensiv bei ihren Problemdefinitionen und Problemlösungsversuchen beobachten zu können, macht gewiß den Nachteil wett, daß die Beobachtungssituation selbst nicht der Familienalltag war. Aber uns ist an dieser Stelle weniger an der Gültigkeit der inhaltlichen Ergebnisse gelegen, obwohl Reiss zeigen konnte, daß seine Ergebnisse weitgehend mit anderen Erfahrungen und Untersuchungen übereinstimmen. Uns geht es vielmehr darum, daß es offenbar erfolgversprechend ist, eine Verknüpfung zwischen den Bildungsprozessen der Kinder, der Interaktionsstruktur der Familie und der Art ihrer Beziehung zur Umwelt zu versuchen. Für eine Theorie der Familienerziehung, die diesen Namen verdienen würde, liegen in dieser Richtung, wenn wir recht sehen, die entscheidenden Schritte.
[054:366] Natürlich ist in allen diesen begrifflichen und empirischen Anstrengungen eine normative Unterstellung im Spiel. Die Beschreibung der ausgebildeten Interaktionsstruktur, die Hinweise auf die emotionale Sicherheit und Umweltoffenheit setzen voraus, daß eine Entscheidung über wünschbare und nicht-wünschbare Ergebnisse des familialen Bildungsprozesses schon gefallen |A 108|ist. Unter diesem Gesichtspunkt nämlich wurden jene
»Variablen«
erst ermittelt; sie sind orientiert an einem Begriff nicht gestörter Kommunikation, der im Handeln der reifen Person eine subjektive Entsprechung hat (vgl. Mollenhauer 1972, S. 68 ff.). Am deutlichsten tritt das in der familientherapeutischen Literatur hervor, denn dort, wo es um ein unmittelbar verantwortliches, praktisch folgenreiches Handeln geht, kann diese Entscheidung nicht in skeptischer Schwebe gehalten werden. Der Begriff der
»reifen«
Kommunikation entstammt deshalb auch diesem Forschungsbereich (Laing 1969; Satir 1973). Am klarsten ist die Zielperspektive, d. h. in diesem Fall das Zusammenfallen von analytischen Kategorien, therapeutischen Anweisungen und normativen Optionen von V. Satir formuliert worden. Sie schreibt, eine therapeutische Familienbehandlung sei beendet,
  • »
    [054:367]
    Wenn die Familienmitglieder Transaktionen zu Ende führen, Aussagen überprüfen und fragen können.
  • [054:368]
    Wenn sie Feindseligkeit interpretieren können.
  • [054:369]
    Wenn sie sich mit den Augen anderer sehen können.
  • [054:370]
    Wenn sie sich darüber klar sind, wie sie sich selbst sehen.
  • [054:371]
    Wenn ein Familienmitglied einem anderen mitteilen kann, welchen Eindruck es macht.
  • [054:372]
    Wenn ein Mitglied einem anderen sagen kann, was es von ihm erhofft, befürchtet und erwartet.
  • [054:373]
    Wenn sie verschiedene Ansichten vertreten können.
  • [054:374]
    Wenn sie eine Wahl treffen können.
  • [054:375]
    Wenn sie durch die Praxis lernen können.
  • [054:376]
    Wenn sie sich von hemmenden, altgewohnten Verhaltensmustern befreien können.
  • [054:377]
    Wenn sie klare Mitteilungen machen können, d. h. wenn sie in ihrem Verhalten kongruent sind, mit einem Minimum an Diskrepanz zwischen Gefühl und Kommunikation und einem Minimum an versteckter Bedeutung.«
[054:378]
(Satir 1973, S. 198.)
|A 109|

4. Kapitel Familieninteraktion als kognitives Lernen

Der Familienprozeß und das lernende Kind

[054:379] Eine Familie bleibt keineswegs 20 Jahre hindurch eine Gruppe mit gleichförmigen Regeln, identischen Themen und Erwartungen (Kagan, in Hudson 1970). Jedes Kind hat Tag für Tag Zugang zu zwei Erwachsenen, ihren innerfamilialen Tätigkeiten und Gesprächen, was auch immer das empirisch bedeuten mag. Die geschichtliche Existenz des Kindes beginnt als Biographie unter Biographien; die innerfamilialen und außerfamilialen Tätigkeiten, die gemeinsamen Räume, Erlebnisse und Zeichenerfahrungen erfordern eine Balance der individuellen Zeit- und Handlungspläne; zugleich müssen die Eltern antizipieren, daß die Heranwachsenden die Familie verlassen werden, ja, sie müssen diesen Ablösungsprozeß garantieren. Die Pointe – und das muß auf dem Hintergrund gesellschaftlicher Arbeitsteilung gesehen werden – liegt aber darin, daß die Familie keine pädagogische Anstalt ist, auch dann nicht, wenn Eltern Erziehung und Schulbildung zunehmend bewußter als eine Aufgabe wahrnehmen. Die Familie ist für die Erwachsenen und für die Kinder hier und heute ihr Leben, das eine Vergangenheit und eine Zukunft hat. Der
»Raum«
und die leiblichen Ereignisse sind konkreter wie symbolischer Kontext. Die Arbeitslosigkeit des Vaters ist nicht fiktiv, Zuneigung und Abneigung hinterlassen Spuren am Leib, in den Bildern, Träumen, Erinnerungen und Projektionen. Die Thematisierung von Beziehung folgt schon wieder Beziehungsregeln, die Zustimmung oder Ablehnung signalisieren. Die Zu-Bettbring-Szene, das Vorlesen am Abend sind Akte der Zuneigung, schaffen
»Belehrung«
oder stellen die Einbildungskraft still. Normativen Forderungen korrespondieren Taktiken in den Beziehungen der Eltern, jene werden kommuniziert, diese werden beobachtet. Die Familie, die Mutter, der Vater repräsentieren
»Lebensprojekte«
, die auch scheitern können; die Familie lehrt nicht nach dosierten Diskrepanzerlebnissen und sie erreicht ihr Erziehungsziel nur in ihrer Auflösung (Parsons). Das Erziehungsverhalten der Eltern ist die Kehrseite ihrer Lebensgeschichte, ihrer Beziehungen untereinander und zu anderen Erwachsenen:
»Wärme«
,
»Selbständigkeit«
,
»Sprach|A 110|verhalten«
und
»Leistungsmotivation«
sind kaum Eigenschaften von Personen, sondern
»relationale Begriffe«
, die unseren
»Gegenstand«
nur dann treffend beschreiben, wenn wir den gesellschaftlichen Kontext in Rechnung stellen; dieser wird durch die große Industrie, die Verwaltung, die Klassenlage und gesellschaftliche Arbeitsteilung gekennzeichnet. Ethnische und religiöse Subkulturen, die Ungleichzeitigkeit zwischen Stadt und Land und der rasche soziale Wandel, der heute schon in der Zeitdimension einer Generation Veränderungen in den Wertorientierungen, den Ausbildungsgängen und Konsumgewohnheiten hervorruft, erschweren es uns, die Sachlage genau zu beschreiben. Bronfenbrenner (1958) hat in einer Sekundäranalyse zeigen können, daß sich innerhalb von 25 Jahren in Amerika die familialen Erziehungsstrategien erheblich gewandelt haben, und es besteht für uns kein Grund zur Annahme, daß nicht auch in Deutschland sich Veränderungen vollziehen, nur liegen uns seit den Studien zur deutschen Nachkriegsfamilie darüber kaum empirische Befunde vor. Dies ist auch der Grund, daß wir hier nicht von solchen Befunden ausgehen, sondern einen anderen Weg einschlagen. Wir wollen versuchen, einige Ergebnisse der Kognitionspsychologie für die Analyse der innerfamilialen Ausformung der Intelligenz der Heranwachsenden fruchtbar zu machen.
[054:380] In dem Doppelbegriff
»kognitive Sozialisation«
wollen wir gleich festhalten, daß der Heranwachsende in der Familie vom ersten Tage an eigene leibliche, bald auch symbolische Erfahrungen machen wird. Die Eltern sind ein
»Modell«
im Lernprozeß, in der Interaktion sind sie wichtige
»andere«
, damit man selbst ein anderer für andere werden kann.
»Er ist ganz der Vater!«
, diese Feststellung meint in den ersten Lebensjahren zwar oft nur den ungewöhnlichen Nasenrücken, aber schon die Namensgebung kündigt mitunter einen Entwurf für die Zukunft, ein
»Projekt«
an (Strauß 1968, Kp. 1). Doch die Heranwachsenden werden zugleich distanzierte Beobachter werden, die Eltern sind für sie andere, sie repräsentieren, was es bedeuten kann, ein Erwachsener zu sein. Ihre Körperlichkeit, ihre Eigentümlichkeiten, ihre gesellschaftliche Macht oder Ohnmacht sind leiblich bedeutsam und zugleich
»Thema«
,
»Szene«
mit vielen widerspruchsvollen Bedeutungen. Verlassen die Heranwachsenden die Familie, so werden sie aus der Perspektive der peer-group, der Schule und ihren eigenen sich wandelnden Interpretationsmodi ihre Familie und sich selbst aus verschiedenen Per|A 111|spektiven sehen und deuten lernen. Die Kommunikation beginnt weit vor der Sprache, sprachliche Kommunikation setzt sie mit anderen Mitteln fort und wird reflexiv dann, wenn der Heranwachsende die engen Beziehungen auflösen und als ein anderer wiederkommen kann.

1. Exkurs zum Gegenstand
»Kognition«

[054:381] Der theoretische Gegenstand der Kognitionsforschung ist das aktive Subjekt in seinen Beziehungen zur gegenständlichen Welt und zu den
»anderen«
. Die Art dieser Beziehungen –Arbeit, Kommunikation, Spiel, Wahrnehmung – verändert sich in der Zeit, und damit verändert sich das Subjekt, das immer planvoller auf seine oder gemeinschaftliche Ziele hin die gegenständliche Welt handhaben und mit anderen Zusammenarbeiten kann. Insofern dieses Wissen als Denken interpretiert wird, wird angenommen, daß das beobachtbare Verhalten zugleich Resultat interner Handlungen ist (Berlyne 1970, S. 941 f.). Nicht nur die aktuelle Situation und die Anforderungsstruktur der Aufgaben, die der Heranwachsende sich selbst vornimmt oder die ihm gestellt werden, sondern das Vorwissen, seine Verhaltenspläne, Vorstellungen und das Gedächtnis beeinflussen die Lösungsmöglichkeiten. Kognitive Prozesse erschließen wir aus den Handlungen der Individuen, schreiben sie ihnen aber auch intuitiv aus der Selbstbeobachtung zu (Nacherleben, Nachkonstruieren der Rede anderer). Die Handlungen und Äußerungen der Heranwachsenden deuten wir durch unseren Alltagsverstand; unsere eigenen Klassifikationen, Schlußfolgerungen und Erfahrungen bringen wir ins Gespräch ein; ob wir das wollen oder nicht, unsere eigenen Urteile, Aussagen und Möglichkeiten der rationalen Nachkonstruktion der Handlungen anderer wirken für uns als Maßstab. In der genetischen Psychologie wählen die Autoren freilich Maßstäbe, die sich in der Ordnung unseres Wissens bewährt haben und im Prinzip – wenn auch nicht faktisch – für jedermann der rationalen Nachkonstruktion zugänglich sind; wissenschaftliches Denken (Wygotskys Bezugsmodell) und logisch-mathematische Modelle (Piaget) sind selbst wieder Resultat menschlicher konstruktiver Praxis, sind Resultat von Denkprozessen. Für die Rekonstruktion von Bildungsprozessen haben diese Modelle einen normativen Status, müssen aber zugleich selbst als Resultat ontogenetischer und historisch-kritischer Erkenntnisprozesse verstanden werden. Es wäre ein |A 112|folgenschweres Mißverständnis, Piaget oder Wygotskys so zu interpretieren, als meinten sie, das lebendige Denken folge heimlich immer schon logischen Prinzipien, die in der gesellschaftlichen Kommunikation nur ans Tageslicht gebracht werden.
[054:382]
»Es nützt nichts, sich auf
Prinzipien
zu berufen, welche die Intelligenz spontan anwenden würde, da die logischen Prinzipien das Resultat eines Schemas sind, das – nachdem das Denken schon konstruiert ist – nachträglich formuliert wird, und nicht diese lebendige Konstruktion selber ist. Die Intelligenz ... gewinnt die Schlachten, in denen sie – wie die Dichtung – laufend schöpferisch tätig ist, während die logische Deduktion nur den strategischen Abhandlungen oder den
Regeln der Dichtkunst
vergleichbar ist, welche die vergangenen Siege des Handelns und des Denkens kodifizieren, nicht aber ihre zukünftigen Eroberungen sichern«
(Piaget 1947, S. 37)
.
[054:383] Der Neugeborene geht nicht ohne Voraussetzungen in diese Prozesse ein: Reifungsprozesse, Wahrnehmungstätigkeiten, motorische Akte und ihre Autoregulationen führen zu Mustern der Weltauffassung, die die aktuelle Welt des Greifens, Hörens, Sehens unter Kontrolle bringen; ihr internes Korrelat sind nicht eine Summe von singulären Akten, sondern sensomotorische Pläne mit inneren Wechselbeziehungen. Die
»Pläne«
, die Gewohnheiten und Vorstellungsbilder schaffen das individuelle kognitive Gedächtnis (Repräsentation) (Miller u. a. 1973). Das Modell verlangt Korrekturen, wenn der Heranwachsende mit gesellschaftlichen Mitteln – dem gesellschaftlichen
»Gedächtnis«
: Sprache, Zeichen, Werkzeuge – in der Zusammenarbeit mit den Erwachsenen beginnt, auf die gegenständliche Welt, die anderen und sich selbst einzuwirken. Die
»Natur«
und die gesellschaftliche Welt in ihrer gegenständlichen Form und die Handlungen der anderen sind Voraussetzungen dafür, daß das Subjekt in Auseinandersetzung mit diesen diese sich aneignen und zugleich sich selbst verändern kann. Der Heranwachsende aber muß sich mit nicht-gesellschaftlichen Modi der Erfahrungsverarbeitung auch die gesellschaftlichen Mittel der Erfahrungsverarbeitung aneignen, d. h., kommunikatives Handeln und technisches Handeln müssen zunächst nach den Mustern von Wahrnehmung, Handlung und Nachahmung erarbeitet werden können.
[054:384] Wichtig ist für uns, daß sich das Kind in der Zeit verändern und qualitativ anders auf die Welt einwirken wird; sein
»Wissen«
beginnt keineswegs erst dann, wenn es den symbolischen und sprachlichen Deutungen der Erwachsenen folgen kann. Aus der vorsymbolischen Etappe der sensomotorischen Intelligenz geht |A 113|das Kind bereits als Wissender hervor. Dieses Wissen, das auch weiterhin nach Regeln der leiblichen Handlung und Wahrnehmungstätigkeit sich ausformen wird, will ebenfalls in den kommunikativen Kodes rekonstruiert werden, die sich das Kind im sozialen Verkehr aneignet. Wenn es die generativen Regeln dieser Kodes – Sprache, Musik, Werkzeugdenken – beherrscht, dann kann es sein Handlungswissen und seine intuitiven Schlüsse in der Kooperation und situativen Verständigung Zug um Zug auch in technologischer und sprachlogischer Form darstellen. Dabei muß man aber unter allen Umständen festhalten, daß die sprachlichen Deutungen zugleich selbst wieder durch die Handlungen und die nicht-sprachlichen Symbole (Bilder, Pläne, Geld, Werkzeuge usw.) interpretiert wie diszipliniert werden. Wir sprechen dann von generativen Regeln, wenn wir – wie wir es als kompetente Sprecher-Hörer unserer Sprache können – beliebig viele nie gehörte Sätze produzieren können; kognitive Regeln erlauben uns das Umgruppieren unseres Wissens.
[054:385] Die internen Handlungspläne, Vorstellungsbilder, die anschaulichen und sprachlichen Intuitionen arbeiten weiter, während der Heranwachsende nunmehr dialogisch wie auch technisch (Schriftsprache, mathematische Schemata, Rechenvorschriften) gesellschaftliches Wissen zu rekonstruieren versucht. Das Kind von fünf Jahren benutzt Medien schon erfolgreich, noch bevor es die Zeichen im System zu interpretieren vermag: Kalender-Geburtstag; noch zweimal schlafen; Uhr – kleiner Zeiger auf sechs: Sesamstraße; Geld beim Einkaufen – ich hab das meiste: fünf Groschen versus ein Markstück; Bücher, Werkzeuge usw. Der gesellschaftliche Raum ist aber nicht erst durch Zeichengebrauch interpretierbar. Den Ordnungsleistungen des Kindes, die es im konkreten Umgang mit der Welt aufbaut –
»eine Mama ist zum Kochen«
– korrespondiert eine geordnete Welt nach den Gebrauchsregeln der Erwachsenen: Wohnzimmer – Kinderzimmer; Geschirrschrank – Schuhschrank; Zoo – Museum; Jahrmarkt – Kirche (Sinclair 1970).
[054:386] Wenn wir qualitative Veränderungen in der Zeit postulieren, dann soll damit gesagt werden, daß das Kind anders denkt als der Erwachsene; diese Tatsache erinnert daran, daß das Kind Zeit braucht, ein kurzfristiges Mehr oder Weniger an Belehrung geht an diesem Problem vorbei.
[054:387] Sensomotorische Prozesse und Vorstellungsschemata führen schon zu generalisierbarem Wissen: Eßbares, Greifbares, Angsterregendes, Lebendiges. Diesen Gebrauchsklassifikationen kor|A 114|respondieren räumlich-zeitliche Orientierungen: Tischdecken, Einkaufen, Aufräumen. Von Schemata sprechen wir solange, wie das Wissen durch diese Gebrauchsklassifikationen und raumzeitlichen Pläne gehandhabt wird (Bericht versus Diskussion). Können wir in unseren Gedanken Gegenstände nach neuen Gesichtspunkten klassifizieren und uns so auf die Sichtweise anderer einstellen und Handlungen gemeinsam fortsetzen, dann können wir von operativer Intelligenz sprechen; der wachsenden Beweglichkeit des Denkens korrespondieren Invarianzbegriffe, d. h., den Bewegungen in der empirischen Welt setzt das Kind jetzt Urteilsschemata entgegen, die untereinander in Beziehung stehen; man kann eine Menge von Gegenständen jetzt räumlich umgruppieren, und das Kind wird nicht mehr bezweifeln, daß es dieselbe Menge geblieben ist.
[054:388] Noch kann das Kind (4. Lebensjahr) seine Handlungen weniger gut aus der Perspektive anderer, die sich ja in der Situation ändern kann und jeweils verstanden sein will, handhaben. Kooperatives und strategisches Handeln erfordern oft genug das Umdeuten der Situation. So kann das Kind zwar im Alleinspiel schon verschiedene Rollen (Mutter und Kind, Tankwart und Autofahrer) spielen, weniger gut kann es aber im Zusammenspiel mit anderen Kindern nach vorgefaßtem Thema seine Spielrolle in Relation zu den Rollen anderer durchhalten. Spielen zwei Kinder anfänglich Arzt und Patient, so sehen wir sie wenig später beide Arzt spielen und die gegenständlichen Handlungen des Spritzens, Verbindens und Verschreibens nebeneinander ausführen. Ihre Äußerungen sind genauso an sich selbst wie an den anderen gerichtet, sie wirken in diesem
»kollektiven Monolog«
auf sich selbst als Patient wie auch als Arzt ein. Die sprachlichen Handlungen gehören nun aber auch zur gegenständlichen Welt, auf die sich die Heranwachsenden dann, wenn sie selbst die Sprache beherrschen, imitierend wie antwortend beziehen können. Damit verändern sie die Redesituation selber: besprechen von Sprachlichem, Spielen des Spielens (im Puppenspiel spielen auch die Puppenkinder wieder mit Puppen).
[054:389] Der entscheidende Punkt liegt nicht darin, daß die Heranwachsenden jetzt die Sprache als System beherrschen, wie Bruner (1971, Kp. 2) es deuten will, sondern darin, daß diese neue Qualität sozialen Handelns das Handeln fortsetzt wie dieses selbst zum Gegenstand haben kann (Metasprache). Im Dialog beziehen sich die Sprecher auf die gegenständliche und gesellschaftliche Welt und zugleich auf die Äußerungen der anderen, |A 115|die sich wieder auf meine Handlungen wie auch meine Äußerungen beziehen. Einerseits setzen die sprachlichen Handlungen nur die gegenständlichen Handlungen fort; so wie das Kind
»Rollen«
spielt und die Tätigkeiten der Eltern, Ärzte, Polizisten und Verkäufer in immer mehr verfeinerter Form beherrscht, so reproduziert es auch die
»Sprechspiele«
als Teil von Situationen:
»Halt! Bitte, rechts heranfahren! Machen Sie den Arm frei. Ein Löffel Penilin!«
Andererseits nimmt es jetzt immer mehr an Sprechsituationen teil, die quer zur Handlungssituation stehen – am Frühstückstisch muß nicht über das Essen geredet werden. Die sprachlichen Situationen verselbständigen sich und gelingen nur, wenn ego-alter sich wechselseitig auf das Gesprochene beziehen. Halliday (1973) hat daran erinnert, daß die
»Primärsprache«
– etwa im Vergleich zur Unterrichtssprache – nicht in erster Linie der Darstellung und Argumentation dient, sie dient zunächst der praktischen Beherrschung des Alltags, in dem Gefühle und Absichten ausgetauscht werden müssen und die Zusammenarbeit gesichert sein muß. Die sprachlichen Äußerungen sichern die Fortsetzung der Handlung mit Hilfe anderer:
»Rudi, Tischdecken!«
,
»Hol, ach nein, wirf mal den Vater aus dem Bett!«
Aber immer dann, wenn außerhalb der Handlungssituation diese zur Sprache kommt, geht es um Deutung, Darstellung, Bewertung und Erläuterung. Die äußere Kommunikation, die noch auf mindestens zwei Personen aufgeteilt ist, internalisiert nun das Kind. Sein Wissen, das es keineswegs durch die Sprache erworben hatte, ist nun aber auch durch das Nadelöhr der Kommunikation hindurchgegangen, es steht ihm nicht nur in Handlungsplänen, bildlichen Schemata, sondern auch in Form innerer Dialoge zur Verfügung. Man darf nun nicht den Schluß ziehen, daß von nun ab (etwa 6. Lebensjahr) der Heranwachsende sich selbst mit gesellschaftlichen Mitteln belehren, kognitiv steuern und widerlegen könnte. Wygotsky sieht in dieser nach innen genommenen Sprache den Grund, daß nun das innere Denken in gesellschaftlicher Form sich weiterentwickelt. Die dialogische Struktur der Sprache gibt aber noch keinen Hinweis darauf, daß dieses
»Zwiegespräch«
bei Problemen im Handlungsfeld zu einer intelligenten Anpassung verhilft. Ohne die äußere Handlung und Zusammenarbeit und den dauernden Dialog in der Situation vermag die Sprache gar nichts. Piaget spricht vom konkret-operationalen Denken. Er will damit sagen, daß die Heranwachsenden bis tief ins Jugendalter hinein die praktische Auseinandersetzung mit der gegenständlichen Welt |A 116|benötigen, genauso wie das Schulkind die konkrete, wenn auch gelenkte Handlung braucht, um sich z. B. mathematische Zeichen- und Verfahrensschemata anzueignen: Ordnen, Hinzufügen, Wegnehmen, Reihenbilden, räumliche Bewegungen ausführen, mit eigenem Leib messen, mit der Elle als Maßstab messen, mit dem Lineal herumlaufen. Die begriffliche Sprache des Erwachsenen ist in gewisser Weise ein Modell auf Vorschub, das erst von unten im dauernden Gebrauch bedeutungsvoll auch für mich wird. Wenn der Jugendliche sein Wissen sowohl sprachlogisch ausformen und sich wiederum darauf sprachlich beziehen kann, dann spricht Piaget von der Etappe des hypothetisch-deduktiven Denkens.
»Das konsequente Prüfen von Hypothesen beinhaltet zugleich ein Wissen um Alternativhypothesen und deren Implikationen. Der Betreffende muß sich nicht nur der Beziehungen zwischen den einzelnen Hypothesen und ihren Konsequenzen bewußt sein, sondern auch der Beziehungen zweiter Ordnung zwischen den verschiedenen Hypothesen«
(Lunzer 1972, S. 289)
.
[054:390] Halten wir diese Ausführungen in einer Skizze fest (S. 117) und fragen dann, welche Rolle die Familie als erster Ort von Handlungen und Redesituationen in der Ausformung kognitiven Verhaltens spielt. In den nachfolgenden Familienszenen wollen wir aber gleich zeigen, daß kognitive Prozesse im Alltag nur indirekt greifbar sind. Haben wir eben den Begriff Rollenverhalten als eine Einheit sozialen Lernens eingeführt, so sind es wiederum die Rollenerwartungen der anderen, die die Entwicklung der Intelligenz stillzustellen vermögen. So unterstellt das Konzept des hypothetisch-deduktiven Denkens, daß man gegen die
»Realität«
anzudenken vermag; dieses setzt aber voraus, daß in der sozialen Interaktion dieses Hinterfragen des Selbstverständlichen zugelassen wird.

2. Riten und Rollen

[054:391] Rollen organisieren das Verhalten, setzen das Verhalten anderer fort. Rollen sind zugleich
»Bilder«
,
»Pläne«
: eine gute Mutter sein, ein selbständiger Mittel-Klassen-Junge. Rollen verändern sich in der Zeit, sie werden von Institutionen erzwungen und durch Sanktionen garantiert, aber sie werden von Individuen interpretiert. Riten sind jene Bestandteile der Lebenspraxis, in die wir eingelebt worden sind, noch ehe wir mitmachen konnten. An den Zuschreibungen können wir die Deutungsmuster der |A 117|
|A 118|Personen ablesen; kognitiv bedeutsam wird es, wenn der
»eine«
sich der Definition durch den
»anderen«
nicht beugt. In seiner Rede äußert er dann nicht nur
»Meinungen«
, sondern auch, wie er diese verstanden wissen will. Zum
»Nein!«
tritt hinzu
»ich sage: Nein!«
. Man muß erläutern, Farbe bekennen oder sich zurückziehen, wenn man kann, denn auch dieses ist eine Aussage. Die erste kognitive Ebene ist aber, daß man den Alltag praktisch beherrscht.
[054:392]

Mutter: Robert! Alles ist fertig. Komm essen! (zum Vater) Geh, ruf Robert!
Vater: Robert! Alles ist fertig. Komm essen! (Robert geht ins Badezimmer, um sich die Hände zu waschen.)
Mutter (wenig später): Robert, komm jetzt essen! Alles wird kalt!
Robert: O.K!
Mutter (füllt Robert Teller): Ich habe Spargel gekocht, den du gerne magst, und Schweinekotelett, das du liebst. Willst du noch Kaffee oder Milch?
Robert: Beides!
Mutter (zum Vater): Hol ihm die Milch und ein Glas!
Robert: Ich kann das selbst tun, ich bin weder hilflos noch gelähmt (Mutter füllt Robert Teller.)
Robert: Das ist genug. (Die Mutter legt noch mehr Spargel auf den Teller.) Ich sagte, es ist genug! (Die Familie beginnt zu essen. Nach einigen Minuten des Schweigens geht Robert zum Kühlschrank und holt die Milch.)
Mutter: Laß die Tür vom Kühlschrank nicht so lange offenstehen!
Robert: Mußt du mir immer und immer wieder dasselbe sagen? Du weißt, ich lasse die Tür nicht offenstehen!
Mutter: Na, ich darf wohl nichts mehr sagen. Heute geben wohl die Söhne in der Familie den Ton an! (Zum Vater:) Übrigens bat ich dich, die Milch zu holen. (Pause.)
Mutter: Magst du den Spargel, Robert?
Robert: Ja!
Mutter: Wie ist das Fleisch?
Robert: Gut!
Mutter: Möchtest du etwas Brot?
Robert: Nein!
Mutter: Bist du sicher?
Robert: Ich sagte
»nein!«

Mutter: Brot ist gut für dich; du solltest mehr Brot essen! Möchtest du nicht etwas?
Robert: Ich sagte
»nein!«
Außerdem steht das Brot vor meiner Nase, wenn ich welches wollte, hätte ich es mir genommen.
Mutter: Nimm noch etwas Spargel!
Robert: Ich möchte keinen mehr!
Mutter: Nimm noch ein Kotelett!
Robert: Ich möchte kein Kotelett mehr!
Mutter: Ist das alles, was du essen willst? |A 119|
Robert: Wenn ich mehr gewollt hätte, hätte ich mehr genommen. Vater (zur Mutter): Willst du ihn nicht in Ruhe lassen und ihn essen lassen, was er will?
Mutter: Ich denk, der Kaffee ist fertig! (Zum Vater:) Willst du bitte eingießen? (Robert erhebt sich, um die Kanne zu holen. Die Mutter sieht das und eilt zum Herd, um ihn selbst zu holen.) (Zum Vater:) Mein Gott, bist du träge!
Robert: Ich bin es, der fertig ist zum Kaffeetrinken. (Robert fixiert seinen Kaffee.)
Mutter: Mehr Milch nimmst du nicht?
Robert: Ich mag es so!
Mutter: Ich verstehe nicht, daß man ihn so trinken kann!
Robert: Ich bin es, der meinen Kaffee trinkt – nicht du. Ich will es so machen, wie ich es liebe.
Mutter: Mein Gott! Mütter dürfen ihren Kindern wohl nichts mehr sagen! (Robert nimmt seine Tasse und geht hinauf in sein Zimmer.) (Mutter ruft hinterher:) Willst du noch Obst oder Kuchen?
Robert: Nein! (Geht in sein Zimmer und schließt die Tür.) (Bossard/Boll 1965, S. 139 f.)

3. Erziehungsziele

[054:393]
»Erziehungsziele«
sind sprachlich artikulierte Pläne; sie sagen nicht, was wirklich passiert. Sie sind Erläuterungen für den, der fragt. Gefragt wird auch in der Familie, dort gilt es, seine Handlungen zu rechtfertigen. Wir sehen zugleich, daß das Erziehungsgeschäft eine Vergangenheit und eine Zukunft hat für die beteiligten Erwachsenen. Wir entdecken aber auch, daß die Erwachsenen an der Erziehung nicht immer beteiligt sind und daß Erziehung oft eher eine Reaktion als ein Plan ist; eine Reaktion auf die Tatsache, daß man Kinder hat, deren Verhalten man nicht vorhersehen konnte.
[054:394]
Mutter (Mittelschicht; Arbeitertochter; das Kind ist 4,5 Jahre alt):[054:395]
»Ja, und so war dann unser erstes Erziehungsziel – oder das, worauf wir hinauswollten auch mit dem Kinderladen, daß sie eben kontaktfähig wird mit anderen Kindern, daß sie es lernt, sich selbst zu regulieren in ihrem Verhalten mit anderen Kindern, was sie im Kindergarten nicht gelernt hatte, was im Kindergarten verhindert wurde, und daß sie, ich will jetzt kein Schlagwort nennen, daß sie mehr an Selbständigkeit und mehr an Selbstvertrauen gewinnt, ... das hatte sie überhaupt nicht, sie war also sehr bedrückt und niedergeschlagen und das hat ungefähr ein bis zwei Jahre gedauert. ... Man wollte ein lebendiges, vergnügtes, lustiges und munteres Kind, das selbständig ist und auch mal auf seine Eltern scheißt und auf deren Meinung, und dann eben auch so ist, daß man also dadurch als Eltern unabhängiger wird von dem Kind und dann ganz anders gegenübersteht.«
|A 120|
[054:396] Mutter (Arbeiterin, berufstätig):
»Mehr oder weniger erziehen kannst du, soviel Einfluß hast du heute gar nicht, weil sie mehr oder weniger im Kindergarten oder in der Schule geprägt werden, und was sie lernen oder irgendwas oder an eignen, das meistens im Kindergarten oder in der Schule. ... Ich meine, du kannst mehr oder weniger nur leiten und sagen, wenn sie – und mit irgendwas ankommen –, das findest du richtig, das findest du nicht richtig! Mit dem Vorschreiben in dem Sinne kannst du ihnen ja doch ... im Grunde machen sie ja doch, was sie wollen, du kannst nur, solange sie zu Hause sind, sagen, das und das gibt es nicht, oder wenn sie irgendwas angestellt haben.«

4. Vibrierende Einheit

[054:397]
»Versucht man, das konkrete Leben in einer Familie zum Zwecke einer stark differenzierenden Analyse zu erfassen, so bemerkt man in der Tat, daß es sich um eine
vibrierende Einheit
handelt. Schon eine kurze Szene beim gemeinsamen Essen von Vater, Mutter und zwei Kindern kann das illustrieren. Es sei z. B. angenommen, daß der fünfjährige Junge sich einen Griff in die Portion der älteren Schwester erlaubt. Sogleich werden sich mehrere
Sphären
überschneiden. Der
Übergriff
geschieht in der Geschwistersphäre; er geschieht aber aus der männlichen in die weibliche Sphäre; er mobilisiert die Eltern im Hinblick auf die beiden letzten Sphären, ihre Orientierung an Männlich- oder Weiblichkeit tritt aber sofort in Konkurrenz zur Anforderung aus der Sphäre der Eltern und Leitenden«
(Claessens 1962, S. 60)
.
[054:398] Der Familienalltag organisiert materielle wie symbolische Handlungen. Symbolische Handlungen können fortlaufend neue erzeugen. Rollen erinnern an das, was getan werden muß, denn jede Situation muß auch ein Ende haben.
[054:399] In Ergänzung zu Claessens Bemerkung wollen wir hier noch anmerken, daß auch die verschiedenen Modi kindlichen Verhaltens zu jeder Zeit auftauchen können; das Spielen bleibt nicht in der Sphäre des Kinderzimmers, erscheint als Teil der Essenssituation. Das Essen in der Essenssituation kann wiederum scheitern und wird im Spielzimmer fortgesetzt. Erziehungsziele zu haben, ist eine Seite, unvorhersehbare Situationen zu steuern, ist eine andere. Die Eltern können auf das Spiel eingehen, aber Spiele haben oft kein Ende. Kognitive Prozesse laufen überall ab: im Handhaben der Gegenstände, im imaginativen Gebrauch der Sprache, im Definieren der Situation und dem Beeinflussen der Handlung anderer.
[054:400] Mittelschicht-Familie; Abendbrot; zwei Jungen, vier und sechs Jahre; nicht alles ist akustisch verständlich. |A 121|
Vater: Ne, ich möchte keinen auf meinem Schoß haben. Ich möchte in Ruhe Abendbrot essen.
1. Kind: Noch mehr Saft haben!
Vater: Ja, den kannst du gerne bekommen, aber nicht auf meinem Schoß.
1. Kind: Doch!
Vater: Nein!
1. Kind: Ich bin in einer Sekunde wieder da!
Vater: Ich denke überhaupt nicht dran! (erhebt sich zum Spaß.)
2. Kind: P. (Vater) will jetzt nach Amerika!
(unverständlich)
2. Kind: (rülpst und imitiert sich):
»Ö!«

Mutter: Eu, das war wohl gut!
2. Kind: ö, ö, ö!
Mutter: Rülpst wie ein Tiger!
1. Kind: ö, ö, ö, ö! (die anderen imitieren auch)
Mutter (zu 2. Kind): Bewegst den Mund gar nicht dabei!
2. Kind: Was?
Mutter: Bewegst den Mund gar nicht!
2. Kind: ö, ö, ö!
Vater: Weißt du, daß es Leute gibt, die so reden können, daß es klingt, als ob es aus dem Bauch kommt? Bewegen den Mund gar nicht und reden trotzdem. Du denkst, es kommt aus dem Bauch! Versuch mal!
2. Kind (brummt
»Mama«
): Ich hab dich gemeint, Mama!
Mutter: Mich? Aus dem Bauch?
1. und 2. Kind (brummen)
Vater (brummt): Hallo B.!
Mutter: Mach doch mal Karmet! (Figur aus der Sesamstraße)
Vater: Ne!
Mutter: Bitte!
2. Kind: Doch!
Mutter: Das finde ich auch, das brauche ich jetzt in Zukunft beim Abendbrot!
Vater: Nö, ich bin nicht Karmet, ich bin kein Frosch! (Lachen)
2. Kind: Dann mach ich den Käse ab und setz ihn dir ans Ohr!
Vater: Meinst du, ich bin dann Karmet?
2. Kind: Ja, weil du dann solche Ohren hast wie Karmet!
Vater: Ach so, und dann?
2. Kind: Dann beiß ich deine Ohren ab, dann schmecken die mir ganz gut.
Mutter: Was gab’s denn heute in der Sesamstraße?
1. Kind: Oskar!
Mutter: Hatte Oskar gute Laune oder schlechte Laune? (Stimmen gewirr)
2. Kind: Gar keine Laune!
Vater: Ihr seid witzig, fragt den B. (1. Kind) was und hört gar nicht, was er sagt!
1. Kind: Hatte Schluckauf! |A 122|
2. Kind: Ja, da hat Oma Griesgram, hat ihn geküßt, und dann ist der Schluckauf weggegangen!
Mutter: Hat er so’n Schreck bekommen – oder? Und was ist dann passiert?
1. Kind (echot): Oma Griesgram!
Vater: Oma hat angerufen, ob ich ihr, sie hat starke Kopfschmerzen, ob ich ihr ’n paar Pillen bringen kann.
2. Kind: Unsere Oma?
Mutter: Ja!
2. Kind: P., Hilfe, ich falle runter, Hilfe, ich fall runter, halt mich fest. Siehst du das nicht, ich fall runter, P., halte mich fest!
Vater (etwas ernster): Du, ich glaub, du hast das falsch verstanden, ich will Abendbrot essen, toben könnt ihr nachher oben!

