
Vorwort
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–[057:2] Die Darstellung soll durchgehend zeigen, in welcher Weise die behandelten Probleme gerade auch für erziehungswissenschaftliche Forschung von Bedeutung sind. Die Kennzeichnung einer Methode als»wissenschaftlich«oder»sozialwissenschaftlich«ist uns allein noch kein hinreichender Grund, sie in den Kanon erziehungswissenschaftlicher Forschungsmethoden aufzunehmen. Wir haben uns deshalb bemüht, diesen Bezug zum Gegenstand der Erziehungswissenschaft immer wieder hervorzuheben und auch eine Beschränkung auf Teilbereiche der Erziehungswirklichkeit (z. B. auf die Schule) zu vermeiden.
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–[057:3] Methoden sind zwar das unerläßliche Handwerkszeug der wissenschaftlichen Arbeit, sie enthalten aber einen konservativen Zug dann, wenn – um im Bild zu sprechen – der Inhalt des Werkzeugschrankes für das einzig mögliche und auch für die Zukunft gültige Instrumentarium gehalten wird. Zum wissenschaftlichen Umgang mit Methoden gehört deshalb vor allem die Reflexion der Prinzipien der Herstellung jenes Werkzeugs zur Bearbeitung immer neuer Gegenstände. Wir haben deshalb gerade diese Fragen wesentlich ausführlicher erörtert, als das sonst meist geschieht. Der größte Teil des Buches (das 1. und das 2. Kapitel) ist darauf konzentriert.
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–[057:4] Das bedeutet jedoch nicht, daß wir einen methodischen Relativismus vertreten, nach dem letzten Endes alles möglich sei. Vielmehr scheint uns unwiderlegbar, daß es universale»Grund|A 8|regeln«der Mitteilung von Erkenntnis gibt, sofern gelten soll, daß solche Mitteilung für andere kontrollierbar und also auch korrigierbar ist. Dies scheint uns das Kernproblem der wissenschaftlichen Methode zu sein. Wir haben es deshalb – auch mit Bezug auf die für die Erziehungswissenschaft unerläßliche Frage nach der wissenschaftlichen Behandlung normativer Probleme (also der relevanten Handlungsziele) – ausführlicher behandelt als sonst üblich.
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–[057:5] Schließlich ist die wissenschaftliche Methode (jedenfalls im Hinblick auf pädagogisches Handeln) nichts anderes als eine Art Perfektionierung von Operationen, die ein notwendiger Bestandteil auch des Alltagshandelns sind. Wir haben deshalb – teils in entwickelnder Argumentation, teils in der Form von illustrierenden Vergleichen – diesen Bezug immer wieder herzustellen versucht. Diese Relationen sich immer wieder zum Bewußtsein zu bringen, ist deshalb erforderlich, weil viele der differenziert ausgearbeiteten, gegenwärtig gebräuchlichen Verfahren derart»abstrakt«erscheinen, daß ihr Zusammenhang mit Operationen des Alltagshandelns nicht mehr ohne weiteres offensichtlich ist.
1. Kapitel
Alltagshandeln und wissenschaftliche
Methode
1. Das Orakel
»Wissenschaft«
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–[057:20] Situationen, in denen Leute sich auf die Frage konzentrieren, ob sie überhaupt verstanden haben, was jemand, der etwas zu erzählen weiß, mitteilen möchte;
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–[057:21] Situationen, in denen Leute sich darauf konzentrieren, ob jemand das, was er mitteilen will – und von dem sie meinen, es verstanden zu haben – auch in der rechten Ordnung dargestellt hat.
2. Methodische Operationen im Alltagshandeln
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–[057:28] solche, in denen nach dem sozialen Kontext von Ereignissen und Äußerungen und den Handlungszielen gefragt wird,
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–[057:29] solche, in denen nach der Bedeutung von Symbolen (sprachlichen und nicht-sprachlichen) gefragt wird,
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–[057:30] solche, in denen nach der Ordnung, Gliederung, Logik von Äußerungen bzw. Ereignissen gefragt wird,
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(1)[057:48] A könnte daraufhin B Vorhalten, daß er das»viel zu oberflächlich sehe«, denn er wisse ja (beispielsweise) nur, was die Erwachsenen tun, nicht aber, was in den Kindern vor sich gehe.
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(2)[057:49] Außerdem habe er (B) ja selbst keine Kinder und möchte wohl gern die Schuld für die Schwierigkeiten, die er in der Schule mit den Kindern habe (nehmen wir an, B ist Lehrer) auf die Eltern abschieben. – B könnte darauf erwidern, daß man ähnliches ja auch von A behaupten könne. – Vielleicht würde A sich dagegen verwahren und darauf verweisen, daß Eltern schließlich ein größeres Interesse an ihren Kindern haben als Lehrer.
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(3)[057:50] B könnte das zugestehen, aber gleichzeitig behaupten, daß deshalb wohl auch der Blick von A für die Realitäten getrübt sei. – A würde vielleicht erwidern, daß das, was B»getrübten Blick«nenne, in Wahrheit ein scharfer Blick sei: Durch das größere Interesse am Kind sehe man auch mehr und anderes.
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(4)[057:51] Außerdem: Für manche Kinder mag ja richtig sein, daß die Schule machtlos ist. Für die eigenen Kinder jedoch gelte das Umgekehrte. – Das hält auch B für möglich.
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(5)[057:52] Um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben, bringt B vielleicht einen neuen Einfall ins Spiel: Es könne ja sein, daß die Frage deshalb so schwer entscheidbar ist, weil Familie und Schule sich in ähnlicher Lage befinden und eigentlich die vielen anderen Lebensumstände des Kindes (Gleichaltrigengruppen, Berufserwartungen, Massenmedien usw.) viel stärker prägend wirken als Familie und Schule zusammen. – In dieser Frage sind |A 25|sich dann möglicherweise A und B rasch einig. – Das Gespräch droht zu versiegen.
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(6)[057:53] Da bemerkt A noch einmal, mit einem Ton von Selbstkritik, daß man vielleicht noch nicht die richtige Umgangsform mit den Kindern gefunden habe.
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(7)[057:54] B fragt:»Was heißt richtig? Auf Elternversammlungen gibt es gerade darüber immerfort Streit. Da hat jeder seine eigene Ansicht!«– A:»Aber man müßte doch vernünftig darüber reden können!«
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(1)[057:56] Es wird auf Beobachtungsfehler und darauf, daß die zitierten Beobachtungen gar nicht geeignet seien, die behauptete Theorie in Frage zu stellen, hingewiesen. Es steht also zur Diskussion, daß, um eine Behauptung zu überprüfen, die Prüfoperationen auch genau und hinreichend dem entsprechen müssen, was in der Theorie (als Hypothese) behauptet wird.
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(2)[057:57] Es wird geltend gemacht, daß die Neigung, bestimmte Hypothesen zu akzeptieren und andere zu verwerfen, vom Handlungszusammenhang abhängig sein könnte und daß dieser pragmatische Kontext nicht nur bewirken könne, bestimmte Fragen besonders aufmerksam zu verfolgen, sie mit größerer Sorgfalt einer Prüfung zu unterziehen, sondern auch in der Prüfung nachlässiger zu sein, um die eigene praktische Situation nicht zu gefährden, also an möglicherweise falschen Behauptungen aus Interessengründen festzuhalten.
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(3)[057:58] Solche»Befangenheit«durch den pragmatischen Kontext eines Erkenntnisvorgangs hat nicht nur Folgen für die Auswahl relevanter Hypothesen oder Theorien, sondern auch für die Beobachtungsakte, deren man sich zur Überprüfung bedient; das betrifft sowohl den Umfang der Beobachtungen wie auch deren Richtung, die Verwendung von Beobachtungskategorien.
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(4)[057:59] Es wird erwogen, daß vielleicht beide Gesprächspartner»Recht haben«könnten und daß der vermeintliche Widerspruch zwischen beiden Behauptungen damit zusammenhängt, daß jede der beiden Behauptungen sich auf andere Kinder bezieht, die vielleicht unter anderen Bedingungen heranwachsen: Es wurde |A 26|also fälschlicherweise für jede Behauptung Repräsentanz angenommen, d. h., es wurde unterstellt, daß die gemachten Beobachtungen über den eigenen Erfahrungskreis hinaus gelten können.
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(5)[057:60] Schließlich wird die Hypothese völlig neu konstruiert: Das bewirkte Ereignis (Prägung der Kinder) bleibt gleich, aber die bewirkenden Ereignisse werden neu festgesetzt; in den Behauptungen (Hypothesen) von der Art »wenn X, dann Y (»wenn ein Kind in die Schule geht, dann wird es dort so stark geprägt, daß die Einflußmöglichkeit der Eltern demgegenüber sehr gering bleibt«), bleibt zwar Y bestehen, aber als X wird ein neues Datum eingesetzt mit der Annahme, daß diese neue Hypothese sich besser bestätigen läßt als die alte. Die Prozedur der Überprüfung von Behauptungen, in denen ein Ereignis erklärt werden soll, können wir deshalb grundsätzlich als Versuch ansehen, durch Auswechseln oder Präzisieren der Ausdrücke in einem»wenn ...«-Satz zu allmählich immer akzeptableren Formen des ganzen Satzes zu kommen.
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(6)[057:61] In der»selbstkritischen«Bemerkung wird zweierlei angesprochen: Einerseits wird die von B vorgeschlagene Änderung des hypothetischen Modells noch weiter differenziert, und zwar dadurch, daß in Erwägung gezogen wird, die Klassifikation der X-Daten folge vielleicht einem unzweckmäßigen Kriterium: Statt Klassen von sozialen Feldern (Familie, Schule, Gleichaltrigengruppe usw.) solle man deshalb Klassen von Umgangsformen, die Erwachsene mit Kindern praktizieren, als neue Variable ins Spiel bringen (»Variable«heißen die X- und Y-Ausdrücke; wird von einer Variablen angenommen, daß sie die Ursache der anderen ist, dann heißt die erste»unabhängige«und die zweite» abhängige«Variable). Zugleich aber ist von der»richtigen«Umgangsform die Rede. Das kann zweierlei bedeuten: eine Umgangsform, die Bedingungen erfüllt, die in der Hypothese von der unabhängigen Variablen verlangt werden (nämlich das»Geprägtsein«von Kindern zu erklären); aber auch eine Umgangsform, die als praktisch, als ethisch richtig akzeptiert werden kann.
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(7)[057:62] Diese zweite Bedeutung greift B auf und deutet mit dem Hinweis darauf, daß in dieser Frage»jeder seine eigenen Ansichten habe«, an, daß an dieser Stelle des Gesprächs möglicherweise die Grenze einer rationalen Argumentation erreicht sei. A mag das nicht akzeptieren und hält auch über die Frage des praktisch (nicht nur theoretisch) Richtigen noch einen argumen|A 27|tierenden Diskurs für möglich. Das heißt: A nimmt offenbar an, daß die Entscheidung darüber, welche relevanten Kriterien für theoretische Fragestellungen Geltung beanspruchen können, auch wenn die Kriterien praktischer (moralisch-ethischer) Natur sind, noch in einem»vernünftigen«Diskurs herbeigeführt werden könne.