Die Familie als Raum-Zeit-Personen-Ereignisfeld

[054:401] Wir wollen nun so vorgehen, daß wir die Familie zunächst als den Ort der vorschulischen Lern- und Lebensgeschichte betrachten, sodann fragen wir aus der Perspektive schulischer Ausbildung, was der institutionelle Wechsel, die Form leistungsthematisierten Lernens für das Subjekt bedeutet, und kehren dann zu der Frage zurück, inwiefern schulisches – auf Qualifikationen bezogenes – und außerschulisches – auf Alltagshandeln bezogenes – Lernen Chancen wie Probleme für die Ausformung kognitiven Verhaltens aufwirft. Dabei stellen sich rasch mehr Fragen ein, als wir versuchen können zu beantworten. Welche Rolle spielt die Familie für die Heranwachsenden im Prozeß der Einnahme sozialer Haltungen, der Entwicklung der Persönlichkeit und der Aneignung gesellschaftlichen Wissens? Diese Problemstellung fragt auch nach dem Wissen von der Familie, deren
»insider«
wir sind, die wir aber doch verlassen werden.
[054:402] Erstes Nachdenken wirft weitere Fragen auf: Wie eignen sich die Heranwachsenden die Technologien, Kodes und Bilder an, mit denen wir planvoll auf die Natur, die anderen und uns selbst einwirken und in denen wir unsere Welt interpretieren und imaginieren: die Sprachen des Alltags, der Kunst, der Industrie? Wie finde ich mich und meine Erfahrungen in den Deutungen der anderen wieder?
[054:403] Auf den ersten Blick erscheint es wenig plausibel, diese Fragen im Rahmen einer Familienstudie zu thematisieren, ist die Familie doch nur Raum in anderen Räumen, in denen man sich mit der ersten Ausfahrt bewegt. Doch Familie begleitet uns bis tief in das Jugendalter hinein, und diese Frage verdient dann unsere |A 123|Aufmerksamkeit, wenn einsichtig gemacht werden kann, daß kognitive und motivstiftende Prozesse durch eine Vielzahl situativer Handlungen und face-to-face-Beziehungen konstituiert werden; dieses soll für die öffentlichen wie für die
»unterirdischen Prozesse«
(Adorno) gelten.
[054:404]
»Übernehmen zunächst die Subjekte in ihrer Kindheit soziale Rollen ebenso wie im Erwachsenenalter, so besteht doch der wesentliche Unterschied ø darin, daß in der Teilnahme an den innerfamilialen Interaktionen der Kindheit sozio-kulturelle Lernprozesse mit motivbildender und kognitive Strategien prägender Kraft stattfinden – das heißt, daß aus ihnen allgemeine Handlungsstrategien und -Dispositionen entstehen, die die späteren Lernprozesse grundlegend kanalisieren. Sie bilden gleichsam Instanzen des
Lernens zu lernen
. Der Einfluß lebensgeschichtlich späterer sozialer Objektbeziehungen und Rollenübernahme wird durch diese allgemeinen Strategien und Dispositionen gefiltert«
(Oevermann 1972, S. 347ø)
.
[054:405] Familie und Elternhaus sind erster sinnlich-gegenständlicher wie symbolischer Ort, wo die Heranwachsenden in Handlungs- und Erlebniszusammenhänge hereingenommen werden. Hier beginnt das
»Einfädeln«
(Lorenzer) in die gemeinsame Welt, die zuletzt weit über den Raum-Zeit-Lebenszusammenhang hinaus verweist, in dem man selber anwesend war. Meine symbolische Welt enthält meine öffentliche, private und leibliche Welt, enthält auch meine Erinnerungen an mich selbst als einen anderen. Diese erinnerten Bilder und Szenen, die zugleich voller Muskeln sind, bleiben auf eigentümliche Art aufgehoben:
[054:406]
»Ich sehe mich ganz deutlich: ein rundes, kleines Ding, das durchs ganze Haus läuft, durch eine Tür nach der anderen, sich auf den breiten Fensterbrettern versteckt, die Beine hochgezogen, zusammengerollt wie ein kleines Tier«
(Chagall 1969, S. 7)
.
[054:407] Habermas (1968) hat darauf aufmerksam gemacht, daß Theorien sozialen Handelns die Genesis kognitiver Prozesse weniger gut zu erklären vermögen als die Psychogenese motivationaler Prozesse: werden diese in der Interaktion ausgeformt, so sind jene bereits Bedingung der Wahrnehmung des anderen und seiner Beziehungen zu mir, sind schon anwesend in den noch unvermittelten Austauschprozessen mit der gegenständlichen Welt – Greifen, Sehen, Hören, Schmecken. Die Figur interaktionalen Handelns, deren einer Pol das Mutter-Objekt ist, deckt nicht die sensomotorischen Austauschprozesse ab, wie Lorenzer (1973) es deuten will. In Analogie zu Watzlawicks Axiom, man könne |A 124|nicht nicht-kommunizieren, läßt sich notieren, daß das Kind auch nicht nicht-sehen und nicht nicht-handeln kann, dieses tut es auch dann, wenn es alleine ist, und lange bevor es den artikulierten Interpretationen der Erwachsenen folgen kann.
[054:408] Dem Einigungsprozeß in der Mutter-Kind-Dyade, wie Lorenzer ihn sensibel rekonstruiert, korrespondieren Einigungsprozesse im Funktionskreis instrumentalen Handelns. So wie das Kind die Personen seiner Umwelt identifiziert und bestimmte Handlungsabfolgen erwartbar werden, so handhabt es auch die Gegenstände durch seine leiblichen Schemata hindurch, antizipiert Ereignisfolgen und ordnet diese in sein leibzentriertes Raum-Zeitsystem ein: Verschwundene Gegenstände werden gesucht, werden an einem bestimmten Ort gesucht, seine Handlungen werden zielbezogen und erreichen ihren Höhepunkt in den sensomotorischen
»Erfindungsakten«
wie im konventionellen Gebrauch der Gegenstände wie Löffel, Kamm und Schal. Freilich durchbricht das Kind laufend die funktionalen Muster, hält sich ein Sieb vor das Gesicht und lacht, löffelt im nächsten Moment das Essen auf den Tisch und läßt die Finger darin kreisen. Piaget spricht sogar von
»sensomotorischen Deduktionsprozessen«
, weil wir annehmen müssen, daß sich das noch nicht zweijährige Kind
»die Gegebenheiten, die sich seinem Blick darbieten, vorstellt, und zwar anders vorstellt, als es sie direkt wahrnimmt. Es korrigiert also im Geiste seine direkten Wahrnehmungen und setzt sich Stellungen, Ortsverschiebungen und vielleicht sogar Gegenstände gegenwärtig, die sich im Augenblick nicht in seinem Gesichtsfeld befinden«
(Piaget 1969, S. 353)
.
[054:409] Interpersonales Handeln ist also nur die eine Seite der Konstitution kognitiver Prozesse: der motorischen Akte und Perzepte wie auch der symbolischen Handlungen wie Nachahmung, Spiel und Traum. Freilich beziehen sich die leibzentrierten Modi des Erkennens in einer menschlichen Welt immer auf eine von Menschen umgeformte gegenständliche Welt und auf die Handlungen der anderen in dieser Welt; aber es ist nicht zu verhindern, daß das Kind im sensomotorischen Explorieren, im dysfunktionalen Gebrauch der Gegenstände und im Spiel genauso lernt und seine
»ordinäre Logik«
(Wygotsky 1969, S. 38)
konstruiert. Wenn dann im ersten Wortschema die öffentliche symbolische Interaktion beginnt, dann kommunizieren bereits zwei Wissende miteinander.
[054:410] Die verbale Kommunikation steuert zunächst als Quasi-Handlung die Handlungen des Kindes; es hält inne, zeigt Aufmerksam|A 125|samkeit, kann das Wortschema aber nur in bezug zur Situation, der Gestik und den Gegenständen deuten. Die Entwicklung der Wortbedeutungen steckt in ihren Anfängen, und selbst dann, wenn das Kind die Bezeichnungsfunktion der Sprache sich angegeeignet hat und nun bald syntaktisch komplexere Redeformen hervorbringen wird, auch dann besteht noch eine systematische Differenz zwischen den dahinterliegenden Denkmustern der Erwachsenen und der Kinder. Gemessen an den vielen Fragen, die das Kind stellt, und an den vielen Antworten, die es erhält, muß einen immer wieder überraschen, wie wenig es von dem argumentativen Gehalt der Antworten bis zum Schulanfang profitieren kann (Bruner u. a. 1972, Kap. 4). Schaut man aber genau hin, so entdecken wir, daß es dieses Material nur umgruppiert in seine Wissensschemata, und dann wird es uns in der nächsten Situation wieder mit seinem Scharfsinn verblüffen. (Fünfjähriges Kind:
»Wenn ihr tot seid und ich groß bin, dann kann ich eure Pullover tragen.«
)
[054:411] Zu überraschenden Ergebnissen kam auch Lurija (1970, S. 70 ff.) in der Untersuchung der direktiven Funktion der Sprache. Selbst noch im fünften Lebensjahr konnten sprachliche Aufforderungen eine Handlung nicht aufhalten (Kinder drückten auf Befehl einen Gummiball und sollten dann auf eine sprachliche Anweisung hin, diese Handlung beenden; das Gegenteil trat ein, die Kinder drückten nur noch energischer). Auch dieser Sachverhalt erinnert daran, der Sprache nicht einen dominierenden Stellenwert im Aufbau der vorschulischen Wissensformen zuzuweisen, die ja aus Handlungsweisen hervorgehen. Das Problem der Eltern ist es ja gerade, daß die Kinder den ganzen Tag über tätig sind, jedes Zimmer ist interessant, jeder Gegenstand muß gegriffen, geworfen, geschoben oder in den Mund gesteckt werden. Türen müssen auf und zu gemacht werden, Töpfe, Deckel, Teller, alles will umgestellt und neu geordnet werden. Wenig später wird es sein Wissen beim Essen und Anziehen demonstrieren, und die Eltern müssen eine Balance finden zwischen ihrem Wunsch, eine Handlung zu Ende zu bringen, und dem des Kindes, selbständig zu handeln. In der Erforschung familiärer Erziehungsstile ist sehr deutlich geworden, daß nicht nur das Verhalten der Kinder als Resultat der Handlungen und Erwartungen der Eltern verstanden werden darf, sondern daß deren Verhalten zunächst einmal Resultat der kindlichen Handlungen ist, die man kaum vorhersehen kann. Becker (1964) beschreibt die beiden wichtigsten Erziehungsdimensionen so:
|A 126|
[054:412] 1. Wärme – Feindseligkeit
(am Pol Wärme)
»akzeptierendes, teilnehmendes, billigendes, verständnisvolles, kindzentriertes Verhalten, häufige Verwendung von Erklärungen, häufiger Gebrauch von Argumenten und Lob und seltene Anwendung von Körperstrafen, und (bei Müttern) wenig Nörgelei am Ehemann.«

2. Strenge – Nachsicht
(am Pol Strenge)
»viele Einschränkungen und starker Nachdruck auf Forderungen in den Bereichen von sexuellen Spielen, bescheidenem Verhalten, Tischmanieren, Reinlichkeitstraining, Sauberkeit, Ordnung, Schonen der Einrichtung, Lärm, Gehorsam, Aggressionen gegen Geschwister, Gleichaltrige und Eltern.«

(Becker 1964, S. 174.)
[054:413] Diese elterlichen Verhaltensweisen sind keineswegs Erziehungspläne, sondern Reaktionen auf die spezifischen kindlichen Formen der Entdeckung, des Spiels und der Wissensaneignung. Das Problem dieser Klassifikationen liegt aber darin, daß sie semantisch vieldeutig sind und sich in der Analyse von empirischen Situationen auch kaum bewährt haben (Jarrow u. a. 1968); sie lassen auch keinen Spielraum dafür, daß diese Handlungsweisen ja etwas sehr anderes bedeuten, ob ich es mit Dreijährigen oder mit Zehnjährigen zu tun habe, und suggerieren, daß man den soziokulturellen Kontext vernachlässigen darf, wenn man interaktionales Verhalten untersuchen will (siehe dazu Kagan, in Hudson 1970).
[054:414] Ein einfaches Bild läßt sich hier nicht gewinnen. Im Ehesubsystem widerspiegelt sich gesellschaftlich ausgeformtes kommunikatives Handeln, zugleich aber spielen sich in der Mutter-Kind-Beziehung und im Kindersubsystem leibliche und privatsprachliche Prozesse ab: Körpersprache, Sexualität, Spiel, Wachträume. Kritische Soziologie anerkennt diesen Tatbestand:
»In der Erziehung, insbesondere in der Primärsozialisation, gibt es eine Art emanzipatives Minimum, das nur um den Preis schwerwiegender Störungen unterschritten werden kann«
(Negt/Kluge 1973, S. 49)
. Hier kündigt sich keine voreilige Wertschätzung der Familie an, es wird nur festgehalten, daß die Heranwachsenden auf die Personen und Gegenstände aktiv und damit formgebend einwirken. Vom psychologischen Standpunkt aus gilt, daß das Kind sein
»Wissen«
, seine Vorstellungsbilder, seine Sprache und Identität in dieser Welt konstruktiv erarbeiten muß, was vom soziologischen Standpunkt aus eher wie Reproduktion und Rekrutierung aussehen mag. Jedes Wort, jeder Gegenstand, jedes Bild, jede Tätigkeit muß von den Heran|A 127|wachsenden neu im Gebrauch mit Bedeutung versehen werden. Während das Kind im folgenden Beispiel den Sinn des Wortes
»Wozu«
aus seiner Lernvorgeschichte räumlich
»Wo«
-
»zu«
interpretiert, führt die Mutter eine finalistische Interpretation ein; antwortet das Kind am Schluß auch nicht in der intendierten Weise, so zeigt seine überraschende Schlußbemerkung, daß es über Kategorisierungen verfügt: Menschen haben Augen, Blumen gehören nicht zu dieser Objektklasse.
[054:415] Kind, 2 Jahre und 10 Monate, beim Betrachten eines Bilderbuches
Mutter: Wozu sind die Augen da?
Kind: Da sind die Augen, im Gesicht!
Mutter: Wozu (betont) sind die Augen?
Kind: Zu den Mund und Nase!
Mutter: Wozu hat man Augen?
Kind: Weil man keine Blume ist!
[054:416] Die Lerngeschichte des Kindes ist nicht die der anderen, in diese gehen die Handlungserfahrungen mit ihrer
»Zeitlichkeit«
ein, die so nur diesem Heranwachsenden verfügbar sind. Seine Einführungssituation (Lorenzer) ist nicht die Einführungssituation auch für die Mutter; deren Einführungssituation, die 20 Jahre zurückliegen mag, war als materielle, symbolische und interpersonale Situation eine ganz andere. Worte stehen aber nicht nur in begrifflichen Relationen zueinander, sie heben auch ein Stück
»Situation«
auf und rufen kulturspezifische wie auch private Assoziationen hervor.
[054:417] Dieser sich mit gesellschaftlichen Mitteln artikulierende
»Egozentrismus«
(Piaget) des Kindes, dessen Zeithorizont noch nicht einmal die eigene Biographie umfaßt – eine erste Form der Selbstdarstellung für andere und für sich (Selbstnachahmung) im Spiel, der leibgebundenen Techniken und Expressionen – ist Voraussetzung, um auch die Haltungen und Handlungen anderer einnehmen und übernehmen zu können. Diese werden zunächst in ihrer materiellen Seite bis in die Zehenspitzen, bis in die Mimik, bis in den Tonfall der vokalen Schemata hinein konstruktiv rekonstruiert, und im sozialen Wechselspiel werden die Handlungen des Kindes auch wieder von den Erwachsenen und Geschwistern nachgeahmt und situativ gedeutet (Kindersprache). Mead verweist hier auf die
»Periode der endlosen Imitation«
(1969, S. 91)
. Die sensomotorischen Schemata werden in die Alltagstätigkeiten hereingenommen und so zu gesellschaftlich funktionalen Handlungen umgeformt. Anfangs macht das Kind nur eine für sich selbst interessante Tätigkeit, die |A 128|Mutter aber setzt diese Tätigkeit als Teil einer gemeinsamen Handlung fort: Kind holt Teller aus dem Schrank, die Mutter stellt ihn auf den Tisch und spricht für beide
»Bitte«
-
»danke«
. In der gemeinsamen Handlung ist die faktische Handlung des einen ein Zeichen für den anderen, der dieses deutet und dann die gemeinsame Handlung durch seine faktische Handlung fortsetzt. Fehlinterpretationen werden durch Handlungen oder Hinweise wieder korrigiert. Der Erzieher unterstellt auch nicht, mit dem Kind in eine symmetrische Kommunikation eintreten zu können, in diese tritt er vielmehr so ein, daß er den Part des Kindes mitspielt. Das Kind ist gleichsam Teil des generalisierten anderen des Erwachsenen. Das Schreien des Kindes übersetzt sich der Erwachsene in eine Aussage:
»ich will trinken!, ich habe Angst vor dem Fremden!«
, auf diese
»Aussage«
reagiert er mit Handlungen und interpretiert wieder die Reaktionen des Kindes. Umgekehrt redet auch der Erwachsene laufend mit dem Kind, auch wenn er genau weiß, daß das Kind seine Rede nicht entschlüsseln kann, aber die Worte sind Teil der Situation, und das Kind interpretiert Zug um Zug die Handlungen, und die Sprache ist Teil dieser Handlungssituation, und auch diese Handlungen wird es eines Tages imitieren und dann selbst konstruieren können. Die funktionellen Schemata werden so in der Kooperation zugleich zu kommunikativen Schemata, an deren Stelle dann bald spezifische Handlungen – Zeichenhandlungen – treten können: Handlung–Handlung, Handlung–Geste, Geste–Wort, Handlung–Wort, Wort–Wort. Diese Handlungen werden dann untereinander austauschbar und trennen gegenständliches Tun und symbolisches Handeln.
[054:418] Spielen wir diesen Gedanken noch einmal durch: Mit dem eigenen Leib kann das Kind die Handlungen der anderen nachahmen; mit dem eigenen Leib und Stimme kann es ein fahrendes Auto nachahmen, es kann auch einen Klotz vor sich hin schieben, der Klotz kann in der nächsten Minute eine Katze stellvertreten. Der Klotz wird funktionell beherrscht – anfassen, tragen, schieben, drehen –, dennoch wirkt das Kind auf ihn ein als das, was er bedeutet. Eine Ähnlichkeit zwischen Objekt und Symbol ist nicht notwendig. Es ist das Subjekt, das durch seine gleichförmigen Handlungen die Ähnlichkeit konstitutiert. Das Wortschema bringt in diesen Zusammenhang zunächst kein prinzipiell neues Moment herein. Es ist zunächst Teil von akustisch-oralen Plänen, wie
»Winke-Winke-Machen«
, Teil von visuell-motorischen Plänen. Im sozialen Zusammenspiel gewinnen die gegenständ|A 129|lichen und spontanen symbolischen Handlungen (Spiel/Unsinnswort) kommunikativen Gehalt. Wir sehen dann sehr bald, wie das Kind im Alleinspiel (G. Mead 1968, S. 192 ff.) und den abendlichen Bettmonologen (Weir 1970) mitten in seinen spontanen Tätigkeiten den Vergesellschaftungsprozeß selber fortsetzt, freilich nach Regeln, die egozentrisch verzerrt sind vom Standpunkt des vergesellschafteten Erwachsenen aus. Die so produzierten Sachverhalte – Sätze, Bilder, Basteleien – gehören zur gegenständlichen Welt, auf die andere und, was notorisch übersehen wird, auch die Kinder selber wieder wahrnehmend, handelnd und deutend reagieren und einwirken können. Lebt das Kind in einer interpretierbaren Welt, dann lebt es auch in seiner Welt, in der auch seine Produkte und Projektionen Ausgangspunkt neuer Lernerfahrungen sind. Täglich im Spiel, so die Deutung des Erwachsenen, stellt das Kind
»Welten«
her, die ihr Material von außen beziehen, aber zu seiner Objektwelt gehören, in der es sich auskennt und in der es die anderen, die es gleich mitspielt, kommunikativ einweist.
[054:419]
David, dreieinhalb Jahre (beim einsamen Spiel mit Bastelspielzeug, Beobachter am Tisch auf der anderen Seite des Raumes): [054:420]
»Die Räder gehören hierhin. Ach, wir müssen wieder von vorn an fangen. Wir müssen es zusammenstecken, schau, es paßt zusammen. Wir fangen wieder von vorn an. Weißt du, warum wir das machen wollten? Weil es andersrum gehen muß. Ist das nicht sehr schlau? Was meinst du? Aber wir müssen den Motor abdecken, genau wie bei einem richtigen Auto.«
(Kohlberg 1974, S. 263.)
[054:421] Solche Momentaufnahmen dokumentieren die Intimität sozialen Lernens. Das Kind übernimmt weder Sprachspiele noch Technologien passiv, sondern muß diese aktiv nachkonstruieren. In diesen Dokumenten sehen wir, daß die Kinder auf der Basis angeeigneter Fähigkeiten zugleich weiterlernen und technische Handlungen und sprachliche Äußerungen produzieren, die sie nicht entlehnt haben. Spiel, Nachahmung und Traum zeigen deutlich, daß die erkannte Welt nicht nach Regeln rekombiniert werden muß, die aus der Kommunikation abstrahiert worden sind. Ereignisse, die zeitlich-räumlich auseinanderliegen, können verschoben und zu einem Bild verdichtet werden; denken wir hier nur an die Spiel-, Sprach- und Traumsymbolik. Familie ist nun der Ort mit
»sicheren«
Bezugspersonen und immer wiederkehrenden Tätigkeiten, die Ordnung in eine Welt bringen, noch ehe das Kind sprachlogisch die Interpretationen der anderen zu |A 130| rekonstruieren vermag. Diese tagtägliche Kooperation und Kommunikation spielt das Kind in eine gemeinsame Welt ein.
[054:422]
»Einen symbolischen Gegenstand verstehen heißt, daß ich diejenige Regelkompetenz erworben habe, die mir erlaubt, gegebenenfalls durch Nachahmen festzustellen, wie dieses Gebilde regelgerecht generiert worden ist. Dieses Gewißheitserlebnis, das einen solchen Akt des Verstehens begleitet, ist entweder so selbstverständlich, daß es als ein besonderes Moment nicht hervortritt (so bei Routineäußerungen in der Muttersprache), oder es gewinnt den Rang einer vorbildlichen Intuition (wie beispielsweise bei einfachen mathematischen Sätzen). In beiden Fällen resultiert die gewißheitsverbürgende Kraft des Verstehens aus dem Umstand, daß wir den symbolischen Gegenstand, den wir verstehen, selber nach generativen Regeln hervorgebracht oder wenigstens nachkonstruiert haben und eben aufgrund dieser transparenten Entstehungsgeschichte vollständig verstehen«
(Habermas 1973, S. 263)
.
[054:423] Diese Interpretation von Habermas kann auf alle kommunikativen Kodes übertragen werden; ob das Kind beginnt, zu sprechen, zu singen, zu tanzen, zu schauspielern, zu zeichnen oder sich zu benehmen. Ist das Kind auch schon ein Wissender in unserer Welt, so ist es sich doch der Regeln, denen es in seinem Handeln folgt, nicht bewußt. Die Teilhabe an den Tätigkeiten des Tages und die Aneignung der symbolischen Kodes seiner wichtigen Bezugspersonen sind die Bedingung, daß es seinen Egozentrismus aufgeben wird und in einen Soziozentrismus hineinwächst; es folgt nunmehr in seinen Phantasien, Handlungen und Redeformen den Regeln und Themen seiner Umwelt, denn nur so kann es mühelos ins Spiel kommen, in die Plaudereien der Erwachsenen, in die Geheimkodes der Gleichaltrigen. Biographien erscheinen von außen bald verwechselbar mit den Biographien anderer unter gleichen sozio-kulturellen Bedingungen; gleichwohl liegen hinter den öffentlichen Darstellungen und Sprachspielen
»individuelle Weltmodelle«
(Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen 1973, S. 11 f.). Aus der Perspektive der kognitiven Entwicklung ist es gleichgültig, welche Themen und Tätigkeiten für die Kinder bedeutsam sind. Es ist ganz unbestritten, daß Kinder der Arbeiterfamilien genauso lebhaft ihre Welt interpretieren, und auch, daß sie in der Kommunikation mit ihren Eltern in Deutungsmuster eingelebt werden, die andere Erfahrungen und Bewertungen vermitteln, als sie Kinder in bürgerlichen Familien vermittelt bekommen. Es scheint auch sicher zu sein, daß die Kinder z. B. in der Gleichaltrigengruppe reichen Gebrauch von der Sprache machen und in ihren Ausein|A 131|andersetzungen den Regeln des Argumentierens folgen (Labov 1970), aber es scheint auch sicher zu sein, daß Familien der Mittelschicht diese Fähigkeiten auch einsetzen, um Themen in die tägliche Kommunikation hereinzunehmen, die sich nicht aus dem täglichen Erleben und Handeln ergeben. Dieses ist nicht unbedingt als eine Vorbereitung auf die Schule zu verstehen, sondern Ausdruck ihres kulturellen Selbstbildes, dessen wichtigste tagtägliche Erscheinungsform der Umgang mit der Schriftsprache in der Familie ist. Die aktivistische
»egozentrische«
und kulturell spezifische
»soziozentrische«
Sprache, die allein im Dialog realisiert wird, erlaubt nicht die
»Dezentrierungen«
, die nötig sind, um in die wissenschaftlichen und literarischen Sprachspiele hineinzukommen (gesellschaftliches Gedächtnis).
[054:424] Die Kritiker der Familie erinnern uns daran, daß dieses Einleben in die familiäre Kultur kein leidensfreies Einnehmen von Rollen ist. Wenn wir die familialen Beziehungen zugleich in Begriffen des Rollenhandelns interpretieren, dann werden wir daran erinnert, daß gesellschaftliche Verkehrsformen tief in die Familie hineinreichen. Die Zeitpläne der Erwachsenen erlauben es gar nicht, Konfliktsituationen bis zur Einigung auszutragen. Zugleich müssen die Kinder präpariert werden, daß sie selber in der Schule sich den Zeitplänen der Erwachsenen unterwerfen. Die Muster von Lob und Strafe, wie sie die Sozialisationsforschung herausgearbeitet hat, sichern die Fortsetzung der Handlung, die nur noch äußerlich eine gemeinsame Handlung ist. Wenn Kritiker meinen, daß die Familie
»Herrschaft«
reproduziert, so ist dieses aber nicht allein am Quantum physischer oder psychologischer Strafpraktiken abzulesen, gemeint sind auch die subtilen klassen- und familienspezifischen Szenen, Interieurs und Riten. Die Familie reguliert nicht nur den praktischen Alltag, sondern organisiert auch die Phantasie: die Sitzordnung am Tisch, das größte Stück Fleisch, die Familie und das schwarze Schaf, die Szenen um das Wirtschaftsgeld, das Familienalbum, die Weltdeutungen des
»Familienoberhauptes«
.
[054:425]
»Ich denke, man ist mehr oder weniger geprägt. Du kannst zur Universität gehen, und du wirst immer mehr Ideen kennenlernen und immer mehr Leute sehen und treffen. Aber das alles verändert nicht die ersten Ideen. Du wirst noch derselbe sein – nur deine Ideen werden reicher sein«
(Jackson/Marsden 1962, S. 38).
[054:426] Wenn wir also vom symbolischen Handeln sprechen, so ist es ganz falsch, gleich auf Sprache zu setzen:
|A 132|
[054:427]
»Unser gesamtes soziales Verhalten ist von symbolischen Ereignissen durchzogen: die Art, in der wir jemand grüßen, die Weise, in der wir uns kleiden, das Verhalten bei Mahlzeiten, expressive Gesten, moralische Gewohnheiten, persönliche Idiosynkrasien, ganz abgesehen von Zeremonien und Ritualen«
(Furth 1972, S. 134).
[054:428] Gehörlose Kinder handeln überraschend verständig in ihrer sozialen Umwelt, ohne doch bis zum Schulbeginn in irgendeiner Weise effektiv von der Sprache profitieren zu können (Schif 1973, S. 8 f.). Zugleich dokumentieren diese Kinder in dem Ausformen ihrer eigenen Gebärdensprache gegen den Sozialisationsdruck der Schule die Realität von
»Privatsprachen«
, in denen generalisierungsfähiges Wissen transportiert werden kann. Alles im sozialen Raum hat Bedeutung, kann Zeichenträger und Botschaft sein. Familien reproduzieren soziozentrische gesellschaftliche Projekte, das Kind erlernt leiblich, symbolisch und sprachlich, was man ist, tut und tun wird.
[054:429] Mittelschichtmädchen über Freundschaft mit einem Arbeiterjungen:
»Auf beiden Seiten war Unzufriedenheit, und die Freundschaft endete bald. Ja, es waren Kleinigkeiten. Ich wollte nicht wahrhaben, hochnäsig zu sein; aber ich habe herausgefunden, daß ich es war. Seine Kleider waren sehr altmodisch, und er wollte nicht mit meinen Eltern Zusammentreffen. Er meinte, sie seien zu sehr
middle-class
.«
(Jackson/Marsden 1962, S. 47.)
[054:430] Die Person- und Objekt-Ereignisse spielen in gesellschaftlichen Räumen, die gegenständlich und zugleich voller Verweise, Symbole und Erinnerungen sind: die Küche, die Szene mit dem Wirtschaftsgeld, die Architektur, die Landschaft neben dem Auto. Aus genetischer Sicht ist an der Gleichzeitigkeit von sinnlicher und symbolischer Erkenntnis festzuhalten. Furth führt in Anlehnung an Piaget das Denken auf die ersten wissenden Reaktionen des Kindes auf die Gegenstände zurück, und Eco führt diesen Gedanken fort:
»Auf der sozialen Ebene hat der Gegenstand als Gegenstand schon eine Zeichenfunktion und ist folglich semiotischer Natur«
(Eco 1972, S. 37)
. Diese
»Quasi-Einheit«
der leiblichen, affektiven und symbolischen Schemata wird aber bald aufgebrochen, und die reflexiven Mechanismen, die sich schon in der aufgeschobenen Nachahmung und im Spiel des Zweijährigen ankündigen, verlangen bald, die ersten Erfahrungen mit den zweiten Erfahrungen, die Innenwelt mit der Außenwelt, mein Wissen mit deinem Wissen in Beziehung zu setzen.
|A 133|
[054:431]
»Die Welt der Kindheit ist dicht und zweifelsfrei wirklich. Das wäre in diesem Entwicklungsstadium des Bewußtseins wohl gar nicht anders möglich. ... Der Protorealismus der Welt ist wahrscheinlich phylogenetisch wie ontogenetisch notwendig. Die Welt der Kindheit ist jedenfalls so verfaßt, daß sie eine nomische Struktur repräsentiert, der das Individuum vertrauen kann:
Es ist ja alles in Ordnung
, ist wahrscheinlich das, was Mütter am häufigsten sagen, wenn Kinder weinen. Daß einiges weit davon entfernt ist,
in Ordnung
zu sein, diese späte Entdeckung mag mehr oder weniger schlimm sein, je nach biographischen Umständen, aber selbst dann behält die Welt der Kindheit im Rückblick noch ihre eigenartige Wirklichkeit. Sie ist und bleibt die
heimatliche Welt
, die wir noch in fernste Regionen des Lebens, wo wir keineswegs heimisch sind, mit uns nehmen«
(Berger/Luckmann 1970, S. 146)
.
[054:432] Alles, was wir aus Biographien wissen, scheint dieses zu bestätigen, selbst dann, wenn diese
»heimatliche Welt«
objektiv (!) eher ein Stück Leidensgeschichte repräsentiert (Turek 1975). Familie ist zunächst Haus, Ort, Ecke, Personen und ich mittendrin; diese Zeit wirkt folgenreich hinein in die nächste Zeit, wenn das Kind
»Realist«
wird, wenn es sich und die anderen aus der Perspektive neuer Standorte erneut thematisieren wird. Dieser Prozeß aber ist unvermeidlich. Kognition unterstellt, daß das lebendige Subjekt im aktuellen Handeln laufend sein Vorwissen rekonstruiert und die Folgen seiner Handlungen hypothetisch vorwegnimmt, um aus dem Scheitern wie aus dem Erfolg zu lernen.

Das Familienprojekt und die Erfahrungen des Kindes

[054:433] Die Kritiker der Familie setzen nun an diesem Punkt an und bestreiten, daß die Familie individuell erarbeitete Erfahrungen erlaubt. Dieses aber ist aus der Sicht der Kognitionspsychologie unvermeidbar; so unterscheiden Inhelder und Matalon (1967) zwischen
»experimentation«
und
»socialization«
. Die Frage lautet dann eher, ob das Kind mit seinen Erfahrungen die innerfamiliale Kommunikation beeinflussen kann, die wiederum selbst von außen durch die Zeitpläne der Erwachsenen und durch die organisierte Freizeit (Fernsehen) interpunktiert wird.
[054:434] Genau dann, wenn das Kind selbständig wird, wird es distanzlos hereingenommen in die
»Projekte«
der Eltern. Der Prozeß der Statuszuweisung spiegelt sich in den Bildungsplänen der Eltern wider, sie führen ihm die Welt nun so vor, daß es zur Konkurrenz bereit wird und interessante Erfahrungen zu leugnen lernt (Schule versus peer-group).
|A 134|
[054:435]
»Mr. Chapman told all this with spirit. He is now the overseas representative for his firm, and all his three children went to college or university. When they flagged, he knew how to drive them – though his parental energies circled mostly around the only son.
When he was small I used to try and impress on Derek the need for work. I’d point to a man sweeping the road and say, That’s what happens to people who’ve got no ambition and don’t work hard when it’s necessary
«
(Jackson/Marsden 1970, S. 30)
.
[054:436] Das Projekt
»Zukunft«
ist ablesbar einmal an den Eltern selbst; dann aber beginnt das Interpretationsmodell mit seiner klassenspezifischen Semantik zu arbeiten. Dieses besagt nicht, daß die Heranwachsenden diese Interpretationen spiegelbildlich reproduzieren werden, macht aber deutlich, daß für bestimmte Erfahrungsbereiche kein kommunizierbares Material zur Verfügung gestellt wird, so daß die Heranwachsenden ihre Entdeckungen über sich selbst, ihre Eltern, gesellschaftliche Ungleichheit, über Fremdkulturen (Juden), über Sexualität auf rigiderem Niveau verarbeiten müssen.
[054:437] Zugleich aber werden die Kinder reziprok zu den erlebten Enttäuschungen und Leiden der Eltern in risikoreiche Beziehungsmuster hereingenommen: aus der städtischen Kleinfamilie können sie nicht einmal mehr räumlich entweichen, geschweige denn, daß sie im Risikofall Koalitionspartner finden.
»Meiner Erfahrung nach ist die Achtung vor der Zeit, die der andere braucht, um eine Beziehung zu assimilieren, äußerst selten. ... In der Praxis ähnelt das Aufziehen eines Kindes eher dem Abbau der Persönlichkeit«
(Cooper 1972, S. 15, S. 12)
.
[054:438] Daß Familie der Reproduktion von Herrschaft dient, was sich in der Reproduktion der Chancenungleichheit (Jenck 1973) und biographisch in dem Zuschreiben vorgeformter Geschlechts- und Generationsrollen mit ihren subtilen Verschränkungen von Wissen, Motiven, expressiven Äußerungen und Zukunftserwartungen manifestiert, bedeutet natürlich nicht, daß Familie im Zuge sozialen Wandels, von dem sie selbst massiv berührt wird, keine unwahrscheinlichen Biographien ermöglicht. Ja, gerade dies sei eine Leistung der Familie, sagen die anderen, weil gemessen an den Durchsetzungsregeln anderer Institutionen – Schule, Betrieb, Militär – die kulturelle Transmission in der Familie, die jeweils neu gegründet wird,
»gebrochen«
wird. Der private Raum – Negt/Kluge sprechen im Hinblick auf Erziehung von
»vorgesellschaftlichem Raum«
(1973, S. 49)
– gestattet zwar dem einzelnen kein Nicht-Kommunizieren, aber die informellen Gesellungsformen (Tischgespräche), das Kindersubsystem mit |A 135|seinen oft unkontrollierten leiblichen und spielerischen Äußerungen und die spezifischen Loyalitäten zwischen Verwandten gewähren Toleranzen für privates Wissen (was potentiell generalisierungsfähig ist), für Sichgehen-Lassen, Aus-der-Rolle-Fallen und das Kommunizieren öffentlich nicht lizensierter Meinungen und Erfahrungen. Die Kehrseite dieses Faktums liegt auf der Hand. Wenn die materielle Basis elendig ist, wenn Solidarität und Sympathie zusammenbrechen und traditionale Rollen keine Antwort mehr geben, dann kann die Kleinfamilie zu einem handfesten (Kindesmißhandlung) oder subtilen Gefängnis werden, in dem die Insassen auf der Suche nach dem Sündenbock diesen eher innen wie außen, eher in den Schwachen als in den Starken suchen und finden. Es gehört zu den Verdiensten der Schizophrenieforschung, gezeigt zu haben, daß pathogene Biographien oft Resultat intelligenter Anpassung an eine unmögliche Welt darstellen (Laing 1975). Auch diese Untersuchungen zeigen, daß kognitive Prozesse indirekt durch die Interaktionsprozesse beeinflußt werden.
[054:439] Konzediert man raschen sozialen Wandel und gibt auch zu, daß für die Erwachsenen im Ehe-Subsystem unter diesen Bedingungen in einer kurzen Zeitphase ihres Lebens gleichzeitig die Lösung vielfältiger Probleme verlangt wird – Ausbalancieren der außerfamiliären professionellen wie privaten Beziehungen mit den innerfamiliären Beziehungen, Ablösung von der Herkunftsfamilie, Interpretation der gewandelten Rolle der Frau, Sicherung und Entfaltung seiner Individualität und seiner kulturellen Imagines, Übernahme der Erzieherrolle –, so kann es nicht verwundern, daß hier alle Voraussetzungen für ein konfliktuöses Zusammenleben gegeben sind. Uns interessiert aber hier, daß die leiblich-symbolischen Beziehungen und die Dialoge im Ehe-Subsystem zugleich ein bedeutsames Lern- und Sprachmodell für das Kind sind. Gerade hier erlernt es das Ineinander von Handlung, Deutung, Bewertung, Diskreditierung und das Gefangensein in Kommunikationsmustern, aus denen die Betroffenen oft gerade deshalb so schlecht herauskommen, weil sie schon bei Beginn den Verlauf antizipieren können, aber nicht aus der Familie ausweichen können.
[054:440]
Ehepaar; Mann: Student, verfügt über Geld von zu Hause; Kind im zweiten Lebensjahr; Frau hat ihren Beruf vorübergehend aufgegeben. Ausgangsthema – Er hat sich ein sehr teures Buch gekauft (kulturelles Image – so bin ich)
Frau:  
Mein Mann ist sehr eigen mit seinen Büchern!
Interviewer:  
Wieso, gehören die ihm?
|A 136|
Frau:  
Ja, sicher – sind mit seinem Geld gekauft!
Mann:  
O wei!
Interviewer:  
Wo legen wir das jetzt hin?
Mann:  
Auf den Boden am besten. Wir haben noch kein Lesepult, das werden wir uns bald kaufen, ja, eben für X.
Interviewer:  
Ja?
Mann:  
Ich find das eben eine unheimlich dekadente Situation, so ein Lesepult, da steht ein Buch drauf, das jeden Tag eine Seite umgeschlagen wird. Ich denk halt nur.
Frau:  
Natürlich, ich hab’ mein Taschen ..., ich hab doch mein ...
Mann:  
Du hast überhaupt kein Taschengeld!
Frau:  
Nein, ich hab nicht, ich kann mit dem Geld machen, was ich will!
Mann:  
Eben!
[054:441] ... [054:442]
Frau:  
Wir streiten hauptsächlich.
Mann:  
Das sind deine Formulierungen ...
Frau:  
Das hast du wortwörtlich zu mir gesagt.
Mann:  
Nie im Leben!
Frau:  
Ich wäre der Nutznießer hier. Ich könnt ja auch mal was dafür tun, hast du mir dann gesagt.
Mann:  
Ja, das hab ich aber nicht gemeint wegen des Geldes, sondern da ist vorausgegangen, daß es mich einfach langweilt, nicht profitieren zu können von unserer Beziehung. Ernsthaft, das kannst du mir glauben, daß ich nicht daran interessiert bin, daß du arbeiten gehst oder so irgend etwas, sondern daß mich daran nur interessiert ...
Frau:  
Die Interpretation hast nicht du jedenfalls mitgeliefert, wenn du denkst.
Mann:  
Wenn ich wütend war, wahrscheinlich nicht ...
Frau:  
Also!
Mann:  
Aber wenn wir vernünftig miteinander geredet haben, dann hab ich das immer sehr klar und deutlich gemeint, jedenfalls denk ich das ...
Frau:  
Vielleicht in deinen Gedanken, ich kann deine Gedanken doch nicht lesen ...
Interviewer:  
Ja, aber wie meinst du das, mit dem profitieren?
Mann:  
Ich mein das einfach so, daß, wenn ich mit jemandem zusammenlebe, dann will ich von dessen Ideen was haben, dann will ich von dessen Arbeit was haben, daß er interessiert ist, was ich tue, wie ich selber interessiert bin, was er tut. Es gibt viele Dinge, die den anderen interessieren können und die er nicht tun braucht und so. Der sollte auch ’n paar Gedanken entwickeln oder so Sachen. Das muß ’n dynamisches Verhältnis sein ..., ich bin nicht jemand ..., natürlich, ich mein, das ist so, da gibt’s schon Schwierigkeiten, die Überlegungen, die uns dazu geführt haben, daß wir uns trennen wollen, sind wahrscheinlich die, daß wir miteinander nicht auskommen, weil, wenigstens kann ich das für mich sagen, weil ich, eh, doch, weil ich unheimlich viel dazu beigetragen habe, sie zu unterdrücken, ja?
Frau:  
Das sagst du?
Mann:  
daß ich, ja, denk ich, ich weiß nicht, ob sie sich unterdückt fühlt, ich nehme schon an.
|A 137|
Frau:  
Ja, das hab ich nun wirklich oft genug gesagt.
Mann:  
Ja, das weiß ich doch auch.
Frau:  
Die eigenen Ideen, die ich bringe, die hast du ja ... (bedauerndes Lachen)
Mann:  
Das ist eben die Schwierigkeit bei mir persönlich jetzt, daß ich ’ne emanzipierte Frau haben will, aber alles verhindere, daß sich meine Frau emanzipiert.
[054:443] Dies ist sicher nur eine Variante alltäglicher Dialoge in jungen Mittelschicht-Familien unter ähnlichen Lebensbedingungen. Dialoge und Auseinandersetzungen im Ehe-Subsystem sind zugleich Modelle für die Heranwachsenden; seine Geschlechtsrolle erlernen bedeutet eben, diese in Relation zu anderen in wechselnden Szenen mit wechselnden Themen leiblich, symbolisch und sprachlich von außen, von innen als Koalitionspartner und später in verinnerlichten Handlungen mit- und nachzuvollziehen. Rund um diese Rollenmuster gruppieren sich Aufgaben, Zukunftserwartungen, Bilder und Motive, die Lernprozesse nachhaltig zu beeinflussen vermögen.

Familiales und schulisches Lernen

[054:444] Es will wie ein Widerspruch aussehen, daß ein Resultat jener Umwälzungen, die die große Industrie, den Weltmarkt und die Universalisierung der Weltbilder hervorgebracht haben, auch die Sozialform
»Kleinfamilie«
ist, in der für die Heranwachsenden folgenreiche Bildungsprozesse ablaufen. Es will wenig einleuchten, daß so die Heranwachsenden
»kognitiv«
auf jene Welt vorbereitet werden, zu deren Interpretation, technischer Beherrschung und politisch bewußter Veränderung alle
»Raum-Zeit-Horizonte«
der lebendigen Subjekte gesprengt werden müssen. Allerdings kann man seinen eigenen Leib und seine biographische Zeit nur symbolisch verlassen. Die Lebensmöglichkeiten, die einen das Denken kontrafaktisch simulieren läßt, sind schon deshalb nicht realisierbar, weil man leiblich nur an einem Ort zur gleichen Zeit sein kann. Nur nacheinander können wir, was das Denken gleichzeitig abbilden kann, den Ort, die Tätigkeit und die Bezugspersonen wechseln; aber tun wir dies, so schließen wir abermals andere Lebensmöglichkeiten aus. Es scheint auf der Hand zu liegen, daß die Familie die Differenz zwischen individueller und familienzentrierter Erfahrung und gesellschaftlichem Wissen nicht zu überbrücken vermag. Das edukative System – Vorschule, Schule, Lehre, Fortbildung – demonstriert diesen Sachverhalt, so daß man meinen könnte, unsere Thematik in |A 138|der Problemstellung
»Elternhaus und Schulerfolg«
aufgehen lassen zu können. Das wäre aber aus vielen Gründen voreilig. Kognitive Entwicklung und Individuierungsprozesse in der Familie, in der peer-group, in der Nachbarschaft lassen sich nicht in ein Kontinuum mit institutionellen Lehr/Lernprozessen eintragen. Das Lernen im System
»Schule«
bedeutet immer einen Bruch mit der Lernvorgeschichte, mag dieser auch für jene Kinder weniger wahrnehmbar sein, deren
»Familienprojekt«
die Schule schon immer einschloß. Darüber hinaus wird das System Schule durch Menschen realisiert, deren nicht-leistungsspezifische Standards außerhalb der Schule erworben und in die Schule hineingetragen werden, und daß diese eher der Mittelschicht-Kultur entlehnt sind, kann als gesichert gelten. Schule aber soll diejenigen Loyalitäten und Qualifikationen produzieren, die im System Arbeit und Herrschaft gebraucht werden. Es ist wiederum zweifelhaft, daß sich dieser Sachverhalt nahtlos in die Lerngeschichte von Mittelschichtkindern sollte eintragen lassen. Bruner erinnert hier an eine Problemstellung, die sich mit dem Begriffspaar
»Spezialisierung – Universalisierung«
andeuten läßt:
[054:445]
»Wir stellen erstens fest, daß in einer Gesellschaft, deren Technologie und Arbeitsteilung komplexe Züge einführt, zwei tiefgehende Veränderungen notwendigerweise auftreten müssen. Als erstes beginnen das Wissen und die Fertigkeiten der betreffenden Kultur das Maß zu überschreiten, das ein einzelnes Individuum beherrschen kann. Daraus ergibt sich fast unausweichlich eine scharfe Trennung der Welten des Kindes und der Erwachsenen. ... Es entwickelt sich daher in zunehmendem Maße eine neue und einigermaßen effektive Technik der Belehrung, die stark auf dem verbalen Erklären basiert und sich außerhalb des Handlungsrahmens vollzieht. Die Schule wird natürlich zum primären Instrument dieser neuen Technik. Sie bleibt aber bei weitem nicht die einzige. Auch die Eltern fangen an, mehr zu erklären, wiederum außerhalb des Handlungsrahmens, denn es gibt immer weniger Bereiche, in denen ein Lernen in situ praktiziert werden kann«
(Bruner u. a. 1972, S. 90)
.
[054:446] Diese Darstellung macht auf ein eigentümliches Dilemma aufmerksam. Wir halten fest, daß die Kinder in die verallgemeinerten Interpretationsweisen und Weltmodelle ihrer Herkunftsgruppe eingelebt werden; sie erwerben dort ein Wissen von Gesellschaft, das genauso Gegenstand reflexiver Thematisierung werden kann. Wir sehen aber zugleich, daß unter gar keinen Umständen sich ein Individuum das
»Ganze«
gesellschaftlichen Wissens anzueignen vermag. Die Schule macht also gleichsam das gezielt, was nicht zu verhindern wäre, nämlich die Heran|A 139|wachsenden in Technologien und verbales Wissen einzuweisen, das nur teilweise reflexiv eingeholt werden kann. Wissenschaftliches Denken, darauf hat schon Wygotsky aufmerksam gemacht, ist durch einen flexibleren Gebrauch der Alltagssprache allein nicht aufzubauen, die Kinder müssen von oben in neue Haltungen eingeführt werden, die sie erst am Ende ihrer Bildungslaufbahn auch kritisch hinterfragen können. Oevermann (1974) hat noch einmal versucht, diesen Gesichtspunkt deutlich herauszuarbeiten: Ein Aspekt der kompensatorischen Spracherziehung ist es eben auch, den Anschluß an diese affektiv neutralen und universalistischen Deutungsmuster herzustellen. Bruner unterstellt ja, daß dieser nicht-situative Gebrauch der Sprache, der der rationalen Nachkonstruktion von Sachverhalten dient, die wir ebenfalls nur noch in symbolischer Form geliefert bekommen, schon in der Familie beginnt. Genau diesen Aspekt arbeiten auch die Studien zur familiären Didaktik heraus (Hess/Shipman, in Frost 1968), und es konnte gezeigt werden, daß Mittelschichteltern in künstlichen Situationen es besser verstehen, ihre Kinder so zu instruieren, daß sie die Aufgabe erledigen konnten; die Studien Labovs (1970) widersprechen dem nicht, sie zeigen aber, daß die Heranwachsenden der Unterschicht souverän über die Sprache verfügen können, wenn es gilt, ihre situativen Probleme angemessen zu verbalisieren. Das Problem liegt aber darin, dieses kognitive Engagement auch in Situationen zu zeigen, die nur symbolisch aufbereitet sind und erst von einem verallgemeinerten Standpunkt aus auch als bedeutsam für mich durchschaubar werden. Aber das logisch-systematische Wissen, in dem
»meine Welt«
verfremdet wird, das von mir sogar verlangt, semantisch leere Sprachen zu sprechen (Mathematik), steht quer zu dem Wissen von meiner Alltagswelt, der ich aber nicht ausweichen kann. Taucht diese aber gar nicht mehr im Geschäft schulischen Lernens auf, dann ist jene Sprache auch nicht mehr universalistisch für mich, weil diese Sprache mein Wissen nicht mehr enthält. Das Konzept der universalistischen Sprache ist also zweideutig. Kann ich nämlich in ihr nicht mehr mein Wissen entdecken, dann ist sie nur ein partikularistisches Sprachspiel.
[054:447]
»Die Verallgemeinerung bedeutet nach dieser Theorie also nicht eine Vertiefung und Bereicherung, sondern eine Verarmung unseres Wissens: Jede Verallgemeinerung, die spezifische Eigenschaften der Dinge unberücksichtigt läßt, die von ihnen abstrahiert, führt zum Verlust eines Teils unseres Wissens von den Dingen und damit zu immer dürreren Abstraktionen. Das völlig unbestimmte Etwas, zu dem |A 140|schließlich eine solche Verallgemeinerung durch Abstraktion von den besonderen, einmaligen Merkmalen führt, wäre nach einem treffenden Wort Hegels gleich dem Nichts als völlige Inhaltslosigkeit«
(Rubinstein 1971, S. 449)
.
[054:448] Stiftet familiales und subkulturelles Lernen immer schon sinnvolle Themen – man lernt in Situationen die Bewältigung oder auch Nichtbewältigung anstehender und damit auch zukünftiger Situationen –, so erzwingt schulisches Lernen, insofern es wissenschaftliche Qualifikationen anzustreben versucht, eine Lernperspektive, in der sich der Sinn vieler Probleme und Konzepte erst dann rekonstruieren läßt, wenn ich auch das logische System beherrsche, in dem sich die Begriffe wechselseitig erläutern, und wenn ich dann in der Diskussion sehe, daß ich in Auseinandersetzung mit anderen durch diese expliziten Darstellungen das Verstehen fördern kann. Die Schule setzt also vorübergehend die Alltagssprache außer Kraft, aber doch in dem Sinne, damit ich später gerade mein Alltagshandeln durch wissenschaftliche Deutungsmuster hindurch besser verstehen kann.
[054:449] Wir wollen festhalten, daß Familie in vielerlei sozialen Einbettungen lebt: Klassenlage, religiöse Subkulturen, ethnische Traditionen, Urbanität und Massenmedien. Der Heranwachsende wird also nicht in
»eine Welt«
eingelebt; zugleich erwirbt er soziozentrisches, aber dennoch verallgemeinertes Wissen, das nicht nach dem Muster schulischer Unterweisung angeeignet wird. Dieser Punkt ist deshalb wichtig, weil die psychologischen Lernparadigmen den Aufbau höherer mentaler Prozesse überhaupt nur noch nach der Logik schulischer Unterweisungsprozesse plausibel machen können (Bloom 1971; Galperin 1969). Dieser Sachverhalt zeigt sich z. B. in der Hilflosigkeit vieler pädagogischer Psychologen, mit Piagets Entwicklungspsychologie etwas anfangen zu können, in der nicht die Lehrenden, sondern die lernenden Subjekte als der aktive Faktor im Lernprozeß angesehen werden. Pädagogische Projekte und ihre Lehrerfolge werden nämlich plötzlich kritisierbar als Projekte, die
»in the long run«
eher zum Stillstellen motivierten Lernens führen. Wir haben gesehen, daß die Kinder bei Schulanfang an jener Schwelle stehen, ihre egozentrischen Muster der Weltauffassung in der Zusammenarbeit mit ihren Eltern und im Spiel mit ihren gleichaltrigen Freunden in soziozentrische Deutungsmuster einzuspielen; diese aber entwickeln die Kinder in Handlungssituationen, wo Gegenstände, Personen und Themen den Zusammenhang klarmachen.
|A 141|
[054:450] Was bedeutet es nun eigentlich, wenn Kinder in der Schule weniger gut von den schulischen Unterweisungsprozessen profitieren können? Für uns ist die Frage deshalb bedeutsam, weil kein Zweifel daran besteht, daß mindestens dann, wenn der Jugendliche die Grundqualifikationen wissenschaftlichen Handelns sich angeeignet hat, er die Auseinandersetzung mit den wissenden Erwachsenen braucht, um sich in immer speziellere Deutungsmuster einarbeiten zu können. Piaget (1972) hat auch noch einmal daran erinnert, daß das hypothetisch-deduktive Denken nun keineswegs in allen Gegenstandsbereichen den Jugendlichen und Erwachsenen zur Verfügung steht. Aber nur der Schulerfolg sichert gleichsam, daß man im Bildungsgeschäft drinbleibt. Die Schule eröffnet aber den Lehr/Lernprozeß so, daß eigentlich vom ersten Tage an die Kinder Wissen nur noch durch das Nadelöhr der verbalen Kommunikation und bald durch die Schriftsprache hindurch sich aneignen können. Wenn Piaget und Wygotsky aber beide zu dem Schluß kommen, daß erst die Jugendlichen in der Lage sind, das Wissen in begrifflich systematischer Art zu gebrauchen und es zu hinterfragen vermögen, so meinen sie auch, daß die jüngeren Kinder auf Anschauung, Handlung und die Möglichkeit der Kommunikation mittels vieler nicht-sprachlicher Medien angewiesen sind: Modelle, Bilder, Filme, Karten, Pläne, Zeichnungen. In vielen Lernprozessen braucht Sprache eigentlich nur didaktisch in Anspruch genommen zu werden. Lorenzen (1969) behauptet die Hintergehbarkeit der Sprache in der Mathematik, und auch Wygotsky weist darauf hin, daß er zwar das sprachliche Denken untersuche, dieses aber sei im Werkzeugdenken, in der Mathematik, wo andere Zeichen als Worte Bedeutungsträger sind, von geringerer Bedeutung, was wohl erst dann nicht mehr gilt, wenn auch hier die Stufe der Hinterfragbarkeit begrifflicher Systeme erreicht ist.
[054:451] Stilisierte Unterweisungen können nun durchaus dazu führen, daß sich die Kinder die Sprechschemata aneignen, die äußerlich den epistemischen Deutungsmustern der Erwachsenen gleichen, freilich sind sie
»Pseudobegriffe«
, die beim Einsatz in neuen Problemsituationen nicht-reflexive Schemata sind. Immer dann aber, wenn in der Schule Ereignisse, Sachverhalte und Probleme des Alltags thematisiert werden und eine mehr narrative Sprache gebraucht wird, dann benutzen die Lehrer natürlich ihre soziogenetischen Deutungsmuster als impliziten Maßstab und bewerten eher jene Einfälle und Ideen als vernünftig, die ihre eigene Vernünftigkeit konstituieren. Die Rede von den soziolinguisti|A 142|schen Kodes hat ja nur wirklich dann einen soziologischen Kern, wenn wir unterstellen müssen, daß dieses gleichsam unvermeidbar ist. Die Schüler aber können eben noch nicht argumentativ sich und den Lehrer zur Explikation seiner und ihrer geheimen Deutungsmuster bringen. Stimmt diese These, daß es erst im Jugendalter gelingt, das symbolische und sprachlogisch ausgeformte Wissen systematisch zu hinterfragen, dann gilt auch, daß die Schüler formales schulisches Wissen eher als Schemata (Orientierungsmodell), die durch dauernde Übung gestützt werden, aufrechterhalten und daß dieses Wissen für jene Schüler weniger verbalistisch ist, die von den intimen Andeutungen profitieren können, die die Lehrer umgangssprachlich äußern. Allerdings können wir unterstellen, daß die Mittelschichtfamilie nur deshalb bei ihren Kindern mit weniger Schulversagen rechnen muß, weil Schule zu ihrem Lebensprojekt gehört; sie gibt selber Nachhilfe oder kauft diese für ihre Kinder. Das alles wäre gar nicht schlimm, wenn nicht jetzt schon das Ausscheiden aus der Bildungslaufbahn programmiert wird, in einer Zeit also, wo der Heranwachsende noch gar nicht weiß, was er weiß.
[054:452] Die Kehrseite dieser Medaille ist ja, daß angesichts des immer höheren Drucks schon auf die Grundschule, die Kinder immer früher in semi-epistemische Sprachspiele einzuweisen, nicht mehr gesehen wird, daß die Heranwachsenden sehr wohl in der Familie, in der peer-group weiterlernen und ebenfalls Formen verallgemeinerten Wissens aufbauen, in denen Bewertungsmuster entstehen können, die schulisches Lernen für die Heranwachsenden immer unbedeutender machen. Es wird nicht gesehen, daß die Heranwachsenden Zeit und freilich auch Unterstützung bräuchten, ihr außerschulisches, außersprachliches Wissen, ihre intuitiven Schlußfolgerungen und spezifischen Themen in öffentliche Sprache zu übersetzen – möglicherweise über Umwege des Spiels, des klinischen Gesprächs, des Dramatisierens, Schließlich haben auch jene Schüler, die der schulischen Unterweisung weniger gut folgen können, sechs Jahre gelebt, gehandelt, gespielt, gebaut und dabei Entdeckungen gemacht, die Ausgangspunkt für Lernen sein können. Schule aber schreibt einen Lernweg für alle nach einem Zeitplan vor, obwohl wir sicher sein können, daß sehr heterogene Lernwege, wären sie möglich,
»in the long run«
zu den gleichen Endresultaten führen könnten (Watzlawicks Theorem von der Äquifinalität), Lernwege, in denen auch der Sprache die Bedeutung nicht zukäme, die ihr gegenwärtig zugesprochen wird; das ist eben auch ein Kennzeichen unserer |A 143|
»Intelligenzforschung«
, daß sie zwar Rechenfertigkeit und Wortschätze messen kann, von den Sprachen der Kunst aber nichts weiß. Ironischerweise haben wir aber aus kontrollierten Vorschulprogrammen die Gewißheit, daß sehr heterogene Programme mit sehr unterschiedlichen Zielen zu gleichen Fortschritten in den Bereichen der gemessenen Intelligenz geführt haben; ob es sich wirklich um Fortschritte handelt, die noch Folgen in der Schullaufbahn zeigen werden, das kann allerdings bezweifelt werden (Iben 1971, S. 91; Gray/Klaus 1968).
»Die der Psychologie seit Georg Simmel und Freud vertraute Einsicht, daß die Bündigkeit der Erfahrung von Gegenständen, wofern diese selber, wie die Gesellschaft, wesentlich subjektiv vermittelt sind, mit dem Maß des subjektiven Anteils der Erkennenden steigt und nicht fällt, haben Sozialwissenschaftler sich noch nicht einverleibt«
(Adorno 1955, S. 521)
. Dies ist ein Hinweis dafür, daß
»Privatheit, Subjektivität«
ihre Rolle spielen im Durchbrechen der
»opinio communis«
und der mechanischen Parteilichkeit. Dieser Angriff also auf die Familie, wie ihn Milhoffer führt (1973), trifft nicht, treffen würde jener, daß sie
»Privatheit«
nicht mehr zuläßt (Cooper). Die universalistischen gesellschaftlichen Wissensformen verlangen aber, sollen sie dem Subjekt nicht äußerlich bleiben wie Technologien, daß sie im Lernprozeß von unten, in den ich meine Alltagserfahrungen und dialogischen Haltungen einbringe, bedeutungsvoll für mich werden.
[054:453] Familie ist Mittelpunkt jener Räume, Handlungen und der gelebten Zeit der Heranwachsenden. Die Muster des Verstehens, Deutens, der Zuwendung und Abkehr, der Erzählung, der Isolierung sind zutiefst eingespielte
»Pläne«
und
»Bilder«
, die leibliche und bildliche Bewegungen in mir hervorrufen; in diesen liegt eine bedeutsame und geordnete Welt. Die Tätigkeiten, Erlebnisse, Plaudereien, Angriffe und Debatten mit den Familienmitgliedern, Nachbarn und den Gleichaltrigen, in denen ich der geworden bin, der ich bin, wirken selektiv auf die Beziehungen ein, die ich in Zukunft eingehen werde, und wirken selektiv ein auf die Themen, in denen ich meine Probleme widergespiegelt sehe. Die schulische Sprache, die ich mitspreche, ist nur die Spitze eines Eisberges; dahinter liegen die Zweifel, die ich aus den Debatten mit
»intimen anderen«
kenne, liegen meine Selbstgespräche und die halböffentlichen Schlußfolgerungen, die ich auch aus dem Umgang mit Kindern gewinne, die mein sicheres Wissen erneut durch Fragen attackieren.
|A 144|

5. Kapitel Die gesellschaftliche Bestimmtheit der familialen Interaktion

Theoretische Vorüberlegungen

1. Schwierigkeiten der Problemstellung

[054:454] Eine Einführung in die Probleme der Familienerziehung kann ihren Gegenstand, wie wir gesehen haben, unter mehreren Perspektiven betrachten. Wir haben bis jetzt zwei dieser Perspektiven näher behandelt: Kommunikation und Kognition. Wir haben untersucht, auf welche Art und Weise innerhalb einer Familie deren Mitglieder zueinander Beziehungen aufnehmen, stabilisieren und verändern, wie zumal die Kinder unter solchen Bedingungen Erfahrungen mit der
»Welt«
, mit sich und mit anderen machen, welche kognitiven Prozesse das Zusammenleben der Familie ermöglichen und vor allem, wie es die sprachlichen und nichtsprachlichen Beziehungsweisen in der Familie den in ihr aufwachsenden Kindern ermöglichen, ihre Umwelt begrifflich zu bewältigen, ihre Erfahrungen zu klassifizieren, ihren intellektuellen Apparat so zu entwickeln, daß ihre Realität sachlich, zeitlich und sozial wohlgegliederte Konturen enthält. Der Logik dieser Darstellung zufolge wäre nunmehr das Verhältnis der Familie zu der sie bedingenden und hervorbringenden Gesellschaft zu betrachten. Es ginge also um die Frage, welche Sozialstrukturen welche Familienstrukturen
»produzieren«
. Die Antwort auf diese Frage hat für die Erziehungswissenschaft folgende Bedeutung: Sie könnte einen Hinweis darauf geben, ob und wieweit pädagogische Interventionen überhaupt erfolgversprechend sein können, unter der Bedingung, daß die sozialstrukturellen Bedingungen familialer Sozialisation konstant bleiben. Sie könnte weiterhin, unter der Bedingung, daß trotz konstant gehaltener sozialstruktureller Merkmale verändernde Erziehung möglich erscheint, genauer angeben, unter welchen sozialen Verhältnissen welche pädagogischen Praktiken zur Erreichung eines gegebenen Erziehungszieles angemessen sind. Tatsächlich aber müssen wir feststellen, daß weder die erste noch die zweite Frage hinreichend geklärt ist, zumal nicht unter dem speziellen Gesichtspunkt von Familienerziehung. Die |A 145|Diskussion um die kompensatorische Erziehung hat zwar diesen Gesichtspunkt mit einbezogen und auch theoretisch berücksichtigt, in der Praxis bleibt aber der Hauptadressat aller Anstrengungen das schulische Lernfeld.
[054:455] Sozialisationsforschung, wie sie heute vorliegt, verspricht eine Antwort auf diese Frage. Sie ist indessen vornehmlich soziologisch orientiert, d. h. daß ihre Grundbegriffe und Kategorien vor allem auf das Erfassen überindividueller Entitäten wie Gesellschaften, Wirtschaftssysteme, Klassen usw. ausgerichtet sind. Die Wahl dieser Begriffssysteme ist aber gerade darum von hoher Bedeutung: Sie entscheiden nicht nur über die Angemessenheit pädagogischer Interventionen, sondern mindestens ebenso über politische Strategien. Es ist darum unerläßlich, das im 2. Kapitel angeschnittene Thema noch einmal systematisch aufzunehmen. Die familialen Lebenswelten einer Apothekerfamilie wie die eines Glasarbeiters wurden dort unter besonderer Berücksichtigung der Verarbeitung des Themas
»Arbeitswelt«
in diesen Familien berücksichtigt. Was bei dem Glasarbeiter so offensichtlich sein Leben bestimmt, sein Arbeitsplatz, ist ihm auch in seinem Bewußtsein gegenwärtig – anders die Apotheker-Familie: die Relevanz der materiellen Bedingungen ihrer Existenz bleibt ihr verschlossen.
[054:456] Wir wollen im folgenden den Versuch unternehmen, anhand des von Marx geprägten Begriffes der
»Verkehrsform«
dieses Problem sowohl etwas systematischer zu behandeln als auch die soziologisch ausgerichtete Sozialisationsforschung dort zu kritisieren, wo sie unseres Erachtens das nicht leistet, was sie für pädagogisch-politische Belange zu leisten behauptet. Zu diesem Zweck werden einige längere Exkurse in normalerweise als soziologisch angesehenen Argumentationsweisen unerläßlich sein. Das Argumentationsmuster der heutigen Sozialisationsforschung besteht in der Regel aus einem Dreischritt: Wir müssen Kenntnisse über drei soziologische Beziehungen besitzen, derart, daß die abhängige Variable hier zur unabhängigen Variable dort wird: Sozialstruktur – Familienstruktur, Familienstruktur – Struktur der Interaktion, Struktur der Interaktion – Charakterstruktur.
[054:457] Den an dieser Stelle noch verwendeten Begriff
»Charakterstruktur«
wollen wir im folgenden durch den Begriff
» Bildungsstruktur«
ersetzen. Wir wollen damit dem Problem Rechnung tragen, daß zwar einerseits die Merkmale des Handelns von Personen ein Ergebnis und Ausdruck intersubjektiver Beziehun|A 146|gen sind, daß aber andererseits sich diese Merkmale nicht von Interaktionsfeld zu Interaktionsfeld verändern. Im Begriff der
»Bildungsstruktur«
soll sowohl die Beständigkeit menschlicher Verhaltensweisen als auch ihre Eigenart, selbst Merkmal von Interaktionsfeldern zu sein, bedeutet sein.
[054:458] Die gleichzeitige Kenntnis aller drei Beziehungen erlaubt uns dann – so stellt es jedenfalls der größte Teil dessen, was heute Sozialisationsforschung heißt, dar – die Lösung des Rätsels, wie Individuum und Gesellschaft zusammenhängen. So kann man etwa in einem heute viel verbreiteten Buch folgendes lesen:
[054:459]
»Die beruflich begründete Verunsicherung kann im Erziehungsverhalten dazu führen, daß der Vater die sexuellen Bestrebungen des Sohnes in der ödipalen Phase als bedrohlich und rivalisierend empfindet und sie stark unterdrückt. Zugleich fordert er vom Kind nachdrücklich, daß es sich mit ihm identifizieren soll, um so eine durch seine berufliche Situation nicht geleistete Selbstbestätigung in der Familie zu erlangen. Diese sexuelle Ansprüche abwehrende und zugleich Identifikation fordernde Einstellung führt zur Entwicklung von feindlichen Regungen auf seiten des Kindes gegenüber dem Vater. Diese feindlichen Regungen unterdrückt das Kind durch Errichtung eines starken Über-Ichs. Daß damit die Grundlagen für neurotische Tendenzen gelegt werden, wie sie in der Mittelschicht im Vergleich zur Unterschicht häufiger festzustellen sind, erscheint einsichtig«
(Gottschalch/Neumann-Schönwetter/Soukup 1971, S. 90)
.
[054:460] Derart zu reden, ist zwar als theoretisch gemeinte Behauptung Unsinn, aber heute in der durch Sozialisationsforschung beeinflußten Literatur nicht selten, besonders dann, wenn sie emanzipatorisch und marxistisch sein will. In einem solchen meist
»Ableitung«
genannten Verfahren werden in der Regel folgende Glieder verwendet:
  1. 1.
    [054:461] eine kurze Darlegung des kapitalistischen Arbeits- und Verwertungsprozesses nach Marx;
  2. 2.
    [054:462] einige Bemerkungen über die allmähliche Auflösung der patriarchalischen Familie im Gefolge der Industrialisierung;
  3. 3.
    [054:463] ein je nach Kenntnis des Verfassers mehr oder minder beliebiges Referat empirischer Arbeiten zur Korrelation zwischen Arbeitsplatz und Erziehungsstil, Schichtzugehörigkeit und Sprachcode, sozialer Lage und psychischer Störung;
  4. 4.
    [054:464] eine (ebenso) mehr oder minder beliebige Auswahl (empirischer) Materialien zur Lebenssituation von Angehörigen verschiedener sozialer Schichten am Arbeitsplatz und zu Hause;
  5. |A 147|
  6. 5.
    [054:465] eine ebenfalls kurze Darlegung einer sozialpsychologischen Theorie (Psychoanalyse, Behaviorismus, Kognitionstheorie, symbolischer Interaktionismus).
[054:466] Das Verfahren der Ableitung besteht nun darin, daß zunächst der Begriff der
»Schicht«
, wie er in den meisten angelsächsischen Untersuchungen vorkommt, dem der
»Klasse«
, wenn auch nicht immer gleichgesetzt, so doch zumindest untergeordnet wird. Damit ist jede Schichtsituation dann auch immer zu einem gewissen Ausmaß
»Klassenlage«
und mithin jedes Ergebnis einer schichtspezifischen Sozialisation das Ergebnis einer klassenspezifischen Sozialisation. Die Ableitung gilt meist dann als hergestellt, wenn es gelingt, die berufsspezifischen Arbeitsplatzprobleme der Eltern als Klassenschicksal zu
»interpretieren«
.
[054:467] Schließlich wird noch eine weitere Hypothese eingeführt, nämlich, daß die materielle Lage der Eltern (d. i. der Dispositionsspielraum über Güter und Lebenschancen) gering, ihre Arbeitsplatzsituation extrem belastend und ihr Verhalten den Kindern gegenüber
»deshalb«
mindestens streng, wenn nicht gar pathogen ist. Lassen sich die beiden Tatsachenbehauptungen in der Hypothese meist noch durch Statistiken stützen, so gilt ihre theoretische Verknüpfung meist dann als plausibel, wenn empirisch nicht immer geprüfte Behauptungen psychoanalytischer oder kommunikationstheoretischer Art aufgestellt sind. Das Verfahren einer solchen Ableitung besteht also zunächst aus einer Uminterpretation (Schichten in Klassen), einer Illustration (einer Aufzählung verschiedenster Korrelationen von schichtspezifischer Situation und ...) und der Behauptung der Gültigkeit einer sozial psychologischen Theorie (z. B. der Psychoanalyse).
[054:468] Das Unbefriedigende und Problematische dieses Ableitungsverfahrens liegt nun keineswegs nur darin, daß es nicht den strengen Kriterien empirischer Hypothesenüberprüfung bzw. logischer Deduktion entspricht. Ob nämlich Gesellschaftstheorien, die ja beanspruchen, Voraussetzungen, Bedingungen und Möglichkeiten des Zusammenlebens von Menschen in einer bestimmten Formation zu erklären und zu verstehen, im gleichen Sinne sinnvoll überprüfbar sind, wie etwa ein bestimmter, experimentell realisierbarer Zusammenhang, ist innerhalb der sozialwissenschaftlichen Grundlagendiskussion durchaus nicht eindeutig entschieden. Gewiß aber ist, daß wenn (und dies ist bei allen derartigen
»Ableitungen«
beansprucht) etwas erklärt werden |A 148|soll, zumindest ein Theorieansatz vorliegen muß, aufgrund dessen die Hypothesen gebildet werden können.
[054:469] Wenn es nun wahr ist, daß entsprechende
»Ableitungen«
wirklich so vorgenommen werden, wie wir das oben geschildert haben, ist eben dies nicht der Fall. Anstelle einer Theorie finden wir nämlich nur eine heuristische Maxime vor: Die Bildungs- bzw. Charakterstruktur soll aus der Sozialstruktur erklärt werden, genauer: Die Handlungs- und Verhaltensweisen der Individuen sollen durch ihre bzw. die Klassenlage ihrer Familien erklärt werden. Es ist unseres Erachtens gerade dem Fehlen einer Theorie zuzurechnen, daß eine Lösung des Problems, wie sie die heuristische Maxime fordert, bis jetzt einzig durch das fragwürdige
»Ableitungsverfahren«
angegangen wird.
[054:470] Irreführend ist zunächst der Name des Verfahrens. Ableitungen finden wir in der Mathematik und in der formalen Logik. Durch eine Ableitung erfahren wir im strengen Sinne des Wortes nichts Neues, wir folgern lediglich aus einer als gültig vorausgesetzten Aussage eine andere. So kann man z. B. aus der Aussage
»Hans ißt Fisch und Fritz ißt Fisch«
mit Hilfe der logischen Regel der Simplifikation ohne weitere Informationen ableiten, daß, wenn
»Hans ißt Fisch und Fritz ißt Fisch«
wahr ist, dann auch
»Hans ißt Fisch«
wahr ist. Sofern man nun nicht dasjenige, was man erklären bzw. beweisen will, daß nämlich die Charakterstruktur der Individuen durch die Sozialstruktur hervorgerufen wird (genauer: ihr Charakter aus ihrer Klassenlage), schon als wahr voraussetzt, kann natürlich von einer Ableitung im strengen Sinne gar keine Rede sein.
[054:471] Wir wollen im folgenden auch nicht den wie auch immer beschaffenen Wahrheitsgehalt des
»Ableitungsverfahrens«
bestreiten, sondern lediglich aufweisen, daß es aufgrund der in ihm konstitutiv verwendeten Verfahren der Uminterpretation, Illustration und Behauptung einen wesentlich schwächeren Erklärungs- und Beweisgehalt aufweist, als es den Zwecken, denen es meist unterstellt wird (Veränderung der Gesellschaft in Richtung auf eine nicht-kapitalistische, sozialistische Gesellschaftsordnung), dienlich sein kann. Der im Ableitungsprogramm vertretene Determinismus weist zwei schwerwiegende Mängel auf: erstens, daß er mit dem vorhandenen theoretischen Rüstzeug wissenschaftlich nicht durchzuhalten ist; zweitens, daß er in dieser Globalität für im engeren Sinne erzieherisches Handeln völlig folgenlos bleibt: Der Ruf nach totaler Umgestaltung aller gesellschaftlichen Verhältnisse mag noch so berechtigt sein – kein Elternpaar, keine Bezugsperson, kein Kursleiter weiß darum besser, wie sie mit Kindern oder Jugendlichen umzugehen haben. Die nun anschließende, exemplarische Kritik an den Hauptverfahren des Ableitungsprogramms ist weder vollständig noch ausgeführt, an ihr sollen lediglich einige Grundbegriffe eingeführt werden.
|A 149|