3.
»Universale« und
»historische« Kriterien der Forschung
- [057:64]
1.Ist die Festlegung auf die genannten Kriterien vielleicht eine dogmatische Verengung von Erkenntnisprozeduren auf einen besonderen historisch erreichten Stand? Werden damit vielleicht Alternativen in der Forschung erschwert oder unmöglich gemacht, von denen man noch gar nicht wissen kann, ob sie nicht viel eher neue Erkenntnisse möglich machen würden? Und schließlich: Hat eine solche Festlegung vielleicht im Erziehungsfeld Folgen (für die Nutzung der Forschungsergebnisse und ihre praktische Bedeutung), die manch einer sich nicht wünscht?
- [057:65]
2.Haben wir in unseren Interpretationen dessen, was die zitierten Sprecher zum Ausdruck bringen, nicht etwas unterstellt, was diese Sprecher vielleicht nicht entfernt im Sinne hatten? Haben wir uns mit unserer Interpretation vielleicht unser wesentliches Argument erschlichen, und zwar dadurch, daß wir die von uns für wichtig gehaltenen Kriterien wissenschaftlicher Operationen in die Texte jener Sprecher hineingedeutet haben und also gerade nicht im Alltagshandeln selbst jene Operationen nachgewiesen haben?
4.
»Mythen des Alltags« und
das -Prinzip
- [057:119]
1.Ich entdecke, daß die Geschichte der Wissenschaft einen häufigen Wechsel der Erkenntnis-Paradigmen, der Wirklichkeitskonstruktionen enthält.
- [057:120]
2.Ich entdecke ferner, daß solcher Wechsel mit dem Wechsel von Handlungszusammenhängen einhergeht, also auch mit der Konstruktion von Wirklichkeit im Alltagshandeln.
- [057:121]
3.Wende ich diese Entdeckung auf meine eigene Situation an, bedeutet dies, daß auch derjenige Erkenntnistyp, dem ich selbst zunächst naiv folge, nicht endgültig sein muß. Auch er kann eines Tages von einem anderen abgelöst werden.
- [057:122]
4.Also würde ich meiner eigenen Entdeckung widersprechen, wenn ich den von mir im Augenblick bevorzugten Typ der Wirklichkeitskonstruktion und wissenschaftlichen Rekonstruktion dogmatisch nehmen würde (ich würde damit den wissenschaftlichen Fortschritt stillstellen wollen).
- [057:123]
5.Die Gefahr des Dogmatismus sollte immer dann besonders sensibel registriert werden, wenn meine eigene Wirklichkeitskonstruktion auf ein Handlungsfeld trifft, in dem möglicherweise die Wirklichkeit nach anderen Regeln konstruiert wird (andere ethnische Gruppen, soziale Subkulturen, Randgruppen, auch Kinder usw.) und zugleich mein eigener Typus von Wirklichkeitskonstruktion einen Machtvorsprung genießt (wie häufig im Falle der gegenwärtigen Sozialwissenschaft). Daraus folgt, daß es notwendig ist, meine eigenen Erkenntnisprozeduren daraufhin zu kontrollieren, mit welchen kategorialen und methodischen Mitteln in ihnen ein bestimmter Begriff von Wirklichkeit aufgebaut oder reproduziert wird; d. h., ich muß mir des Konstrukt-Charakters meiner Forschung bewußt sein. Anderenfalls wäre meine Annahme, daß verschiedene Paradigmen – da sie auf verschiedenen Wirklichkeitskonstruktionen beruhen und deshalb auch unterschiedlichen Wahrheitskriterien unterliegen – |A 40|nicht nach einer allgemeingültigen Alternative wahr/falsch entschieden werden können, sinnlos gewesen.
2. Kapitel
Grundoperationen und
Gütekriterien
1. Verfahren des Interpretierens
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(1)[057:155]Er sagt, daß ich (dazu, in diesem Fall, jetzt) der einzelne Punkt bin. (WW, SW)
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(2)[057:156]Er erwidert auf meine Ausführungen. (KW) [057:157] [Zusätzliche Indikatoren sind die Ausdrücke›dazu‹,›in diesem Falle‹,›jetzt‹]
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(3)[057:158]Wenn jemand die Ausführungen eines anderen damit erwidert, daß er ihm ein Prädikat zuschreibt, dann will er ihn hinsichtlich seines Beitrags zur gerade anstehenden Diskussion qualifizieren. (SW) [057:159] : : Also will er mich hinsichtlich meines Beitrages zur Diskussion qualifizieren.
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(4)[057:160]Mein Beitrag bestand darin, eine bestimmte Auffassung zu vertreten, nämlich zu der Frage, ob Matratzen in den Raum gebracht werden sollen. (PW, KW) [057:161] : : Also will er ausdrücken, daß ich der einzelne Punkt (d. h. die einzige Person) bin, der eine solche Auffassung vertritt.
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(5)[057:162]Wenn jemand ausdrückt, daß ein anderer Partizipant, der derselben Gruppe angehört, die einzige Person ist, die etwas Bestimmtes tut oder eine bestimmte Auffassung vertritt, dann will er damit ausdrükken, daß dieser abweicht von dem, was innerhalb der Gruppe unter gewissen Umständen als normal gilt. (GW) [057:163] : : Also will er ausdrücken, daß ich, indem ich diese meine Auffassung vertreten habe, abweiche von dem, was in unserer Gruppe unter den gegenwärtigen Umständen als normal gilt.
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(6)[057:164]Wenn jemand innerhalb einer Gruppe eine abweichende Auffassung vertritt, so verhindert oder verzögert er damit die Übereinstimmung in der Gruppe. (G) [057:165] : : Also will er ausdrücken, daß ich, indem ich diese meine Auffassung vertreten habe, Übereinstimmung verhindere oder verzögere.
- |A 53|
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(7)[057:166]In einer Diskussion, in der es um eine gemeinsame Unternehmung geht, muß man Übereinstimmung erreichen. (GW, KP)
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(8)[057:167]Wenn jemand Übereinstimmung über eine gemeinsame Unternehmung verhindert oder verzögert, dadurch daß er eine abweichende Auffassung vertritt, so sollte er seine Auffassung überdenken, um sie evtl. zu ändern, oder er sollte sie rechtfertigen (um evtl. die anderen Partizipanten zu überzeugen). (GW, KP) [057:168] : : Also will er, daß ich meine Auffassung nochmals überdenke, oder daß ich andere Argumente gebe, oder er will mich dafür kritisieren, daß ich das noch nicht getan habe; alles zusammengenommen will er, daß ich bezüglich der vertretenen Auffassung überhaupt unsicher werde. [Die Alternativen sind nicht als exklusiv zu verstehen.]
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(9)[057:169]Ich werde unsicher. (Motivationelles Faktum)
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(10)[057:170]Ich kann keine anderen Argumente als bisher geben. (PW) [057:171] : : Also will er mich kritisieren, und er will, daß ich meine Auffassung überdenke.
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(11)[057:172]Ich will mit ihm kooperieren. (P) [057:173] : : Also werde ich meine Auffassung überdenken und auf seinen Einwurf reagieren. [057:174] [Beginn der Erwiderung:»Vielleicht, vielleicht, ich mein!«]
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(12)[057:175]Indem ich meine Auffassung überdenke, wird mir fraglich, ob es wirklich stimmt, daß ich die einzige Person bin, die eine solche Auffassung vertritt. (PW, KW, Bewertung)
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(13)[057:176]Ich will sicher sein, ob ich die einzige Person bin, die eine solche Auffassung vertritt. (P)
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(14)[057:177]Ich weiß nicht, was die anderen über das Problem denken. (PW) [057:178] : : Also will ich wissen, was die anderen über das Problem denken.
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(15)[057:179]Wenn jemand etwas wissen will, dann kann er einen Beitrag dazu bekommen, wenn er ausdrückt, daß er es nicht weiß. (SW) [057:180] : : Also werde ich feststellen, daß ich nicht weiß, was die anderen über das Problem denken.«[057:181] (Wunderlich, in Apel 1976, S. 484 ff.)
Der Hausvater ist dem durch Beschluß der Generalversammlung des Hilfsvereins vom 12. Mai 1852 eingesetzten Verwaltungsausschusse für die Einhaltung nachstehender Hausordnung verantwortlich. Sowohl das Aufsichts-, Hilfs- und Dienstpersonal als die Zöglinge des Hauses sind ihm daher unbedingten Gehorsam schuldig, und die Eltern und Ange|A 55|hörigen der letzteren haben bei dem Eintritt derselben ausdrücklich auf jede dieser Hausordnung zuwider laufende Einwirkung auf die Kinder zu verzichten. [057:187] §. 2.
Zur Aufrechterhaltung der Hausordnung steht dem Hausvater je einen Monat ein Mitglied des Verwaltungsausschusses als Hausinspektor zur Seite, dessen Name in dem Schulzimmer angeschrieben steht. Jede durch die Umstände gebotene Abweichung von der Hausordnung ist diesem wo möglich vorher zur Anzeige zu bringen. In wichtigen Fällen hat derselbe dem Vorsitzenden des Verwaltungsausschusses sofort Bericht zu erstatten. [057:188] §. 3.
Betrifft eine solche Abweichung den Unterricht, so hängt sie von der Zustimmung des Schulinspektors ab, der der städtischen Schulcommission für die Aufrechterhaltung aller für die Elementarschulen geltenden gesetzlichen Bestimmungen verantwortlich ist. [057:189] §. 4. Das Aufsichts-, Hilfs- und Dienstpersonal muß den Zöglingen des Hauses durch Arbeitsamkeit und sittlichen Lebenswandel mit gutem Beispiel voran gehen; widrigenfalls hat der Hausvater die ungesäumte Entfernung zu beantragen. [057:190] §. 5.
Die Kinder haben allen Personen, denen bei ihren Arbeiten die Aufsicht über sie von dem Hausvater anvertraut wird, wie diesem selbst zu gehorchen. Jede Verletzung der Ordnung und jede Unsittlichkeit, welche zu einer Zeit begangen wird, wo keine erwachsene Person zugegen ist, muß von den anwesenden Kindern offen zur Anzeige gebracht werden, wenn sie sich nicht zu Mitschuldigen machen wollen. [057:191] §. 6.
Kein Kind darf auch nur einen Augenblick das Haus oder die Umzäunung des Gartens verlassen, ohne von den Hauseltern Erlaubnis oder einen Auftrag erhalten zu haben. Auch in diesem Falle wird aber jeder anderweitige Gang als Gesetzwidrigkeit bestraft, ebenso das Ausbleiben über die verstattete Zeit. [057:192] §. 7.