2. Soziale Schicht und Klasse

[054:472] Es ist nicht zu bestreiten, daß der bei weitem größte Teil aller Untersuchungen, die mit dem Zusammenhang von Sozial- und Bildungsstruktur bzw. familialen Erziehungsstilen, kognitiven Schemata, verbalen Planungsstrategien usw. befaßt sind, über Korrelationen zwischen Schichtzugehörigkeit und Handlungs-, Verhaltens-, oder Charaktermerkmalen berichten (Caesar 1972). Daß es unzulässig ist, von Korrelationen auf Kausalzusammenhänge zu schließen, sei hier nur erwähnt. Eine Feststellung wie die, daß in einem gegebenen Sample (das nicht experimentell realisiert wurde, sondern lediglich deskriptiv erfaßt) 70 % der befragten Unterschichtkinder schlechte Schulnoten, 80 % der befragten Oberschichtkinder hingegen gute Noten haben, besagt zunächst nicht mehr, als daß die Hypothese
»Unterschichtkinder erhalten unter diesen und diesen Umständen schlechte Noten«
bestätigt werden konnte. Oder anders ausgedrückt: Bestätigt wurde einzig, daß die Wahrscheinlichkeit für ein Unterschichtkind, eine schlechtere Note zu erhalten, 70 % beträgt, die Wahrscheinlichkeit für ein Oberschichtkind, hingegen eine gute Note zu erhalten, 80 %. Unterstellen wir einmal, daß hier die soziale Schicht als unabhängige und der Schulerfolg als abhängige Variable theoretisch ausgewiesen seien, so könnte von Kausalität dann die Rede sein, wenn jeweils 100 % der befragten Unterschicht- oder Oberschichtkinder schlechte bzw. gute Noten hätten. Doch abgesehen von dieser Schwierigkeit, die für alle empirischen Untersuchungen besteht, liegt das Hauptproblem des sich auf die Untersuchungen über schichtenspezifische Sozialisation berufenden Ableitungsverfahrens darin, die Begriffe Klasse, Schicht und Subkultur ineinander zu überführen bzw. aufeinander abzubilden.
»Klassen«
und
»Schichten«
sind Begriffe, mit deren Hilfe man die Sozialstruktur einer Gesellschaft beschreiben und erklären kann. Eine
»Klasse«
oder eine
»Schicht«
stellt eine Gruppierung von Menschen dar, denen ein oder mehrere gemeinsame Merkmale zukommen. Die Angabe solcher Gruppierungen in einer Gesellschaft und ihre Beziehungen zueinander beschreiben dann eine Sozialstruktur. Welche Gruppierungen nun als bedeutsam, d. h. welche Merkmale so relevant sind, daß man mit ihrer Hilfe erklären kann, warum sich z. B. politische Systeme verändern, individuelle Lebenschancen verringern, sich bestimmte Umgangsformen zwischen den Menschen einer Gesellschaft herstel|A 150|len, ist eine Frage der zugrundegelegten Theorie und ihrer Angemessenheit. Für unseren Problemkreis heißt dies, herauszufinden, welche Merkmale der Eltern entscheidend sind für den Bildungsprozeß des Kindes. Sind es ihre körperliche Größe, ihre Haarfarbe, ihr Beruf, ihre Religion, ihr Einkommen, ihre Charakterstruktur, ihre Eßgewohnheiten? Unsere Frage ist noch weitergehend: Wie ist das Verhältnis derartiger beobachteter Merkmale zueinander? Sind sie voneinander unabhängig, bedingen sie sich wechselseitig oder kann man sagen, daß dieses Merkmal immer vorhanden sein muß, wenn auch jenes da ist, aber nicht umgekehrt? Hängt das Einkommen eher von der Charakterstruktur ab als die Charakterstruktur vom Einkommen, die Eßgewohnheiten vom Beruf? Welche Merkmalsklassen sind überhaupt relevant für eine Theorie einer Sozialstruktur? Merkmale, die sich auf den Körper der Individuen beziehen; Merkmale, die sich auf den Umgang der Individuen mit ihren Nächsten beziehen; Merkmale, die sich auf die Beziehungen der Individuen zum politischen System beziehen; Merkmale, die sich auf die Beziehungen der Individuen zu ihrer Ausbildung, ihrem Beruf, der ökonomischen Sphäre beziehen? Die meisten Theorien über Sozialstrukturen beziehen sich heute auf solche Merkmalsklassen, die nicht die unmittelbaren Formen des Umgangs der Menschen miteinander beschreiben, sondern die Beziehungen der Individuen zu ihrer Ausbildung, ihrem Arbeitsplatz, ihrem Einkommen, bzw. sie beziehen sich auf die Wertschätzung, die diese Merkmale bei allen anderen Individuen genießen.
[054:473] Wie man bei Theoretikern dieses Problems, z. B. Ossowski (1962) und Lenski (1973) nachlesen kann, hat es in der Geschichte der Gesellschaftstheorie vor allem zwei prinzipiell verschiedene Zugänge zu diesem Problem gegeben. Eine, wie Lenski sagt,
»konservative These und eine radikale Antithese«
; oder nach Ossowski
»ein funktionelles und ein dichotomisches Schema«
(
Lenski 1973, Seite 23 ff.
;
Ossowski 1972, Seite 182 ff.
).
[054:474] In jedem Fall geht es darum, die festgestellte ungleiche Verteilung der oben genannten Merkmale zu beschreiben, zu erklären, zu rechtfertigen oder zu kritisieren. Der Unterschied der Theorien besteht vornehmlich darin, daß in einem Fall die Annahme gemacht wird, diese Ungleichheit sei das Ergebnis einer ungerechtfertigten überflüssigen Unterdrückung und Gewaltherrschaft, im anderen Fall die Annahme, daß sie sinnvoll und not|A 151|wendig sei, wenn Menschen überhaupt miteinander überleben wollen. Als Beispiel ein kurzes Zitat für jede Position:
[054:475]
»Wenn Rechte und Vorrechte der verschiedenen Positionen in einer Gesellschaft ungleich sein müssen, muß die Gesellschaft geschichtet sein; Ungleichheit ist genau das, was mit dem Begriff Schichtung gemeint ist. Soziale Ungleichheit ist somit ein unbewußt entwickeltes Werkzeug, mit dessen Hilfe die Gesellschaft sicherstellt, daß die wichtigsten Positionen von den fähigsten Personen gewissenhaft ausgefüllt werden. Daher muß jede Gesellschaft, ob primitiv oder komplex, das Prestige und die Beurteilung verschiedener Personen unterschiedlich ausfallen lassen und somit ein gewisses Maß institutionalisierter Ungleichheit aufweisen.«
So in einem viel diskutierten Aufsatz zweier amerikanischer funktionalistischer Soziologen (
Davis/Moore 1967, in Hartmann 1967, S. 396 ff.
).
[054:476]
»Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen. Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Geselle, kurz Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen«
(Marx, MEW Bd. 4, 1969, S. 462)
.
[054:477] Man mag zwar einwenden, daß sich die beiden Betrachtungsweisen nicht widersprechen, sondern nur zwei verschiedene Aspekte desselben Problems thematisieren. Es fällt aber auf, daß jene Gesellschaftstheorien, denen es um Herrschaft und deren Aufhebung geht, im allgemeinen von einem dichotomischen, d. h. zweigeteilten Gesellschaftsbild ausgehen. Das gesellschaftliche Leben wird als Herrschaftsverhältnis begriffen, die relevanten Gruppierungen sind Herrscher und Beherrschte, mit Eigenschaften, die ihre Verfügungsgewalt über Macht, Ansehen und Reichtum betreffen. Was immer die Mitglieder der Gruppierung der Herrscher besitzen, geht den Beherrschten ab. Anders der konservative, funktionelle Ansatz: Verschiedene Gruppierungen (Schichten) nehmen innerhalb eines komplexen gesellschaftlichen Ganzen je spezifische Aufgaben und Funktionen wahr, die den Bestand des gesellschaftlichen Systems gewährleisten. In diesem Modell wird das Mehr der einen Schicht an Gütern, Macht oder Ansehen auch immer durch ein Mehr an Verantwortung und Arbeit kompensiert, stellt die Bevorzugung der einen sich auch immer als Entlastung der anderen dar. Die unterstellte Komplexität macht es in diesem Modell unmöglich, eine einfache Nullsummenrechnung aufzumachen, wie innerhalb des dichotomischen Schemas. (Es ist allerdings keineswegs so, daß alle jene |A 152|soziologischen Theorien, die Herrschaft kritisieren, ein dichotomisches Schema sozialer Schichtung vertreten, noch daß alle Theorien, die Ungleichheit für notwendig und sinnvoll erachten, einen komplexen Schichtungsansatz vertreten.)
[054:478] Eines zumindest sollte nun klar sein: Die Wahl eines theoretischen Modells (die ihrerseits wieder interessengeleitet sein kann) läßt ihren Forschungsgegenstand nicht unberührt. Ob man die Zugehörigkeit zu einer Schicht oder aber die Zugehörigkeit zu einer Klasse mißt, ist nicht das Gleiche – die Ausdrücke
»Klasse«
und
»Schicht«
beziehen sich nicht auf den gleichen Gegenstand. In einer von Friedrich Engels verfaßten Erläuterung zur Überschrift des ersten Abschnittes des Kommunistischen Manifestes
»Bourgeois und Proletarier«
heißt es in aller Deutlichkeit:
[054:479]
»Unter Bourgeoisie wird die Klasse der modernen Kapitalisten verstanden, die Besitzer der gesellschaftlichen Produktionsmittel sind und Lohnarbeit ausnutzen. Unter Proletariat die Klasse der modernen Lohnarbeiter, die, da sie keine eigenen Produktionsmittel besitzen, darauf angewiesen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um leben zu können«
(MEW Bd. 4, 1969, S. 462)
.
[054:480] Und an späterer Stelle heißt es im Manifest eindeutig:
»Unsere Epoche, die Epoche der Bourgeoisie, zeichnet sich jedoch dadurch aus, daß sie die Klassengegensätze vereinfacht hat. Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat«
(MEW Bd. 4, 1969, S. 463)
.
[054:481] Demgegenüber unterscheidet der große bürgerliche Gegenspieler der marxistischen Soziologie, Max Weber, zwischen Klassen, Ständen und Parteien und versucht, die Strukturierung der Gesellschaft als Klassen- bzw. Ständegesellschaft aus der Entwicklung der technologisch-ökonomischen Entwicklung heraus zu erklären. Bei ihm heißt es:
[054:482]
»Man könnte also, mit etwas zu starker Vereinfachung, sagen:
Klassen
gliedern sich nach den Beziehungen zur Produktion und zum Erwerb der Güter,
Stände
nach den Prinzipien ihres Güterkonsums in Gestalt spezifischer Arten von
Lebensführung
. Auch ein Berufsstand ist
Stand
, d. h. prätendiert mit Erfolg soziale
Ehre
normalerweise erst kraft der, eventuell durch den Beruf bedingten, spezifischen
Lebensführung
. ... Über die allgemeinen ökonomischen Bedingungen des Vorherrschens
ständischer
Gliederung läßt sich im Zusammenhang mit dem eben Festgestellten ganz allgemein sagen: daß eine gewisse (relative) Stabilität der Grundlagen von Gütererwerb und Güterverteilung sie begünstigt, während jede technisch-ökonomische |A 153|Erschütterung und Umwälzung sie bedroht und die
Klassenlage
in den Vordergrund schiebt. Zeitalter und Länder vorwiegender Bedeutung der nackten Klassenlage sind in der Regel nach technisch-ökonomischen Umwälzungszeiten, während jede Verlangsamung der ökonomischen Umschichtungsprozesse alsbald zum Aufwachsen
ständischer
Bildungen führt und soziale
Ehre
wieder in ihrer Bedeutung restituiert«
(Weber 1964, S. 689)
.
[054:483] Die angeführten Zitate widersprechen sich ihrem theoretischen Gehalt nach nicht unbedingt, verweisen aber für die uns interessierende Problematik der Erklärung von Bildungsstrukturen aus Merkmalen der sozialen Gruppierung auf das Problem, daß Klasse und Schicht disparat oder deckungsgleich sein können, es aber weder feststeht, ob Familienmerkmale der Schicht- oder Klassenzugehörigkeit geschuldet sind, noch eindeutig ausgewiesen ist, wie und unter welchen Umständen
»Schicht«
im Weberschen Sinne als einer Bestimmung an Prestige, Lebensführung, Einkommen, Schulbildung mit
»Klassenlage«
im Marxschen Sinne als der Zuordnung zu den Produktionsmitteln zusammenhängt. Das Dilemma nun sowohl der schichtbezogenen Sozialisationsforschung als auch ihrer marxistischen Kritiker liegt darin, daß die schichtungstheoretisch begründeten Ansätze die Schwierigkeiten einer direkten Ableitung anerkennen und sich nicht in der Lage sehen, eine einheitliche Skala zu entwickeln, auf der Einkommen, Arbeitsplatzbedingungen, Lebensstile usw. eindeutig einander zugeordnet sind. Ihren Kritikern marxistischer Herkunft ist durch das Fehlen einer auf klassentheoretischen Begriffen aufgebauten Sozialisationsforschung das Problem aufgegeben, die Entstehung von familialen Lernmilieus aufgrund von Klassenlagen dadurch zu erklären, daß sie Kategorien der Schichtungstheorie in Kategorien der Klassentheorie uminterpretieren. Das ist in keiner Weise illegitim, sofern – was jedoch meist nicht der Fall ist – ein theoretisches Prinzip angegeben wird, nach dem diese Umdeutung vorgenommen werden kann.
[054:484] Zweifellos bedürfen Resümees wie das folgende einer genauen theoretischen Begründung:
[054:485]
»Alle schichtspezifischen Faktoren, die den familialen Sozialisationsprozeß unmittelbar beeinflussen, können mit dem Begriff der Subkultur erfaßt werden. Dieser Begriff besitzt genau wie der Schichtbegriff keinen erklärenden Charakter für ein System sozialer Ungleichheiten: er beschreibt diese lediglich, während der Begriff der sozialen Klasse erklärende Qualität besitzt, da er das Auftreten bestimmter Strukturen aus den bestehenden Produktionsverhältnissen ableitet«
(Gottschalch et al. 1971, S. 76)
.
|A 154|
[054:486] Wie man diese Ableitung vornimmt, ohne bereits die Untersuchungen über schichtspezifische Sozialisation in Vorwegnahme dieser Ableitung interpretiert zu haben, ist eben das in Frage stehende Problem.
[054:487] Welches Verhältnis die in sozialisationstheoretisch gerichteten Forschungen verwendeten Begriffe
»Mittelschicht«
und
»Unterschicht«
zu den Begriffen
»Arbeiterklasse«
und
»Bourgeoisie«
haben, ist unseres Wissens nicht näher geklärt. Ebensowenig wird in den meisten derartigen Ableitungsmodellen berücksichtigt, daß
  • [054:488] die meisten schichtungstheoretisch gerichteten Untersuchungen keineswegs von einem groben dichotomischen Schichtungsmodell ausgehen, sondern von einem fünf bzw. sechs Schichten umfassenden Modell;
  • [054:489] die oft global gemeinsam zitierten Studien in verschiedenen Ländern mit verschiedenen historischen, kulturellen und ökologischen Bedingungen erhoben wurden,
  • [054:490] es also noch auszuweisen ist, inwiefern sie dasselbe thematisieren.
[054:491] Das Problem der Vergleichbarkeit verschiedener Schichtungs- und Klassenbegriffe sowie das Problem transkultureller Übertragbarkeit kann man sich an einem von Lenski erfundenen Modell einer fiktiven lateinamerikanischen Gesellschaft gut klarmachen (siehe S. 155).
[054:492] Hier zeigt sich zwar eine gewisse Parallelität bei der Zugehörigkeit zu bestimmten Feldern, es deutet sich aber gleichzeitig die Möglichkeit an (wenn man sich solch eine Tabelle für unsere Gesellschaft vorstellt), daß die Zugehörigkeit zu einer subkulturell definierten Mittelschicht wenig oder gar nichts mit der Klasse der Besitzer der Produktionsmittel zu tun hat, daß aber andererseits ein niedriges Einkommen und eine mittelmäßige Schulbildung sich bei weitem nicht nur bei den in der Industrie tätigen Lohnabhängigen finden.
[054:493] Der Rekurs auf das familiale Milieu erweist sich somit als Ausweg aus dem bis jetzt nicht lösbaren Problem, Bildungs- und Sozialstrukturen aufeinander zu beziehen. Er verschiebt allerdings nur das zu lösende Problem auf die Ableitung der Familienstruktur aus der Sozialstruktur. Denn zum einen bestehen Familien wiederum aus Individuen, die ihren Platz innerhalb einer Klassen- oder Schichtengesellschaft haben, zum anderen sieht sich das Ableitungsverfahren mit der gleichen Schwierigkeit konfrontiert.
|A 155|
Hier ist eine Abbildung zum Klassensystem nach Lenski 1973, S. 117 zu sehen.
(Lenski 1973, S. 117)
[054:494] Soweit zum Problem der Uminterpretation. Das Problem der Illustration ist hierbei zugleich behandelt worden als das Verfahren einer unsystematischen Belegung von Thesen mit verschiedensten empirischen Ergebnissen ohne Rücksicht auf deren Geltungs- und Entstehungsbedingungen. Wir haben oben gesagt, daß die Charakterstruktur meist dann aus der Sozialstruktur abgeleitet gilt, wenn eine sozialpsychologische Theorie mindestens plausibel zeigen kann, daß bestimmte Verhaltensweisen der Eltern (bedingt durch ihre sozio-ökonomische Lage) bestimmte Verhaltensweisen der Kinder hervorrufen. In diesem Zusammenhang haben wir den Verdacht geäußert, daß eine solche sozialpsychologische Theorie (meist eine revidierte psychoanalytische) in ihrer Geltung meist unüberprüft übernommen und unbegründet eingeführt wird.
|A 156|

3. Sozialstruktur und individuelle Bildungsstruktur

[054:495] Hat man den Zusammenhang zwischen Familie und Gesellschaft im einen oder anderen Modell erfaßt, so stellt sich nun die Frage, mit welcher Theorie das familiale Interaktionsgeschehen sowie die psychischen Reaktionen hierauf beschrieben werden. Im 3. und 4. Kapitel haben wir interaktionistische und kommunikationstheoretische bzw. kognitionstheoretische Ansätze behandelt. Sie entstammen einem gänzlich anderen Theoriezusammenhang als demjenigen, der die Probleme sozialer Schichtung thematisiert. Eine Aussage über innerpsychisches Geschehen wiederum spricht eine noch andere Sprache – man vergleiche die folgenden drei Textstücke:
  • A.
    [054:496]
    »... Der Grad der Ungleichheit in Verteilungssystemen variiert direkt mit der Höhe des Surplus einer Gesellschaft. Zu einer gewissen Modifikation dieses allgemeinen Musters könnte es indes schon kommen, wenn die Verhältnisse Personen, denen es je einzeln an Macht fehlt, gestatten, sich zusammenzuschließen und zu organisieren und auf diese Weise ein kollektives Gegengewicht zu jenen mit größerer individueller Macht zu bilden«
    (Lenski 1973, S. 123)
    .
  • B.
    [054:497]
    »Die Gattenfamilie gründet sich auf gegenseitige Zuneigung und Liebe. Sie besteht aus einer kleinen Anzahl von Menschen, die in engem Kontakt miteinander stehen. Die emotionalen Bande zwischen den Mitgliedern des erweiterten Haushalts sind meist diffus und weniger stark. Dieser Grad der Emotionalität in der Gattenfamilie wird durch die Tatsache hervorgehoben, daß es dem Individuum durch Brauch verboten ist, anderweitig in der Gesellschaft Trost zu suchen. Dies ist ein wesentlicher Grund für die Intimität und die Zerbrechlichkeit der Gattenfamilie«
    (Goode 1967, S. 102)
    .
  • C.
    [054:498]
    »Der Kampf zwischen Ich und Es beim kleinen Kind hat seine eigenen Bedingungen. Die Ansprüche auf Befriedigung, die von den Wünschen der oralen, analen und phallischen Phase ausgehen, die Affekte und Phantasien, die mit dem Ödipuskomplex und Kastrationskomplex Zusammenhängen, sind außerordentlich lebhaft; das Ich, das ihnen gegenübersteht, ist eben erst in Bildung begriffen, also noch schwach und unentwickelt«
    (A. Freud 1964, S. 110)
    .
[054:499] In jedem der drei Textstücke ist von anderen Gegenständen die Rede: von
»Ungleichheit«
,
»Verteilungssystemen«
,
»Surplus«
,
»Macht«
; von
»Zuneigung«
,
»Liebe«
,
»Kontakt«
,
»Gattenfamilie«
,
»emotionalen Banden«
und von
»Ich«
,
»Es«
,
» Wünschen«
,
»Affekten«
, dem
»Ödipuskomplex«
. Die Gegenstände, von denen die Rede ist, sind das Gesellschaftssystem, das Familiensystem, das psychische System. In Frage steht nun, ob man mit ein und derselben Theorie (d. h. einem geordneten System |A 157|von Begriffen) Aussagen über alle Gegenstände machen kann, oder aber ob nicht jedem Gegenstand seine eigene Theorie zukommen muß; das Problem der Beziehungen dieser Gegenstände untereinander, die ja in der
»Realität«
unbestreitbar sind, stellte sich also in verschiedener Weise, im letzten Fall in verschärfter Form.
[054:500] Nun ist die Geschichte der Sozialisationstheorie reich an Versuchen, begründet eine einheitliche Theorie für alle Gegenstandsbereiche zu schaffen.
[054:501] Erwähnt sei hier zunächst T. Parsons: Auf der Basis einer allgemeinen, strukturell funktionalistischen Systemtheorie faßt er die oben genannten drei Systeme zu einer lerntheoretisch umformulierten psychoanalytischen Theorie der Sozialisation zusammen (Parsons/Bales 1955; zur Kritik dieses letzten Ansatzes: Habermas 1968; Krappmann 1971; für pädagogische Belange Mollenhauer 1972).
[054:502] Erwähnt sei auch der Versuch C. Homans’, auf der Basis eines nach Kosten-Nutzen-Aspekten interpretierten Verhaltensmodells des einzelnen Individuums, die Familie als eine Gruppe zu bestimmen, die in besonderem Maße dazu geeignet ist, den Individuen innerhalb einer Gesellschaft maximale Verhaltensmöglichkeiten zu eröffnen, d. h. die Beziehungen gegenüber der Umwelt zu regeln (Homans 1968, S. 193 ff.).
[054:503] Denken wir schließlich an die ausführliche Diskussion, die nicht zuletzt in pädagogischer Absicht zwischen Marxismus und Psychoanalyse geführt wurde. Hier ging und geht es darum, zwei, das menschliche Selbstverständnis erschütternde Theorien so miteinander zu vereinbaren, daß ihre jeweils wesentlichen Thesen in ihrem systematischen Anspruch erhalten bleiben, der systematische Widerspruch zwischen ihnen jedoch, wenn schon nicht verträglich, so doch verständlich gemacht wird. Geführt wird diese Diskussion seit den späten zwanziger Jahren mit unterschiedlichen Ergebnissen und dem immerhin bemerkenswerten Umstand, daß meist ein späterer Autor früheren Autoren den Vorwurf macht, das Verhältnis von Marxismus und Psychoanalyse nicht richtig erfaßt zu haben. In der ersten Phase der Diskussion ging es vor allem um die (Un)vereinbarkeit der Annahme einer gegenüber historischen und gesellschaftlichen Einflüssen gleichgültigen Triebbasis und deren Entwicklung mit der marxistischen Behauptung von den durchgängig gesellschaftlich geprägten, historisch mithin veränderbaren Zuständen individuellen Verhaltens. Zur Diskussion stand das Verhältnis Natur/Gesellschaft. Die Antworten auf diese Unvereinbarkeit orientierten sich vor allem an der durch rein ökonomische Betrachtungen nicht lösbaren Frage des deutschen Faschismus, der Ohnmacht der Arbeiterklasse ihm gegenüber sowie der Willfährigkeit des größten Teils des Bürgertums, traditionelle Moralvorstellungen über Bord zu werfen und sich faschistischer Gewalt bedingungslos zu unterwerfen.
[054:504] In der nächsten Phase wurde dann der Versuch unternommen, die zu erklärenden Zwecken verwendeten Theorien in einem einheitlichen Entwurf zu synthetisieren. Ob es sich hierbei um einen groß angeleg|A 158|ten Entwurf einer Bestimmung des Schicksals der menschlichen Bedürfnisse unter unmenschlichen Bedingungen handelte (Marcuse 1971), um die mannigfachen Hinweise auf die Selbstwidersprüchlichkeit der durch das kapitalistische System erzeugten Bedürfnisse (die, wiewohl durch es erzeugt, innerhalb seiner nicht befriedigt werden können) oder aber um den Ausblick auf eine veränderte Gesellschaft durch eine Steigerung der Liebesfähigkeit der ganzen Menschheit – in allen Fällen waren diese Synthesen Ergebnis und Abschluß der an der Erklärung des Faschismus erprobten Theorien. Gemeinsam ist diesen Synthesen ihre hohe Abstraktheit sowie ihr spekulativer Überschuß.
[054:505] In der Folge wandte sich die Diskussion in einer schwerwiegenden Wendung den theoretischen Grundlagen einer der beiden Theorien zu: Die seit jeher heftige Kritik am
»Naturalismus«
der Psychoanalyse (wie sie vor allen von Marxisten vorgetragen worden war) ergab schließlich, daß es sich bei ihr mindestens ebensosehr um eine Interaktionstheorie wie um eine Triebtheorie handelt. Der Hinweis auf die streng sprachliche Methode der Psychoanalyse sowie auf ihren Gegenstand, nämlich Beziehungskonstellationen, und zwar in der Familie bzw. durch die Familie hergestellt, ließ einen theoretischen Kern dieser Lehre erkennen, der ihren Gründern eventuell bekannt, jedoch so nicht ausdrückbar war. Die Vorstellung des Triebschicksals als das einer verschobenen, von ihrer wahren Bestimmung durch widrige familiale Umstände abgelenkten energetischen Basis wich so dem Bild verzerrter und abgespaltener Symbolisierungsmöglichkeiten von je schon gesellschaftlich geprägten und einzig in Beziehungen entwickelten Bedürfnissen (Habermas 1968; Lorenzer 1973). Die Frage nach der angemessenen materialistischen (d. h. marxistischen) Interpretation stellt sich heute – wenn wir richtig verstanden haben – als die Frage nach dem Vorrang der durch die kapitalistische Produktion erzeugten und schon verzerrten Bedürfnisbasis oder aber als die Frage nach der durch kapitalistische Herrschaftsverhältnisse unmöglich gemachten Äußerung dieser Bedürfnisse dar (Lorenzer 1973).
[054:506] In neuesten Diskussionen wird nun in der Folge einer mehr oder minder profunden Marx-Aneignung das Programm der ersten Phase wieder aufgenommen, nur daß der Gegenstand, auf den sich die Theoriesynthese beziehen soll, nicht mehr nur Subjekte, sondern die ganze Arbeiterklasse sein soll (Vinnai 1973; M. Schneider 1973; Hack u. a. 1972). Diesen soziologischen Versuchen, denen es um die Erklärung eines ähnlichen Phänomens wie den Theoretikern der ersten Stunde geht, nämlich der Passivität der Arbeiterklasse und ihrer
»Unfähigkeit«
, die erwartete sozialistische Revolution zu beginnen, steht in der allerjüngsten Diskussion eine eher am Scheitern der Studentenbewegung bzw. an den Arbeitsschwierigkeiten ihrer Nachfolger orientierte Debatte gegenüber. Es ist die Debatte um den sogenannten
»subjektiven Faktor«
, in der weniger der sowieso zweifelhafte Versuch unternommen wird, makrosoziologischen Gegenständen (Klassen und Schichten) individualpsychologische Pathologie zuzuschreiben (
»Klassenneurose«
,
»Warenpsychose«
), als vielmehr die Arbeitsschwierigkeiten der schon tatsächlich marxistisch denkenden und handelnden Gruppen (hier der Studenten) aus psychologischen Schwierigkeiten heraus mit|A 159|zuerklären bzw. die eigene Problematik bewußt in ein Konzept politischen Handelns hereinzunehmen (Duhm 1972; P. Schneider 1974). Im Gegensatz zu den Verfahren aller bisherigen Synthetisierungsbemühungen wird hier versucht, die Probleme von Individualität, Interaktion und Sozialisation nicht mehr nur durch eine psychoanalytische Ausfüllung der in der marxistischen Theorie diesbezüglich klaffenden Leerstellen zu klären, sondern die hier anstehenden Probleme aus zentralen Begriffen der Marxschen Theorie zu lösen:
»Tauschwert«
,
»Gebrauchswert«
,
»Charaktermaske«
,
»Fetischcharakter«
. Von diesen Versuchen wird unten die Rede sein. Die aufgeworfene Problematik scheint uns, bei allen Einwänden gegen ihre stark spekulativen Züge, gleichwohl die Frage nach den Beziehungen zwischen Interaktions- und Gesellschaftsstruktur am angemessensten zu stellen.
[054:507] Wir können also zusammenfassen: Der globale Verdacht, daß Klassenstrukturen Bildungs- bzw. Charakterstrukturen über den
»Transmissionsriemen«
der familialen Interaktion prägen, wurde in der bisherigen Diskussion durch Studien
»gestützt«
, die sich auf diverse Gegenstände (makro-mikrosoziologische und psychologische) bezogen. Die in den Studien behandelten Ergebnisse sind so zunächst schlecht aufeinander abbildbar: Die zentralen Begriffe von Schicht- und Klassentheorie, behavioristischer, kognitivistischer und psychoanalytischer (Sozial-)Psychologie, von strukturell-funktionalistischer, institutioneller und symbolisch-interaktionistischer Theorie der Familie sind nicht ohne Schwierigkeiten und gewiß nicht ohne ein einheitliches Interpretationsprinzip aufeinander zu beziehen. Das pädagogisch-normative Problem einer Lehre von der Familie, wie nämlich warum erzogen werden sollte, steht schließlich in keiner angebbaren bzw. angegebenen Verbindung zu den sozialisationsbezogenen Sammelreferaten.
[054:508] Es wird also darauf ankommen, einen gemeinsamen begrifflichen Rahmen zu entwickeln, innerhalb dessen sich die Frage, wie über die Familie als einer Institution der Gesellschaft bestimmte Merkmale des Handelns von Personen ausgebildet werden, so beantworten läßt, daß hier nur noch von einem Gegenstand und nicht mehr von dreien (Gesellschaft, Familie, Psyche) die Rede ist. Ein solcher begrifflicher Rahmen sollte dann zugleich die Funktion erfüllen, die vorhandenen Ergebnisse der Sozialisationsforschung in systematischer Weise umzuinterpretieren. Schließlich muß dieser begriffliche Rahmen auf seine Möglichkeiten hin betrachtet werden, ein Konzept der Erziehung mitzubegründen.
[054:509] Im Anschluß an die in den vorigen Abschnitten behandelten Theorien über die Familie begreifen wir sie als
»unity of inter|A 160|acting persons«
, womit wir auch für diese Fragestellung den Begriff der Interaktion zugrunde legen. In dem Kapitel über Kognition erwies sich als der Kern der dort vorgetragenen Erwägungen der Begriff des Symbolsystems, ferner der Begriff des kognitiven Schemas als der Form der erkennenden Beziehung zwischen Individuum und sozialer sowie sachlicher Umwelt. Auch hier gehen wir deshalb vom Begriff der zwischenmenschlichen Beziehung aus und stellen die Behauptung auf, daß Produktion und Verteilung, Macht und Ansehen, Gehorsam und Liebe, das Vater-Mutter-Kind-Verhältnis, und auch gegenständliche Erkenntnis unterschiedliche Ausformungen des gleichen Tatbestandes sind: des nur gesellschaftlich möglichen Lebens der Menschen. Der Tatsache, daß diese Beziehungen sich stetig verändern, wechselseitig bedingen, identifizierbare Eigentümlichkeiten und eine Geschichte hinter sich haben und schließlich allemal in Formen des Umgangs der Menschen miteinander sich darstellen, wollen wir dadurch gerecht werden, daß wir von Verkehrsformen sprechen.

Figuration

[054:510] Um dasjenige, was wir unter Verkehrsformen verstehen, angemessener erläutern zu können, wollen wir den verwandten, aber nicht deckungsgleichen Begriff der
»Figuration«
einführen, den der Soziologe Norbert Elias entwickelt hat (Elias 1970). Auf der Kontrastfolie dieses Begriffes wird sich zeigen, ob der Begriff der
»Verkehrsform«
die an ihn gerichteten Erwartungen erfüllen kann. Wir wollen also im folgenden die Bedeutung des Begriffes
»Verkehrsform«
durch die Erläuterung der Bedeutung von
»Figuration«
verdeutlichen, ohne indes den Begriff
»Figuration«
lediglich als ein Hilfskonstrukt einzuführen. Vielmehr soll mit ihm einem Tatbestand Rechnung getragen werden, der mit dem Begriff der
»Verkehrsform«
, der ja vor allem die Analyse von Umgangsweisen der Menschen in ihrer Abhängigkeit von der Art und Weise der gesellschaftlichen Produktion meint, nur schwer zu fassen ist:
[054:511] Zumindest für die Familie, wenn nicht gar für alle Gesellungsweisen gilt, daß trotz unterschiedlichster ökonomischer Bedingungen eine nicht nur ähnliche, sondern über weite Epochen hinweg identische Struktur von Alters- und Generationsbeziehungen vorliegt. Diesem Tatbestand wurde in bisherigen fami|A 161|liensoziologischen Schriften durch die Anwendung des Begriffes einer identischen
»Struktur«
im Gegensatz zu sich wandelnden
»Funktionen«
Rechnung getragen.
[054:512] Wenn wir nun anstatt
»Struktur«
»Figuration«
verwenden und anstatt
»Funktion«
»Verkehrsform«
, dann deshalb, weil
»Figuration«
und
»Verkehrsform«
dem Gegenstand angemessener, d. h. enger sind. Der Begriff der
»Figuration«
besagt, wie noch zu sehen sein wird, mehr als lediglich
»Struktur«
, also
»Menge geordneter Beziehung zwischen Elementen«
; der Begriff der
»Verkehrsform«
wiederum, der die Abhängigkeit von Umgangsweisen von der Art der gesellschaftlichen Produktion thematisiert, läßt dem Aspekt der Veränderung sowie dynamischen Betrachtungsweisen mehr Raum als der Begriff der
»Funktion«
, dessen Bedeutung im nichtmathematischen Gebrauch vor allem als
»bestandserhaltende oder bestandssichernde Leistung für ein System«
erläutert wird.
»Verkehrsform«
und
»Figuration«
betonen also unterschiedliche Aspekte des gleichen Gebildes, der Familie: ihre Dynamik und ihre Abhängigkeit sowie ihren Charakter als
»unity of interacting persons«
, die zu einer gegebenen Zeit, zu einer gegebenen Situation eben nicht beliebig wandelbaren Umgangsregeln folgt.
[054:513] Bei der Prägung des Begriffes der
»Figuration«
ging es Elias darum, den Gegenstand der Soziologie angemessen zu begreifen. Die Behauptung eines Antagonismus von Individuum und Gesellschaft, die so viele theoretische Lösungsbemühungen initiiert hat, geht demnach von der falschen Voraussetzung aus, daß man die Individuen sinnvoll auch ohne die Beziehungen, in denen sie sich jeweils befinden, begreifen könne bzw. den Begriff der Gesellschaft (als einer Struktur) fassen könne, ohne die Tätigkeit ihrer Subjekte mitzuberücksichtigen. Wird im einen Falle das Individuum in einer künstlichen Abstraktheit gesehen, so im anderen die Gesellschaft als einseitig statisch. Die Unfähigkeit, gesellschaftliche Entwicklungen zu verstehen, hängt also auf das engste mit der Auffassung der Individuen als zwar kognitiver und affektiver Erfahrungen mächtiger, gleichwohl aber isolierter Organismen zusammen.
[054:514] Nach einer Analyse der Interaktionsweisen zwischen König und Höflingen am Hofe Ludwigs des XIV. und der Frage, unter welchen Bedingungen sich z. B. eine so starre Etikette hergestellt habe, zieht Elias folgendes Resümee:
[054:515]
»Die gedankliche Schwierigkeit, der man hier begegnet, besteht darin, daß man diese Bedingungen begrifflich oft als etwas außerhalb der |A 162|einzelnen Menschen Existierendes faßt, etwa, wenn man von
ökonomischen
,
sozialen
oder
kulturellen
Bedingungen spricht. Wenn man genauer hinsieht, dann findet man, daß das, was Menschen in einer bestimmten Gestalt aneinander gebunden hält und was dieser Gestalt ihrer Bindung oft über mehrere Generationen hin – mit gewissen Entwicklungsveränderungen – Dauer verleiht, spezifische Arten der Abhängigkeit der Individuen voneinander sind oderø mit einem terminus technicus, spezifische Interdependenzen«
(Elias 1969, S. 216)
.
[054:516] Figurationen sind mithin wirklich existierende (nicht nur modellhaft vom Forscher unterstellte) Beziehungen wechselseitiger Abhängigkeit von Menschen, die einem allmählichen Wandel unterliegen. Motor dieses Wandels sind andere Beziehungen, die aufgrund ihrer Vielzahl und Ausdifferenziertheit eine kontrollierbare Steuerung durch die an ihnen beteiligten Individuen nicht mehr ermöglichen und somit gleichsam einer Eigendynamik folgen. Läßt sich z. B. noch innerhalb einer Freundschaft das Verhalten der Partner mehr oder minder erfolgreich aufeinander abstimmen (zumindest im nichtpathologischen Falle), so läßt sich das Geschehen bei einer Arbeitsgruppe von etwa 15 Leuten keineswegs mehr eindeutig für den einzelnen Beteiligten überschaubar halten. Die entstehende
»Gruppendynamik«
ist keineswegs etwas Überindividuelles, sondern die wirkliche Beziehung zwischen 15 Individuen, unter schwer überschaubaren Bedingungen. Eben die gleiche Annahme macht Elias unseres Erachtens auch für das Produktions- und Verteilungs-, also das (makro)ökonomische System (Elias 1970, S. 151 ff.). Das gleichzeitige, aber ungleichartige Aufeinanderwirken der Vielzahl von Beziehungen bewirkt dann im Laufe der Zeit eine langsame Veränderung gegebener Figurationen. Beispiele für solche Figurationen sind: Lehrer und Schüler, Ärzte und Patienten, eine Runde Kartenspieler, aber auch
»Bewohner eines Dorfes, einer Großstadt oder eine Nation, obgleich in diesem Falle die Figuration deswegen nicht direkt wahrnehmbar ist, weil die Interdependenzketten, die die Menschen aneinander ketten, sehr viel länger und differenzierter sind«
(Elias 1970, S. 143)
, vor allem aber auch Familien.
[054:517] Eine Figuration ist also nach der Art eines Spiels zu denken: Wer seine Regeln ermitteln will, wird kaum einen einzelnen Spieler beobachten, sondern die wechselseitigen Züge aller Mitspieler; er wird seine Aufmerksamkeit auf den Verlauf, nicht auf einen Moment richten, kurz: er wird das tun, was wir unter dem Begriff Kommunikation im 3. Kapitel erörtert haben. Auf die Familienerziehung angewandt, bedeutet das, daß Eltern und |A 163|Kinder miteinander Figurationen bilden, die sich nach Maßgabe der Familienbiographie und sogar auch situationsabhängig ändern können (eben jene
»unity of interacting persons«
). Wie aber auch z. B. bei Schachpartnern während der Konzentration auf ihr Spiel die Wahrnehmung alles dessen, was nicht zum Spiel gehört, reduziert ist, vor allem aber alle anderen Interaktionen unterbunden werden und es für diese Zeit außer dem Spiel für sie nichts anderes
»gibt«
, so kann auch das Familiengeschehen den Mitgliedern von anderen Figurationen losgelöst erscheinen. Tatsächlich aber darf eine Familienfiguration nicht derart unabhängig gedacht werden; sie ist nur eine unter vielen, an denen die Familienmitglieder beteiligt sind. Der Vergleich mit dem Spiel taugt nur, sofern es um die Form der Figuration geht, nicht aber dazu, die Beziehungen der verschiedenen Figurationen untereinander zu erläutern. In Anlehnung an eine Modell-Skizze von Elias (1970, S. 12) läßt sich das in folgender Weise darstellen:
[054:518] Alle drei
»Mitspieler«
in dieser Figuration sind zunächst der Intensität nach durch Emotionen und gemeinsame Probleme, der Art nach durch die Schemata ihrer Interaktionen aneinander gebunden; sie müssen ihre Beziehungen zueinander ausbalancie|A 164|ren, insbesondere müssen sie die Machtverhältnisse sowohl innerhalb der Figuration regeln (im Schema symbolisiert durch das Zeichen ←∣→) wie die Beziehungen zwischen dieser und anderen Figurationen (angedeutet durch die nach außen gerichteten Pfeile, an die man sich weitere Figurationen angeschlossen denken kann). Ein typisches Beispiel für eine familiale Figuration beschreibt M. Mead. Ihre Schilderung der Autoritäts- und Abhängigkeitsstrukturen innerhalb eines samoanischen Haushalts, der eine der wichtigsten Institutionen im Rahmen dieser schriftlosen, sich auf einfachem Niveau reproduzierenden Gesellschaft darstellt, verdeutlicht die strenge Regelhaftigkeit derartiger familialer Interaktionsfiguren.
[054:519]
»Innerhalb des Haushalts verleiht mehr das Alter als die Verwandt schaft disziplinarische Autorität. Der matai [der Haushaltsvorstand] übt nominell und meist auch tatsächlich Autorität über alle unter seinem Schutz stehenden Personen aus, sogar über seine eigenen Eltern. Sie ist natürlich je nach seiner Persönlichkeit stärker oder geringer, aber formal wird die Position des matai immer anerkannt. Das letzte in einem solchen Haushalt zur Welt gekommene Kind untersteht jedem einzelnen Haushaltsmitglied. Seine Stellung bessert sich mit dem Älterwerden nicht im geringsten, ehe nicht ein jüngeres Kind auf der Bildfläche erscheint. Aber in den meisten Haushalten ist die Stellung eines jüngsten Kindes immer nur von kurzer Dauer. Nichten und Neffen oder alleinstehende junge Verwandte vergrößern die Reihen der Haushaltsmitglieder, und die heranwachsenden jungen Mädchen stehen sozusagen in der Mitte; die Zahl der Personen, die ihnen gehorchen müssen, und derer, denen sie selbst Gehorsam schulden, ist fast gleich«
(Mead 1970, S. 59)
.
[054:520] An dem Beispiel wird deutlich, daß sich einerseits für das Individuum die Figuration mit dem Familienzyklus ändert, ein Aspekt aber – wir könnten ihn
»figuratives Grundmuster«
nennen – gleichbleibt: Zwar wechseln die jeweils von der Autoritätsstruktur betroffenen Personen in der Zeit, das Muster aber, das Dauer im zeitlichen Wechsel verbürgen soll, bleibt gleich. Nun ist allerdings auch diese Behauptung problematisch: Nicht nur erscheint dem Teilnehmer einer Figuration diese häufig als
»autonom«
, d. h. von anderen Figurationen unabhängig; er hat auch leicht den Eindruck, daß sie in der Zeit nicht nur stabil, sondern statisch, unveränderbar ist. So ist z. B. für die
»Teilnehmer«
der außerordentlich folgenreiche Prozeß, in dem die Familiengröße während des Zeitraums der Industrialisierung allmählich auf die gegenwärtig durchschnittlichen knapp vier Personen schrumpfte, kaum wahrnehmbar gewesen. Dennoch aber |A 165|hat sich gerade durch diesen Schrumpfungsvorgang und seine Begleitumstände die Figuration der Familie einschneidend verändert. Für die USA beispielsweise werden für 1790 noch 5,7, für 1900 noch 4,8 und für 1968 3,7 Personen je Haushalt berichtet (Burgess1971, S. 427); das ist eine durchschnittliche Abnahme von nicht einmal einer Person im Jahrhundert. Wir sehen also, daß der dramatische Wandel, den man aufgrund soziologischer Theorien und Statistiken (z. B. auch über Scheidungsraten) feststellen kann, wahrscheinlich für die jeweils betroffenen Individuen keineswegs als zeitlich besonders dynamisch erlebt wird, sondern für die Dauer ihres Lebens als ruhiger Fluß des Geschehens, dessen Grundtatsachen gleich bleiben.
[054:521] Der für die pädagogische Funktion der Familie so bedeutsame Wandel von der größeren zur kleinen, von der autoritär-patriarchalischen zur eher partnerschaftlich organisierten, von der produzierenden zur nur noch konsumierenden Kleinfamilie stellt sich deshalb auch – und das ist die andere Seite der Sache – den in diesem Prozeß befangenen Individuen als höchstpersönliche, existentielle Entscheidung dar, die keinerlei äußeren Gesetzmäßigkeit folgt. Der allmähliche Fall der Geburtsrate in den industriellen Wohnvierteln Großbritanniens beispielsweise zeigt sich dem Feldforscher als ein Sammelsurium von Meinungen zur Familienplanung, in denen von den Eheleuten dieser Sachverhalt als ausschließlich der Person und der aktuellen Ehe-Figuration zugehörig interpretiert wird:
[054:522]
»
Fifty years ago it was different
said Mr. Florance, one of our informants.
They had more children than they could afford. The pubs were open all day, so far as I can understand. The man would spend all his money in the pub, come home, and abuse his wife. There was no birth control in those days, I know, but even then there were ways and means not to have children if you didn’t want to have them. And if the woman complained, it was hold your noise and give her another baby, and that’s the finish
«
(Willmott/Young 1957, S. 20).
[054:523] Das Überleben solcher Traditionen generativen Handelns wie auch die Durchsetzung neuer Einstellungen dokumentieren die folgenden Interviewauszüge:
[054:524]
»
Husband: The baby was my fault. I was to blame for her.
Wife: Yes, you were drunk that night.
Husband: Oh no, I wasn’t. I decided we ought to have another.
Wife: Go on, that wasn’t how it was.
«
...
»More common is the husband who says,
We decided we wanted two and that’s what we’ve got. We even planned their names, Kevin and |A 166|Janice. We didn’t Start until after the war.
Or like Mr. Merton –
We don’t want only two. I’d like three. So would she, but I say ’Wait and see how we get on’ – with the money, you know.
Or like Mr. Banton –
You can look after two – give them the best of everything. If you’ve got more, you can’t do it. You always want to give your children better than what you had. People are more educated today; they know they can have better if they want to.
«
(ebd., S. 21.)
[054:525] Mit dem Begriff Figuration als einer sich langsam wandelnden Interdependenzbeziehung zwischen Individuen haben wir zwar einen konkreten Gegenstand für eine Theorie der Familienerziehung; und eben in dieser Form haben wir den Gegenstand in den beiden vorangegangenen Kapiteln behandelt. Doch sagt diese Bestimmung des Gegenstandes noch zuwenig über die denkbare Verknüpfung der historischen mit der individuellen Dimension des familialen Interaktionsnetzes aus. Die Schwierigkeit, die sich zunächst einstellt, besteht vor allem darin, etwas scheinbar so sehr dem Individuum anhaftendes wie sein Charakter oder seine kognitiven Schemata als eine Beziehung zu anderen Individuen zu begreifen. Geht man jedoch – wie hier im 3. und 4. Kapitel – davon aus, daß soziale Interaktion letzten Endes eine Abfolge von Erwartungen an das Verhalten anderer ist, dann leuchtet sofort ein, daß sogenannte Charakterzüge als mehr oder minder verfestigte Vorwegnahmen auf die vermeintlichen Erwartungen anderer betrachtet werden können. Die Tatsache, daß Eltern sich zueinander anders als zu ihren Kindern, Töchtern gegenüber anders als gegenüber Söhnen, zu älteren anders als zu jüngeren Kindern verhalten, daß wir uns oft darüber unsicher sind, wie wir uns wem gegenüber verhalten sollen – das alles verweist darauf, daß wir zumindest partiell unseres
»Charakters«
Herr sind, d. h. einer Beziehung auch die Merkmale geben können, die wir für wünschenswert halten. Meist jedoch wird unter
»Charakter«
gerade das verstanden, worüber man nicht verfügen kann, was einem anhaftet, oder anders: allen Beziehungen anhaftet, die man eingeht. Damit ist aber nicht mehr gesagt, als daß manche Erwartungen und ihre Entsprechungen im Verhältnis der Partner sich verhärtet haben und nicht mehr einer flexiblen Ausgestaltung fähig, nicht mehr einer effektiven persönlichen Entscheidung zugänglich sind. Dasjenige, was also als
»Charakter«
bezeichnet wird, stellt sich einerseits als Grenzfall dieses Erwartungshandelns dar (nämlich als stetig unflexibler werdendes) und zweitens als typische Kombination all der Beziehungen, in denen jemand lebt und die ihm zur Grundlage der Aufnahme neuer Beziehungen dienen. Eine |A 167|solche Kombination ist für jedes Individuum einmalig. Das kann aber nicht heißen, daß diese Beziehungen sich nicht in mancher Hinsicht ähnlich sind, bzw. wir gänzlich über sie verfügen können. Interaktionen sind ja gerade dadurch gekennzeichnet, daß das Verhalten bzw. Handeln der mehr oder weniger Vielen als ein Allgemeineres ständig einbezogen bleibt.
[054:526] Die Beziehung einer Mutter zu ihrem Kinde mag von starker Zuneigung geprägt sein, gleichwohl können wir uns vorstellen, daß sie in diesem ihrem Kinde nicht nur einen Weg ihrer eigenen Selbstverwirklichung bzw. ein um seiner selbst willen zu bildendes Subjekt sieht, sondern die zukünftige Arbeitskraft, den Stammhalter, den Erben, die Wiederholung des Vaters usw. Bezeichnen wir diese Sichtweisen und Beziehungsdefinitionen der Mutter als kognitive Schemata der Beziehung, freilich neben vielen anderen Schemata, so ist dies nicht genug. Vielmehr müssen wir begründen, daß alle Interaktionsschemata ihrerseits nicht nur überhaupt Aspekte von Beziehungen zwischen Menschen und Menschen und Menschen und Dingen darstellen, sondern in teils andere, teils umfassendere Figurationen eingelagert sind, d. h. der Möglichkeit nach deren Regeln folgen.
[054:527] Wir wollen diesen Gedanken als eine Hypothese behandeln. Erinnern wir uns an die Modell-Skizze zum Begriff der Figuration von Elias. In diesem Modell war wichtig, daß nicht nur zwischen den einzelnen Personen, sondern auch zwischen den einzelnen Figurationen, an denen eine einzelne Person teilhat, eine Macht-Balance herzustellen ist. Denken wir an eine berufstätige Mutter, dann hat sie die an ihrem Arbeitsplatz in der Interaktion mit Arbeitskollegen herrschende Figuration mit ihrer Stellung in der Figuration
»Familie«
auszubalancieren: Sie kann das dadurch tun, daß sie beide Bereiche als getrennt, unvereinbar, unvergleichbar definiert; es kann aber auch so sein, daß die Intensität der Beteiligung an der
»Arbeitsplatz-Figuration«
A so groß ist, ihre Identifikation mit ihrer
»Rolle«
soweit geht, daß sie nun ihre Stellung in der Familien-Figuration als problematisch erlebt und Uminterpretationen hier versucht. Das im 2. Kapitel von uns interpretierte Protokoll eines Ehe-Konfliktes ist ein weiterer typischer Fall: Aufgrund der Berufstätigkeit der Frau entstehen Schwierigkeiten in der Organisation des Familienlebens, die es problematisch erscheinen lassen, an der alten Figuration festzuhalten; es entsteht ein neues Spiel, das nun um diesen Konflikt herum sich organisiert. Ähnliches könnte sich abspielen, wenn für die Kinder der Schuleintritt herannaht oder |A 168|vollzogen ist, wenn die Familie einen Wohnortwechsel vornimmt, wenn die Nachbarschafts-Figurationen
»stärker«
werden als die innerfamilialen usw. In allen Fällen zeigt sich, daß es sinnvoll ist, wenigstens der Möglichkeit nach eine Abhängigkeit der Familien-Figuration von anderen, mächtigeren anzunehmen. Wir können unsere Hypothesen auch so ausdrücken: Die kognitiven Schemata, die das Kind sich während seines innerfamilialen Bildungsprozesses erwirbt, erwirbt es dadurch, daß sie Bestandteile der Interaktion sind, die unter der Bedingung einer bestimmten Figuration die Praxis einer Familie ausmachen. Diese Figurationen sind ihrerseits Momente dominanter (mächtiger) Figurationen, deren kognitive Schemata sie übernehmen, und zwar deshalb, weil Figurationen (also auch Familien)
»offene Systeme«
sind, die sich in ständigem Austausch mit ihrer sozialen Umwelt, also anderen Figurationen befinden.
[054:528] Die im 3. Kapitel referierte Untersuchung von D. Reiss (1971) und die dort ermittelten Typen familialer Erfahrung können wir im Sinne dieser Hypothese interpretieren. Die Schemata der Erfahrung, die in einer Familie in Geltung sind, bestimmen einerseits die Art, in der die Familienmitglieder interagieren; sie wird andererseits dadurch bestimmt, daß sie selbst Reaktionsmuster auf Figurationen der außerfamilialen sozialen Umwelt sind:
»The Family constructs are seen as determining how family members interact with each others in response to stimuli from the environment«
(Reiss 1971, S. 2)
.
[054:529] Das Charakteristische dieses Konzeptes besteht also darin, daß einerseits den Figurationen ein eigenes kognitives Potential, eine eigene Problemlösungskapazität zugeschrieben wird in bezug auf eine problematische Außenwelt. Gleichwohl soll diese Struktur nicht als einzige unabhängige Variable gelten. Nicht nur individuelle und
»Familien«
-Strukturen bedingen sich wechselseitig, sondern auch die
»Family constructs«
und die Figurationen benachbarter oder umfassender sozialer Gebilde.
»In a general sense this may strengthen our understanding of the relationship between family Systems and the broader social system of community, sub-culture, and nation«
(Reiss, S. 23)
.

Verkehrsform

[054:530] Im folgenden wollen wir nun den Versuch unternehmen, dort die Erörterungen fortzusetzen, wo Elias’ Begriff der Figuration endet, d. h. bei der zweiten Hälfte der oben formulierten Hypo|A 169|these: Wie ist die Interdependenz zwischen der mikrosozialen Figuration (Familie), der darin für ihre Teilnehmer enthaltenen Bildungsperspektive und dem
»broader social System«
zu denken? Vor allem: Wie ist dieser Zusammenhang zu denken, wenn wir unterstellen, daß das kulturelle System von Interaktionen und das ökonomische System von Arbeitsteilungen keine unverbundenen Sphären sind, sondern in irgendeiner Weise als voneinander abhängig gedacht werden müssen, mindestens dadurch, daß die Personen ja im Regelfall an einer Vielzahl von Figurationen teilnehmen, die teils der einen (kulturelles System), teils der anderen (System der Produktion) Sphäre zugehören? Marx hat, an eben diesem Problem interessiert, in der
»Deutschen Ideologie«
den Begriff der Verkehrsform eingeführt, um zeigen zu können, auf welche Weise der Gesamtzusammenhang von Figurationen mit der gesellschaftlichen Produktion verbunden ist. Verkehrsformen sind danach die durch die Notwendigkeit der materiellen Produktion geprägten Interaktionsmuster innerhalb von Figurationen, die die Menschen in einer bestimmten Gesellschaft miteinander eingehen.
[054:531] Es handelt sich darum, daß
  • [054:532]
    »die Menschen imstande sein müssen zu leben, um Geschichte machen zu können. ... Die erste geschichtliche Tat ist also die Erzeugung der Mittel zur Befriedigung dieser Bedürfnisse, die Produktion des materiellen Lebens selbst«
    ;
  • [054:533]
    »das befriedigte Bedürfnis selbst, die Aktion der Befriedigung und das schon erworbene Instrument der Befriedigung zu neuen Bedürfnissen führt«
    ;
  • [054:534]
    »die Menschen, die ihr eigenes Leben täglich neu machen, anfangen, andere Menschen zu machen, sich fortzupflanzen – das Verhältnis zwischen Mann und Weib, Eltern und Kindern, die Familie. Diese Familie, die im Anfang das einzige soziale Verhältnis ist, wird späterhin, wo die vermehrten Bedürfnisse neue gesellschaftliche Verhältnisse, und die vermehrte Menschenzahl neue Bedürfnisse erzeugen, zu einem untergeordneten (ausgenommen in Deutschland) und muß alsdann nach den existierenden empirischen Daten, nicht nach dem
    Begriff der Familie
    , wie man in Deutschland zu tun pflegt, behandelt und entwickelt werden«
    (Marx, MEW Bd. 3, 1969, S. 28 f.)
    .
[054:535] Marx betont ausdrücklich, daß diese
»Momente«
nicht etwa eine Abfolge darstellen, sondern drei Seiten derselben sozialen Tätigkeit darstellen. Hatten wir oben Emotionen und kognitive Fähigkeiten von Individuen als Eigenschaften ihrer Sozialbeziehungen begriffen, so wird hier nun behauptet, daß diese Sozialbeziehungen vor allem die Funktion der Produktion und Repro|A 170|duktion der Gattung haben. Insofern stellt die Familie lediglich eine erste, historisch frühe Gruppierung zur Lösung dieser Probleme dar. Wir vermuten, daß Marx unter
»Selbsterzeugung des Menschen«
mehr meinte als lediglich die biologische Fortpflanzung – anderenfalls hätte er nicht davon sprechen können, daß unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen die Familie eine untergeordnete Rolle spielen könne. Denn die Selbsterzeugung des Menschen ist ein Problem, das sich jeder Gesellschaft mit gleicher Aktualität, aber auf je andere Weise, stellt. Die Frage nach dem Zusammenhang von Familien- und Gesellschaftsstruktur stellt sich mithin als die Frage nach der vielfältigen Strukturierung der Gesellschaft selbst. Gesellschaft und Familie, Sozialstruktur und familiale Interaktionsstruktur stellen nicht zwei voneinander scharf abgrenzbare Einheiten dar, sondern verschiedene Weisen des gesellschaftlichen Verkehrs.
[054:536]
»Die Produktion des Lebens«
, so heißt es bei Marx,
»sowohl des eignen in der Arbeit wie des fremden in der Zeugung, erscheint nun sogleich als ein doppeltes Verhältnis – einerseits als natürliches, andererseits als gesellschaftliches Verhältnis – gesellschaftlich in dem Sinne, als hierunter das Zusammenwirken mehrerer Individuen, gleichviel unter welchen Bedingungen, auf welche Weise und zu welchem Zweck, verstanden wird. Hieraus geht hervor, daß eine bestimmte Produktionsweise oder industrielle Stufe stets mit einer bestimmten Weise des Zusammenwirkens oder gesellschaftlichen Stufe vereinigt ist, und diese Weise des Zusammenwirkens ist selbst eine
Produktivkraft
, daß die Menge der den Menschen zugänglichen Produktivkräfte den gesellschaftlichen Zustand bedingt und also
Geschichte der Menschheit
stets im Zusammenhange mit der Geschichte der Industrie und des Austausches studiert und bearbeitet werden muß«
(Marx, MEW Bd. 3, 1969, S. 29 f.)
.
[054:537] Gegenstand einer systematischen Theorie der Familie ist also die Figuration
»Familie«
, als eine in unterschiedlichen Kontexten unterschiedlich ausgebildete Gruppierung von Menschen verschiedener Generationen und verschiedenen Geschlechts. Kognitive und emotionale Strukturen sind unserer Theorie nach keine Eigenschaften von Individuen, sondern von deren Beziehungen. Die spezifische Ausprägung dieser Beziehungen der Individuen zueinander, ihre
»Verkehrsform«
, ist die Funktion einer Produktionsweise, dergegenüber sie antagonistisch oder dysfunktional werden kann. Die Bestimmung dessen, was unter einer gegebenen Gesellschaftsformation als Familie angesehen wird, bzw. dessen, was sie leistet, läßt sich nicht begrifflich ableiten, sondern muß unter Rücksicht auf empirische Daten vorgenom|A 171|men werden. Was uns also interessiert, ist: Welche typischen Formen familialen Umgangs kennen wir? Wie kann man solche Merkmale beschreiben? In welchem Verhältnis stehen sie zu den in der Sphäre der materiellen Produktion geübten Umgangsweisen? Um diese Fragen wenigstens versuchsweise zu beantworten, scheint uns ein kurzes Referat der Marxschen Warentheorie in ihren für das Problem der Verkehrsform wichtigsten Teilen nützlich.

Exkurs: Zweck-Mittel, Ware, Tauschbeziehung

[054:538] Das Postulat Kants, ein Mensch dürfe nie für einen anderen zum Mittel gemacht werden, wurde von Marx sozialphilosophisch erweitert und auf das Verhältnis des Menschen zu den von ihm verfertigten Gegenständen angewendet. Ein theoretischer Kern von Marx’ Analyse der bürgerlichen Gesellschaft ist deshalb seine Analyse der Ware. Demnach dienen bestimmte, hergestellte Gegenstände zunächst immer der Befriedigung eines konkreten Bedürfnisses. Werden indessen diese Gegenstände gegen andere getauscht, d. h. für einen Markt hergestellt, dann gehen die Menschen – so Marx – notwendigerweise davon aus, daß die getauschten Gegenstände in irgendeiner Hinsicht gleichwertig sind; sie sind es allerdings nicht hinsichtlich ihrer
»Fähigkeit«
, Bedürfnisse zu befriedigen, weil ja die Befriedigung eines Bedürfnisses nicht objektiv quantifizierbar ist. (Ist das Bedürfnis nach 15 Mark ebenso groß wie das nach zwei Taschentüchern, nach zwölf Flaschen Bier?) Wenn aber die Festsetzung der Gleichwertigkeit zweier Waren nicht gemäß einer nicht quantifizierbaren subjektiven Bedürfnisbefriedigungskapazität vorgenommen werden kann, muß dieser Gleichwertigkeit ein anderer, und zwar objektiver Maßstab zugrunde liegen. Nach Marx handelt es sich hierbei um die in gleicher Zeit zur Herstellung der Gegenstände verausgabte
»abstrakte«
menschliche Arbeit. Abstrakt soll hier bedeuten, daß nicht auf spezifische Kenntnisse und Fähigkeiten Rücksicht genommen wird, sondern nur auf die Tatsache, daß in einer gegebenen Zeit der kognitive bzw. haptisch-optische Mechanismus betätigt wurde, wobei von der Frage nach der Intensität dieser Betätigung ebenfalls abstrahiert wird. Der Wert oder Tauschwert einer Ware besteht also nicht darin, daß sie bestimmte Bedürfnisse befriedigt, sondern darin, daß sie in einer bestimmten Zeit hergestellt wurde. Zwei Waren haben mithin den gleichen Wert, wenn ihre Herstellung gleich|A 172|viel Zeit kostete. Die Abstraktion von den spezifischen Fähigkeiten und Fertigkeiten, die Abstraktion von unterschiedlichen Leistungsniveaus ist selbst ein Ergebnis der historischen Entwicklung und der Herstellung immer umfassenderer und rationellerer Herstellungsweisen. Der Wert einer Ware besteht mithin in der durchschnittlich gesamtgesellschaftlich notwendigen Herstellungszeit, die sich jeweils an der bereits erreichten niedrigsten Herstellungszeit orientiert.
[054:539] Ergebnis dieser Prozesse ist es, daß den Menschen die von ihnen verfertigten Gegenstände nicht mehr als nützliche, ein Bedürfnis befriedigende Dinge erscheinen, sondern zunächst und später immer mehr als abstrakte, nurmehr quantifizierte Größen. Unsere Wirtschaftsform nun, der Kapitalismus, ist dadurch gekennzeichnet, daß in ihm nicht nur Gegenstände zu Waren werden, sondern auch dasjenige, was Waren und mithin deren Wert erst schafft: die menschliche Arbeitskraft. Ihre Besitzer, die Menschen, können innerhalb des Kapitalismus nicht mehr frei über sie verfügen, sondern müssen sie verkaufen, um überleben zu können. Und sie müssen sie um so viel verkaufen, wie zu ihrer Reproduktion vonnöten ist. Der Wert der für die Reproduktion der Ware Arbeitskraft zu konsumierenden Waren ist nun geringer als der Wert der Waren, die der Lohnarbeiter produziert. Der Eigentümer der Produktionsmittel, der die Arbeitskraft als Ware gekauft hat, streicht den produzierten Überschuß als Mehrwert ein. Mithin wird im Kapitalismus dasjenige, was den Zweck des Menschseins ausmacht, nämlich das Arbeiten, das
»Produzieren seines Lebens«
, zum Mittel der Akkumulation von Mehrwert, d. h. von Kapital, wenn dieser weiter verwertet wird. Diejenigen also, die durch Gewalt und Herrschaft dazu gezwungen wurden, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, von deren Nützlichkeit für sich selbst zu abstrahieren, also die Proletarier,
»verelenden«
aufgrund dieses Prozesses nicht nur physisch, sondern auch psychisch: sie werden aus ihren Bindungen gerissen, wissen im arbeitsteiligen Produktionsprozeß nicht mehr, zu welchem Ende sie produzieren, können sich selbst und ihre Tätigkeit nicht mehr als sinnvoll wahrnehmen, sich die Produkte ihrer Arbeit nicht mehr
»aneignen«
, sind also mehrfach
»entfremdet«
.
[054:540] Auf der anderen Seite, der Seite der Käufer der Arbeitskraft, stellt sich ein ähnliches Entfremdungsphänomen her. Ging es den Mächtigen früher darum, Reichtümer zu ihrem eigenen Genusse zu horten und zu verzehren, so geht es dem modernen Kapitalisten nunmehr darum, als Kapitalist auf dem Markt zu |A 173|überleben, d. h. seine Mehrwertrate zu erhöhen und Kapital zu akkumulieren. Wenn Marx also davon spricht, daß der Kapitalismus ein Subjekt sei, so meint er, daß die auch den einzelnen Kapitalisten nicht mehr einsichtigen Regeln des kapitalistischen Verkehrs allen an diesem
»Markt«
beteiligten Individuen Schemata des Handelns vorschreiben – der kapitalistische Prozeß erscheint so, metaphorisch gesprochen, als das eigentliche Subjekt, dem die Menschen nur noch Mittel zu seinem Zwecke sind.
[054:541]
»Die Waren können nicht selbst zu Markte gehen und sich selbst nicht austauschen. Wir müssen uns also nach ihren Hütern Umsehen, den Warenbesitzern. Die Waren sind Dinge und daher widerstandslos gegen den Menschen. Wenn sie nicht willig, kann er Gewalt brauchen, in anderen Worten, sie nehmen. Um diese Dinge als Waren aufeinander zu beziehen, müssen die Warenhüter sich zueinander als Personen verhalten, deren Willen in jenen Dingen haust, so daß der eine nur mit dem Willen des anderen, also jeder nur vermittelst eines beiden gemeinsamen Willensaktes sich die fremde Ware aneignet, indem er die eigene veräußert. Sie müssen sich daher wechselseitig als Privateigentümer anerkennen. Dies Rechtsverhältnis, dessen Form der Vertrag ist, ob nun legal entwickelt oder nicht, ist ein Willensverhältnis, worin sich das ökonomische Verhältnis widerspiegelt. Der Inhalt dieses Rechts- oder Willensverhältnisses ist durch das ökonomische Verhältnis selbst gegeben. Die Personen existieren hier nur füreinander als Repräsentanten von Waren und daher als Warenbesitzer. Wir werden überhaupt im Fortgang der Entwicklung finden, daß die ökonomischen Charaktermasken der Personen nur die Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse sind, als deren Träger sie sich gegenübertreten«
(Marx, MEW Bd. 23, 1969, S. 99).
[054:542] Somit sind zwei zentrale Kategorien für eine pädagogisch relevante Rezeption der Marxschen Analyse in bezug auf Interaktionsprozesse gewonnen:
»Tauschabstraktion«
und
»Charaktermaske«
. Schon in den
»Theorien zum Erziehungsprozeß«
hieß es,
»daß eine materialistische Konzeption von Erziehungswissenschaft nur dann möglich ist, wenn es gelingt, denjenigen Punkt der marxistischen Theorie zu finden, wo diese unmittelbar für die Interaktion bedeutsam wird«
(Mollenhauer 1972, S. 181)
. In den hier vorgetragenen theoretischen Entwürfen läßt sich nun der oben postulierte Begriff der Verkehrsform im Sinne einer allgemeinen Hypothese erläutern:
[054:543] Auf allen Ebenen menschlichen Handelns, der Produktion, d. h. der Arbeit, der Distribution, Zirkulation und endlich der Konsumtion ist der Umgang der Menschen dadurch gekennzeichnet, daß sie sich mehr und mehr nicht mehr substantiellen Zielen und |A 174|Bedürfnissen zuwenden, sondern sich nach zunehmend abstrakten Größen (Geld, Status) ausrichten und sich schließlich zueinander nicht mehr als wirkliche menschliche Individuen, sondern als
»Rollenträger«
,
»Charaktermasken«
,
»Funktionsinhaber«
usw. verhalten. K. Ottomeyer hat in seinem Versuch, Interaktionstheorie und die Kritik der politischen Ökonomie zueinander ins Verhältnis zu setzen, mit großem Recht darauf hingewiesen, daß allerdings die bloße Rede vom
»Tauschprinzip«
die eigentümliche Wirklichkeit der kapitalistischen Produktionsweise als der Einheit von Arbeits- und Verwertungsprozeß bzw. der aufeinander bezogenen, jedoch verschiedenen Prozesse von Produktion, Zirkulation und Konsumtion verkürzt.
[054:544]
»Der Begriff des
Tauschprinzips
bringt so eine einseitige Fixierung auf die Formierung von Bewußtsein und Interaktion durch die bereits vergegenständlichten Produkte hervor, wie sie in der Zirkulation und Konsumtion erscheint«
(Ottomeyer 1974, S. 90).
[054:545] Definiert man den Begriff der Identität (wie auch Ottomeyer es tut) als ein kognitives Schema, mit dessen Hilfe es gelingt, differierende oder gar widersprüchliche Erwartungen sowohl in Hinsicht auf aktuelle Anforderungen als auch in Hinsicht auf biographische Kontinuität in Einklang zu bringen, so läßt sich der postulierte Begriff der Verkehrsform mit seinen oben erwähnten Merkmalen nunmehr in Übereinstimmung mit Marx’ Hypothese von der Vorrangigkeit der Produktion näher bestimmen.
[054:546] Damit der Mensch in gegebenen Gesellschaften überleben kann, ist er von seiner Ausstattung her gezwungen, Verhältnisse mit anderen Menschen einzugehen. Verhältnisse zwischen Menschen müssen, wenn sie stabil sein sollen, auf geregelten Erwartungen beruhen bzw. auf Fähigkeiten, die es erlauben, veränderte oder widersprüchliche Erwartungen zu meistern (zu akzeptieren, zu verändern oder neu zu produzieren). Diese Fähigkeiten haben wir als
»Identität«
bezeichnet, die also nichts anderes ist als ein Verhaltens- und Handlungsschema der Individuen untereinander. Die Erwartungen und antizipierten Erwartungen der anderen sind unterschiedlich stark sanktioniert, unterschiedlich leicht zu verändern. Diese Sanktionen können durch direkten Zwang, aber auch durch frühzeitig erworbene, emotional-gegründete Gebote und Verbote sowie schließlich dadurch in Geltung sein, daß sie, als Sanktionen nicht mehr erkennbar, scheinbar selbstverständlicher Teil des Alltagslebens geworden sind.
[054:547] Die oben angeschnittene Frage nach der Struktur der Gesell|A 175|schaft, nach Klassen oder Schichten, erweist sich somit als die Frage nach den Bedingungen, aufgrund derer menschliche Verhältnisse sich entwickeln, differenzieren, verfestigen und verändern. Gemäß dem hier skizzierten Marxschen Ansatz werden diese Bedingungen vor allem im Bereich der Produktion vermutet. Die dort entstehenden Formen des menschlichen Verkehrs finden sich – jedenfalls ist dies die Hypothese – in allen anderen Beziehungen dominant wieder. Das mögliche Mißverhältnis zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen kann dazu führen, daß Verhaltenserwartungen, die auf einer Stufe der Produktion und Reproduktion eventuell notwendig waren, auf einer nächsten bereits als überflüssig erscheinen, dennoch aber beibehalten werden – als Herrschaft. Notwendige Arbeitsteilung bringt unterschiedliche Klassen von Menschen hervor: Es ist die Stellung im Produktionsprozeß, in der die Chancen zur Stellung im Bereich der Konsumtion, des Zusammenlebens und der Bildung festgelegt sind.
[054:548] Läßt sich die Eigentümlichkeit des Wertgesetzes (Tauschabstraktion) in einer zunehmend weniger personal, sondern funktional ausgerichteten Weise der Beziehung zwischen den Menschen in der kapitalistischen Gesellschaft wiederfinden, so erweist sich die dem Kapitalismus notwendige Warenwerdung der Arbeit und ihre Aneignung durch die Kapitalisten als Herrschaftsverhältnis, als eine Art und Weise des Verkehrs, in dem die Chancen zu gleichberechtigter Beteiligung und Wahrnehmung von substantiellen Interessen sich unter der Bedingung der Tauschabstraktion nurmehr als formalrechtliche wahrnehmen lassen: Käufer und Verkäufer von Arbeitskraft sind formalrechtlich gleichberechtigt. Diese in der Zirkulation geltende Regel aber hält sich in Produktion und Konsumtion nicht durch. Sonst wären weder Gewerkschaften noch jene erfolglosen Appelle an die
»Verbraucher«
nötig, sich als Marktfaktor ins Spiel zu bringen. Die Ablösung von direkten Gewaltverhältnissen durch allgemein anerkannte Rechtsverhältnisse entzieht eher die Frage nach der Berechtigung der Aneignung fremder Arbeit der Diskussion. Wir müssen also davon ausgehen, daß das Prinzip der abstrakten Gleichheit in der Sphäre der Zirkulation für die konkrete Ungleichheit und Benachteiligung in der Sphäre von Produktion und Konsumtion eine Voraussetzung ist. Eine Analyse der Verkehrsformen darf also nicht nur das Tauschprinzip als Hauptmerkmal der menschlichen Beziehung in Betracht ziehen.
|A 176|

Dimensionen familialer Interaktion (familienrelevante Aspekte von Verkehrsformen)

1. Personale versus funktionale Beziehungsdefinition

[054:549] Um beantworten zu können, ob nun Eigentümlichkeiten der
»Verkehrsformen«
auch die Figuration
»Familie«
bestimmen, vor allem aber, um das auf empirische und nicht auf spekulative Weise zu können, ist eine Operation erforderlich, die wir
»Dimensionierung«
nennen und für die wir im 2. Kapitel eine Reihe von Beispielen gegeben haben. Auf der gegenwärtigen Stufe unserer Überlegungen aber sind die dort vorgenommenen Dimensionierungen nicht mehr hinreichend; sie ließen sich weitgehend von dem singulären Gegenstand, der interpretiert wurde, und von den gleichsam spontanen Interpretationsschemata des Interpretierenden leiten. Jetzt aber wollen wir mehr: Wir wollen sehen, ob es möglich ist, in verschiedenen Figurationen die Wiederkehr von gleichen oder vergleichbaren Merkmalen zu entdecken, denn wir möchten ja erörtern, ob es sinnvoll ist, in der Familie Verkehrsformen anzunehmen, die auch außerhalb ihrer anzutreffen sind. Wir brauchen also Dimensionen, die über die Familien-Interaktion hinaus von allgemeiner Bedeutung sind und die uns erlauben, Merkmale nach verschiedenen Ausprägungsgraden zu ermitteln. Nun wäre dazu allerdings eigentlich ein schwierigerer und detaillierterer Prozeß von Forschungsschritten erforderlich: Wir müßten einen Dimensionierungsentwurf erstellen, ihn an historischem Material überprüfen, ihn revidieren, ihn auf aktuelles empirisches Material anwenden, ihn mit Forschungen zu dem Gegenstand konfrontieren, seine theoretischen Voraussetzungen kontrollieren usw. Das wäre, wie jedermann sieht, eine Spezialuntersuchung zu unserer Frage, die wir an dieser Stelle nicht vorlegen können. Wir verlassen uns deshalb auf Plausibilität, nicht weil wir meinen, das sei für wissenschaftliche Erörterung hinreichend, sondern weil es uns hier nur darauf ankommt, Probleme zu demonstrieren, die entstehen, wenn man ernstlich die Absicht hat, Fragen der Familienerziehung im Rahmen einer Theorie der Verkehrsformen zu lokalisieren. Welche Dimensionen also können wir für Verkehrsformen annehmen? Wir wollen diese Frage nicht unmittelbar zu beantworten suchen, sondern wiederum auf dem Umweg über die Interpretation von Beispielen. Da wir jetzt aber auf der Suche nach solchen Dimensionen sind, die nicht nur auf Familien |A 177|angewendet werden können, sondern von allgemeiner Bedeutung sind, wählen wir die Beispiele unspezifischer als in den Kapiteln drei und vier.
[054:550] In den folgenden Beispielen, die wir parallel untersuchen wollen, ist von einer Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau die Rede, in einem Fall aus der Sicht des beteiligten Mannes, im anderen aus der Sicht eines neutralen Beobachters. Aus dem Text selbst geht hervor, daß es sich in beiden Fällen um Probleme sozialen Verhaltens handelt, also jenen Bereich, in dem es vornehmlich um die Produktion, Aufrechterhaltung, Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen sowie die Lösung entsprechender Probleme geht. Unterschiedlich sind sowohl der soziale Status als auch das Alter der beteiligten Personen: Hier ein jobbender, auch noch auf das Taschengeld der Eltern angewiesener Oberschüler, dort ein als Ingenieur ausgebildeter dreißigjähriger Mann, der von
»Beruf«
Rentier ist, Nutznießer eines von seinem Vater ererbten Vermögens. Der Studentin steht die repräsentierende Gattin eines hohen Staatsbeamten gegenüber, der es durch ihre Heirat gelang, sozial aufzusteigen; ihre Hauptbeschäftigung ist das Mäzenatentum. Die Zeit der Handlung dieses Textes ist die Jahrhundertwende – sein Ort Österreich – jener Text ist in den USA der fünfziger Jahre angesiedelt. Vergleichen wir die Art und Weise ihrer Beziehung:
|A 177-178|
[054:551]
Holden und Jane Ulrich und Diotima
Eigentlich lernte ich sie sehr nah kennen. ... Der Anfang war so: Ihr Dobermannpinscher kam immer in unseren Garten, um auf dem Rasen seine Geschäfte zu machen, und meine Mutter ärgerte sich furchtbar darüber. Sie rief Janes Mutter an und machte großen Stunk. Aus so etwas kann meine Mutter immer eine Tragödie machen. Als ich sie ein paar Tage später am Schwimmbassin auf dem Bauch liegen sah – im Club –, begrüßte ich sie. Ich wußte, daß sie neben uns wohnt, aber ich hatte noch nie mit ihr gesprochen. Sie machte ein eisiges Gesicht. Ich überzeugte sie mühsam davon, daß es mir absolut gleichgültig sei, wo zum Kuckuck ihr Hund seine Geschäfte besorge. Er könne es von mir aus auch im Wohnzimmer tun, sagte ich ...
(Salinger 1962, S. 58)
.
Das Verhältnis Diotimas zu Ulrich hatte sich in dieser Zeit durch das zur Gewohnheit gewordene Beisammensein sehr gebessert. Sie mußten oft gemeinsam ausfahren, um Besuche zu machen, und er kam mehrmals wöchentlich und nicht selten unangekündigt und zu ungebräuchlichen Zeiten zu ihr. Es war ihnen beiden unter diesen Umständen bequem, aus ihren verwandtschaftlichen Beziehungen Nutzen zu ziehen und die strengen gesellschaftlichen Vorschriften zu mildern. Diotima empfing ihn nicht immer im Salon und vom Haar knoten bis zum Rocksaum in Vollendung gepanzert, sondern zuweilen in leichter häuslicher Auflösung, wenn das auch bloß eine sehr vorsichtige Auflösung bedeutete. Es war eine Art Zusammengehörigkeit zwischen ihnen entstanden, die hauptsächlich in der Form des Verkehrs lag ...
(Musil 1952, S. 276)
.
[054:552] In beiden Fällen besteht das Problem darin, sich vor dem Hintergrund eines bestehenden Kanons geltender Etikette näherzukommen. Er bestimmt zu einem großen Teil, wie die Beteiligten überhaupt miteinander ins Gespräch bzw. körperliche Nähe kommen können. Organisieren Ulrich und Diotima (es handelt sich um eine Textstelle aus Robert Musils Roman
»Der Mann ohne Eigenschaften«
) ihre Bekanntschaft über allgemein gebilligte gesellschaftliche Verpflichtungen, so sind die Jüngeren, Holden und Jane (aus
»Der Fänger im Roggen«
von J. D. Salinger), zunächst auf die Beziehung ihrer Eltern bzw. die
»neighbourhood problems«
in einer amerikanischen Vorstadt angewiesen. Gestiftet wird die Beziehung in beiden Fällen über unterschiedliche, gleichwohl für verschiedene Lebenswelten gleich relevante Themen: Garten und Hundedreck versus Mäzenatentum und politische Betätigung. Vollzieht sich das erste Kennenlernen hier nach den Regeln des Salons, so dort nach jenen des durch pubertäre Spannungen gebrochenen
»peer group talks«
– dem konventionellen Lächeln korrespondiert ein eisiges Gesicht. Holden und Jane wurden
»jedenfalls Freunde«
; zwischen Diotima und Ulrich aber entstand eine
»Art Zusammengehörigkeit«
, die
»hauptsächlich in der Form des Verkehrs lag«
. Ihr typisches Merkmal ist eine unter dem Vorwand der Verwandtschaft in Maßen gelockerte Etikette. Die Wahrnehmungsschemata und Begriffe, in denen Männer und Frauen, an denen ihnen gelegen ist, erscheinen, tragen die gleichen Merkmale, wie die Interaktionsfelder, in denen sie sich kennenlernten: ein hoher Grad an Abstraktheit und Formalisierung im Gegensatz zu einem hohen Maß an Unsicherheit und Konkretheit.
|A 178-179|
[054:553]
Jane war ein sonderbares Mädchen.
Ich würde sie nicht im strengen Sinne schön nennen ... Wenn sie über etwas redete und dabei auf geregt wurde, bewegten sich ihre Lippen in fünfzig Richtungen gleichzeitig. Sie machte den Mund überhaupt nie ganz zu. Er stand immer ein bißchen offen, besonders wenn sie Golf spielte oder las. Sie las die ganze Zeit, und zwar sehr gute Bücher. Einen Haufen Gedichte usw. ... Sie interessierte sich für solche Sachen.
..., daß Diotima sehr schön sei. Sie kam ihm dann wie ein junges, hohes, volles Rind von guter Rasse vor, sicher wandelnd und mit tiefem Blick die trocknen Gräser betrachtend, die es ausrupfte. ...
»Wie angenehm könnte sie sein«
, dachte er,
»wenn sie ungebildet, nachlässig und so gutmütig wäre, wie es ein großgestalteter weiblicher Körper immer ist, wenn er sich keine besonderen Ideen einbildet.«
Die berühmte Gattin des vielberaunten Sektionschef Tuzzi verflüchtigte sich schon aus ihrem Körper, und es blieb nur dieser selbst übrig wie ein Traum, der samt Polstern, Bett und Träumenden zu einer weißen Wolke wird, die mit ihrer Zärtlichkeit ganz allein auf der Welt ist.
[054:554] Es ist das Verhältnis zwischen körperlicher Erscheinung und sozialer Person, das in Frage steht und erst einen Interaktionspartner konstituiert. Holden kann die körperlichen Merkmale Janes, die ihm besonders auffallen (bezeichnenderweise ihr Mund), einzig in der Beziehung zu ihr als einem sozialen, in Sinn- und Kommunikationszusammenhänge eingebetteten Partner betrachten. Golf spielen, lesen, Gedichte, Interesse usw. stehen für ihn in unmittelbarem Zusammenhang mit dem typischerweise geöffneten Mund. Ulrich hingegen analysiert im Gegensatz hierzu Diotima, trennt ihren Körper von ihrer sozialen Person, die ihm nicht zusagt. Seine Verachtung für ihren
»strebsamen bürgerlichen Geist«
läßt ihm nur noch die Wahl, Diotima dinglich anzusehen: junges, hohes, volles Rind, großgestalteter weiblicher Körper, Traum, Polster, Bett, Wolke sind die assoziativen Schemata, die nach dieser Operation übrig bleiben. Doch gelingt die Synthese auch in einer anderen Einstellung nicht mehr: Der Verzicht auf die Betrachtung des Körpers läßt auch wieder nur ein Ding übrig: allerdings keines mehr, das für den Betrachter von Nutzen sein könnte –
»ein strebsamer bürgerlicher Geist«
ist ein Gegenstand soziologischer Betrachtung, der allenfalls zur Reflexion anregt.
[054:555]
Eigentlich lernte ich sie sehr nah kennen. Ich meine damit nichts Physisches oder so – das nicht –, aber wir waren die ganze Zeit zusammen. Man braucht nicht immer physisch miteinander zu tun zu haben, um ein Mädchen kennenzulernen.
Ulrich fühlte zuweilen mit aller Eindringlichkeit ... Er sah sie also dann nicht ohne Bosheit und Ironie an, die sich durch Vergleich aus dem Tierreich an Diotimas Geistesadel rächt. Kehrte Ulrich aber von einem solchen Ausflug der Einbildungskraft zurück, so sah er einen strebsamen bürgerlichen Geist vor sich ...
|A 180|
[054:556]
»Kennenlernen«
,
»Zusammensein«
sind die tragenden Begriffe, mit denen Holden bis hin zu
»Freunde werden«
seine Beziehung zu Jane beschreibt. In allen Begriffen ist er als Interaktionspartner, auf den sich Jane ebenfalls beziehen kann, gegenwärtig. Die tragenden Kategorien von Ulrichs Beziehung sind nicht sozialer, sondern psychologischer Art,
»fühlen«
,
»sehen«
,
»Einbildungskraft«
,
»Bosheit«
,
»Ironie«
. Kennenlernen und Zusammensein bedarf zumindest zweier Personen; etwas fühlen, sich etwas einbilden, etwas sehen kann auch einer allein; sei es nun mit Bosheit oder ohne, sie verstärken nur das, was bereits vorhanden ist. Diotima ist für Ulrich in jedem Fall ein Objekt: seines wissenschaftlichen Interesses bzw. seiner möglichen Lustbefriedigung.
[054:557] Die Dimension, die an dieser Gegenüberstellung deutlich wird, ist von fundamentaler und allgemeiner Bedeutung. In einem Fall, so wollen wir zusammenfassen, wird die interpersonale Situation durch die konkrete Berührung zweier Personen bestimmt; es geht nur um diese andere Person, nicht um die Fülle möglicher Begleitumstände, Attribute, möglicher Interpretation. Im anderen Fall dagegen verschwinden die konkreten Personen gleichsam hinter den Etiketten; nur momentweise tritt jene Unmittelbarkeit hervor (
»Ulrich fühlte zuweilen mit aller Eindringlichkeit«
,
»... von einem solchen Ausflug der Einbildungskraft«
). Was im einen Fall die konkrete interpersonale Erfahrung ausmacht, wird im anderen Fall als ein Fehltritt ins Phantastische erlebt; was dort als Nebensächliches und eher Störendes erscheint, ist hier wirkliches Medium der Interaktion. Der Unterschied zwischen beiden Arten von Beziehungsdefinition kann auch als Unterschied des
»Role taking«
, des Umgangs mit Perspektiven beschrieben werden. In dem einen Fall wird in die Orientierung des eigenen Handelns auch die Perspektive des anderen hereingenommen (Metaperspektive), diese wird zu einem konstitutiven Bestandteil der eigenen Handlungsorientierung; es entsteht jene Gemeinsamkeit, die den Interaktionspartnern versichert, daß sie wechselseitig in ihren Handlungen repräsentiert, als Personen aufeinander bezogen sind. Damit ist in Interaktionskategorien beschrieben, was in einem anderen Vokabular als wechselseitiges Vertrauen, beispielsweise der Familienmitglieder zueinander, als emotionale Sicherheit, die die Familie dem Kind bietet, bezeichnet werden mag, aber auch – bezogen auf die Verbundenheit der Arbeitenden in Arbeitsvorgängen – als
»Koorientierung der Perspektiven zwischen den Inter|A 181|aktionspartnern im Produktionsprozeß«
(Ottomeyer 1974, S. 116 f.)
oder als
»Solidarität«
. Stiftet im Arbeitsprozeß die auf die Bearbeitung der
»äußeren Natur«
gerichtete gegenständliche Tätigkeit jene Koorientierung, so erfüllt in der Familie die Notwendigkeit der Bearbeitung von
»innerer Natur«
diese Funktion.
[054:558] Anders indessen liegen die Dinge bei der zweiten Art von Beziehungsdefinition. Die mit der Person des anderen gegebene Perspektive wird uninteressant; bedeutsam ist sie für das eigene Handeln nur, sofern sie sich für dieses und nur für dieses als nützlich erweist. Eine Brechung der eigenen Perspektive durch die des anderen kommt nicht ernstlich in Betracht. So kann beispielsweise die geschlechtsrollenspezifische Arbeitsteilung in der Familie diese Form annehmen: die Perspektive des anderen wird von dem Punkt an verdrängt oder ignoriert, an dem dem eigenen Interesse Gefährdung droht; Metaperspektiven sind nur zugelassen, sofern sie die Rollen- und Funktionsfestlegungen nicht in Frage stellen (vgl. dazu das Ehe-Protokoll im zweiten Abschnitt des 2. Kapitels). Wir dürfen vermuten, daß hierarchisch strukturierte Interaktionen gerade diese Art von Beziehungsdefinitionen begünstigen. Indessen kann auch die Familie funktioneller Elemente vermutlich nicht völlig entraten. Wir dürfen aber annehmen, daß eine starke Ausprägung funktioneller Beziehungsdefinitionen in der Familie, ihrer
»Natur«
nach, seltener der Fall ist als in Institutionen mit hohem Organisierungsgrad. Gerade die ununterbrochene und unmittelbare Nähe, in der die Familie ihre Mitglieder hält, der tägliche Zwang zu kommunikativem Austausch in einer Fülle von Dimensionen, verringert die Wahrscheinlichkeit einer nicht an persönliche Perspektiven der Interaktionspartner wechselseitig gebundenen Interaktion. Um so wichtiger ist es zu ermitteln, unter welchen Bedingungen es dennoch geschieht, wann und wo personale Beziehungsdefinitionen den funktionellen geopfert werden, die Familienmitglieder einander eher Mittel als Zweck sind.