Der Verkehr der Zöglinge mit ihren Angehörigen unterliegt nach §. 5 der Statuten der Aufsicht des Hausvaters, der aber nur in besonders dringenden Fällen den Kindern erlauben kann, die Ihrigen zu besuchen, ohne vorher die Zustimmung des jedesmaligen Hausinspektors eingeholt zu haben. Für die Besuche der Angehörigen im Hause ist die Zeit von 1½ bis 3 Uhr nachmittags jeden Sonn- und Feiertag bestimmt. Wenn jedoch eine üble Einwirkung auf die Kinder ersichtlich ist oder ihnen heimlich Eßwaaren und dgl. zugesteckt werden, kann durch einen Beschluß des Verwaltungsausschusses den einzelnen Angehörigen die Erlaubnis zum Besuch der Kinder ganz entzogen werden. Wer sich zu einer Beschwerde berechtigt glaubt, hat dieselbe bei dem Hausvater, Hausinspektor oder Vorsitzenden des Ausschußes anzubringen.
vdt. der Magistrat der kgl. b. Stadt Schweinfurt
, rechtsk. Bürgermeister, Schweinfurt, den 1. Juni 1855.
Der Verwaltungsausschuß, Dr. Vorsitzender, Schriftführer. |A 55| [057:193] Anhang: Die Kost besteht am Sonntag, Dienstag und Donnerstag als Frühstück aus Milch oder Kafe mit Brot, an den übrigen Tagen aus Suppe, als Abendessen an allen Tagen aus Suppe. Das Mittagessen besteht täglich abwechselnd aus Gemüse, Reis, Gerste, Erbsen, Bohnen kerne u. s. w. Am Sonntag, Dienstag u. Donnerstag wird hierzu Fleisch verabreicht. Nach hiesiger Sitte gibt es jeden Donnerstag Kraut, jeden Freitag Klöse. Außer Sonntag und Freitag kommen zum Mittagessen Kartoffel als Nebenspeise. Vor- und nachmittags gibt es trockenes Brot. An Sonntagen gibt es Butterbrot, bei Feld- und Gartenarbeiten Obst oder Käse und etwas zum Trinken.«
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1.[057:200]Die Interpretation eines Textes (eines pädagogischen Ereignisses) setzt offenbar voraus, daß der Interpret einen» Vorbegriff«der Sache hat. Dieser Vorbegriff ist in verschiedenen Dimensionen bestimmbar: er ist bestimmbar
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–als die Verstehbarkeit von Worten und Sätzen (bei nichtsprachlichen Äußerungen auch des semantischen Gehaltes von Gesten) der Umgangssprache, die der Interpret mit dem Text teilt;
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–als Klassifikation des Ereignisses (Autobiographie, Spielsituation, Hausordnung, Gerichtsprotokoll, Unterrichtsstunde usw.), das verstanden werden soll und damit als Ereignis mit einer bestimmten alltagssprachlich eingespielten gesellschaftlichen Bedeutung eingeordnet wird;
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–als theoretisch reflektierter Vorbegriff, der eine aus wissenschaftlicher Arbeit gewonnene Annahme darüber enthält, welche Art von Hypothesen am Text geprüft werden könnten (z. B. zur Struktur erinnerter Bildungsgeschichten, zur Struktur praktischer Schlüsse in Alltagssituationen, zur Funktion von Hausordnungen als Bestandteile institutionalisierter Interaktionen).
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2.[057:201] Der Interpretationsvorgang selbst verläuft nach den Regeln einer auf Verständigung zielenden Kommunikation. Er enthält grundsätzlich zwei aufeinander bezogene Operationen: Einerseits werden aus der Perspektive des Interpreten (seinen Gesichtspunkten) Fragen an den Text gerichtet; andererseits steckt in der»Antwort«immer auch mehr oder anderes, als erfragt wurde, und also ergeben sich auch aus dem Text, dessen Perspektive der Interpret virtuell zu übernehmen versucht, gleichsam»Rückfragen«an die Triftigkeit, die Angemessenheit, die Ergiebigkeit der verwendeten Gesichtspunkte. Die virtuelle |A 60|Übernahme der Perspektiven ist indessen nicht auf Anhieb möglich, sondern ist erst das Ergebnis einer Interpretationsarbeit, in der in vielen einzelnen Schritten immer wieder der Versuch unternommen werden muß, Sinn und Bedeutung des»Ganzen«aus seinen einzelnen Teilen und die Bedeutungsstellung dieser im Rahmen des Ganzen zu ermitteln (vgl. Dilthey, Bd. VII, 1927, S. 235). Dieses in der Natur des interpersonalen Verstehensvorganges begründete Verhältnis der Reziprozität der Perspektiven und wechselseitigen Erschließung von Teil und Ganzem wird der»hermeneutische Zirkel«genannt.
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3.[057:202] Das Ergebnis einer Interpretation hat den wissenschaftslogischen Status einer Hypothese. Unter keinen Umständen kann mit zweifelsfreier Gewißheit und hinreichenden Gründen behauptet werden, daß eine vorgelegte Deutung gültig ist (vgl. dazu auch S. 72 ff.). Prinzipiell bleibt sie immer korrigierbar. Selbst die volle Zustimmung des Interpretierten (etwa im Falle des Autors einer Biographie) kann diesen Zweifel nicht beseitigen, denn wir können nie mit Gewißheit ausschließen, daß auch er sich täuscht. Daraus folgt, daß die Interpretation (wie jede andere wissenschaftliche Behauptung auch) wenigstens so vorgenommen und vorgetragen werden muß, daß sie falsifizierbar ist, d. h. daß unzutreffende Interpretationen erkannt und verworfen werden können. Das ist nur möglich, wenn das Interpretationsverfahren durchsichtig, die einzelnen Interpretationsschritte von anderen potentiellen Interpreten nachvollziehbar, die verwendeten Begriffe also auch nicht nur selbst deutlich bestimmt sind, sondern auch eindeutig auf die einzelnen Textbestandteile (Worte, Sätze, Körpergesten, Handlungssequenzen) beziehbar sind – nicht anders als bei Forschungsoperationen überhaupt.
2. Zum Problem der Klassifikation
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1.[057:215] die (beispielsweise) sozioökonomische Situation der Familie,
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2.[057:216] die Struktur der Familie,
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3.[057:217] das Verhalten des Kindes.
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1.[057:219]Die sozio-ökonomische Situation
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(1)Einkommen,
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(2)Beruf des Vaters,
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(3)Wohnsituation,
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(4)Erziehungsnormen
usw. -
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2.[057:220]Die Struktur der Familie
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(1)Familiengröße,
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(2)Rollendefinition,
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(3)Erziehungsnormen
usw. -
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3.[057:221]Das Verhalten des Kindes
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(1)Apathie versus Aggressivität,
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(2)Bindung an die Familie versus Selbständigkeit,
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(3)Werte, die das Kind anstrebt
usw. -
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1.[057:224] die Interaktionsstile der Familie,
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2.[057:225] das Verhalten des Kindes in bestimmten familiären und nicht-familiären Situationen.
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1.[057:227]Die Interaktionsstile der Familie
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(1)Interaktion zwischen Ehepartnern,
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(2)Interaktion zwischen Mutter und Kind,
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(3)Interaktion zwischen Vater und Kind,
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(4)Interaktionen in gemeinsamen Situationen.
Alle diese Interaktionen könnten klassifiziert werden nach: sprachlichen und nicht-sprachlichen, akzeptierenden und ablehnenden, die Perspektive des Kindes einbeziehenden und nicht-einbeziehenden Akten usw. -
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2.[057:228]Das Verhalten des Kindes
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(1)Selbstbild,
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(2)Bild vom Vater, von der Mutter, von den Geschwistern,
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(3)Taktiken der Identitäts-Balance usw.
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1.[057:230] Kindheitskonstellationen,
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2.[057:231] Verhalten des Kindes.
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1.[057:233]Kindheitskonstellationen
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(1)affektive Mutter-Kind-Beziehung,
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(2)Beziehung zu Vater und Mutter (-Konstellation),
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(3)das familiale Normensystem
usw. -
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2.[057:234]Verhalten des Kindes
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(1)Identifikation versus Aggression,
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(2)Über-Ich-Bildung,
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(3)Ausbildung der Ich-Funktionen
usw. -
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1.[057:237] Erste Bestimmung des Erkenntnisgegenstandes: Beispiel:»Ich interessiere mich für die Abhängigkeit von Personen voneinander im Rahmen der Interaktionen, die sie gemeinsam haben.«Oder:»Ich interessiere mich für das soziale Verhalten von Jugendlichen, soweit es von ihrer ökonomischen Situation abhängig ist.«Oder rein deskriptiv:»Ich interessiere mich dafür, wie man das Bewußtsein von Jugendlichen beschreiben könnte.«
- |A 67|
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2.[057:238] Dimensionierung (d. h. genauere Definition) des Gegenstandes: Als Beispiel wählen wir die Dimensionierung von Interaktion. Entscheidend bei dieser Dimensionierung ist, daß die Dimensionen sich auf keinen Fall überschneiden dürfen, d. h., sie müssen so bestimmt sein, daß sie sich wechselseitig ausschließen. Im Falle der Interaktion könnte ich also unterscheiden die Dimension»Form«von der Dimension»Inhalt«der Interaktionen; die Dimension sprachlicher von der nicht-sprachlicher interpersoneller Akte; die Dimension kognitiver von der emotionaler Inhalte der Interaktion. Dies heißt, daß ich sowohl die Form wie auch den Inhalt noch einmal in zwei Dimensionen unterteilt habe. Auf diese Weise entsteht folgende Matrix:
Form Inhalt sprachlich kognitiv nicht-sprachlich emotional -
3.[057:239] Bildung von Beobachtungs-Kategorien: Um die Dimensionen auf Beobachtungsdaten beziehen zu können, ist nun eine weitere Operation erforderlich, die wir die Bildung von Kategorien nennen. Bezogen auf den Fall der»Interaktion«, und zwar in der sprachlichen Dimension, könnten wir z. B. folgende Kategorien bilden: Anweisungen, Behauptungen, Fragen usw.; d. h., daß wir hier innerhalb der Oberklasse»sprachliche Interaktionen«Unterklassen bilden, die einen differenzierten Begriff von dem ausdrücken sollen, was mit dem Ausdruck»sprachliche Interaktion«in einer bestimmten Untersuchung gemeint sein soll.