2. Gleichberechtigte versus herrschaftsbestimmte Beziehung

[054:559] Mit den obengenannten Beispielen aus den Romanen von Musil und Salinger versuchten wir, die Dimension funktionale versus personale Beziehungsdefinition zu erläutern. Die folgenden Beispiele sollen die andere im
»Exkurs«
angesprochene Dimension der Verkehrsformen verdeutlichen, die Differenz zwischen einer |A 182|eher gleichberechtigten und einer eher herrschaftsbestimmten Beziehung; dabei gehen wir davon aus, daß eine personenorientierte Beziehungsdefinition nicht notwendig auch gleichberechtigtes Handeln einschließt. So könnte man von Erziehungssituationen, in denen die Partner allemal nicht gleichberechtigt sind, annehmen, daß sie durchaus von einem Interesse am Wohlergehen des Kindes geleitet sind und nicht davon, dies Kind als Mittel zu einem Zweck zu verwenden – auf der anderen Seite läßt sich zumindest der Versuch denken, daß einander gleichberechtigte Personen einander funktionalisieren wollen.
[054:560]
Der Konsul rückte mit einer Bewegung plötzlicher Zärtlichkeit seinen Stuhl an sie heran und strich lächelnd über ihr Haar.
»Meine kleine Tony«
, sagte er,
»was solltest du auch von ihm wissen? Du bist ein Kind, siehst du. Du würdest nicht mehr von ihm wissen, wenn er nicht vier Wochen, sondern zweiundfünfzig hier verlebt hätte. ... Du bist ein kleines Mädchen, das noch keine Augen hat für die Welt und das sich auf die Augen anderer Leute verlassen muß, die Gutes mit dir im Sinn haben. ...«

»Ich verstehe es nicht... ich verstehe es nicht...«
schluchzte Tony fassungslos und schmiegte ihren Kopf wie ein Kätzchen unter die streichelnde Hand.
»Er kommt hierher... sagt allen etwas Angenehmes... reist wieder ab... und schreibt, daß er mich... ich verstehe es nicht... wie kommt er dazu... was habe ich ihm getan?!«

Der Konsul lächelte wieder.
»Das hast du schon einmal gesagt, Tony, und es zeigt so recht deine kindliche Ratlosigkeit. Mein Töchterchen muß durchaus nicht glauben, daß ich es drängen und quälen will... Das alles kann mit Ruhe erwogen werden, muß mit Ruhe erwogen werden, denn es ist eine ernste Sache. Das werde ich auch Herrn Grünlich vorläufig antworten und sein Gesuch weder abschlagen noch bewilligen. Es gibt da viele Dinge zu überlegen... So... sehen wir wohl? Abgemacht! Nun geht Papa an seine Arbeit... Adieu Bethsy...«

»Auf Wiedersehen, mein lieber Jean.«

»Du solltest immerhin noch ein wenig Honig nehmen, Tony«
, sagte die Konsulin, als sie mit ihrer Tochter allein geblieben war, die unbeweglich und mit gesenktem Kopf an ihrem Platz blieb.
»Essen muß man hinlänglich...«
(Thomas Mann 1974, S. 72)
.
[054:561] Der Spontaneität der zärtlichen Geste zufolge verhält sich der Vater seiner Tochter gegenüber nicht berechnend, wenngleich sein Lächeln nicht nur Ausdruck von Zuneigung, sondern ebenso von Distanz sein könnte. Daß es dem Vater hier tatsächlich um das Schicksal seiner Tochter als einer Person und nicht einer Rollenträgerin (Tochter des Hauses) geht, darf man seinen fol|A 183|genden Äußerungen entnehmen. Dies verhindert aber nicht nur eine gleichberechtigte Beteiligung an der Rede über das immerhin entscheidende Ereignis eines Heiratsantrages, sondern gibt geradezu Gelegenheit, die Ungleichheit der Machtverteilung innerhalb der Familie zu bekräftigen. Auch eine personenorientierte Kommunikation kann nicht immer verhindern, daß der Partner nicht für voll genommen wird, im Gegenteil: Tony wird aufgrund ihrer Verwirrung als
»klein«
dargestellt, als unwissend, als unfähig, ihre eigenen Interessen wahrzunehmen. Sie ist angewiesen auf die
»Augen anderer Leute, die Gutes mit ihr im Sinn haben«
. Gekleidet ist diese Darstellung in die Form einer nur schwer zurückweisbaren zärtlichen Besorgtheit von seiten des Vaters. Tony vermag diesem Angebot nicht zu entgehen – infolgedessen bleiben alle ihre kritischen, ängstlichen und gemäßigt ablehnenden Äußerungen über den Mann, der ihr den Heiratsantrag gemacht hat, wirkungslos; mehr noch: sie bekräftigen nur ihren Status als unmündig.
»Das hast du schon einmal gesagt, Tony, und es zeigt so recht deine kindliche Ratlosigkeit«
. Das Lächeln des Konsuls schreibt die Distanz zwischen unwissendem Kind und nachsichtig-treusorgendem Vater weiter fest.
[054:562] Die ungleiche Verteilung von Chancen, sich über wichtige Belange äußern zu können, führt hier nicht zu einer direkten Verdinglichung und Funktionalisierung der Tochter, degradiert sie aber vom immerhin gesprächsfähigen Backfisch zum unmündigen Kleinkind. Der Verweis darauf, daß Tony dies schon einmal gesagt habe, soll sie als unzurechnungsfähig und ihrer Rede nicht mächtig erscheinen lassen. Infolgedessen ist von diesem Zeitpunkt nicht mehr
»Tony«
der Bezugspunkt, die man in der zweiten Person mit
»Du«
anspricht, sondern
»mein kleines Töchterchen«
, über das man, mit dem man aber nicht spricht. Der Vater schlägt der Tochter gewissermaßen eine Persönlichkeitsspaltung vor: Um für sie ihr
»Bestes«
in die Wege zu leiten, muß er mit ihr argumentieren; Inhalt des Arguments an einen somit gleichberechtigten Partner ist aber die Feststellung, daß eben dieser Partner gar kein ernstzunehmender Partner ist. Die abschließende Aufforderung der Mutter an die offensichtlich getroffene und wohl auch unzufriedene Tochter, doch noch etwas Honig zu nehmen, ist dann nicht mehr als der Versuch, den letzten Rest geäußerten Unbehagens zu überspielen und die Tochter aus der immerhin noch das Erwachsenenleben tangierenden Sphäre von Heirat und ähnlichem wieder in die kindliche |A 184|Welt des Kampfes um das hinlängliche Aufessen zurückzuversetzen.
[054:563] Man kann sich vorstellen, daß in dieser Dimension Familien in verschiedenen sozialen Situationen unterschiedliche Ausprägungsgrade erreichen und daß diese Ausprägungen in systematischer Weise mit historischen und gesellschaftlichen Bedingungen variieren. Zu vermuten, daß die Herrschaftsbestimmtheit der familialen Interaktion, überhaupt der Interaktion zwischen Erwachsenen und Kindern, außer in einzelnen Situationen, auf Null absinken und die Form einer durchgehend rein gleichberechtigten Beziehung annehmen könne, wäre sicher eine schlechte Utopie (vgl. dazu Claessens 1968). Auf die Leibgebundenheit des Machtgefälles, dessen historisch je besondere Ausprägung wir Herrschaft nennen, wiesen wir schon im 2. Kapitel hin. Ebenso wäre die Vermutung, eine Eltern-Kind-Beziehung könne in gleichsam lückenloser Ausprägung herrschaftsbestimmt sein, wahrscheinlich unrealistisch, extrem pathologische Fälle ausgenommen. Was aber auf dieser Skala an Variationen für das gesellschaftlich Mögliche bleibt, ist wichtig und folgenreich genug, um als Grunddimension der familienrelevanten Verkehrsformen herausgestellt zu werden.

3. Inhaltlich bestimmte versus formal bestimmte Interaktion

[054:564] Was sich bei der gesellschaftlichen Trennung von Wohnung und Arbeitsstätte vollzogen hat, war vermutlich für die Familie mehr als ein nur äußeres Datum, eine Verschiebung in ihren materiellen Lebensbedingungen. Diese Veränderung ist zum vielleicht bedeutendsten Faktor bei der Umgestaltung der innerfamilialen Beziehungen geworden. Man kann sich das am ehesten klarmachen, wenn man das Augenmerk auf das richtet, was sich als das familiale Curriculum, der familiale Bildungsplan bezeichnen ließe. Seine je historisch besondere Bestimmtheit kann das familiale Beziehungsnetz nicht gleichsam aus sich selbst haben; es hat sie nur durch die Teilhabe der erwachsenen Familienmitglieder am gesellschaftlichen Geschehen. Diese Teilhabe aber ist, in wie vermittelter Form auch immer, Teilhabe an dem System, in dem geschichtlich aktuell Arbeit und damit materielle Güterversorgung organisiert ist. Der folgende Text, wiewohl ausschließlich auf die Organisation des Hauswesens bezogen, kann dieses Problem illustrieren:
|A 185|
[054:565]
»Wacker, der Mann und Hausvater, stellt das wirklich vor, was er von Natur ist – das Haupt seiner Familie, den Herrn in seinem Haus. ... Er teilt die sämtlichen häuslichen Geschäfte ein, gibt Acht, ob Jeder sein Pensum verrichte, und hält mit Ernst darauf, daß es geschehe. Er ist deshalb, so viel seine Welt- und Berufslage ihm verstattet, gern zu Hause, um das häusliche Ganze immer vollkommen zu übersehen und zu leiten, oder auch da, wo es fehlt, nachhelfen zu können. Alle Hausgenossen übertrifft er an Pflichteifer und unzuermüdender Geschäftigkeit. Er besitzt alle nötigen Kenntnisse, und so kann er Sicherheitsanstalten gegen vermeidliche Gefahren, Wehranstalten gegen unvermeidliche treffen. Dieser Hausvater ist im würdigsten Verstande der Erste von der ganzen Gesellschaft – d. h. der Weiseste und Beste, ein Muster jeder männlichen Tugend ..., auf das alle männlichen Hausgenossen nur blicken dürfen, um sich auf das männlichedelste nachzubilden«
(Weber-Kellermann 1974, S. 75)
.
[054:566] Diese idealtypische Beschreibung der Stellung des Hausvaters einer Handwerker- und Bürgerfamilie um 1800 wird verständlich erst vor dem Hintergrund der Tatsache, daß das Hauswesen nicht primär der Ort der zweiten,
»sozio-kulturellen Geburt«
des Menschen (König) ist, seinen Brennpunkt nicht in der Sozialisationsfunktion hat, sondern darin, daß es eine Organisationsform ist, die der Sicherung und Dauer des handwerklichen Betriebes und seiner generativen Überlieferung dient. Im Vergleich dazu liest sich der im 2. Kapitel zitierte Text
»Die Bütows«
abstrakt, und zwar
»in dem Sinne, daß (er) abgelöst und entleert (ist) von der gegenständlichen Produktionstätigkeit und der Konstitution einer gemeinsamen gegenständlichen Welt in der Auseinandersetzung mit der äußeren Natur«
(Ottomeyer 1974, S. 128). Dieser Prozeß der
»Entleerung«
erfaßt jene Familien am stärksten, die mit Berufen verbunden sind, welche der
»Auseinandersetzung mit der Natur«
am fernsten stehen: Die Forschungsergebnisse von Kohn (1969) geben dafür einen Anhaltspunkt (vgl. Tabelle 9, S. 34). Die Befunde Kohns zeigen aber auch, daß es naiv wäre, jene
»Entleerung«
etwa als eine Abwertung zu verstehen. Worauf es hier ankommt, ist lediglich die Hypothese, daß das familiale Curriculum in dem Maße stärker von der Arbeitssphäre her bestimmt wird, in dem die Familienorganisation sich noch relativ unmittelbar an den durch den Beruf des Vaters oder der Eltern definierten Arbeitsvollzügen orientiert; in dem Maße aber, in dem dieser Nexus verschwindet, wie z. B. besonders bei allen Formen von Kopf-Arbeit, entsteht ein anderes Curriculum, in dem nun formale Qualifikationen, zunächst in der unmittelbar gegebenen interpersonellen Beziehung, dann aber auch im Hinblick auf beruf|A 186|lich verwertbare Fähigkeiten (Selbständigkeit, Flexibilität, Leistungsmotivation usw.), allerdings nur in ihrer formalen Gestalt, dominieren.
[054:567] Die Sache erscheint jedoch noch komplizierter, wenn man beobachtet, daß
»Entleerung von der gegenständlichen Produktionstätigkeit«
nicht schon die Antwort auf eine Frage, sondern allenfalls ein Hinweis ist. Wir haben es im Hinblick auf die Familienerziehung mindestens mit folgenden Aspekten des Problems zu tun:
  • [054:568] Je differenzierter das gesellschaftliche System der Arbeitsteilung ist, um so wahrscheinlicher ist es, daß sich Arten von Arbeitsplätzen vermehren, die nicht mehr durch eine gegenständliche Bearbeitung der Natur gekennzeichnet sind.
  • [054:569] Gleichzeitig werden durch die Trennung von Wohn- und Arbeitsplatz Produktion und Konsum derart getrennt, daß die Arbeitssphäre, an der die erwachsenen Mitglieder der Familie, vornehmlich die männlichen, teilhaben, den Kindern nicht mehr anschaulich ist. Für sie ist am Leben ihrer Eltern nur das
    »wirklich«
    , was sie als private Formen von Kommunikation außerhalb der Arbeitszeit wahrnehmen und ihnen mehr oder weniger als Folge der Verausgabung von Arbeitskraft erscheint, und zwar eher weniger als mehr begreifbar.
  • [054:570] Schließlich wird durch diese Vorgänge die Familie in ihrer inhaltlichen Orientierung mehr und mehr auf
    »Freizeit«
    -orientierte Kommunikation verwiesen. Themen und Schlüsselprobleme schließen sich weniger an die Themen der Arbeitswelt als an die des privaten Konsums und der Regelung innerfamilialer Beziehungen einschließlich der Bildungsperspektiven an.
[054:571] An der Gegenüberstellung von drei Kinderäußerungen über die Wahrnehmungen ihrer Väter wird das illustrativ deutlich:
[054:572]
Leitender Beamter:
»Mein Vater ist beim Gericht. Er beginnt um ½10. Mein Vater hat keinen weiten Weg, drum geht er zu Fuß. Er arbeitet beim Gericht. Er guckt, ob alles nachgesehen ist. Nachmittags kommt er um 2 Uhr nach Hause. Dann legt er sich hin.«
[054:573] Industriearbeiter:
»Mein Vater ist Schlosser bei der Firma X in Y. Morgens um 5 Uhr steht er auf, macht sich fertig, und geht um 6 Uhr zur Arbeitsstelle, die nur 5 Minuten von unserem Haus entfernt liegt. In der Umkleidekabine zieht er sein Arbeitszeug an und geht an seine Arbeitsstelle. Mittags um zwölf bringt meine Mutter ihm das Essen, dann hat er nämlich eine Stunde Mittagspause. Danach geht er wieder an seine Maschine und arbeitet weiter. Abends um 18.30 hat er Feierabend, zieht sich um, und ist um 18.45 zu Hause. Wir essen dann zusammen |A 187|Abendbrot. Nach dem Essen liest mein Vater die Zeitung und läßt sich das neueste vom Tage erzählen. Wenn er dann nichts besonderes mehr vor hat, geht er schlafen.«
[054:574] Landwirt:
»Mein Vater hat den landwirtschaftlichen Beruf erlernt. Des Morgens steht er schon früh auf. Zuerst werden die Kühe gemolken. Dann werden die Pferde und Schweine gefüttert. Wenn er alles versorgt hat, trinken wir Kaffee. Dann nimmt er die Pferde und geht auf das Feld. Gestern hat er das Kartoffelstück abgeeggt. Wenn ich früh aus der Schule komme, rufe ich ihn zum Mittagessen. Dann essen wir. Wenn er müde ist, legt er sich 5 Min. auf das Sofa. Hat er ausgeschlafen, wird weiter gearbeitet bis 5.00. Dann muß gemolken und gefüttert werden. Wenn er gegessen hat, geht er ins Bett. Des Sonntags geht er mit uns spazieren.«
(Linde, in: Rosenbaum 1974, S. 204 f.)
[054:575] Der Verfasser der Untersuchung, aus der diese Kinderaufsätze stammen, resümiert für die ländliche Familie:
[054:576]
»Da die Landfamilie nicht nur eine Institution der persönlichen Lebensführung, sondern durch und durch eine Institution der Arbeitswelt ist, bietet sie weniger Möglichkeiten zum Aufbau einer eigenständigen, aparten Kinderwelt des reinen Spiels. Die Familienwelt des Landkindes ist (strukturbedingt) sachhafter, gesellschaftsbezogener und weniger privat. Das Kinderland der ländlichen Welt ist nichts anderes als ein dem Kinde zugänglicher (d. h. zugleich seiner Entwicklung angemessener) spezifischer Aspekt der ländlichen Arbeitswelt und der dieser Arbeitswelt zu- bzw. untergeordneten Häuslichkeit«
(a.a.O., S. 206)
.
[054:577] Für den allergrößten Teil der Familien also gilt diese Beschreibung nicht. Die meisten Familien sind vornehmlich Institutionen
»der persönlichen Lebensführung«
, weniger
»sachhaft«
, weniger
»gesellschaftsbezogen«
und entschieden privater. Die Kinderwelt und die Kommunikation zwischen Eltern und Kindern sind kein
»spezifischer Aspekt der Arbeitswelt«
, sondern ein thematisch eigener Bereich von Problemen und Problemlösungen. Die Verschiebung der Schlüsselprobleme familialer Interaktion auf die Freizeit- und Beziehungsthematik muß allerdings nicht notwendig Inhaltsentleerung, Konzentration auf die Form-Seite des Familienlebens bedeuten. Dies wäre nur der Fall, wenn als
»inhaltlich«
nur das bezeichnet werden dürfte, was sich auf Arbeitsprozesse in der einen oder anderen Weise bezieht. Es ist jedoch denkbar, daß die Entleerung der familialen Lebenswelt von arbeitsspezifischen Inhalten dazu führt, daß tatsächlich die Familienkommunikation auf Dauer eine neue inhaltliche Orientierung, z. B. im Freizeitbereich, im Bereich der sozialen Alltagserfahrungen, der Zuwendung zu politischer Thematik, der Ko|A 188|operation auch, mit anderen im Hinblick auf die Bildungsperspektiven usw., nicht schafft, sondern sich nur noch mit den formalen Problemen der innerfamilialen Beziehungsregelung, sozusagen ohne thematische Perspektive, befaßt. Ob das eine oder andere der Fall ist, läßt sich für die gegenwärtige Familie aufgrund unseres empirischen Wissens noch nicht mit Sicherheit behaupten. Indessen scheint uns unabweislich, daß gerade solche Feststellungen im Hinblick auf die Beantwortung der Frage, auf welche Weise und mit welcher Intensität die gesellschaftlichen Verkehrsformen mit der familialen Interaktion Zusammenhängen, von besonderer Bedeutung ist.

4. Subjektive versus mechanische Zeitschemata

[054:578] Familienerziehung – oder allgemeiner ausgedrückt: Primär-Sozialisation – hat es nicht erst in unseren Tagen mit einer Balance-Leistung zu tun, in der ein besonders schwieriger Akt der sozialen Integration des menschlichen Organismus zu bewerkstelligen ist: Das kleine Kind, das zunächst den Rhythmen seines Organismus folgt und das seine
»Leistungen«
ganz nach dem Gleichgewicht von Bedürfnis und Befriedigung bemißt, wird mit zunehmendem Alter einem von seinen Bedürfnissen zunächst unabhängigen
»Meßverfahren«
unterworfen: Es wird danach beurteilt, welche Leistungen es in welchen Zeiteinheiten erbringt. Diese in der Form eines Zeitschemas an das Kind herangetragenen Erwartungen treten zunächst gleichsam nur punktuell auf (z. B. Reinlichkeitstraining), gewinnen aber im Laufe des Bildungsprozesses an Bedeutung. Der Punkt, an dem dieses Zeitschema zum erstenmal ganz offensichtlich dazu tendiert, die Oberhand zu gewinnen, ist der Schuleintritt. Für die Familie wird spätestens jetzt unausweichlich, daß sich ein wesentlicher Teil des Lebens des Kindes – und damit auch der pädagogisch bestimmten familialen Interaktionen – nach Maßgabe eines mechanischen Zeitschemas abspielt, das sich in Unterrichtsstunden und Unterrichtsleistungen, Schulaufgaben und
»frei verfügbarer«
Zeit darstellt. Wäre die
»richtige«
Antwort eines Kindes im Sinne eines mechanischen Zeitschemas auf die Frage,
»wie lange brauchst du wohl für diese oder jene Tätigkeit?«
:
»so und so viele Minuten«
, dann wäre die
»richtige«
Antwort nach Maßgabe des subjektiven Zeitschemas beispielsweise:
»bis ich keine Lust mehr habe«
. Es ist einleuchtend, daß komplexere gesellschaftliche Verhältnisse, zumal gesellschaftlich organisierte Arbeit, |A 189|auf das mechanische Zeitschema nicht verzichten können. Ebenso aber gilt, daß es Tätigkeiten gibt, die, wenn überhaupt, nur in verstümmelter Form möglich wären, könnte für sie nicht der subjektive Zeitbegriff in Anspruch genommen werden. Die Erziehung von Kindern gehört zu dieser Art Tätigkeit. Unter gegenwärtigen Bedingungen bedeutet das, daß die Familie, da sie die Wirklichkeit des mechanischen Zeitschemas kaum leugnen kann – nicht nur das Kind in der Schule, auch die Eltern sind in Beruf und Konsum ihm unterworfen –, zwischen beiden Schemata unentwegt balancieren muß.
[054:579]
»Die entwickelte kapitalistische Warenproduktion kennt nur einen Zeitbegriff: er bestimmt den abstrakt quantifizierenden Maßstab für die Produktion von Wert und Mehrwert als einer Addition von Zeiteinheiten. Gesellschaftlich notwendige Zeit, welche die Erzeugung eines Produkts erfordert; Mehrarbeit, die in einer bestimmten Zeit geleistet wird; arbeitsfreie Zeit, als Rest des Tages, in dem sich allerdings ein aus der Produktion kommendes Fortsetzungsverhalten durchsetzt – alle diese Zeitbegriffe liegen auf derselben Ebene. Es ist der Zeitbegriff des Arbeitstages, den jeder Arbeiter kennt, auch wenn er von den modernen, äußerst raffinierten Methoden der Zeitmessung keine Ahnung hat«
(Negt/Kluge 1972, S. 44)
.
[054:580] Das Dilemma zeigt sich an der Maxime Rousseaus, daß es in der Erziehung nicht darauf ankomme, Zeit zu gewinnen, sondern darauf, Zeit zu verlieren (Negt/Kluge 1973, S. 48). Eine Familie, die dieser Aufforderung strikt folgen wollte, brächte sich, aber vor allem ihre Kinder, in die größten Schwierigkeiten. Ihre Bemühung würde gesellschaftlich nicht honoriert werden, sondern von Sanktionen bedroht sein, und seien diese Sanktionen auch
»nur«
der schulische Mißerfolg der Kinder. Angesichts dieser Unentrinnbarkeit und der Tatsache, daß jene Balanceakte nicht nur für die Kinder oder von den Kindern, sondern ebenso von den Erwachsenen erbracht werden müssen, die wachsende Gewalt des mechanischen Zeitschemas aber die Vermittlungsleistung für die Person immer schwieriger gestaltet, liegt es nahe, daß innerhalb des Familienalltags Interaktions-Enklaven gebildet werden, in denen die Balance zwischen den beiden Zeitschemata wenigstens dem Schein nach gelingt: vor allem Wochenende und Ferien. Ein Indikator dafür ist, daß das Erziehungsverhalten von Eltern und die Interaktionen im Ehesystem gerade innerhalb dieser
»Freiräume«
deutlich anders sind als an den Werktagen, an denen sie gleichsam unvermittelt ihre
»innere«
Organisation den
»äußeren«
gesellschaftlichen Bedin|A 190|gungen anpassen müssen: Die Dominanzstrukturen sind schwächer ausgeprägt, die Rollentrennung zwischen Mann und Frau ist weniger rigide, die Verhaltensspielräume der Kinder werden größer, die Beteiligung beider Eltern an den Beschäftigungen der Kinder wird ausgewogener.
[054:581] Diese Dimension familialer Verkehrsformen hat es vermutlich in besonderer Weise mit dem Verhältnis von Schule und Familie zu tun. In der Schule – so wie sie gegenwärtig wohl in allen Industrienationen praktiziert wird – wird das Kind zum erstenmal am eigenen Leib fühlbar mit den Zeit-Schemata der industriellen, arbeitsteiligen und zugleich herrschaftsbestimmten Produktion konfrontiert, wenngleich in
»abstrakter«
Weise. Abstrakt kann man diese Konfrontation deshalb nennen, weil die Gründe für eine Verwendung mechanischer Zeitmessung und Leistungsmessung sich nicht aus der Nötigung ergeben, die in einer gemeinschaftlich organisierten gegenständlichen Produktion liegt; auch gibt es keine Gründe, die sich an das Interesse des Kindes, seine vorgängigen Erfahrungen anheften könnten. Das Schema selbst kann nur aus dem puren Vorhandensein dieser Institution plausibel gemacht werden, allenfalls unterstützt durch den – in der Tat realistischen – Hinweis darauf, daß das Kind es
»später«
einsehen werde. Das ist – um es einmal moralisch und unwissenschaftlich auszudrücken – eine der schlimmsten Zumutungen an unsere Kinder. Vor allem aber setzt diese Zumutung die Familie unter einen Zwang, den sie kaum kompensieren kann – sie kann sich ihm nur unterwerfen, sofern es sich nicht um die kleine Gruppe hochprivilegierter Familien handelt, die die kleinen Lücken des Systems in diesem Fall für vernünftige Zwecke nutzen können. Angesichts der Tatsache, daß Lernen nicht nur
»Zeit braucht«
, sondern subjektiv verschiedene Zeit, verschiedene Rhythmen, gerät nicht nur die Bildungsvorstellung der Schule zu einer Paradoxie für die Kinder, sondern – gezwungenermaßen, denn sie sind allemal von der Schule abhängig – auch zu einer Paradoxie für die Familie und ihre Interaktion: die mechanischen Ansprüche des Bildungssystems und die im Alltagshandeln verankerten richtigen Ansprüche subjektiver Zeit-Schemata sind nicht zu vereinbaren und deshalb Quelle irrationaler, weil nicht mehr sinnvoll zu lösender Konflikte (vgl. das Beispiel im 3. Kapitel, S. 99). Die
» Bildungspolitik«
von Elternbeiräten, jedenfalls den meisten, zeigt, daß diese Paradoxie nicht etwa durchgestanden und aufgelöst, sondern auf Kosten des Kindes liquidiert wird: Auch Eltern |A 191|stehen unter dem Zwang des mechanischen Zeitschemas und neigen deshalb dazu – da mit seiner vollständigen Internalisierung ja Lebenschancen im Kapitalismus verbunden sind –, das vorbehaltlos zu akzeptieren, was dem Prozeß der Kapitalverwertung dienlich ist.