Interaktionen | ||
positiv bestimmt | problematisch bestimmt | |
expressiver Bereich | Übereinstimmung | Nicht-Übereinstimmung |
instrumenteller Bereich | Antworten | Fragen |
3. Schemata empirischer Aussagen
[1] Das Prüfen empirischer Hypothesen
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(1)[057:270]»Dies ist ein Buch.«
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(2)[057:271]»Dies ist eine Person mit kognitiver Komplexität.«
[2] Erklärungen
–Weil Stege dieser Bauart maximal mit einem Gewicht von 20 Zentnern belastet werden dürfen – du hast ihn aber mit 30 Zentnern belastet.
– Es ist jetzt im Trotzalter, das fast jedes Kind durchmacht.
– Es war dort kein Telefon in der Nähe.
Also mußte/sollte P, um Streit zu vermeiden, H realisieren.
Sofern jemand disponiert ist, zweckrational zu handeln, wird er in einer Situation vom Typ S stets (mit hoher Wahrscheinlichkeit) H realisieren, wenn Streit vermieden werden soll.
Also hat P die Handlung H realisiert.
Gleichwohl wird man sich fragen können, ob die Erklärung nicht auch anders erfolgen kann, etwa so: P war in S mit dem Ziel Z; P erwartete, daß sie Z unter der Bedingung H erreichen konnte, und deshalb realisierte sie H. – Diese Beschreibung verwendet nur besondere Sätze – bleiben sie dennoch erklärend? Gibt es vielleicht Formen der Erklärung, die nicht in das Schema von / fallen?
P war in S mit dem Ziel Z.
P dachte: wenn H, dann Z.
(Zwischenüberlegung: Wird sie ihr Wissen praktisch verwerten, indem sie H realisiert?)
P realisierte H.
(Frage: warum? zufällig? weil sie ihr Wissen um die Zweck-Mittel- Relation Z/H praktisch verwertete? aus anderen Gründen?)
Offenbar ist für den Empfänger einer Erklärung des Typs:
[3] Prognosen
Prognose: Sofern D der Fall sein wird, wird K der Fall sein, und zwar, weil SR
»Daten« : |
»Konklusion« : |
»Ich habe den Jugendlichen gesagt: wenn
ihr in dieser Situation über die Stränge schlagt, ist es
hier aus mit den Reformen. Sie haben betont, daß sie
ebenso dieser Meinung sind und daß sie keinesfalls einen
Rückfall wünschen ...«
|
»Die Jugendlichen werden mitspielen und
mir keine Schwierigkeiten machen.«
|
4. Gütekriterien
[1] Bemerkungen zur Einteilung
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–[057:353] Warum interessiere ich mich (interessierst Du Dich) gerade für diese Fragestellungen und Ereignisse? Wie läßt sich dieses Interesse rechtfertigen? (Bedeutsamkeit von Handlungs- bzw. Forschungszielen, auch›Relevanz‹genannt).
- |A 101|
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–[057:354] Auf welche Weise, mit Hilfe welcher Methoden komme ich (kommst Du) zu diesen Behauptungen? (Objektivität).
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–[057:355] Bringen meine (Deine) Methoden das zur Sprache, was sie bezwecken? (Validität).
[2] Bedeutsamkeit
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1.[057:381]Der Beschluß über die Ausführung einer Handlung wird damit begründet, daß diese Handlung Mittel zu einem angegebenen Zweck ist.Beispiel:»Warum liest du dieses Buch?«Akzeptierte Begründung:»Weil ich mein methodisches Wissen erweitern möchte!«
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2.[057:382]Der Beschluß über eine Zwecksetzung wird begründet durch die Ableitung aus einer angenommenen Norm.Beispiel:»Warum willst du dein methodisches Wissen erweitern?«Akzeptierte Begründung:»Weil man als Wissenschaftler über eine möglichst ausgeprägte methodische Kompetenz verfügen sollte!«
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3.[057:383]Begründung der in der Zwecksetzung benutzten Norm.Beispiel:»Warum sollten Wissenschaftler über eine möglichst ausgeprägte methodische Kompetenz verfügen?«Akzeptierte Begründung: (?) (siehe unten zum›Moralprinzip‹).
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–[057:389] verschiedene Normen, die einander zu widersprechen scheinen, doch einer gemeinsamen Supernorm zugehören, dieser also als Subnormen zuzuordnen sind, mithin einander nicht ausschließen, oder
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–[057:390] daß bestimmte Normen mit gemeinsamen Supernormen verträglich sind, andere aber nicht – wobei ein zweckrational strukturiertes Handeln die Ersetzung jener mit einer Supernorm unverträglichen Subnormen durch damit verträgliche voraussetzt.
-
–[057:398]sich verständlich auszudrücken,
-
–[057:399]etwas zu verstehen zu geben,
-
–[057:400]sich dabei verständlich zu machen,
-
–[057:401]und sich miteinander zu verständigen«(1976, S. 176)
theoretisch-empirischer Diskurs | praktischer Diskurs | |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
K | Behauptungen | Gebote/Bewertungen | ||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
kontroverser Geltungsanspruch | Wahrheit | Richtigkeit/Angemessenheit | ||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
vom Opponenten geforderte | Erklärungen | Rechtfertigungen | ||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
D | Ursachen Motive |
Gründe | ||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
SR | Gesetzesaussagen, Wahrscheinlichkeitsaussagen | Handlungs-/Bewertungsnormen | ||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
S | Beobachtungssätze, Feststellungen etc. | Angabe von gedeuteten Bedürfnissen (Werten) etc. | ||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
(nach: Habermas 1973b). |
[3]Objektivität
[3]Objektivität
Antwort:
Erwiderung:
Gruppen-Aggressions-Index | Zuwachs aggressiver Interaktionen nach Ansehen des Films | ||
davor | danach | ||
In der Gruppe mit aggressivem Film | 30 | 60 | 30 |
In der Gruppe mit neutralem Film | 30 | 60 | 30 |
Zuwachs aggressiver Interaktionen nach Vorführung des | |||
aggressiven Films | neutralen Films | ||
Schichtzugehörigkeit | Unterschicht | 30 | 0 |
Mittelschicht | 0 | 30 | |
Summe: | 30 | 30 |
Schicht | Interaktionstyp | Erhebungszeit | Interaktionshäufigkeit Film | |
aggressiv | neutral | |||
Unterschicht | aggressiv | davor | 20 | 20 |
danach | 50 | 20 | ||
kooperativ | davor | 5 | 5 | |
danach | 10 | 5 | ||
insgesamt | davor | 100 | 100 | |
danach | 250 | 100 | ||
Mittelschicht | aggressiv | davor | 10 | 10 |
danach | 10 | 40 | ||
kooperativ | davor | 10 | 10 | |
danach | 1 | 50 | ||
insgesamt | davor | 100 | 100 | |
danach | 20 | 200 |
Film | Zeit | Anteile aggressiver Interaktionen in der | |
Unterschicht | Mittelschicht | ||
aggressiv | davor | 20% | 10% |
danach | 20 % | 50 % | |
neutral | davor | 20 % | 10 % |
danach | 20 % | 20 % |
Film | Zeit | Anteile kooperativer Interaktionen in der | |
Unterschicht | Mittelschicht | ||
aggressiv | davor | 5 % | 10 % |
danach | 4 % | 5 % | |
neutral | davor | 5 % | 10 % |
danach | 5 % | 25 % |
Film | Zeit | Verhältnis aggressiver zu kooperativen Interaktionen in der | |
Unterschicht | Mittelschicht | ||
aggressiv | davor | 20 : 5 | 10 : 10 |
danach | 50 : 10 | 10 : 1 | |
neutral | davor | 20 : 5 | 10 : 10 |
danach | 20 : 5 | 40 : 50 |
[4]Validität
[4]Validität
a)Interne Gültigkeit der Verfahren
a)Interne Gültigkeit der Verfahren
Schüler | Testpunktwert | Beurteilung durch Lehrer | |
A | B | ||
Marianne | 20 | 2 | 4 |
Michael | 5 | 5 | 3 |
Gerd | 10 | 3 | 5 |
Bernhard | 17 | 2 | 3 |
Wolfgang | 2 | 6 | 2 |
-
–
b)Externe Gültigkeit (Repräsentanz) der Verfahren
b)Externe Gültigkeit (Repräsentanz) der Verfahren
Gruppenmitglied: | 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | |
Gruppe 1: | 4 | 3 | 2 | 1 | 0 | (erhaltene Wahlen) |
Gruppe 2: | 4 | 3 | 2 | 1 | 0 | (erhaltene Wahlen) |
3.Kapitel
Beobachtung, Befragung,
Experiment
3.Kapitel
Beobachtung, Befragung, Experiment
1.Beobachtung als Alltagsoperation und Methode
1.Beobachtung als Alltagsoperation und Methode
-
1.
-
–
-
1.[057:515] Jede Beobachtung hat einen Beobachter, der zu seinem Beobachtungsgegenstand in einer bestimmbaren sozialen Beziehung steht, im Beobachtungsfeld in bestimmbarer Weise lokalisiert ist.
-
2.[057:516] Jede Beobachtung hat einen Beobachtungsgegenstand, der einerseits nach Graden seiner Manipulierbarkeit zum Zwecke der Forschung variieren, andererseits auch nach seiner Art unterschieden werden kann. Welcher Gegenstandstypus für eine Beobachtung gewählt wird, hängt von dem theoretischen Interesse ab, das mit der Beobachtung verbunden ist.
-
3.[057:517] Theorie-geleitet ist aber nicht nur die Auswahl des Gegenstandes, sondern auch der Beobachtungsvorgang selbst, der›Theoretisches‹schon dadurch notwendig enthält, daß in ihm einerseits gestalthaft wahrgenommen und er andererseits sprachlich (oder durch andere Formen symbolischer Kodierung) strukturiert wird. Methodische Unterschiede bestehen mithin nicht darin, daß die eine Beobachtung theorie-geleitet sei, die andere dagegen nicht; sie bestehen vielmehr darin, daß die theoretischen Momente unterschiedlich explizit sein können.
-
4.[057:518] Beobachtungen sind mitteilbar (und nur insofern sind sie für wissenschaftliche Erkenntnis interessant) nur durch einen Bericht. Mit Hinsicht auf die Theorie kann der Bericht die Funktion erfüllen, Hypothesen zu prüfen oder sie allererst zu finden.
-
5.[057:519] Auch die Stellung des Berichts zum Gegenstand der Beobachtung kann variieren: der Bericht kann unmittelbar das Protokoll einer Beobachtung sein; er kann aber auch nur indirekt Beobachtungen mitteilen, z. B. darin, daß das sprachliche Verhalten eines Jugendlichen beobachtet wird (etwa in einem Interview), der über seine›Erfahrungen‹(Beobachtungen) mit seinen Eltern berichtet. Ein gleicher Fall liegt vor, wenn der Historiker seine Beobachtungen geschichtlicher Ereignisse in die Form eines geschichtswissenschaftlichen Berichts bringt.
-
6.[057:520] Schließlich muß der Beobachter eine Entscheidung darüber herbeiführen, welche besondere Form er seinem Bericht geben, welche dokumentierenden Mittel er zum Zwecke der Objektivation einsetzen will. Dies wiederum wird in der Regel abhängig sein von der Stellung, die der Bericht zur Theorie einnimmt oder einnehmen soll, und von der Art des beobachteten Gegenstandes.
-
1.[057:522] Es müssen die Grade der Partizipation der teilnehmenden versus nicht-teilnehmenden Beobachtung bestimmt werden (Verhältnis Beobachter – Beobachtungsgegenstand).
-
2.[057:523] Es müssen Grade der Manipuliertheit des Beobachtungsgegenstandes, z. B. der Feldbeobachtung versus Beobachtung im Experiment bestimmt werden (Verhältnis Theorie – Beobachtungsgegenstand).
-
3.[057:524] Es müssen die Grade der Explikation der Beobachtungskategorien, schwach explizit klassifizierende versus stark explizit klassifizierende Beobachtung bestimmt werden.
-
4.[057:525] Es muß entschieden werden, ob die Beobachtung hypothesenfindende (erkundende) oder hypothesenprüfende Funktion haben soll.
-
5.[057:526] Es muß entschieden werden, ob eine direkte oder indirekte Beobachtung erforderlich ist.
-
6.[057:527] Es muß im Hinblick auf die dokumentarische Darstellung des Berichts eine Wahl getroffen werden.
2. Partizipationsgrade der Beobachtung und die Rolle des Beobachters/Befragers
3. Theorie und Beobachtung
4. Die Form des Beobachtungsgegenstandes
-
–[057:547] Einerseits sind die Gegenstände der Erziehungswissenschaft immer schon – vor jedem Zugriff eines Forschungsinteresses – in irgendeiner Weise›manipuliert‹, und zwar dadurch, daß sie sich in einem gesellschaftlich erzeugten Zustand befinden. Die |A 162|Spielsituation eines Kindes in einem Kindergarten unterscheidet sich deshalb von der Situation in einer Experimentalgruppe allenfalls dem Grade, nicht aber der Art nach.
-
–[057:548] Andererseits erfordert eine Beobachtung von Alltagssituationen nicht etwa notwendigerweise weniger, sondern häufig eher mehr theoretische Vorarbeit; die Gefahr der theoretischen Verkürzung liegt deshalb näher, ebenso die Gefahr, unkontrollierte theoretische Annahmen in kruder Form mit in die Beobachtung und ihre Interpretation einfließen zu lassen. Wird die Beobachtung selbst schließlich nicht mit Hilfe eines theoretisch begründeten Leitfadens oder mit Hilfe eindeutiger Beobachtungskategorien (also in standardisierter, systematischer Form) vorgenommen, sondern erfolgt sie in der Form eines relativ freien Beobachtungsprotokolls (wie im Beispiel aus Kentler u. a.), dann entsteht die außerordentliche Schwierigkeit einer standardisierten Interpretation der Protokolle.
5. Die theoretische Funktion der Beobachtung
6. Direkte und indirekte Beobachtung
-
–[057:555] solche, in denen die interessierenden Ereignisse als unmittelbarer Gegenstand der Beobachtung dargestellt werden (direkte Beobachtung);
-
–[057:556] solche, in denen auf die interessierenden Ereignisse nur mittelbar hingewiesen wird (indirekte Beobachtung).
7. Die Form des Beobachtungsberichtes
8. Allgemeine Merkmale des Experimentes
9. Die Kontrolle möglicher Störfaktoren
Schüler Lfd. Nr. | 1. Erhebung | 2. Erhebung | Differenz |
1 | 2 | 2 | 0 |
2 | 4 | 5 | +1 |
3 | 9 | 10 | +1 |
4 | 3 | 8 | +5 |
· | · | · | · |
· | · | · | · |
· | · | · | · |
N | · | · | · |
Summen Σ | – | – | – |
Mittelwerte M | – | – | – |
Streuungen s | – | – | – |
Schüler Lfd. Nr. | Experimentalgruppe N = 20 | Kontrollgruppe N = 20 | ||||
1. Erhbg. | 2. Erhbg. | Diff. | 1. Erhbg. | 2. Erhbg. | Diff. | |
1 | 2 | 2 | 0 | 9 | 9 | 0 |
· | · | · | · | · | · | · |
· | · | · | · | · | · | · |
· | · | · | · | · | · | · |
20 | 5 | 7 | 2 | 6 | 7 | 1 |
Summen etc. |
-
1.[057:589] Parallelisierung (matching): Man wird immer Vermutungen darüber anstellen können, welche Faktoren störend wirksam werden können und daher kontrolliert, in unserem Fall: konstant gehalten werden müssen. Ob man mit solchen Vermutungen alle möglichen Störfaktoren erfaßt, kann man natürlich nicht wissen. Jedenfalls ist es prinzipiell möglich, die verschiedenen Versuchsgruppen so zusammenzustellen, daß die als mögliche Störgrößen identifizierten Merkmale auf die verschiedenen Gruppen gleich aufgeteilt werden: auf jede Gruppe z. B. gleich viele männliche und weibliche Personen, in jeder Gruppe die gleichen Altersstufen, Intelligenzgrade, Schichtverteilungen etc. Hat man, wie in unserem Beispiel, eine Experimental- und eine Kontrollgruppe, so kann man für jedes Merkmal, das die AV beeinflus|A 178|sen könnte, dies aber aus Gründen der Kontrolle nicht soll, Paare bilden, je ein Paarling wird je einer Versuchsgruppe zugeordnet (vgl. hierzu auch Selg 1969, S. 50 ff.). Desgleichen ist eine Parallelisierung von Versuchsleiter-Merkmalen und von Charakteristika der Versuchssituation (Umgebungsmerkmale) denkbar.
-
2.[057:590] Randomisierung (Zufallsaufteilung): Eine Hauptgruppe wird dabei nach Zufallsprinzipien (etwa Losverfahren, Zufallstabellen, vgl. Kellerer 1963, S. 52 f.) in Untergruppen – z. B. in Experimental- und Kontrollgruppe – aufgeteilt. Die Chance einer ungleichen Aufteilung verringert sich mit zunehmendem Umfang der aufteilbaren Gruppen. Die Randomisierung ist, ihrer ökonomischen Handhabung wegen, eine der am häufigsten verwendeten Methoden zur Herstellung›vergleichbarer‹Gruppen.
-
3.[057:591] Eliminierung: Während durch Randomisierung und Parallelisierung eine Art Balance der möglichen Störbedingungen über die verschiedenen Versuchsgruppen erreicht werden soll, geht es hier um die Ausschaltung solcher Bedingungen. Da z. B. verschiedene Untersuchungen (vgl. dazu S. 210) wahrscheinlich gemacht haben, daß Versuchsleiter die zu überprüfenden Hypothesen mitunter unbemerkt, etwa durch nichtverbale Gesten, den Versuchsteilnehmern mitteilen können, besteht gelegentlich die Forderung nach›Elimination der Versuchsleiter‹: Versuchsinstruktionen usw. werden dann vom Tonband oder schriftlich gegeben. Ebenso können sich unterschiedliche Wetterverhältnisse, Straßengeräusche etc. in den Versuchsgruppen als systematisch wirksam und damit›ausschaltungswürdig‹erweisen.
Erhebung | E-Gruppe 1 Mittelwert | E-Gruppe 2 Mittelwert | K-Gruppe Mittelwert |
1. | 4,34 | (Keine Erhbg.) | 4,15 |
2. | 7,10 | 5,22 | 4,66 |
10. Experimentaltypen
-
–[057:599] Durch die Definition der›Befangenheit‹von Versuchssubjekten als Störvariable war das Bestreben der Forscher weithin darauf gerichtet, mit›naiven‹bzw. mit›unbefangenen‹Personen zu experimentieren, was wiederum voraussetzte, daß man sie nicht über den Zweck der Experimente informierte. Insbesondere mit der Täuschung der›Versuchs-Personen‹, mit der Ersetzung selbstbestimmter Akte durch die Manipulation der Versuchsleiter, wurde häufig ein äußerst problematisches methodisches Prinzip etabliert, das freilich nicht auf experimentelle Untersuchung beschränkt ist (vgl. hierzu die Beiträge in Miller 1972; Adair 1973).
-
–[057:600] Für sehr viele Fragestellungen eignet sich eine laborexperimentelle Untersuchung schon deshalb nicht, weil die Situation von den Versuchsteilnehmern zu›harmlos‹, eben nur als Versuchssituation erlebt wird. So haben die UV nicht genügend›Kraft‹(power, impact), um die Teilnehmer zu relevanten Reaktionen zu veranlassen, die interne Validität der Experimente ist entsprechend gering (siehe hierzu auch: Festinger 1953, S. 153; Aronson/Carlsmith 1968, S. 12).
-
–[057:601] Durch ökologisch orientierte Forschungsansätze in Psychologie und Soziologie (vgl. z. B. Barker 1968; Anderson/Carter 1974; Greenberg 1971) wurde die enge Wechselwirkung zwischen Umweltcharakteristika und individuellen Handlungstypologien auch empirisch deutlich: das Umfeld, in welchem Individuen handeln, ist stets auch eines, auf das bezogen sie handeln. So entsteht die Frage: Gelingt es uns,›alltägliche‹Umgebungsmerkmale befriedigend zu simulieren? Etablieren wir nicht |A 181|durch die spezifischen Charakteristika der›Laborwelt‹Störvariablen, die nur für diese typisch sind? Haben die Laborexperimente noch externe Validität? Ist z. B. die Wirkung eines Films auf eine›randomisierte Gruppe‹nicht eine andere als auf eine natürliche Gruppe (Kindergartengruppe, Schulklasse etc.)? Vgl. dazu auch unsere Überlegungen zum Repräsentanz-Problem S. 139 ff.
-
–[057:602] Mit der Präzisierung experimenteller Methoden ging weithin eine Einschränkung theoretischer Fragen auf Detailprobleme einher. So stehen z. B. die heute in die Tausende gehenden experimentellen Arbeiten zur Kleingruppenforschung (vgl. die Hinweise in den , ) im wesentlichen beziehungslos nebeneinander; Versuche zur integrativen theoretischen Betrachtung liegen nicht vor und sind vielleicht auch nicht mehr möglich.McGrath/Altman (1966, S. 9)stellten beim Versuch einer wenigstens formalen Ordnung jener Arbeiten schon vor Jahren fest:»Research on small groups has gotten out of hand!«»theoretischen Eklektizismus«und auf die Desintegration sowie Banalisierung vieler Forschungsbereiche hinwies, mit besonderem Blick auf die labor-experimentellen Verfahren.