5. Problematisierende versus konventionalistische Interaktionsmuster

[054:582] Man kann sich die komplizierte Leistung, die die Familie – und übrigens nicht nur sie, sondern jedes soziale Gebilde, das die Aufgabe der frühen Bildung von Kindern übernimmt – zu erbringen hat, nicht nachdrücklich genug vor Augen führen. Der täglich zu bewältigende Ausgleich zwischen den Bedürfnissen der Gruppenmitglieder und den äußeren sozialen Anforderungen ist vermutlich nur zu bewältigen, wenn nicht jede Handlung in allen ihren Aspekten neu entworfen, nicht jede Entscheidung argumentativ gestützt, nicht jede Wertorientierung in diskursiven Zweifel gezogen wird. Das heißt positiv formuliert: Die Familie als soziale und pädagogisch leistungsfähige Institution kann vermutlich nur existieren, wenn sie ihre Interaktionen auf einen eingespielten Bestand an Umgangsmustern, Wertentscheidungen und Deutungsschemata gründen kann, auf einen praktischen Konsens also; sie hat nicht theoretische Probleme im Diskurs, sondern praktische Probleme unter Handlungsdruck zu lösen. Das gilt vielleicht weniger für das Ehe-System als für das Eltern-Kind-System: Es ist ein wesentliches Charakteristikum des Erziehungshandelns, jedenfalls für die jüngeren Altersstufen, daß es
»vorwegnehmend«
ist, daß Entscheidungen für das Kind gefällt werden, die der diskursiven Erörterung mit ihm entzogen sind. Tendenziell jedoch trifft das nicht nur für das Erziehungshandeln im engeren Sinne, sondern für alle Dimensionen des Familienalltags zu, wenngleich in unterschiedlicher Ausprägung: Definitionen von Generationen- und Geschlechterrollen, Organisation von Mahlzeiten, Reinlichkeitserziehung, Redeformen, gemeinsame Arbeit und gemeinsame Freizeit, Umgang mit Nachbarn und Freunden, Regelungen für
»Lernen«
(schulische Erwartungen) und
»Spielen«
, Höflichkeitsgesten, Aufräumen der Wohn- und Spielräume usw.
[054:583] Nun läßt sich allerdings ein Grad an Institutionalisierung denken, in dem die normativen Vorgaben dieser Art prinzipiell jedem Diskurs, jeder begründenden Erwägung entzogen sind, |A 192|wo der Hinweis darauf, daß eine Norm gilt, daß
»man«
ihr folgt, daß das
»eben so und nicht anders«
sei, als hinreichende Begründung verstanden wird. Wie bei einem religiösen Ritus kann in solchen Fällen das Verhalten in Formen und auf Inhalte festgelegt sein, für die eine allgemeine und nicht problematisierungsfähige Geltung unterstellt wird, normative Erwartungen wie Naturtatsachen betrachtet werden. Eine ausgeprägte Tendenz in dieser Richtung scheint Ottomeyer für die Familie im Kapitalismus zu vermuten. Er schreibt:
»Der Kompensationscharakter der familialen Interaktion (unter dem Zwang der
»Reproduktion der Arbeitskraft«
im Kapitalismus; die Verf.) verengt den Spielraum für die Wahrnehmung und das Austragen gegensätzlicher Situationsdefinitionen unter den Interaktionspartnern«
(Ottomeyer 1974, S. 130)
. Genau dies ist der Sinn von Konventionen: den Spielraum für Deutungen,
»Situationsdefinitionen«
, Handlungsalternativen einzuschränken. Recht ausgeprägte Beispiele für diese Tendenz sind die beiden im zweiten Kapitel mitgeteilten Fälle
»die Bütows«
und die Protokollausschnitte von Interaktionen zwischen Eltern und Tochter (S. 40 ff. und S. 63 ff.). In beiden Fällen werden die eingespielten Konventionen von keinem der Familienmitglieder argumentativ, und sei es auch nur versuchsweise, in Frage gestellt, kommen verschiedenartige Situationsdefinitionen nicht oder kaum zur Geltung, kann deshalb der Konventionalismus auch seine ganze Macht entfalten. Im genannten Interaktionsprotokoll ist indessen doch ein Ansatz der Tochter zu beobachten, der allerdings bei den Eltern auf wenig
»Empathie«
trifft, und von einem
»Austragen«
der Verschiedenheit – Situationsdefinitionen müssen nicht unbedingt
»gegensätzlich«
(Ottomeyer) sein – kann dabei kaum die Rede sein.
[054:584] Es erscheint uns aber als ein allzu naiver Umgang mit dem Erfahrungswissen, solche Beobachtungen zu generalisieren. Dies gilt auch im Blick auf eine andere Stelle bei Ottomeyer, wo es im Sinne einer empirischen Behauptung heißt:
»In einer Gesellschaft, in der die Individuen ihren grundlegenden gesellschaftlichen Zusammenhang über die Waren- bzw. Geldform haben, ihn
in der Tasche bei sich tragen
(Marx), und noch während der Kooperation im Produktionsprozeß von der Dominanz des Verwertungsprozesses gegeneinander isoliert werden, unterliegen die sozialen Beziehungen in der Familie notwendig einer Tendenz in Richtung auf eine Harmonisierung um jeden Preis und eine kompensatorische Unmittelbarkeit des gesellschaftlichen |A 193|Zusammenhangs«
(Ottomeyer 1974, S. 133 f.)
. Der Wunsch, alles, was man für einen defizienten Modus familialer Kommunikation hält, partout dem Kapitalismus zuzuschreiben, ist hier offenbar der Vater des Gedankens. Indessen, auch wenn man über die empirische Triftigkeit solcher Behauptungen streiten sollte: Daß die Gesellschaftsformation sich auch in der Ausprägung von Graden des Konventionalismus auswirkt, scheint nicht nur eine akzeptable Hypothese, sondern auch durch die Marxsche Theorie der Verkehrsform nahegelegt.
[054:585] Damit aber haben wir erst auf das eine Ende unserer Dimension bzw. Skala hingewiesen; das andere jedoch wurde bereits unter der Hand angedeutet: Denken wir uns konventionalistische Formen der familialen Interaktion, und zwar nach Graden der Ausprägung unterschieden, dann ist damit ein nicht-konventionalistischer Typus von Interaktionen schon mitgedacht, in dem der
»Spielraum für die Wahrnehmung und das Austragen gegensätzlicher Situationsdefinitionen«
größer, die Tendenzen zur
»Harmonisierung um jeden Preis«
geringer, die Problematisierung eingespielter Muster des Verhaltens, konventionalisierter Normen häufiger ist. Nun spricht einiges dafür, daß es sich bei dieser Art der Ausprägung unserer Merkmalsdimension um ein soziales Ereignis handelt, das im gesellschaftlich-geschichtlichen Ablauf, wie auch in der Bildungsgeschichte des einzelnen, späteren Datums ist als die konventionalistische Form der Ausprägung. Anders formuliert: Uns scheint die Vermutung sinnvoll, daß die Entwicklung von der mittelalterlich-feudalen über die frühbürgerliche zur kapitalistischen Gesellschaft durch eine Abnahme der Häufigkeit konventionalistischer Interaktionsmuster und eine Zunahme der problematisierenden Interaktionsmuster in sozialen Gruppen, auch in der Familie, gekennzeichnet ist. Die Familie der Gegenwart ist nicht – wie es die Formulierungen Ottomeyers nahelegen – konfliktunwilliger oder -unfähiger geworden, sondern im Gegenteil: Konventionalistische Familienformen, wie in der Familie im Feudalismus, auch noch der Kleinbürgerfamilie des 18. und 19. Jahrhunderts, der proletarischen Familie, werden seltener.
[054:586] Allerdings scheint in der These Ottomeyers, ohne daß er sich darüber Rechenschaft gibt, noch etwas anderes enthalten zu sein: Sollte es wirklich zutreffen, daß problematisierende Interaktionsmuster häufiger werden, dann liegt es nahe anzunehmen, daß auch die Sensibilität für konventionalistische Formen größer wird, daß also genauer registriert wird, wie häufig immer |A 194|noch, wie ausgeprägt doch noch der konventionalistische Fall von Familieninteraktion gegenwärtig ist. Gemessen nämlich an dem Wunsch, problematisierende Formen von Interaktion sollten so häufig und ausgeprägt wie nur irgend möglich sein, bleiben vermutlich die wirklichen Verhältnisse tatsächlich weit hinter dem Gewünschten zurück. Und noch ein weiterer Gedanke wäre sinnvoll: Die sozialen Bedingungen, die die spätkapitalistische Gesellschaft setzt, könnten sich so auswirken, daß die oben behauptete geschichtliche Entwicklung sistiert oder doch wenigstens gebremst wird, so daß tatsächlich die Familie die Leistung, die ihr zugemutet wird, zunehmend weniger befriedigend erfüllen kann: Die Konfliktpotentiale nehmen derart zu, daß die Familie zu denjenigen Formen von Interaktionen greift, die
»Konventionalismus«
auf dem gegenwärtigen Stand der geschichtlichen Entwicklung erlauben. Das könnte in jenen
»psychologischen«
Formen des Umgangs zwischen Eltern und Kindern der Fall sein, die in den mittleren sozialen Schichten häufig sind und auch in den unteren Schichten zunehmen und die dadurch gekennzeichnet sind, daß die Spielräume für die Entfaltung kindlicher Bedürfnisse größer, die Rationalität im Umgang mit den Kindern ausgeprägter, Verbote und Gehorsamsforderungen seltener werden. Phänomenologisch sehr differenziert erscheinende Formen der familialen Interaktion könnten (könnten!) sich als nichts anderes erweisen denn als besonders
»raffinierte«
Form von Konventionalismus.
[054:587] Wie dem auch sei: Thesen dieser Art erscheinen uns auf dem gegenwärtigen Stand des Wissens als vielleicht doch reichlich spekulativ. Das ist indessen im Hinblick auf den ontogenetischen, den Aspekt der individuellen Bildungsgeschichte anders: Konventionalismus und Problematisierung können wir nämlich auch als Kategorien zur Beschreibung von Bildungsstufen verwenden, die im Bildungsprozeß des Kindes bzw. Jugendlichen aufeinander folgen. Diese Annahme ergibt sich aus der Beantwortung der Frage, welche empirischen Bedingungen im Bildungsprozeß des Individuums gegeben sein müssen, damit ein problematisierendes Interaktionsmuster möglich ist. In unsystematischer Reihenfolge zählen wir nur einige solcher Bedingungen auf: Eltern und Kinder müssen in sprachlich entwickelter Form miteinander kommunizieren können, zu Verhaltenserwartungen müssen Alternativen gedacht werden können, die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern müssen emotional relativ stabil sein, die Familienmitglieder müssen sich in die |A 195|Rollen bzw. Positionen der anderen hineinversetzen können, d. h. ihre Metaperspektiven wahrnehmen, sie müssen über Begriffe verfügen, insbesondere solche, die es erlauben, nicht nur die innerfamilialen Regeln der Interaktion zu interpretieren und nach ihrer Geltung zu fragen, sondern auch sie im Zusammenhang mit außerfamilialen Erfahrungen zu sehen. Erst wenn Bedingungen dieser Art erfüllt sind, kann sich ein problematisierendes Interaktionsmuster zwischen Eltern und Kindern entfalten, kann die Stufe des Konventionalismus verlassen werden. Die Ausprägungen, die eine Familie in der Dimension Konventionalismus/Problematisierung erreicht, sind also nicht nur abhängig vom historischen Zustand der Gesellschaft, in der die Familie existiert, sondern – auf der Basis dieser Vorgabe – auch vom Alter der Familie bzw. ihrer Kinder.
[054:588] Die Schwierigkeiten für die kommunikative Leistung, die die Familie in ihrer Erziehungsaufgabe zu erbringen hat, werden an dieser Dimension besonders deutlich. Im Familienzyklus, d. h. im biographischen Verlauf der Familie, im Umgang mit den älter werdenden Kindern, kann die problematisierende Stufe nicht vor der konventionalistischen liegen, kann das Kind die Regeln und Normen des Familienlebens erst auf ihre Geltungsbegründung hin befragen, nachdem es gelernt hat, sich überhaupt regelgerecht zu verhalten. Im Ehe-System jedoch ist ein problematisierendes Interaktionsmuster möglicherweise durchaus etabliert und kann deshalb auch als Modell für das kindliche Lernen fungieren; Problematisierung also kann in manchen familialen Situationen Geltung beanspruchen, in anderen nicht. Komplizierter noch wird der geforderte Balanceakt, wenn Kinder verschiedenen Alters sich auf unterschiedlichen Bildungsstufen auf der Skala Konventionalismus/Problematisierung befinden; was für das jüngere Kind gilt, gilt nicht für das ältere; beide aber sind täglich nicht nur einem Ausschnitt der Familienwirklichkeit, sondern dem Ganzen konfrontiert – freilich nach Maßgabe der personspezifischen Wahrnehmungs- und Deutungsschemata. Äußere Bedingungen wie die Arbeitssituation des Vaters, die Erwerbstätigkeit der Mutter, die Wohnsituation, die Integration in Nachbarschaften oder andere soziale Gruppierungen beeinflussen die Tendenzen der Familie, den Ausgleich der Anforderungen eher in Richtung auf konventionalistische oder eher in Richtung auf problematisierende Deutungsmuster zu suchen. Schließlich resultiert aus all dem eine Zukunfts- oder Bildungsperspektive der Familie für sich als Gruppe und für |A 196|ihre einzelnen Mitglieder, die ihrerseits zu einer Determinante für die Art der Interaktions-Lösungen werden kann, eine Art
»zweite Wirklichkeit«
, die mit den täglich erfahrenen materiellen Bedingungen oder Begrenzungen in Konflikt geraten kann. Probleme dieser Art müssen in all den Gesellschaftsformationen gelöst werden, in denen Familien der Ort sind, an dem die frühe Erziehung der Kinder geschieht und deshalb auch die basalen Bildungsprozesse ablaufen, Gesellschaftsformationen allerdings, in denen zugleich nichtkonventionalistische, sondern problematisierende Interaktionsmuster als die reife Stufe von Bildungsprozessen angestrebt werden, in denen also die kritischen Fragen nach der Geltungsbegründung von Interaktionsregeln, ihren Normen und Werten nicht liquidiert werden, sei es durch Ideologien, sei es durch unmittelbare Gewalt über Eltern und Kinder. Solche
»Ideologie«
oder
»Gewalt«
kann nun durchaus von den
»Verhältnissen«
ausgehen, und zwar entgegen der Legitimationsbasis, die eine Gesellschaft für sich in Anspruch nimmt. Der normative Widerspruch – und hier ist der Ausdruck
»Widerspruch«
, der häufig so vage und inflationär verwendet wird, am Platze –, der dadurch entstehen kann, daß der Familie eine Erziehungsleistung angesonnen wird, die sie aufgrund ihrer sozialen Situation vielleicht prinzipiell nicht erbringen kann, wirkt sich vielleicht auf die von uns erörterte Dimension derart aus, daß die Praxis der Familienerziehung weit stärker dem konventionalistischen Interaktionsmuster zuneigt, als das nach Maßgabe jener Legitimationsbasis sein sollte; oder – mit dem Begriff der Verkehrsform und als Hypothese ausgedrückt: Die Verkehrsformen, die für die Waren-Zirkulation in der kapitalistischen Gesellschaft gelten und, über ihre Verwertbarkeit für Produktion und Zirkulation, auch die Bildungsprozesse beeinträchtigen und die Familie
»unter Druck«
setzen, befördern die konventionalistischen Interaktionsmuster in Familien entgegen dem Anspruch der demokratischen Legitimationsbasis. Allerdings können wir nicht schlechterdings ausschließen, daß mit solchem Anspruch die Familie einer prinzipiellen Leistungsgrenze konfrontiert wird: Es wäre denkbar, daß der besonderen Charakteristik dieser sozialen Gruppe wegen (Kleinheit, emotionale Dichte, auf bloßen Konsum verwiesen usw.) sie im Regelfall die konventionalistische Stufe nicht wird überschreiten können und sich entweder ausschließlich auf die Kleinkindererziehung wird beschränken oder aber als soziale Institution, als relativ dauerhafte Sozialisationsinstanz, wird aufgeben müssen.
|A 197|

Zusammenfassung

[054:589] Die hier postulierte Theorie von Verkehrsformen geht also von der Vermutung aus, daß sich in sämtlichen Beziehungen, die die Menschen einer bestimmten Gesellschaftsformation miteinander eingehen, gleichartige Merkmale aufweisen lassen. Einige solcher Merkmalsdimensionen, die unmittelbar für die Interaktionen von Familien der Gegenwart relevant sind, haben wir hypothetisch diskutiert. Die für sozialisationstheoretisch orientierte pädagogische Ansätze relevante Frage nach der klassen-, schichtenmäßigen oder subkulturellen Aufteilung familialer Lebenswelten innerhalb einer Gesellschaftsformation sollte deshalb – das möchten wir vorschlagen – mit Hilfe von Merkmalen der Interaktion bzw. von Interaktionsschemata beantwortet werden, und zwar derart, daß die Merkmale dieser Beziehungen zugleich solche sind, mit denen sich auch die aus dem ökonomischen System resultierenden Formen des gesellschaftlichen Verkehrs beschreiben lassen.
[054:590] Auf diesem Hintergrund läßt sich nun die Frage nach Familie und Familienerziehung neu formulieren: Weder ist es sinnvoll, ihr nur allgemeine Funktionen anthropologischer Art (Sozialisierung, Enkulturation usw.) zuzuweisen noch sie allein als Ausbildungsstätte historisch divergierender Identitäten zu betrachten. Die Frage nach der Bedeutung familialer Sozialisation ist zugleich die Frage nach der Bedeutung familialer Interaktion in einer gegebenen Gesellschaftsformation, freilich auf der Grundlage von Regeln, die die Interaktionskompetenz des Heranwachsenden überhaupt zu bilden vermögen. Familiale Interaktion als intime Beziehung zwischen Geschlechtern und Generationen auf meist verwandtschaftlicher Basis, organisiert über eine gemeinsame Hauswirtschaft, stellt eine Lösung des Problems der Befriedigung emotionaler Bedürfnisse, der verständigen Kommunikation, der psychischen Regeneration und des Erwerbs bzw. der Vermittlung kulturell und gesellschaftlich bedeutsamer Kenntnisse und Fähigkeiten dar. Familiale Interaktion in unserer
»spätkapitalistischen«
Gesellschaft gilt maßgebenden Familiensoziologen als Form familialer Gesellung, in der die Familie nur noch in ihrer eigentlichen, durch keine andere Gruppierung ersetzbaren Funktion wirkt; entlastet von den Aufgaben der Produktion und allgemeinen physischen Regeneration ist sie nur noch Sozialisationsinstanz, mithin aus dem Bereich instrumentellen Handelns weitgehend gelöst. Eine solche |A 198|Behauptung, die immerhin auf gewichtigen normativen und empirischen Unterstellungen beruht, läßt sich aber zu stark von einem einzigen, gerade in der Gegenwart besonders hervorgetretenen Merkmal leiten, dessen besondere Bedeutung indessen erst in einer Analyse ihrer Strukturen, ihrer historischen Genese und ihrer Funktion in einer bestimmten Gesellschaftsformation ermittelt werden kann. Eine Theorie der Familie, die nicht die familiale Gesellungsform selbst in ihrer Genese und in ihren Lebenswelt-Aspekten untersucht und sich ausschließlich damit zufrieden gibt, in der Sprache des strukturellen Funktionalismus, des Interaktionismus oder der Psychoanalyse das familiale Erziehungsgeschehen zu beschreiben, verdeckt die Tatsache, daß in der Figuration
»Familie«
eine Überlagerung der verschiedensten historisch gewordenen Verkehrsformen stattgefunden hat. Stellen
»Tauschabstraktion«
und arbeitsplatzbestimmte Merkmale vermutlich Eigentümlichkeiten des Kapitalismus dar, so ist der für die Familie konstitutive Rahmen der Generation und des Geschlechts von Produktionsverhältnissen, von der Ausdifferenzierung und Trennung der Bereiche von Produktion und Reproduktion relativ unabhängig.
[054:591] Die Gewalt der Eltern über die Kinder sowie die faktisch noch weithin bestehende Macht des Mannes über die Frau in sowohl kapitalistischen als auch anderen Gesellschaftsformationen verweist auf Verkehrsformen, deren ökonomische Basis nicht die des Kapitalismus ist. Vielmehr handelt es sich hierbei um eine direkte Aneignungsweise der Arbeitskraft anderer Menschen sowie ihrer Verfügbarmachung nicht durch allgemeines Recht mit zumindest theoretisch gleichberechtigten Partnern, sondern durch geschlechts- und alters-, d. h. herkunftsgebundene Vorrechte. Unsere Überlegungen zum Zusammenhang von Verkehrsformen und Familieninteraktionen waren das letzte Glied in einer Kette von Interpretationen und Argumentationen, in der gezeigt werden sollte, daß es sinnvoll ist, die Probleme der Familienerziehung als Interaktionsprobleme zu begreifen. Wir hoffen, daß im Durchgang durch die verschiedenen Kapitel klar geworden ist, was wir damit meinen: Die Erziehung in der Familie ist eingebettet in einen Komplex von Alltagshandeln; Erziehung ist nur eine Dimension dieses Handelns neben anderen. Als Alltagshandeln unter der Bedingung einer sozialen Gruppe, die Wohn- und Haushaltseinheit ist, die auch für ihre erwachsenen Mitglieder den privaten Alltag bestimmt, ist sie mit der weiteren Lebenswirklichkeit auf vielfältige Weise verknüpft. Sie ist eine |A 199|Figuration, die sowohl innerhalb wie auch nach außen eine Fülle von Problemdefinitionen, Konfliktlösungen, normativen Entscheidungen, Abwägungen von Geltungsansprüchen usw., kurz: eine Fülle von Balanceleistungen zu erbringen hat, in denen sie ihre je eigene Lebenswelt konstruiert, sich einen Begriff von ihrer Wirklichkeit bildet. Ihre Erziehungsprobleme sollten deshalb zweckmäßigerweise auch im Kontext der Dimensionen ihrer Lebenswelt beschrieben werden. Wir haben das im zweiten Kapitel mit dem Mittel von Fallinterpretationen versucht und dabei – in der Unterscheidung der drei Subsysteme Ehe, Eltern-Kinder und Kinder – die für die Bildungsprozesse des Kindes relevanten analytischen Kategorien herausgestellt. Es zeigte sich im Verlauf dieser Erörterungen, daß die Eigentümlichkeit des familialen Bildungsgeschehens deutlich hervortritt, wenn man es in Begriffen von Interaktionen, interpersonellen Taktiken und Handlungsmustern beschreibt (3. Kapitel) und diesen Weg weiter verfolgt zu der Frage, welche nicht nur affektiven, sondern auch kognitiven Gehalte in den Schemata der familialen Interaktion stecken (4. Kapitel). Damit sind freilich Grundfragen der Sozialisationstheorie aufgeworfen, zumal die Frage, ob es in der Struktur menschlicher Interaktion Bestandteile, Elemente, Schemata gibt, die ihr notwendig zugehören und deren Erwerb durch das Kind vielleicht sogar als notwendige Abfolge von Bildungsschritten begriffen werden muß. Die Familie wäre dann der Ort im Erziehungssystem, an dem diese fundamentale Bildungsleistung erbracht würde und, sofern es keine institutionelle Alternative gibt, auch erbracht werden muß. Das bedeutet allerdings nicht, daß die Fähigkeit der Familie, diese Leistung zu erbringen, unter allen Umständen optimal ist. Auch bedeutet es nicht, daß diese Leistung immer in gleicher Weise erbracht, der Bildungsprozeß in gleicher Weise realisiert wird. Dadurch, daß wir historische und soziale Varianten in unseren Fallbeispielen heranzogen, sollte auf diesen Sachverhalt hingewiesen werden, der schließlich unter dem Begriff der Verkehrsform ausdrücklich zum Thema wurde. Unser Vorschlag, die Interaktionscharakteristik von Familien in fünf Dimensionen zu beschreiben – da sie nicht systematisch entwickelt sind, können sie nur Hinweise auf die Richtung sein, in der eine historisch und empirisch orientierte Theorie der Familienerziehung vielleicht theoretisch erfolgreich und praktisch bedeutsam werden könnte –, dieser Vorschlag also enthält drei Komponenten unseres Interesses:
|A 200|
  • [054:592] Der Vorschlag definiert Dimensionen der familialen Interaktion, des familialen Erziehungsgeschehens, innerhalb deren jede Familie ihre spezifische Lösung finden, ihre besondere Interaktionscharakteristik ausbilden muß.
  • [054:593] Der Vorschlag definiert ferner diese Dimensionen so, daß sie zugleich auf andere gesellschaftliche Interaktionsfelder angewandt werden können und also Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit ihnen ermittelt werden kann. Auf diese Weise wird diskutierbar, ob überhaupt und in welcher Ausprägung die Interaktionscharakteristik der Familie und mithin ihre Bildungsfunktion mit den gesellschaftlichen Verkehrsformen zusammenhängt, sie möglicherweise
    »widerspiegelt«
    .
  • [054:594] Die Dimensionen enthalten eine normative Komponente; in ihnen wird nämlich unterstellt, daß zur Bildung einer entfalteten
    »reifen«
    Interaktionskompetenz so etwas wie ein Optimum in der Kombination der Merkmalsausprägungen der Familie bzw. der primären Sozialisationsinstanz angenommen werden sollte. Das ist freilich nicht so zu denken, daß in jeder der Dimensionen nur jeweils die eine Seite extrem zur Ausprägung kommt (z. B. personal, gleichberechtigt, inhaltlich bestimmt usw.). Da auch die Familie eine soziale Institution ist, die ihren Alltag organisieren und planen muß, kann sie beispielsweise auf funktionelle Merkmale nicht verzichten. Da die Generationen-Differenz ein definierender Bestandteil ihrer Struktur ist, wird sie prinzipiell nicht auf Gleichberechtigung im Eltern-Kind-System gegründet sein können. Wir werden also immer mit Mischungen bzw. mit Merkmalen rechnen müssen, die keine Extremwerte darstellen, sondern irgendwo zwischen den Extremen der Dimensionen liegen. Die Frage nach der optimalen Interaktionscharakteristik kann also durch unsere Überlegungen allenfalls vorbereitet oder verdeutlicht, keineswegs aber beantwortet werden.
[054:595] Sollte sich indessen bei genauerer empirischer Prüfung zeigen, daß dieses Optimum in der gegenwärtigen Familie und vielleicht in Zukunft noch stärker gravierend unterschritten wird, hätten wir Anlaß daran zu zweifeln, daß die Figuration
»Familie«
imstande ist, ein Interaktions- und damit Erfahrungs- und Bildungsmilieu zu präsentieren, das über konventionalistische Muster des Handelns und der Selbst- und Weltdeutung hinausgeht. Soweit scheint es jedoch noch nicht zu sein; vielleicht ist die bürgerliche Kleinfamilie flexibler, als ihre Kritiker sich träumen lassen.
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Anhang

Empfehlungen zum systematischen Studium der Familienerziehung

[054:596] Das vorliegende Buch ist als eine
»Einführung«
in Probleme der Familienerziehung geschrieben. Dabei haben wir – wie der Leser bemerkt hat – nicht den Versuch gemacht, das Insgesamt von Forschungsrichtungen und Forschungsresultaten zusammenzufassen. Unser Interesse ging vielmehr dahin, Fragestellungen zu verdeutlichen, die uns vornehmlich wichtig scheinen. Vieles, was in der wissenschaftlichen Literatur, besonders der Literatur zum Sozialisationsprozeß, ausführlich untersucht und diskutiert wird, wurde auf diese Weise nur gestreift; manches wurde lediglich zur Veranschaulichung verwendet, obwohl es aus einem durchaus gewichtigen Forschungszusammenhang stammt, der eine eigene Darstellung verdient hätte. Diese Eigentümlichkeit unseres Vorgehens soll nun hier nicht korrigiert werden. Es sollen aber doch wenigstens in der Form von Lektüreempfehlungen einige Problemzusammenhänge hervorgehoben und so eine Verknüpfung mit der Forschungslage möglich gemacht werden.

Die familiale Lebenswelt

[054:597] Mit der häufigen Verwendung von literarischen Beispielen (Wohmann, Salinger, Musil, Kafka, Mann) haben wir deutlich machen wollen, daß es durchaus zu ernsthafter wissenschaftlicher Beschäftigung mit unserem Thema gehört, die erzählende Literatur als Erkenntnisquelle heranzuziehen, besonders für die je historisch besondere Sichtweise auf die Familie, für die Verarbeitung des sozialen Phänomens Familie in der Erinnerung. Die von uns zitierten Werke sind freilich nur ein mehr oder weniger zufälliger Ausschnitt, da die Literatur – bis zurück in die mittelhochdeutsche Epik – voll ist von Auseinandersetzungen mit familialen Erfahrungen. – In dieser These wird man bestärkt, wenn man gegenwärtige Tendenzen in der Familienforschung zur Kenntnis nimmt: So wird neuerdings ein Untersuchungstyp häufiger, der sich um möglichst genaue Aufzeichnung der familialen Lebenswelt bemüht und dabei – neben Befragungen und Tests – vor allem Protokollmaterial der Interaktionen zwischen den Familienmitgliedern verwendet. Diese Art Literatur ist für die erste genauere Beschäftigung mit unserem Gegenstand am geeignetsten.
[054:598] Auf drei Studien dieser Art weisen wir besonders hin: Das Buch
»Familienwelten«
von Hess/Handel (1975) beschreibt fünf
»normale«
Familien aus verschiedenen sozialen Schichten als
»psychosoziale Organisationen«
und zeigt, wie in diesen Familien jeweils, um ein Schlüsselthema herum gruppiert, die Probleme und Problemlösungen der Familien zusammenhängen. Im Interesse ähnlich ist
»Families of the Slum«
von Minuchin u. a. (1967); nur wurden hier einerseits |A 202|solche Familien ausgewählt, deren Interaktion als gestört zu bezeichnen war, andererseits wurde ein therapeutischer Prozeß dokumentiert: Im Buch wird beschrieben, wie die Interaktionen in der Familie sich im Laufe einer therapeutischen Beratung ändern; der praktische Zweck also steht im Mittelpunkt des Interesses. Schließlich enthält
»Wahnsinn und Familie«
von Laing/Esterson auch für den Anfänger höchst anschauliches Material, allerdings nach einem extremen Gesichtspunkt ausgelesen: Es handelt sich um Familien, in denen ein Kind als
»schizophren«
diagnostiziert wurde und nun – auch in der Form von protokollierten Familiengesprächen unter Beteiligung eines Therapeuten – jeweils besonders ausgeprägte Muster des Umgangs der Eltern mit dem Kind bzw. Jugendlichen dokumentiert wurden. Auch in den Studien von Schütze (1975) und Mollenhauer u. a. (1975) wird der Versuch unternommen, das innerfamiliale Geschehen direkt zu dokumentieren und zu interpretieren. Da in den genannten Arbeiten vorwiegend die innerfamilialen Deutungs- und Interaktionsmuster Gegenstand der Untersuchungen sind, ist es unerläßlich, solche Lektüre zu ergänzen durch die Auseinandersetzung mit Studien, in denen der Zusammenhang zwischen jenen Mustern und der gesellschaftlich-historischen Lage einer Familie zum Thema wird. Für solche Erkenntnisabsicht erscheint uns als primäre Quelle autobiographisches Material hervorragend geeignet. Die Quellensammlung von Emmerich (1974) ist für die proletarische Familie ein ausgezeichneter Einstieg in das Problem. Indessen werden die Zusammenhänge zwischen Familienerziehung und ihren sozio-ökonomischen Bedingungen, vor allem im historischen Kontext, auch bei Rosenbaum (1974) in Form einer Zusammenstellung wichtiger Untersuchungen zum Thema, aber auch bei Milhoffer (1973), wenngleich etwas schwieriger zu lesen, diskutiert; als Einführung eignet sich besonders gut das sehr anschauliche Buch von Weber-Kellermann (1974). Alles in allem: Wer sich mit den hier hervorgehobenen Arbeiten auseinandersetzt, kann sich kompetent an der Diskussion zu einer Theorie der Familienerziehung beteiligen; wenigstens verfügt er über die wichtigsten Fragestellungen. Über die Wissenschaftsgeschichte der Familienforschung schließlich informiert am besten Schwägler (1970).

Zur Lage der Familie in der Gegenwart

[054:599] Was sich innerhalb der Familie als Erziehung abspielt, interpretieren wir als abhängig von den Strukturdaten, die für sie ermittelt werden können. Das ist unter anderem das Fazit der oben zitierten Studien. Will man sich solche Daten beschaffen, dann ist als erster Schritt eine Information über die statistische Verteilung wichtiger Merkmale in der Familie der Gegenwart sinnvoll. Für die Bundesrepublik sind für diesen Zweck die Veröffentlichungen des Statistischen Bundesamtes hilfreich, besonders auch einzelne Ausgaben der dort erscheinenden Fachserien und deren Sonderhefte, schließlich die vom Statistischen Bundesamt herausgegebene Zeitschrift
»Wirtschaft und Statistik«
. Eine hypothesengeleitete Zusammenfassung der familiensoziologischen Diskussion, bezogen auf die Bundesrepublik, findet man bei Neidhardt |A 203|(1968; 1975), während andere Einführungen in die Familiensoziologie (Goode, Harris, König) eher die allgemeinen Probleme familiensoziologischer Theoriebildung behandeln. Für Einzelfragen der Familiensoziologie existieren zwei Sammelbände (Lüschen/Lupri 1970; Claessens/Milhoffer 1973), die auch einen Einblick in aktuelle Forschungsansätze und Forschungsthemen vermitteln. Schließlich bieten auch die beiden
»Berichte über die Lage der Familie in der Bundesrepublik Deutschland«
(Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit 1968 und 1975) einen Überblick über relevante Probleme und statistische Daten.

Die Familie als Lernmilieu

[054:600] Die besten Orientierungshilfen über das Gesamtfeld gegenwärtig diskutierter Probleme der Familienerziehung einschließlich der forschungsmethodischen, sozialstrukturellen, lerntheoretischen Fragestellungen und Forschungsergebnisse sind englischsprachig; es sind die beiden Handbücher von Christensen (1964) und Goslin (1969), das
»Manual of Child Development Research«
von Carmichael (1968), aber auch der Sammelband von Vogel und Bell (1968). Etwas Vergleichbares gibt es bislang in deutscher Sprache nicht. Über die in der Erziehungsforschung stark vernachlässigten Fragen nach den verhaltensbiologischen Grundlagen der Familieninteraktion informiert Hassenstein (1973). In die Probleme, die mit der Behauptung aufgeworfen werden, die Familie sei sinnvoll als ein System von Interaktionen zu begreifen, führt nicht nur das schon zitierte Buch von Hess und Handel (1975) ein, sondern auch die Studie von Claessens (1962), die in vielen Fragen als ein Standardwerk zu den anthropologischen Aspekten der Familienerziehung gelten kann. Besonders deutlich werden die entsprechenden Fragestellungen in den Theorien (Watzlawick 1969) und Berichten (Laing/Esterson 1975) über pathologische Formen familialer Interaktion und die Möglichkeiten ihrer Therapie (Satir 1973). In den weiteren Umkreis dieser Problemstellung gehören auch die früheren erziehungs- bzw. familienpsychologischen Arbeiten (zusammenfassend bei Lehr [1973] und Krumm [1970]), vor allem aber auch solche Untersuchungen, deren Gegenstand das Sozialisationsverhalten von Eltern in Abhängigkeit von der sozialen Schichtzugehörigkeit ist. In diesem Zusammenhang gibt, unter dem Gesichtspunkt familialer Autorität, Caesar (1972) die beste Zusammenfassung der Forschungslage. Eine noch immer sehr geeignete Einführung in diese Probleme ist der Aufsatz von Bronfenbrenner (1958). Schließlich scheint es uns angebracht, auch von nicht-familialen Formen primärer Sozialisation Kenntnis zu nehmen. Das schon
»klassisch«
gewordene Beispiel dafür sind die Untersuchungen und Diskussionen über die israelischen Kibbuzim (Liegle 1971). Beispiele für die psychoanalytischen Fragestellungen im Hinblick auf die familiale Interaktion sind Lidz (1971) und – wenngleich mühevoller in der Lektüre – Lorenzer (1973).
[054:601] Für die Probleme der kognitiven Entwicklung des Kindes unter den Bedingungen der Familie eine Literaturempfehlung zu geben, fällt |A 204|schwer wegen der kaum übersehbaren Fülle von Literatur, da hier eigentlich die gesamte Kognitions- und Entwicklungspsychologie zu Rate gezogen werden müßte. Wir folgen deshalb, wie auch schon in unserer Darstellung, dem Prinzip der (hoffentlich)
»produktiven Einseitigkeit«
. Obwohl nicht an der Familie, sondern an den Regeln des Bildungsprozesses des Kindes interessiert, können die Untersuchungen von Wygotsky (1969) und Piaget (1969; 1974) als Grundlagen für diese Fragen genommen werden. Den besten Einblick in die Zusammenhänge von Kognition und Interaktion mit Bezug auf die Entwicklung des Kindes bietet gegenwärtig vermutlich Kohlberg (1974). Im übrigen findet sich im Umkreis der Untersuchungen zu Problemen der Vorschulerziehung eine Fülle von Studien zu einzelnen Problemen dieses thematischen Bereichs; hervorgehoben seien die Sammelbände von Frost (1968) und Hess/Bear (1972).

Die Familie als Ort gesellschaftlicher Reproduktion

[054:602] Mit dem Begriff
»Verkehrsformen«
haben wir die Hypothese diskutiert, nach der innerfamiliale Interaktion und öffentliche Interaktion systematisch kovariieren. Wenngleich eine nicht ganz leichte Lektüre, ist die Abhandlung von Ottomeyer über
»Soziales Verhalten und Ökonomie«
(1974) gegenwärtig eine sehr gute Einführung in diesen Problembereich, vor allem da Ottomeyer in seine Erörterungen die Diskussion interaktionistischer Theorien ausdrücklich mit aufnimmt. Ähnliches gilt für das schon zitierte Buch von Milhoffer (1973). In beiden Arbeiten wird die Erklärung jener Kovarianz nicht nur im Zusammenhang zwischen sozialem Stratum und Familiencharakteristik angesiedelt, sondern
»fundamentaler«
im für die jeweilige Gesellschaftsformation spezifischen Verhältnis von Produktion und Zirkulation. Die Schwäche, besonders der Arbeit Ottomeyers, liegt jedoch darin, daß es sich um vornehmlich begriffliche Analysen handelt, für die empirisches Material nur als Illustration fungiert; die empirischen Behauptungen über die Lage der Familie sind bisweilen falsch, häufig jedenfalls ungesichert. Die Beschäftigung mit Untersuchungen, die sich den Zusammenhang von sozialer Lage und Familienerziehung zum Gegenstand machen, ist deshalb für diesen Themenkreis unerläßlich. Die
»klassischen«
Untersuchungen des Instituts für Sozialforschung, in der Emigration veröffentlicht (Fromm 1936), gehören mindestens wegen der historisch-systematischen Erörterungen und Darstellungen nach wie vor zu dem Besten, vor allem wegen der großen Breite der Fragestellungen, aber auch die schon zitierte Arbeit von Caesar (1972). Für die Entwicklung von Hypothesen über den Zusammenhang von Arbeitssituation und Erziehungseinstellungen war eine spezielle empirische Arbeit besonders folgenreich: die Studie von Kohn (1969); wo immer der Zusammenhang von Familienerziehung und Stellung der Familie im System der Arbeitsteilung thematisiert wird, wird auf diese Arbeit zurückgegriffen. Von ähnlicher Bedeutung, allerdings für den Zusammenhang von Arbeiter- bzw. bürgerlicher Kultur und Familienwelt, sind die Studien von (Willmott/Young 1957; 1960) über die Lebenswirklichkeit von Familien in Londoner Wohnbezirken. |A 205|Über weitere Komponenten im gesellschaftlichen Bedingungsgefüge für die Familienerziehung (Einkommen, Wohnungssituation, Schule und Familie, Berufstätigkeit der Frau usw.) informiert fürs erste der Zweite Familienbericht (Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit 1975); dort findet sich auch weiterführende Literatur. Zur Frage der Berufstätigkeit der Frau sei, der Wichtigkeit des Problems wegen, auf die Untersuchung von Lehr (1969) besonders hingewiesen.

Familientherapie

[054:603] Die beste deutschsprachige Einführung in Probleme der Familientherapie ist das Buch von Satir (1973), nicht nur weil hier nahezu der gesamte Umkreis von Fragen abgeschritten wird, sondern auch, weil die Darstellung keinerlei Spezialkenntnisse voraussetzt und in sowohl klarer systematischer Gliederung wie in beispielhafter Anschaulichkeit geschrieben ist. Therapieprobleme in unteren sozialen Schichten werden, an Beispielen langfristiger therapeutischer Behandlung demonstriert, bei Minuchin u. a. (1967) beschrieben und analysiert. Ausführliche und von einem psychoanalytischen Ansatz geleitete Fallanalysen finden sich bei Richter (1970). Im übrigen ist diese Art von Literatur stark im Anwachsen begriffen. Jährlich erscheinen neue Veröffentlichungen zum Thema, die allerdings teils Übersetzungen aus dem Englischen, teils Rezeptionen der amerikanischen Theorie-Konzepte durch deutsche Autoren sind.

Methoden und Perspektiven der Familienforschung

[054:604] Über Forschungsmethoden informieren derzeit am besten die entsprechenden Artikel im Handbuch von Christensen (1964). Straus (1969) gibt einen Überblick über sämtliche Verfahren, die bis 1965 in der Familienforschung angewandt wurden, und zwar mit genauer, wenngleich knapper Beschreibung von Hypothesen, Methoden, Stichproben und Ergebnissen – für den Familienforscher ein unentbehrliches Nachschlagewerk. Im Sammelband von Claessens/Milhoffer (1973) ist ein instruktiver Artikel von Milhoffer über Forschungstechniken und zu verwendende Methoden enthalten. Mollenhauer/Kasakos (1975) machen Vorschläge für thematische und methodologische Orientierungen, allerdings vornehmlich bezogen auf
»Problemfamilien«
im Zusammenhang von Forschungsperspektiven für die Jugendhilfe. Forschungsperspektiven haben nicht nur eine methodologische Komponente, sondern auch die der Relevanz der thematischen, inhaltlichen Entscheidung. In unserem knappen Literatur-Bericht tauchten einige Titel an verschiedenen Stellen immer wieder auf; diese Titel sind solche, die für uns auf der Suche nach Relevanz-Kriterien für die Familienforschung wichtig scheinen, also nicht nur in die Probleme einführen, sondern auch Akzente für zukünftige Perspektiven setzen; es sind dies – um sie noch einmal zusammenfassend zu nennen – die Veröffentlichungen von Hess/Handel, Laing/Esterson, Milhoffer, Kohlberg, Minuchin, Satir, Ottomeyer – vor allem aber die Artikel |A 206|des Handbuches von Christensen. Damit haben wir uns allerdings selbst für eine Perspektive entschieden, die vermutlich Widerspruch hervorrufen wird.

Zur ersten Einführung in die Geschichte der Familienerziehung

[054:605] Fragen nach der Geschichte von Familie und Familienerziehung haben wir in unseren Texten nur gestreift. Eine gründliche Beschäftigung mit einem pädagogischen Problem sollte indessen in jedem Fall auch die historische Dimension des Gegenstandes einbeziehen. Obwohl historische Forschung ohne gründliches Quellenstudium sinnlos ist, verzichten wir hier auf detailliertere Quellenhinweise und nennen nur solche Literatur, die in die familienhistorische Fragestellung einführt. Nur auf die autobiographische Quellensammlung von Emmerich (1974) sei besonders hingewiesen. Zur Lage der proletarischen Familie im 19. Jahrhundert bietet außerdem immer noch Engels (1845) eine der besten, vor allem anschaulichsten, Materialsammlungen. Über die bürgerliche, besonders kleinbürgerliche Familie im 18. Jahrhundert sollte man sich zunächst, der außerordentlich sorgfältig dokumentierten Fülle an Quellenmaterial wegen, bei Möller (1969) informieren. Einen ziemlich umfassenden, wenngleich auch groben Überblick über die Entwicklung der Familie in Deutschland gibt das Taschenbuch von Weber-Kellermann (1974); auch diese Veröffentlichung ist anschaulich, mit vielen Abbildungen aus der Geschichte der Familie und Quellen-Zitaten versehen. Ein, allerdings äußerst knapper und pauschaler, zur ersten Orientierung jedoch besonders theoretisch anregen der Überblick findet sich bei Milhoffer (1973). Letzteres gilt auch für die umfangreichen Untersuchungen von Elias (1939, 1969), die zwar nicht die Familie zum Gegenstand haben, sondern den Prozeß der geschichtlichen Bildung von Formen der Kommunikation, des zwischenmenschlichen Verkehrs, die aber für die Grundorientierung der Familienerziehung fundamentale normative Bedeutung gewonnen haben. Im übrigen ist gerade die Geschichte der Familienerziehung ein offenes Feld für weitere Forschung; besonders müßten für den deutschen Leser die zahlreichen französischen und englischsprachigen Untersuchungen aufgearbeitet werden, was im folgenden Abschnitt angesprochen werden soll.
|A 207|

Empfehlungen zum Studium der Geschichte der Familienerziehung

[054:606] von Ulrich Herrmann
[054:607] Die Erforschung der historischen Erscheinungsformen und der geschichtlichen Wandlungen von Kindheit, Jugend (als Lebensphase und als sozialer Gruppe) und Familie im Zusammenhang mit der Analyse sozialen, ökonomischen und kulturellen Wandels hat eine lange Tradition. Genealogen, Demographen und Volkskundler, Ethnologen, Kulturanthropologen und historisch orientierte Soziologen, Literar- und Pädagogikhistoriker, Rechts- und Wirtschaftshistoriker haben kaum noch überschaubare Quellenbestände und Interpretationen zusammengetragen. Neuere methodische Ansätze der Historischen Anthropologie, der Historischen Psychologie (und historisch-psychoanalytischen Forschung), der Erforschung der Genese und Wandlung von Mentalitäten und Attitüden, des Zusammenhangs von Gesellschafts- und Persönlichkeitsstrukturen usw. sind erfolgreich erprobt worden und haben neue Ausblicke auf die Geschichte als die Geschichte des Menschen und damit auf die Geschichtlichkeit der menschlichen Lebensformen in bisher unbekannten Tiefendimensionen und Feinstrukturen eröffnet.
[054:608] Die Historische Pädagogik in Deutschland hat sich in der Vergangenheit nur gelegentlich an diesen Arbeiten beteiligt; von den gegenwärtigen Entwicklungen, die sich vor allem in Frankreich, England und in den USA vollziehen, hat sie nicht Kenntnis genommen. Für diese noch ausstehende Rezeption wollen wir hier erste Anregungen geben; wir müssen darauf verzichten, den älteren Diskussionsstand zu rekapitulieren und die gegenwärtigen Forschungen im einzelnen kritisch zu beurteilen (inzwischen vorliegende Literaturberichte können dem Interessierten den Weg dazu weisen). – Die mitgeteilten bibliographischen Materialien bilden einen kleinen Ausschnitt aus einer größeren Sammlung, die in absehbarer Zeit in der Reihe der Bibliographien des Deutschen Jugendinstituts (München) zugänglich gemacht werden soll.

Zum Verhältnis von systematischen und historischen Sozialwissenschaften

[054:609] Seit etwa 15 Jahren zeichnet sich eine stärkere, vor allem theorie- und methodenbewußtere Zusammenarbeit zwischen den eher theorie- und empirieorientierten Sozialwissenschaften und den Geschichtswissenschaften ab. Die Vorgeschichte dieser Entwicklung, die vielfältigen Ursachen gegenwärtiger Umorientierungen und der derzeitige Diskussionsstand können hier außer Betracht bleiben, es sei verwiesen auf: H.-U. Wehler (Hg.): Geschichte und Soziologie (NWB, Bd. 53), Köln 1972; P. Ch. Ludz (Hg.): Soziologie und Sozialgeschichte (Sonderheft 16 der Kölner Zs. f. Soz. u. Soz.psych.), Opladen 1972; W. Schulze: Soziologie und Geschichtswissenschaft, München 1974.
[054:610] Bei fortschreitender Auseinanderentwicklung der beiden Wissenschaftsbereiche einerseits und bei zunehmender Formalisierung ihrer theo|A 208|retischen Konstrukte und Erklärungsmuster andererseits erwies sich aufs neue die Gültigkeit der alten Einsicht, daß historisches Wissen ohne soziologische Theorie gewissermaßen
»blind«
und daß soziologische Theorie ohne historisches Wissen
»leer«
blieben. Die zulängliche Erforschung und Darstellung gesellschaftlichen Wandels, sei es in theoretischer, sei es in praktisch-politischer Absicht, verlangt über die Disziplingrenzen hinweg die Zusammenarbeit von Historikern, Ökonomen, Politologen, Soziologen usw., nicht zuletzt und vor allem aber auch von Pädagogen. Denn die Frage nach Theorien sozialen und kulturellen Wandels verweist auf die Erforschung jener Institutionen und Strukturen, Medien und Prozesse, in denen die sozio-kulturellen Veränderungen entweder entscheidend mithervorgebracht werden oder ihren unmittelbaren materiellen Niederschlag finden: in den geschichtlichen Formen und Deutungen von Kindheit, Jugend, Familie, Schule – dem Ausbildungssystem im weitesten Sinne – und ihren überdauernden bzw. sich wandelnden gesellschaftlichen Funktionen. So kann es nicht verwundern, daß vor allem in Frankreich, England und in den USA, wo die Wendung zur historischen Familienforschung, zur Demographie und zur Sozialgeschichte der Erziehung und des Bildungswesens früher als in der BRD eingesetzt hat, eine ausgedehnte Forschungs- und Diskussionsliteratur zu den hier einschlägigen Fragen und Problemen vorliegt.

Aspekte einer Historischen Sozialisationsforschung

[054:611] Soll der Anschluß an die internationale Forschung gefunden werden und soll vor allem der Neuansatz interdisziplinär orientierter historischer Gesellschaftswissenschaften auch für die historische Forschung in der Erziehungswissenschaft fruchtbar gemacht werden, so ergeben sich daraus unter anderem die folgenden Aspekte und Konsequenzen: (1) In der Historischen Pädagogik muß eine Weiterentwicklung von der traditionellen Ideen- und Institutionengeschichte zu einer Historischen Sozialisationsforschung stattfinden. (2) Die historisch-systematische Analyse der realgeschichtlich wirksamen Normen, Ziele und Funktionen, der Institutionen und Prozesse vor allem familialer und schulischer Erziehung und Bildung in sozial- und wirkungsgeschichtlicher Absicht bedeutet nicht die bloße Übernahme und Anwendung von Theorien und Modellen sozio-kulturellen und sozio-ökonomischen Wandels, sondern vor allem auch deren Konkretion und Überprüfung. Wenn für die Analyse und Erklärung gesellschaftlicher Wandlungen der Ablöseprozeß der Generationen konstitutiv ist, dann können Theorien gesellschaftlicher Wandlungen nicht ausgearbeitet werden ohne Analyse und Erklärung derjenigen Erziehungs- und Sozialisationsvorgänge, die den Ablöseprozeß der Generationen wesentlich bestimmen. (3) Umgekehrt gilt: Sozialgeschichtliche Analysen der Erziehung und des Bildungswesens können nur ausgearbeitet werden, wenn sie in den weiterreichenden Rahmen der Sozialgeschichte von Familie und Haushaltung, der gesamtgesellschaftlichen Veränderungsprozesse (Industrialisierung, Modernisierung usw.) und der jeweiligen, raum-zeitlich spezifischen Formen der Selbstverständigung der Men|A 209|schen und der Deutungsmuster ihrer Lebenswelt eingeordnet werden. (4) In den Normen, Zielen und Funktionen familialer und schulischer Sozialisation thematisiert sich gesellschaftliches Bewußtsein, umgekehrt zielen Erziehung und Ausbildung auf die Angleichung individueller und kollektiver Bewußtseinsformen und -inhalte sowie auf Strukturierung, Dauer und Wandlung des Gesellschaftssystems im ganzen. Insofern fällt der Historischen Pädagogik die Aufgabe der ideologiekritischen Reflexion gegenwärtiger Praxis zu, die sie aber nur zu erfüllen vermag, wenn sie sich der realgeschichtlichen Voraussetzungen und Folgen pädagogischer Theorie und Praxis vergewissert. Historische Sozialisationsforschung überschreitet damit notwendig den analytischen Rahmen der Binnenstruktur pädagogischer Handlungszusammenhänge und ordnet sich in den größeren Rahmen der historisch-kritisch orientierten Human- und Gesellschaftswissenschaften ein. (5) Daraus ergibt sich, daß in historischer Perspektive eine wechselseitige Abgrenzung verschiedener Phasen und Instanzen familialer und schulischer Sozialisation nur schwer möglich ist. Gerade in der Perspektive der Historischen Sozialisationsforschung bleiben der Heranwachsende, die Familie und das weitere soziale Umfeld (
»die«
Gesellschaft) nicht nur strukturell eng aufeinander bezogen, sondern auch gruppen- und schichtenspezifisch identifiziert. Die Arbeit des Historikers wird damit zur kritischen Instanz, vor der sich die auf Verallgemeinerung abzielende sozialwissenschaftliche Theorie zu bewähren hat. (6) Wird die Geschichtswissenschaft in diesem Sinn in ihre kritische Funktion eingesetzt, ergibt sich daraus in ideologiekritischer Absicht das Desiderat einer Wissenschaftsgeschichte und -soziologie der Erziehungswissenschaft, in denen das Verhältnis von Theorie und Praxis als Zusammenhang von Wissenschaftspraxis und deren gesellschaftlichen Folgen analysiert wird. Hier sind Logik und Topik (erkenntnisleitende Interessen, Historiographie) der Historischen Sozialisationsforschung zu entwickeln.

Zur nachfolgenden Bibliographie

[054:612] An den nachstehend aufgeführten Titeln lassen sich einige Forschungs- und Diskussionstrends ablesen, auf die zur ersten Orientierung hingewiesen werden soll.
[054:613] Geschichte von Kindheit und Jugendalter: Für den deutschsprachigen Bereich ist hier ein schmaler, aber doch in Ansätzen kontinuierlicher und differenzierter Forschungsstrang zu bemerken. Jedoch wurden Vorarbeiten und Anregungen über Muchow, Flitner und Hornstein hinaus in der Erziehungswissenschaft nicht verfolgt, Ariès wurde nicht rezipiert, erste Anknüpfungen an die im Ausland sich vollziehenden Entwicklungen bei Herrmann, Rassem und Giehler/Lüscher sind noch programmatisch bzw. verstehen sich soziologisch im Sinne von Vor arbeiten zu einer (historischen) Soziologie der Sozialisation. – Ariès Untersuchungen haben vor allem in den USA großes Echo gefunden: Sie trafen dort auf eine Diskussion zwischen Psychohistorikern, (Kultur-)Anthropologen und Ethnologen; daher die rege Debatte über |A 210|den entwicklungspsychologisch-/psychoanalytisch-historischen und den soziologisch-strukturellen Ansatz (EriksonAriès’, vgl. Hunt). Zugleich konnte die Debatte für die Forschungen über das Entstehen von Nationalcharakteren, von
»modalen«
Persönlichkeitsstrukturen (Inkeles u. a.), die Reichweite politischer Sozialisation (im Gefolge der Studentenunruhen; in den Arbeiten von Keniston), die Ökologie jugendlicher Delinquenz (Rothman, Tobias) usw. fruchtbar gemacht und mit demographischen bzw. familienhistorischen Forschungen verknüpft werden (Hareven, Demos). In diesem Zusammenhang traten Untersuchungen über
»Entdeckung«
bzw.
»Erfindung«
des
»Bildes«
des Kindes und der Jugend, der Wandlungen des Eltern-Kind-Verhältnisses usw. hervor (deren rechts- und medizinhistorische Aspekte noch unzureichend erschlossen sind). Neue Bedeutung gewinnen in diesem Zusammenhang auch die Arbeiten und zahlreichen (meist älteren) Quellenausgaben zur sozio-ökonomischen Lage der Kinder und Jugendlichen in den verschiedenen Phasen des Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozesses seit dem 18. Jahrhundert (z. B. Pinchbeck/Hewitt, Hewitt).
[054:614] Zur Historischen Familienforschung: Für diesen Bereich gelten die getroffenen Feststellungen analog. Der Diskussionsbeitrag von Hausen verdeutlicht, daß die deutsche Forschung hier einen gewaltigen Nachholbedarf zu verzeichnen hat. Es fehlen für unseren Bereich vor allem Studien zur Veränderung von Haushaltsgrößen und Familienstrukturen (Mitterauer), nachdem sich stereotype Formeln wie
»Funktionsverlust«
der Familie,
»Wandel von der Groß- zur Kleinfamilie«
usw. als historisch falsch erwiesen haben; notwendig sind Arbeiten zur Spiritualisierung der Eltern-Eltern- und Eltern-Kind-Beziehungen, die Ausgestaltung des häuslichen Lebenskreises usw. Im Sinn einer Historischen Sozialisationsforschung sind hier Untersuchungen wie die von Demos nicht einmal im Umriß konzipiert. Vorarbeiten dazu liegen in Bereichen bereit, auf deren Nachweis hier aus Umfangsgründen verzichtet werden mußte: Historische Demographie und Historische Anthropologie bzw. Psychologie; Deutung von Kindheit, Jugend alter und Familie in Literatur und Darstellender Kunst, in den
»Selbstthematisierungen«
dieser Aspekte in Biographien und Autobiographien, Briefen und Lebenserinnerungen, Predigten usw. (vgl. aber Kiell).
[054:615] Historische Sozialisationsforschung ist einstweilen Programm; Überlegungen bei Hausen, Lüscher u. a. zeigen, daß der Stand der interdisziplinär orientierten (historischen) Sozialisationsforschung ertragreiche Arbeiten erlaubt.

Literaturhinweise

Geschichte von Kindheit und Jugend
[054:616] Bibliographien – Zeitschriften: Dahlmann/Waitz: Quellenkunde zur deutschen Geschichte, Bd. 1, Stuttgart ¹⁰1969, Nr. 35/588 ff.; aus|A 211|führliche Nachweise in allen größeren Monographien (vgl. u. a. Bacherler, Bertlein, deMause, Gillis, Hornstein), auch denen zur Geschichte der Familie (s. u.). – History of Childhood Quarterly, vol. 1 ff., New York 1973/74 ff.; Journal of Interdisciplinary History, vol. 1 ff., Cambridge, Mass. 1970/71 ff.; Journal of the History of the Behavioral Sciences, vol. 1 ff., Brandon, Vt. 1965 ff.
[054:617] Literaturberichte – Zur Forschungslage: J. Demos: Developmental Perspectives of the History of Childhood, in: Journ. Interdisc. Hist. 2 (1971), S. 315–327; A. Flitner/W. Hornstein: Kindheit und Jugendalter in geschichtlicher Betrachtung, in: Z. f. Päd. 10 (1964), S. 311–339; W. Giehler/K. Lüscher: Die Soziologie des Kindes in historischer Sicht. Ms. Konstanz 1974; U. Herrmann: Histor.-syst. Dimensionen der Erziehungswissenschaft, in: Ch. Wulf (Hg.): Wörterbuch der Erziehung, München 1974, S. 283–289; W. Hornstein/A. Flitner: Neue Literatur zur Geschichte des Kindes- u. Jugendalters, in: Z. f. Päd. 11 (1965), S. 66–85; S. Kern: The History of Childhood, in: Journ. Hist. Behav. Sc. 9 (1973), S. 406–412; M. D. Lopez: A Guide to the Interdisciplinary Literature of the History of Childhood, in: Hist. Childhood Quart. 1 (1973/74), S. 463–494; L. Rosenmayr: Geschichte der Jugendforschung in Österreich. 1914—1931, Wien o. J.; J. C. Sommerville: Towards a History of Childhood and Youth,in: Journ. Interdisc. Hist. 3 (1972), S. 438–447; Ph. Steward: Towards a History of Child hood, in: Hist. Educ. Quart. 12 (1972), S. 198–210; E. v. de Walle: Recent Approaches to Past Childhood, in: Journ. Interdisc. Hist. 2 (1971), S. 359– 365. – Vgl. auch unten zur Familienforschung.
[054:618] Quellenausgaben: R. H. Bremner (Hg.): Children and Youth in America. 3 vol., Cambridge, Mass. 1970 ff.; J. Kuczynski u. a.: Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus. 36 Bde., Berlin (DDR) 1961 ff.; E. R. Pike (Hg,): Human Documents of the Industrial Revolution in Britain, London 1966; ders.: Human Documents of the Victorian Golden Age (1850–1875), London 1967;S. Pollard/ C. Holmes (Hg.): Documents of European Economic History. 2 vol., London 1968/72; N. Kiell: The Universal Experience of Adolescence, Boston ² 1968 (aus Briefen, Tagebüchern, Memoiren usw.).
[054:619] Monographien und Abhandlungen: (1) Allgemein: Ph. Ariès: L’enfant et la vie familiale sous l’Ancien Regime, Paris ¹1960, ²1973 (mit Vorrede zum Forschungsstand); engl, übers.: Centuries of Childhood, New York 1962; demn. dt. übers., mit Vorrede v. H. v. Hentig; ders.: Histoire des populations françaises et de leurs attitudes devant la vie depuis le XVIIIème siècle, Paris 1948, ²1971; M. Bacherler: Deutsche Familienerziehung in der Zeit der Aufklärung und Romantik. Aufgr. autobiograph. u. biograph. Quellen bearb. (Diss. Erlangen 1914), Stuttgart 1914; G. Baumert: Jugend der Nachkriegszeit. Lebensverhältnisse und Reaktionsweisen, Darmstadt 1952; J. H. v. d. Berg: Metabletica. Ober die Wandlung des Menschen. Grundlinien einer histor. Psychologie (Orig. Niederländ. 1956, ¹³1964), Göttingen 1960; H. Bertlein: Jugendleben und soziales Bildungsschicksal. Reifungsstil u. Bildungs|A 212|erfahrung werktätiger Jugendlicher 1860–1910, Hannover 1966; H. Boesch: Kinderleben in der dt. Vergangenheit (Monogr. z. dt. Kulturgesch., Bd. 5), Leipzig 1900; R. L. Bushman: From Puritan to Yankee: Character and the Social Order in Connecticut, 1690–1765, Cambridge, Mass. ²1969; L. de Mause: The Evolution of Childhood, in: Hist. Childhood Quart. 1 (1973/74), S. 503–575 (mit zahlr. Kommentaren), wiederabgedr. in: ders. (Hg.): The History of Childhood, New York 1974 (mit zahlr. weiteren Beitr.); A. M. Earle: Home and Child Life in Colonial Days, New York 1969; N. Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenet. u. psychogenet. Untersuchungen. 2. Bde., neue Ausgabe Bern/München 1969; von den zahlr. Schriften von E. H. Erikson (in dt. Übers.) vor allem: Kindheit und Gesellschaft, Stuttgart ⁴1971; Jugend und Krise, ebd. ²1974; S. Fleming: Children and Puritanism (Yale Stud. Relig. Educ., vol. 3), New Haven/London 1933; P. Gerbod: La vie quotidienne dans les lycées et collèges au XlXeme siècle, Paris 1968; J. R. Gillis: Youth and History. Tradition and Change in European Age Relations, 1770–Present, New York/ London 1974; W. J. Homan: Children and Quakerism, New York 1972; W. Hornstein: Vom
»Jungen Herrn«
zum
»Hoffnungsvollen Jüngling«
, Heidelberg 1965; ders.: Jugend in ihrer Zeit. Geschichte u. Lebensformen des jungen Menschen, Hamburg 1966; D. Hunt: Parents and Children in History, New York/London 1970; von den zahlr. Schriften von K. Keniston vor allem: Youth as a Stage of Life, in: Amer. Scholar 39 (1970), S. 631–654; B. W. Lorence: Parents and Children in 18th Century Europe, in: Hist. Childhood Quart. 2 (1974), S. 1–30; K. McClinton: Antiques of American Childhood, New York 1970; J. McLachlan: American Boarding Schools: A Histor. Study, New York 1970; R. Mercier: L’enfant dans la société du XVIIIème siècle, Dakar 1961; H. Métraux: Schweizer Jugendleben in 5 Jahrhunderten, Aarau 1942; H. H. Muchow: Jugend und Zeitgeist, Reinbek 1962; W. E. Mühlmann: Kindheit und Jugend in traditionalen u. progressiven Gesellschaften, in: Jugend in der Gesellschaft (dtv-TB 1063), München 1975, S. 79–97; F. Musgrove: Youth and the Social Order, London ²1968; H. F. M. Peeters: Kind en jeugdige in het begin van de moderne tijd (1500–1650), Antwerpen 1966; I. Pinchbeck/ M. Hewitt: Children in English Society. 2 vol., London 1969/73; M. Rassem: Entdeckung und Formierung der Jugend in der Neuzeit, in: Jugend in der Gesellschaft, München 1975, S. 98–117; W. Roeßler: Jugend im Erziehungsfeld. Haltung u. Verhalten der dt. Jugend in der 1. H. des 20. Jhs., Düsseldorf ²1962; H. Schelsky: Die skeptische Generation, Düsseldorf/Köln ²1958; E. Shorter: Der Wandel der Mutter-Kind-Beziehungen zu Beginn der Moderne, in: Geschichte und Gesellschaft 1 (1975), S. 256–287; G. Snyders: Die große Wende der Pädagogik (aus dem Frz.), Paderborn 1972; J. v. Ussel: Sexualunterdrückung, Reinbek 1970. – (2) Zur sozialen Lage: Vgl. oben Kuczynski, im 19. Jh. Fr. Engels. Für den angelsächs. Bereich: G. Abbott: The Child and the State. 2 vol., repr. New York 1968; J. J. Findlay: The Children of England, London 1923; H. Meyhew: London Labour and the London Poor. 3 vol., London 1851 (zahlr., z. T. gekürzte Neuausgaben). – (3) Zur Rechtsgeschichte: für weitere Verweise vgl. D. Schwab: Art.
»Kind«
, in: HWB zur dt. Rechtsgesch., Bd. 2, Berlin 1974, |A 213|Spp. 717–725. – (4) Zur Kinderheilkunde und über frühe Zusammenhänge von Pädiatrie und Pädagogik vgl. H. Kindt: Vorstufen der Entwicklung zur Kinderpsychiatrie im 19. Jahrhundert, Freiburg i. Br. 1971; P. Köhler: Der Umgang mit dem Kind in der frühen deutschen Pädiatrie (1760–1840). Diss. Heidelberg 1971; L. Kunze: Die physische Erziehung der Kinder. Populäre Schriften zur Gesundheitserziehung in der Medizin der Aufklärung. Diss. Marburg 1971; H.-H. Raspe: Kinderärzte als Erzieher. Diss. Freiburg i. Br. 1973; A. J. Ryerson: Medical Advice on Child Rearing, 1550 bis 1900, in: Harv. Educ. Rev. 31 (1961), S. 302–333. – (5) Sozialpädagogik – Delinquenz: R. H. Bremner: American Philanthropy, Chicago 1960; E. Caulfield: The Infant Welfare Movement in the 18th Century, New York 1931; T. Ferguson: Children in Care – and After, London 1966; M. King-Hall: The Story of the Nursery, London 1958; D. Marshall: The English Poor in the 18th Century. A Study in Social and Administrative History, London repr. 1969; K. Mollenhauer: Die Ursprünge der Sozialpädagogik in der industriellen Gesellschaft, Weinheim 1959; A. Platt: The Child Savers: The Invention of Delinquency, Chicago 1969; D. J. Rothman: The Discovery of the Asylum, Boston 1971; H. Scherpner: Geschichte der Jugendfürsorge, Göttingen 1966; J. J. Tobias: Crime and Industrial Society in the 19th Century, London 1967; G. Uhlhorn: Die christliche Liebestätigkeit, 3 Bde., Nachdr. der 2. Aufl. Neukirchen 1959.
Historische Familienforschung
[054:620] Bibliographien – Zeitschriften: J. Aldous/ R. Hill: International Bibliography of Research in Marriage and the Family [für 1900 bis 1972]. 2 vol., Univ. of Minnesota Pr. 1967/74; Dahlmann/Waitz (s. o.): Nr. 35/546 ff. – Zeitschriften: Annales de Démographie Historique, vol. 1 ff., Paris 1965 ff.; Journal of Marriage and the Family, vol. 1 ff., Menasha, Wisc. 1939 ff.; Population, vol. 1 ff., Paris 1946 ff.; Population Studies, vol. 1 ff., Cambridge (GB) 1947 ff.; The Family in Historical Perspective: An Internat. Newsletter, ed. by T. K. Hareven, ab 1976 als: Journal of Family History: Studies in Family, Kinship and Demography. – Neben familienhistor. Beiträgen in den Beiträgen zur historischen Sozialkunde (Jg. 1 ff., Wien 1971 ff.) und dem History of Childhood Quarterly (Jg. 1 ff., New York 1973/74 ff.) gab es familienhistor. Themenhefte in: Journal of Marriage and the Family (Jgg. 1969/1973), Journal of Interdisciplinary History (Jg. 1971), Journal of Urban History (Jg. 1975), Annales ESC (Jg. 1972), Geschichte und Gesellschaft (Jg. 1975).
[054:621] Sammelbände: J. N. Edwards (Hg.): The Family and Change, New York 1969; D. V. Glass/D. E. C. Eversley (Hg.): Population in History, Essays in Historical Demography, London 1965; D. V. Glass/R. Revelle (Hg.): Population and Social Change, London 1972; M. Gordon (Hg.): The American Family in Social-Historical Perspective, New York 1973; La vie quotidienne (zahlr. Bände einer Schriftenreihe bei Hachette: Paris); R. Prigent (Hg.): Renouveau des idées sur la famille (Publicat. de l’Inst. National d’Etudes Démographiques, no. |A 214|18), Paris 1954; T. K. Rabb/ R. J. Rotberg (Hg.): The Family in History. Interdisciplinary Essays, New York 1973 (Slg. v. Abhh. aus dem Journ. Interdisc. Hist.). – T. P. R. Laslett (Hg.): The Comparative History of Family and Household, Cambridge (GB) 1971.
[054:622] Literaturberichte – Zur Forschungslage: L. K. Berkner: Recent Research on the History of the Family in Western Europe, in: Journ. Marr. and Fam. 35 (1973), S. 395 ff.; J. Demos: Reflections on the History of the Family, in: Compar. Stud. Soc. and Hist. 15 (1973), S. 493–503; T. K. Hareven: The History of the Family as an Interdisciplinary Field, in: Journ. Interdisc. Hist. 2 (1971), S. 399–414; dies.: Die Familie in histor. Perspektive. Laufende Arbeiten in England und in den Ver. Staaten, in: Geschichte und Gesellschaft 1 (1975), S. 370–386; K. Hausen: Familie als Gegenstand Historischer Sozialwissenschaft, in: Geschichte und Gesellschaft 1 (1975), S. 171–209; P. Laslett: The History of the Family, in: ders./R. Wall (Hg.) (s. u.), S. 1–89; H. Rosenbaum: Zur neueren Entwicklung der Historischen Familienforschung, in: Geschichte und Gesellschaft 1 (1975), S. 210 bis 225; I. Weber-Kellermann: Familienforschung im 19. Jh. zwischen Volkskunde und Gesellschaftslehre, in: Kontakte und Grenzen. FS f. G. Heilfurth, Göttingen 1969, S. 329–336.
[054:623] Quellenausgaben: S. o. zur Geschichte von Kindheit und Jugend.
[054:624] Monographien und Abhandlungen: M. Anderson: Family Structure in 19th Century Lancashire, Cambridge (GB) 1971; ders.: Family, Household and the Industrial Revolution, in: T. P. R. Laslett 1971 (s. o.); ders.: The Study of Family Structure, in: E. A. Wrigley (Hg.): 19th Century Society, Cambridge (GB) 1972, S. 47–81; Ph. Ariès: Le XlXeme siècle et la révolution des mœurs familiales, in: Prigent (s. o.), S. 111–118; ders.: L’èvolution des rôles parentaux, in: Familles d’aujourd’hui, Bruxelles 1968, S. 35–55; J. A. Banks: Prosperity and Parenthood: A Study of Family Planning Among the Victorian Middle Classes, London 1954; H. Begemann: Strukturwandel der Familie, Witten ²1966; R. Berthoff: An Unsettled People. Social Order and Disorder in American History, New York 1971; R. Braun: Industrialisierung und Volksleben. Die Veränderungen der Lebensform in einem ländlichen Industriegebiet vor 1800, Erlenbach/Stuttgart 1960; ders.: Sozialer und kultureller Wandel in einem ländlichen Industriegebiet, Erlenbach 1965; R. L. Bushman: From Puritan to Yankee: Character and the Social Order in Connecticut, 1690–1765, Cambridge, Mass. ²1969; A. W. Calhoun: A Social History of the American Family from Colonial Times to the Present. 3 vol., Cleveland, Oh. 1917–1919, repr. New York 1960; W. D. Camp: Marriage and the Family in France since the Revolution, New York 1961; F. Collier: The Family Economy of the Working Classes in the Cotton Industry 1784–1833, Manchester 1965; E. Corte: Die Familienverhältnisse von Kindern in Kindergärten, Horten u. Tagesheimen, Berlin 1930; L. Delzons: La famille française et son évolution, Paris 1913; J. Demos: A Little Commonwealth: Family Life in Plymouth Colony, New York ²1970; A. M. Earle: Home and Child Life in |A 215|Colonial Days, New York 1969; M. Freudenthal: Gestaltwandel der städtischen bürgerlichen proletarischen Hauswirtschaft unter bes. Berücks. des Typenwandels von Frau und Familie (Diss. Frankfurt 1933), Würzburg 1934; W. Goodsell: A History of the Family as a Social and Educational Institution, New York ¹1915, ebd. 1947 u. d. T.: A History of Marriage and the Family; J. R. Goody: The Developmental Cycle in Domestic Groups, Cambridge (GB) 1958; Ph. J. Greven: Family Structure in 17th Century Andover, Mass., in: William and Mary Quart., 3. ser., 23 (1966), S. 234–256; ders.: Four Generations: Population, Land, and Family in Colonial Andover, Mass., Ithaca, N. Y. 1970; H. J. Habakkuk: Family Structure and Economic Change in 19th Century Europe, in: Journ. Econ. Hist. 15 (1955), S. 1–12; M. Hewitt: Wives and Mothers in Victorian Industry, London 1958; F. G. Kay: The Family in Transition: Its Past, Present und Future Patterns, New Abbot 1972; W. F. Kenkel: The Family in Perspective, New York ²1966; St. Kern: Explosive Intimacy: Psychodynamics of the Victorian Family, in: Hist. Childhood Quart. 1 (1973/74), S. 437 bis 461; P. Laslett: The World We Have Lost. English Society Before and After the Coming of Industry, London 1965; ders./K. Wall (Hg.): Household and Family in Past Time, Cambridge (GB) 1972; La vie quotidienne (zahlr. Bände einer Schriftenreihe bei Hachette: Paris); J. Maitrou: Les penseurs sociaux et la famille dans la première moitié du XlXème siècle, in: Prigent (s. o.), S. 81–102; ders.: Les thèses révolutionnaires sur l’évolution de la famille, du milieu du Xlème siècle à nos jours, in: ebd., S. 130–147; D. Marshall: Industrial England 1776–1851, London 1973; W. Melchers: Die bürgerliche Familie des 19. Jahrhunderts als Erziehungs- und Bildungsfaktor (Diss. phil. Köln 1928), Düren 1929; M. B. Messer: The Family in the Making. A Historical Sketch, New York/London 1928; H. Möller: Die kleinbürgerliche Familie im 18. Jahrhundert. Verhalten und Gruppenkultur, Berlin 1969; E. S. Morgan: The Puritan Family, New York ²1966; ders.: Virginians at Home; Family Life in the 18th Century, Chapel Hill 1952; W. F. Ogburn/M. F. Nimkoff: Technology and the Changing Family, Boston/New York 1955; M. Perrot: Le mode de vie des familles bourgeoises, 1873–1953, Paris 1961; St. A. Queen/R. W. Habenstein: The Family in Various Cultures, Philadelphia/New York ³1967; Ch. de Ribbe: Les familles et la société en France avant la révolution, d’après des documents originaux, Paris 1873; C. Rosser/Ch. Harris: The Family and Social Change. A Study of Family and Kinship in a South Wales Town, London 1965; A. Salomon/M. Baum (Hg.): Das Familienleben der Gegenwart. 182 Familienmonographien, Berlin 1930; H. Schelsky: Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart, Stuttgart ⁵1967; L. Schneider: Der Arbeiterhaushalt im 18. und 19. Jahrhundert, Berlin 1967; L. L. Schükking: Die Familie im Puritanismus, Leipzig 1929, 2. Aufl. Bern 1964 u. d. T.: Die puritanische Familie; engl. übers.: The Puritan Family. A Social Study from the Literary Sources, London 1969; A. Schultz: Das häusliche Leben der europäischen Kulturvölker vom Mittelalter bis zur 2. H. des 18. Jhs. (Hb. d. mittelalt. u. neueren Gesch., Bd. 4, 9), München/Berlin 1903; G. Schwägler: Soziologie der Familie. Ursprung und Entstehung, Tübingen 1970; R. Sennett: Families Against |A 216|the City: Middle Class Homes of Industrial Chicago 1872–1890, Cambridge, Mass. 1970; N. J. Smelser: Sociological History: The Industrial Revolution and the British Working-Class Family, in: Journ. Social Hist. 1 (1967), S. 17–35; ders.: Social Change in the Industrial Revolution, London ⁴1972; G. Stephan: Die häusliche Erziehung in Deutschland während des 18. Jahrhunderts, Wiesbaden 1891; A.-D. Tolédano: La vie de famille sous la Restauration et la Monarchie de Juillet, Paris 1943; I. Weber-Kellermann: Die deutsche Familie. Versuch einer Sozialgeschichte, Frankfurt/M. 1974.
|A 217|
Alphabetisches Literaturverzeichnis
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    [054:757] Prohansky, H. M., u. a. (Ed.): Environmental Psychology. Man and his Physical Setting, New York 1973
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    [054:759] Reich, W.: Die sexuelle Revolution, Frankfurt/M. 1966
    [054:760] Reiss, D.: Varieties of Consensual Experience, in: Family Process Vol. 10/1, 1971
    [054:761] Richter, H. E.: Patient Familie, Reinbek 1970
    [054:762] Riehl, W. H.: Die Familie, Stuttgart/Augsburg 1855
    [054:763] Rosenbaum, H. (Hg.): Familie und Gesellschaftsstruktur, Frankfurt/M. 1974
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    [054:765] Rubinstein, S.: Grundlagen der allgemeinen Psychologie, Berlin 1971
    [054:766] Rühmkorf, P.: Über das Volksvermögen, Reinbek 1967
    [054:767] Runge, E.: Bottroper Protokolle, Frankfurt/M. 1968
    [054:768] Salinger, J. D.: Der Fänger im Roggen, Köln/Berlin 1962
    [054:769] Sanders, E.: The Family, Reinbek 1972
    [054:770] Satir, V.: Familienbehandlung. Kommunikation und Beziehung in Theorie, Erleben und Therapie, Freiburg 1973
    [054:771] Scheuch, E. K./Sussman, M. B.: Gesellschaftliche Modernität und Modernität der Familie, in: Lüschen, G., Lupri, E. (Hg.), Soziologie der Familie, in: KZfSS Sonderheft 14, Opladen 1970, S. 239 ff.
    [054:772] Schif, S.: Die Entwicklung des Denkens bei gehörlosen Kindern, in: Sonderschule, Jg. 1973, 1. Beiheft
    [054:773] Schneider, M.: Neurose und Klassenkampf, Reinbek 1973
    [054:774] Schneider, P.: Gibt es eine Emanzipation der Männer?, in: Kursbuch 35, 1974
    [054:775] Schütze, Y.: Zum Zusammenhang von innerfamilialen Kommunikationsstrukturen und intrapsychischer Organisation des Kindes. Eine |A 222|exemplarische Analyse der Kommunikations- und Rollenstrukturen zweier Familien, Dissertation, Frankfurt/M. 1975
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    [054:783] Vinnai, G.: Sozialpsychologie der Arbeiterklasse, Reinbek bei Hamburg 1973
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    [054:785] Watzlawick, P., u. a.: Menschliche Kommunikation, Bern 1969
    [054:786] Weber, M.: Wirtschaft und Gesellschaft, Berlin/Köln 1964
    [054:787] Weber-Kellermann, J.: Die deutsche Familie. Versuch einer Sozialgeschichte, Frankfurt/M. 1974
    [054:788] Weir, R.: Language in the Crib, The Hague 1970
    [054:789] Werkkreis Literatur der Arbeitswelt: Der rote Großvater erzählt, Frankfurt/M. 1974
    [054:790] Willmott, P./Young, M.: Family and Kinship in East London, London 1957
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    [054:792] Wohmann, G.: Die Bütows, 6. Aufl., Düsseldorf 1975
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|A 223|
Register
    [054:796] Arbeit 56, 100, 138, 170 ff., 186
    [054:797] Arbeitskraft 152, 170 ff.
    [054:798] Autobiographie 22
    [054:799] Autorität (vgl. auch Dominanz) 31, 39, 164
    [054:800] Berufstätigkeit, Erwerbstätigkeit 29 ff., 34, 52 ff.
    [054:801] Beziehung 23, 37, 44, 58, 62, 67 ff., 71, 97, 101, 177
    [054:802] Bildungseinrichtungen 22, 77 f., 88 f., 137 ff.
    [054:803] Bildungsprozeß 17, 52, 107, 137
    [054:804] Deutungsmuster 26, 38 ff., 58, 94 f., 106, 112, 116, 130, 139, 141 f.
    [054:805] Dominanz (vgl. auch Autorität) 28, 39, 62, 84
    [054:806] Ehe 15, 51 ff.
    [054:807] Emotion 27, 67, 73 f., 101, 105, 182
    [054:808] Erinnerung 8, 18, 37, 38
    [054:809]
    Familie
    • Begriff der 11 ff., 24, 37
    • Formen der 23, 26, 265
    • Geschichte der 19 ff.
    • Kritik der 16 f., 133, 143, 200
    [054:810] Familienforschung 19 f., 23, 92 f., 135, 139, 145 ff., 205
    [054:811] Familienrecht 15
    [054:812] Familientherapie (siehe Therapie)
    [054:813] Geschlechtsrolle 28, 36, 52 ff., 56, 62, 181
    [054:814] Geschwister 79 f.
    [054:815] Handlungsfähigkeit 63, 84, 105, 116, 117
    [054:816] Identität 66, 90, 93 f., 174
    [054:817] Inhalte (der Interaktion) 98, 141 ff., 184 ff.
    [054:818] Interaktionsregeln, -muster 52 ff., 59, 63 ff., 73 ff., 83, 90 f., 93 f., 102 ff., 135 ff., 177 ff., 193 f.
    [054:819] Interpunktion 66 f.
    [054:820] Klasse 25, 27, 49, 147, 149 ff.
    [054:821] Kognition 69 ff., 102 f., 109 ff.
    [054:822] Konflikt 14, 55, 60 f., 79, 95 f., 131, 135, 167, 193
    [054:823] Lernmilieu, Lernfeld 52, 78, 86, 88 f., 103, 109, 122, 137 ff., 203 f.
    [054:824] Macht 96 f., 134, 167, 181 ff., 198
    [054:825] Normen 11, 43, 49, 58, 63, 68, 100, 107, 119 ff.
    [054:826] Objekte, Gegenstände des Lernens 70 ff., 129
    [054:827] Paradoxie 62, 66, 99 ff.
    [054:828] Perspektive 11 f., 44 ff., 66 f., 84, 95, 101 ff., 106, 180
    [054:829] Phantasie 74 ff.
    [054:830] Ritual 69, 84, 106, 116 ff.
    [054:831] Rolle (vgl. auch Geschlechtsrolle) 28 ff., 44, 56, 81, 93 f., 116 ff., 134
    [054:832] Schicht (soziale) 31 f., 147, 149 f., 194
    [054:833] Selbständigkeit 66 ff., 99 ff., 134 f.
    [054:834] Selbstbild 66, 127
    [054:835] Situation 55, 70 ff., 93, 115
    |A 224|
    [054:836] Situationsdefinition 55 ff., 94, 120 f.
    [054:837] Sozialisation 11, 22, 62 f., 78, 110, 145 ff., 188
    [054:838] Spiel 114, 120, 129
    [054:839] Sprache 71, 82, 89, 104, 112 ff., 127 ff., 139
    [054:840] Therapie 60, 63 ff., 92, 101, 107, 108, 205
    [054:841] Wohngemeinschaft 12, 15
    [054:842] Wohnbedingungen 34 f.
    [054:843] Zeit 127, 131, 188 ff.