-
–[057:606] Wird ein Effekt der UV auf die AV konstatiert, so ist nicht auszuschließen, daß die Variation der AV faktisch auf unerkannte›Störgrößen‹statt auf die UV zurückgeht (Problem der Konfundierung);
-
–[057:607] Wird kein Effekt der UV auf die AV empirisch aufgewiesen, so heißt das nicht unbedingt, daß ein solcher Effekt nicht faktisch doch besteht (aber z. B. erst bei Beachtung weiterer Variablen, die wechselseitig mit der UV Einfluß auf die AV nehmen, entdeckt werden könnte; vgl. unsere Beispiele S. 121 ff.).
-
–[057:608] Wird ein Effekt der UV auf die AV konstatiert, so ist zu überlegen, ob er richtig interpretiert wird (ein Film kann z. B. verstärkte Aggressionen der Zuschauer zur Folge haben – aber dieser Umstand könnte unterschiedlich interpretiert werden, je nachdem, welche Zusatzinformationen man hat. So könnten z. B. kooperative Interaktionen in wesentlich stärkerem Ausmaß zugenommen haben als aggressive – letztere sind dann anders interpretierbar, als wenn man sie nur isoliert betrachtet (siehe auch unser Beispiel S. 122 f.).
4. Kapitel
Ein exemplarisches Verfahren
erziehungswissenschaftlicher Forschung – Die Inhaltsanalyse
1. Begriff und Gegenstandsbereich
-
–[057:621] Zur ersten Gruppe gehören Modelle der inhaltsanalytischen Auswertung einzelner Text- und Bildelemente: Das Charakte|A 189|ristikum dabei ist die Konzentration auf einzelne Elemente des Materials. Texte, Bilder, Kompositionen etc. werden nicht in ihrer Gesamtheit analysiert; es werden nur bestimmte Aspekte›herausgepickt‹, das übrige Material dient dann allenfalls als (ihrerseits nicht mehr explizit analysierte) Interpretationshilfe: unter Umständen versteht man Einzelaspekte ja erst aus dem Kontext heraus. Wir nennen einige Alltagsanalogien für diese Form der Inhaltsanalyse:»Er erwähnte wiederholt, seine Kinder nie zu schlagen; offenbar ist dies ein für ihn wichtiges Thema.«–»Die Bevorzugung des Mannes in diesem Text zeigt sich schon darin, daß zwar von 72 Jungen, aber nur von 5 Mädchen die Rede ist.«–»Sie erwähnte nie ihre Mutter, wahrscheinlich liegt da das Problem!«Gefragt wird in solchen Modellen nach der Häufigkeit, Seltenheit, Intensität oder nach Korrelationen einzelner Wörter, Themen, Motive etc. Durch die Deutung solcher – in der Regel quantitativ bestimmter – Indikatoren wird dann das Material insgesamt bzw. dessen Urheber charakterisiert.
-
–[057:622] Zur zweiten Gruppe gehören Modelle, in denen das Material in seinem Gesamtzusammenhang auf Argumentationsfiguren, logische Strukturen, linguistische Muster, rhetorische Strategien hin untersucht wird ( spricht hier von Diskurs-Modellen der Inhaltsanalyse). Modelle der zuvor genannten Art können dabei ebenfalls zur Anwendung kommen – aber nur im Rahmen der Diskurs-Analyse. Eine Alltagsanalogie dieses Typs ist der folgende Bericht:»Ich hatte den Eindruck, daß er sein ganzes Gesprächsverhalten darauf konzentrierte, die eigene Position aufrechtzuerhalten; alle Gegenargumente wurden so interpretiert, daß sie schließlich diese Position bestätigten.«
2. Die Inhaltsanalyse einzelner Textmerkmale
-
–[057:625] Durch bestimmte Auswertungsregeln wird festgelegt, auf welche Einzelmerkmale im Material besonders geachtet werden soll,
-
–[057:626] durch Interpretationsregeln wird festgelegt, in welcher Form und Richtung die erzielten Ergebnisse beurteilt werden sollen.
-
–[057:647] Die Erschließung des latenten Gehaltes einer Äußerung kann abhängig sein von der Kenntnis besonderer, im›Text‹nicht explizit enthaltener Umstände des Urhebers (z. B. Persönlichkeitsmerkmale oder Familiensituation eines Kindes, dessen Äußerungen analysiert werden sollen, auch historische Kenntnisse usw.);
-
–[057:648] sie kann abhängig sein von der Kenntnis des Handlungszusammenhanges (dem pragmatischen Kontext), in dem die Äußerung auftritt (z. B. davon, ob die Situation eine Unterrichtsstunde, ein Beratungsgespräch oder eine Freizeitaktivität ist);
-
–[057:649] der latente Gehalt kann ferner variieren, je nachdem, ob es sich um eine Äußerung handelt, deren Intention nur oder vorwiegend in der Selbstdarstellung liegt (repräsentational), oder um eine Äußerung, die der Urheber als Mittel zu einem nicht ausgesprochenen Zweck einsetzt (instrumentell);
-
–[057:650] schließlich kann der latente Gehalt auch mit den antizipierten Reaktionen des Zuhörers/Zuschauers/Lesers variieren, wobei solche›kommunikativen‹Antizipationen nicht aus den Elementen des Textes allein erschlossen werden können, sondern unter Zuhilfenahme von Kenntnissen der Kommunikationssituation.
3. Die Inhaltsanalyse grundlegender Textstrukturen (Diskurs-Modelle)
-
1.[057:658] Idio-logic: In einem ersten Schritt geht es um die Ermittlung des (expliziten oder dem Text impliziten) individuellen Schlußfolgerns. Dabei werden nochmals zwei Unterscheidungen gemacht – nämlich in 1. Aspekte der Urteilsstruktur (Reasoning), also Aspekte der logischen Struktur, der deduktiven Schritte in der Argumentation, und 2. kognitive Manöver. Hierfür hat eine Reihe von Subkategorien beschrieben (auf die wir im folgenden jedoch nicht eingehen wollen, da sie nur für bestimmte Forschungsinteressen Relevanz haben).
-
2.[057:659] Contra-logic: In einem zweiten Schritt werden die logischen Bedingungen der Urteils-Idiosynkrasien untersucht. nennt diese Bedingungen – etwas unglücklich –»kontralogische«; diese Contra-logic repräsentiert die durch den Forscher aus der Idio-logic herauskristallisierte Urteilslogik im Material, die erkenntnistheoretischen Prämissen, die Weitsicht des Sprechers/Schreibers. Die Contra-logic, das herauskristallisierte Komplement zur Idio-logic, repräsentiert das Prinzip, das einem Textsegment zugrundeliegt. nennt das folgende Beispiel: Ein Patient in einem Hospital sagt unerwartet»Ich bin die Schweiz«. Der rekonstruierte Schluß des Patienten sieht so aus: Die Schweiz liebt den Frieden, ich liebe den Frieden, also bin ich die |A 200|Schweiz (Idio-logic). Daraus läßt sich – ein in diesem klinischen Fall vielleicht nicht sinnvolles Unterfangen! – die logische Prämisse (contra-logic) ableiten, daß die Schweiz das einzige Element in der Klasse der Friedensliebhaber ist, woraus logisch folgt, daß wer den Frieden liebt, die Schweiz ist. Sofern diese Analyse des schlußfolgernden Denkens im Rahmen von Sprecher/Schreiber-Analysen verwendet wird, sind zwei weitere Schritte relevant: Aus der Contra-logic wird nämlich zunächst die sogenannte Psycho-logic abgeleitet, indem die Frage gestellt wird, auf welche psychologischen Merkmale die Urteilsstruktur im Material verweisen könnte (Arbeitshypothesen wie: extreme Konzentration auf wenige Merkmale, Nichtbeachtung von Alltagsstimuli, starre Fixierungen z. B.), und daraus wiederum wird gegebenenfalls die pädagogische Konsequenz gezogen (Pedago-logic).
-
1.[057:671]Sind Sie sicher, daß Sie die Erhaltung des Menschengeschlechts, wenn Sie und alle Ihre Bekannten nicht mehr sind, wirklich interessiert?
-
2.[057:672]Warum? Stichworte genügen.
... -
5.[057:673]Wissen Sie sich einer Person gegenüber, die nicht davon zu |A 205|wissen braucht, Ihrerseits im Unrecht und hassen Sie eher sich selbst oder die Person dafür?
... -
12.[057:674]Wenn Sie Macht hätten zu befehlen, was Ihnen heute richtig scheint, würden Sie es befehlen gegen den Widerspruch der Mehrheit? Ja oder Nein.
-
13.[057:675]Warum nicht, wenn es Ihnen richtig scheint?
-
14.[057:676]Hassen Sie leichter ein Kollektiv oder eine bestimmte Person und hassen Sie lieber allein oder in einem Kollektiv?
... -
15.[057:677]Wann haben Sie aufgehört zu meinen, daß Sie klüger werden, oder meinen Sie’s noch? Angabe des Alters.
-
16.[057:678]Überzeugt Sie Ihre Selbstkritik?«
Anhang
Einschränkungen, Verzerrungen und Fehler der Beobachtung und Berichterstattung
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1.[057:681] Können die beschriebenen Beobachtungen als zutreffende (valide) Beobachtungen faktischer Sachverhalte gewertet werden?
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2.[057:682] Wurde (mir, uns) das Beobachtete richtig dargestellt? Kann der Beobachtungsbericht als unverkürzte (oder als zumindest das Wesentliche enthaltende) und als fehlerfreie Berichterstattung über zutreffende Beobachtungen des in Frage stehenden Sachverhaltes gewertet werden?
1. Zur Frage zutreffender Beobachtungen
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a)[057:685] Mißachtung verschiedener›Kommunikationskanäle‹: Wenn auch die Aufgabe besteht, ein bestimmtes soziales›Gesamtgeschehen‹zu beobachten, so neigen doch Beobachter mitunter dazu, eher auf die akusti|A 207|schen oder eher auf visuelle oder – schon seltener – auf olfaktorische Reize etc., zu achten. Ja, man kann gelegentlich den Eindruck gewinnen, daß ein Beobachtungs-Bericht von regelrechten›Hörtypen‹oder›Sehtypen‹kommt: der eine weiß von einer Diskussion nur zu berichten, was er dort gehört hat (was die Leute geredet haben), der andere erzählt nur darüber, wie die Leute sich verhalten haben, während sie (was denn eigentlich?) diskutierten. Auf einem Kongreß über›nicht-verbale Kommunikation‹(Sebeok u. a. 1972, S. 177)hat die Anthropologin von einem Linguisten berichtet, dessen akustisches Auffassungsvermögen»so akut war, daß ihm kein Laut entging. Es mochte irgend jemand mit einem Gesicht vor ihm stehen, über das die Tränen liefen – und während sie miteinander sprachen, bemerkte er nicht, daß sein Partner unglücklich war.«›Gebärdensprachen‹(Kinesik), berichtete auf dem gleichen Kongreß über seine Schwierigkeiten beim Lernen von Fremdsprachen: sofern er nicht sehen konnte, was der Lehrer lehrend zeigte (etwa, weil er weit hinten im Klassenraum saß), war er nicht fähig zu lernen. – Die verschiedenen akustischen, visuellen, olfaktorischen, taktilen›Signale‹und Zeichen sind für das Verständnis mancher Situationen gleichermaßen wesentlich (die Ironie einer Äußerung ist oft erst der Mimik des Sprechers zu entnehmen, ihr Vertrauen deutet mir eine Person mitunter erst durch Berührung an). Die Fähigkeit, solche verschiedenartigen Äußerungsformen beachten zu können, ist sicher eine der grundlegendsten pädagogischen Qualifikationen, nicht nur eine der wissenschaftlichen Beobachtung. Gleichwohl führt sie, zumal in der verbal geprägten Wissenschaft, ein eher kümmerliches Dasein – erst neuerdings wird ihre Bedeutung durch therapeutische Konzepte und durch das Interesse an der Erforschung para- und extraverbaler Kommunikation nachhaltiger auch in wissenschaftlichem Kontext betont.
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b)[057:686] Halo-Effekt (engl.›Hof‹,›Heiligenschein‹,›Ausstrahlung‹): Mit diesem Begriff werden bestimmte durchgängige Beurteilungstendenzen bezeichnet, die von einem Einzeleindruck›ausstrahlen‹. So mag man z. B. zu Beginn einer Beobachtung von einer bestimmten Person einen – vielleicht noch diffusen – positiven Gesamteindruck haben (»wirkt sehr sympathisch«), der dazu führt, daß man ihre im folgenden beobachteten Handlungen›in gutem Lichte‹sieht. Es findet also in Verbindung mit bestimmten Einzelereignissen der Beobachtung eine Art thematische›Einstimmung‹auf die gesamte Beobachtungssituation statt.
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c)[057:687]›Logischer Fehler‹: Hier werden der Beobachtung bestimmte Annahmen über zusammenhängende Merkmale (etwa von Personen) ungeprüft zugrunde gelegt: eine während der Beobachtungszeit als freundlich erlebte Person wird z. B. als gutmütig, ein redegewandtes Kind als intelligent eingestuft, weil man aufgrund›impliziter Persönlichkeitstheorien‹davon ausgeht, daß solche Merkmale notwendig zusammengehören. Ist ein solcher Zusammenhang dann faktisch nicht gegeben, erfolgen fehlerhafte Urteile.
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d)[057:688] Projektionen; Konfabulationen; Modifikationen: Wie in der projektiven Psychologie davon ausgegangen wird, daß sich Interessen, Konflikte, Befindlichkeiten, Bedürfnisse in der Form bestimmter Wahrnehmungscharakteristika manifestieren, so kann man derartige perso|A 208|nenspezifische Wahrnehmungsformen auch für die wissenschaftliche Beobachtung erwarten. Das›Einfärben‹des Weltbildes durch Stimmungen, Erwartungen etc. ist als alltägliches Phänomen bekannt (siehe hierzu auch die Untersuchungen im Rahmen der Social-Perception-Forschung: Rittelmeyer/Wartenberg 1975, S. 24 ff.). Man denke an den Satz:»Überschlafe die Sache noch einmal – morgen wirst du das alles mit ganz anderen Augen sehen«. Prozesse dieser Art sind auch für wissenschaftliche Beobachtungen wiederholt aufgewiesen worden (Mintz z. B. berichtet von einer Untersuchung, in der Psychologen mit finanziellen Sorgen solche Nöte irrtümlich auch aus den TAT- und -Protokollen ihrer Probanden herauslasen; siehe zu ähnlichen Untersuchungen auch: Barnard 1968; Sanders/Cleveland 1953). Merz (1963, S. 45) spricht deshalb überspitzt davon, daß Eindrucksurteile eher zur Diagnose des Beurteilers als zu jener des Beurteilten nützlich seien. Neben solchen Projektionen sind auch Fälle von Konfabulationen denkbar: Ein Beobachter meint, Ereignisse gesehen zu haben, die durch andere Beteiligte ausgeschlossen werden, die also aus deren Sicht als›Dichtungen‹oder›Halluzinationen‹gewertet werden, als Ergänzungen der faktischen Ereignisse durch Phantasieprodukte. Freilich ist in solchen Zusammenhängen nicht bloß ironisch die Frage denkbar: War der›Halluzinierende‹vielleicht ein Seher? Wie auch immer: Die Angemessenheit der je persönlichen Art und Weise, das soziale Geschehen beobachtend zu ordnen, kann prinzipiell in Frage gestellt werden – nicht nur mit Hinweisen auf Projektionen und Ergänzungen, sondern auch unter Betonung möglicher Fehldeutungen und invalider Beschreibungskategorien. Sensible Beobachter mögen z. B.›rüde‹oder›aggressive‹Umgangsformen bei Kindern und Jugendlichen konstatieren, die aus der Sicht der Kinder keineswegs so verstanden wurden (ist für das Verstehen sozialer Handlungen die Kenntnis der Perspektiven wichtig, aus denen heraus die Betroffenen handeln – und wir gehen davon aus, daß sie notwendig ist –, so kommt solchen Problemen eine besondere Bedeutung zu).
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e)[057:689] Stereotypen: Verschiedene Beobachter können mitunter zu übereinstimmenden Beobachtungsresultaten kommen – und eine solche Übereinstimmung verleitet gelegentlich dazu, auch die Gültigkeit der Beobachtungen zu Unrecht zu unterstellen (»Wir alle haben es gesehen, also kann hier auch kein Fehler vorliegen«). Der Begriff des Stereotyps bezeichnet derartige übereinstimmende, gleichwohl nicht immer zutreffende Urteile. Ein Beispiel für stereotype Beobachtungen haben Marchionne/Marcuse geschildert: Sie zeigten verschiedenen Personen Bilder, auf denen a) ein Schwarzer einen Weißen und b) ein Weißer einen Schwarzen mit einem Messer angreift. Anschließend wurde gefragt, wer das Messer jeweils in der Hand gehabt hatte. Es zeigte sich unter anderem, daß ethnozentrisch eingestellte Personen besonders oft dazu neigten, sich nur an den Schwarzen als Angreifer zu erinnern, auch wenn es um das Bild mit faktisch weißem Angreifer ging.
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f)[057:690]Stichproben-Probleme: Nehmen wir an, man möchte typische Interaktionsformen in bestimmten Familien untersuchen. Dies soll durch Beobachtung der Familien geschehen. Da die Beobachter jedoch nur an einigen wenigen Tagen, und hier wiederum nur für die Dauer einiger Stunden in den Familien sein können, müssen sie bemüht sein, eine ge|A 209|eignete Auswahl ihrer Besuchszeiten aus allen theoretisch möglichen Beobachtungszeiten zu treffen. Möchte man z. B. die typischen Interaktionen zwischen Mutter und Kleinkind beobachten, so mag es unter Umständen günstig sein, morgens und abends in den Familien zu sein, wenn die Interaktionen während des Aufstehens der Kinder, während des Frühstücks bzw. des Abendessens und Zubettbringens besonders intensiv sind (den Tag über hingegen wird vielleicht oft keinerlei Interaktion stattfinden). Ferner sollten die Tage der Beobachtung so ausgewählt werden (soweit dies überhaupt möglich ist), daß das›normale‹Familienleben beobachtet werden kann (die Familiensituationen sollten also nicht – etwa durch außerordentliche Ereignisse – untypisch ausfallen). Kurzum: die Beobachter müssen sich in derartigen Situationen Gedanken über geeignete Stichproben machen. In unserem Fall handelt es sich um geeignete Situationsstichproben, in anderen Fällen mag es um geeignete Personenstichproben gehen (so etwa bei repräsentativen Meinungsumfragen).Stichproben und generalisierende Urteile auf der Grundlage von solchen Stichproben sind alltägliche Phänomene. Eltern z. B. sehen ihre Kinder nicht in jedem Moment und schreiben ihnen doch, von ihren freilich extensiven Stichproben ausgehend, bestimmte kontinuierliche Eigenschaften zu. Andererseits genügt bestimmten Leuten ein Ehestreit der Nachbarn für das Urteil, daß es in deren Ehe›kriselt‹.Die repräsentative Stichprobe muß ein verkleinertes Bild jenes Sachverhaltes liefern, den es zu beschreiben gilt – sie muß also dessen wesentliche Merkmale aufweisen (siehe hierzu unsere Erörterungen zum Problem der Repräsentanz; zur Stichproben-Theorie: Kish 1953; Kellerer 1963; Scheuch 1967; Friedrichs 1975, S. 123 ff.; Glaser/Strauß 1967, S. 45 ff.).
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g)[057:691] Verständnis-Probleme: Die zutreffende Rekonstruktion von Sinnzusammenhängen durch den Beobachter ist durch das Verstehen der wahrgenommenen Ereignisse erst möglich. Die Frage aber, ob ein bestimmtes Beobachtungsdatum durch den Beobachter richtig (aus der Perspektive der Betroffenen) verstanden wurde, kann in vielerlei Varianten relevant werden. Wenn z. B. die Mutter aus einem Arbeiter-Haushalt der Psychologin einer Erziehungsberatungsstelle berichtet, daß ihr Kind nervös sei, dann mag für letztere nicht so sehr die Frage bestehen, ob das Kind nervös›ist‹, sondern die, warum diese Mutter in ihrer Sprache zu der Feststellung gekommen ist, daß das Kind›nervös‹ist (Holzkamp 1966). Derartige semantische Zuordnungsprobleme können natürlich auch in dem Sinne bestehen, daß das Verstehen der Forscher-Äußerungen durch die Beobachteten/Befragten nicht gesichert erscheint: Wenn zwei Personen auf eine bestimmte Frage des Forschers dasselbe antworten, müssen sie doch nicht unbedingt das gleiche meinen, die Frage gleich verstanden haben. Je mehr beide, Beobachter und Beobachtete, verschiedenen Sprachgemeinschaften angehören – in einem gewissen Sinn ist eine solche Differenz ja immer vorhanden –, um so dringlicher wird auch die methodologische Erörterung solcher Verstehens-Probleme (vgl. auch S. 130 ff.): welchen Verwendungssinn haben bestimmte Symbole der Beobachteten? Sind die Beobachter mit den Verhältnissen des Beobachtungsfeldes vertraut? Wie werden ihre Äußerungen verstanden?
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h)[057:692] Untersuchungsspezifische Einflüsse auf das zu untersuchende Feld: Wenn ich z. B. eine Schulstunde beobachte, um etwas über›die‹Umgangsformen Lehrer/Schüler zu erfahren, so wird mir – mit Hinsicht auf die externe Validität der Beobachtungen – daran gelegen sein, daß mir Lehrer/Schüler Umgangsformen präsentieren, die›normal‹oder›typisch‹sind, die also nicht nur als untersuchungsspezifisches Verhalten, als methodische Artefakte gelten müssen. Hier wie in anderen Studien werde ich mir daher Fragen der folgenden Art vorlegen müssen : Welcher Art ist mein Einfluß auf die Personen, mit denen ich mich als Forscher befasse? Gibt man mir nur Informationen, wie sie Leuten meiner Art gegeben werden? Welchen Einfluß hat die äußere Untersuchungssituation auf die Beteiligten? Beobachte ich typische Handlungen?
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–[057:696] Insbesondere in Experimenten, in denen die Versuchsteilnehmer auf die Versuchsleiter konzentriert sind, teilen die Untersuchenden den Beobachteten häufig – auf eine noch weitgehend ungeklärte Art – nichtverbal mit, welche Hypothesen sie untersuchen, auf welche Fragestellungen die Beobachtungen bezogen sind. Die Beobachteten handeln dann oft diesen Hypothesen entsprechend (z. B., weil sie›gute Versuchsteilnehmer‹sein wollen) und bestätigen damit die Annahmen der Forscher (self fulfilling prophecy; siehe hierzu insbesondere Rosenthal 1966; Rosnow/Rosenthal 1970). Analoge Untersuchungen liegen für den Bereich der Psychotherapie vor, in der sich Klienten offenbar häufig den nichtverbal geäußerten Erwartungen der Psychotherapeuten |A 211|entsprechend verhalten (vgl. Heller/Goldstein 1961; Masling 1965).
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–[057:697] Auch (diffuse) Meinungen der Beobachter über die Beobachteten (etwa dahingehend, daß diese mehr oder minder intelligent seien) teilen sich häufig den Beobachteten mit und beeinflussen deren Verhalten (siehe auch die bekannte Untersuchung» im Unterricht«von Rosenthal/Jakobson 1971).
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–[057:699] Kooperativ eingestellte Untersuchungsteilnehmer bemühen sich, die Hypothesen bzw. Absichten der Untersuchenden zu erraten, um sich›angemessen‹zu verhalten (Orne 1962; Bredenkamp 1969, S. 335 ff.); dabei spielen Merkmale wie das Geschlecht oder die Attraktivität der Untersuchenden eine wesentliche Rolle (Kintz u. a. 1965; Sader/Keil 1966). Oft wollen sich die Versuchsteilnehmer etwa eines Experimentes beliebt machen (vgl. die Versuche von Psychologie-Professoren mit›ihren‹Studenten) und sind daher bemüht, die Wünsche der Experimentatoren zu ermitteln (vgl. Grabitz-Gniech 1972).
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–[057:700] Bereits die Tatsache, daß den Beobachteten besondere Aufmerksamkeit zuteil wird und daß sie dies wissen, kann ihr Verhalten in eine bestimmte untersuchungsspezifische Richtung lenken (Hawthorne-Effekt). Gleichwohl mag sich das›Normalverhalten‹nach einer gewissen Zeit wieder einpendeln, wenn die Beobachtung im natürlichen Feld der Beobachteten erfolgt.
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–[057:701] Einflüsse der genannten Art sind offenbar nicht an die sichtbare Gegenwart der Beobachter gebunden. Wußten Klienten und Therapeuten einer Therapiesitzung z. B., daß ihr Gespräch auf Tonband genommen wurde, so gaben die Klienten mehr positive statements über sich ab, die Therapeuten äußerten mehr interpretierende Kommentare als in Situationen ohne ein solches Wissen (Roberts/Renzaglia 1965; siehe auch: Haggard u. a. 1965; Moos 1968).
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a)[057:706] Verheimlichen der Beobachtung: In gewissem Sinn ist ja jede Beobachtung etwa von Passanten, von Restaurant-Gästen oder von spielenden Kindern, wie sie alltäglich (durch die›stillen Betrachter‹) erfolgt, eine heimliche – den Betroffenen gegenüber nicht deklarierte – Beobachtung. Ähnlich liegt es auch für wissenschaftliche Beobachtungen nahe, in bestimmten Untersuchungen den Beobachtungscharakter für die Betroffenen nicht deutlich zu machen (›natural settings‹, vgl. z. B. McGuire 1969). Beispielsweise mag man sich für das Ferienverhalten jugendlicher Urlauber interessieren und deshalb als›Urlauber getarnter‹teilnehmender Beobachter mit den Jugendlichen in Urlaub |A 213|fahren (Kentler u. a. 1969). Oder man führt eine Befragung in der Form›zufälliger Gespräche‹auf Parkbänken durch. Prototypisch für›verheimlichte Beobachtungen‹sind auch die schon erwähnten Industriereportagen . Mitunter sind solche Verfahren allerdings auch eher dem problematischen Typ des Bespitzelns zuzurechnen: Forscher liegen lauschend unter College-Betten, geben sich als Leute vom Gaswerk oder als Radio-Interviewer aus, sie arbeiten mit Periskopen, Mini-Sendern, Infrarot-Cameras etc. (siehe solche Beispiele bei Weick 1968; Aronson/Carlsmith 1968). Auf die Kritik derartiger Methoden werden wir gleich zurückkommen.
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b)[057:707] Verheimlichen des Zwecks der Beobachtung: In solchen Fällen werden die Beobachteten zwar damit vertraut gemacht, daß sie beobachtet werden, sie erhalten jedoch keine zutreffenden Auskünfte über den Zweck der Untersuchung. So wird z. B. ein verabreichtes Leerpräparat (Placebo) als eine bestimmte Arznei bezeichnet oder die Untersuchung informeller Hierarchien in einem Jugendamt wird den Betroffenen gegenüber zunächst als hypothesenfindende Beobachtung allgemeiner Arbeitsvorgänge deklariert. Auch hier kann es zu problematischen Formen der Täuschung kommen. Für diese wie für die zuvor genannten Formen der Forschung ist daher die Frage nach der Legitimität besonders manifest geworden (siehe das Kapitel zur ; zur Kritik bestimmter Methoden der Täuschung und Verheimlichung vgl. Barker/Wright 1955; Kelman 1967; Miller 1972).
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c)[057:708]Verlagerung der Beobachtung auf Produkte, Spuren: Bei diesen sogenannten›nichtreaktiven Verfahren‹(Webb u. a. 1975; Bungard/Lück 1974) geht es eher um ergänzende als um alternative Methoden zur direkten Beobachtung (siehe auch S. 165 ff.). Die Beobachtungen beziehen sich auf›Hinterlassenschaften‹der indirekt zu Beobachtenden oder auf externe Quellen über sie. Beispiele:
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–Auswertung von Archivmaterial, Dokumenten, Anzeigen, Briefen, Kriminalstatistiken etc.;
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–Untersuchungen von Abnutzungserscheinungen (erosion measures), etwa bei Spielsachen, deren Benutzungsintensität festgestellt werden soll;
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–Sicherung, Untersuchung von Spuren (trace measures), etwa Unterstreichungen in Büchern der Beobachteten.
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d)[057:709] Bezug der Beobachtungen auf Interessen der Beobachteten: Hier wird von einer einfachen, gleichwohl nicht in jedem Fall zutreffenden Prämisse ausgegangen: sie besagt, daß die Beobachteten sich›normal‹verhalten, daß sie sich nicht nur untersuchungsspezifisch verhalten, wenn sie ein Interesse an der Untersuchung ihres gewöhnlichen oder für den zu studierenden Sachverhalt typischen, möglichst unverfälschten Handelns haben (unter anderem ist diese Idee besonders im Rah men der sogenannten Handlungsforschung betont worden).
2. Zur Frage richtiger Beschreibungen
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Verkürzungen:[057:711] Eine Konzentration auf das Wesentliche, das Übergehen unwichtiger Details etc. sind sicher begrüßenswerte Merkmale eines Berichtes, der nicht auch noch andere Funktionen als die der rationellen Darstellung von Beobachtungen haben soll (siehe hierzu auch: Langer u. a. 1974). Die Gefahr solcher Kürzungen ist jedoch immer, daß Details, die dem Berichterstatter unwesentlich sind, für den Adressaten von Wichtigkeit sein könnten (daher kann es unter Umständen nützlich sein, wenn der Adressat Gelegenheit hat, auf ausführliche Protokolle, Ton- oder Bildaufnahmen zurückgreifen zu können).
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Kontrastierungen:[057:712] Dabei werden feinere Abstufungen des Geschehens, Einzelheiten des Verlaufs usw. zugunsten klar gegliederter Einheiten, die sich gegeneinander abheben lassen, vernachlässigt. Es wird z. B. von einem›strengen Vater‹und einer›nachgiebigen, weichen Mutter‹gesprochen, obwohl beide auch jeweils entgegengesetzte Verhaltensweisen – diese eben nur seltener – gezeigt haben. Gerade solche Abweichungen von der›Normalform‹können von Bedeutung sein – auch hier wäre also unter Umständen für den Adressaten ausführliches Hintergrundmaterial der schon genannten Art nützlich.
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Geschlossenheit, Symmetrie:[057:713] Die Herstellung›schlüssiger Geschichten‹durch den Beobachtungsbericht unterschlägt gelegentlich faktische Irregularitäten, disparate Momente des Geschehens, die für die Interpretation wesentlich sein können. Beispiel: In einer Buchbesprechung wird der›bürgerliche Standpunkte‹des Verfassers herausgearbeitet – und zwar unter Heranziehung stützender und Mißachtung widersprechender Textbeispiele.
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Definitionsprobleme:[057:714] Wörter wie›Schicht‹,›Klasse‹,›Problemfamilien‹,›bürgerliche Wissenschaftler‹,›Neurotiker‹tauchen in Beobachtungsberichten häufig als Begriffe mit zentraler Bedeutung auf, ohne allerdings definiert zu sein. Zuweilen werden dabei Urteile der Beobachter, deren Zustandekommen ungeklärt bleibt, wie objektive Beschreibungen der Ereignisse dargestellt ( hat solche Fälle als›Faktualisierungen‹bezeichnet: sie bestehen darin, daß jemand, der faktisch bewertet, doch zu beschreiben scheint). Der Satz in einem wissenschaftlichen Beobachtungsbericht:»Die Arbeiterjugendlichen waren in revolutionärer Stimmung«, dessen Definition auch im Kontext unterbleibt, erschwert eine Rekonstruktion des Geschehens durch den Adressaten. Welche Äußerungen wertete der Schreiber als›revolutionäre Stimmung‹? Hat er den gleichen Begriff davon wie der Adressat? Mit welchem Recht kommt er zu dieser wichtigen Behauptung?
Systematische Literaturempfehlungen
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Methodologie und Wissenschaftstheorie:[057:716] Ulich 1972; Stegmüller 1969; Habermas 1973a; Weingarten u. a. 1976; Feyerabend 1976; Popper 1971.
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Interpretieren:[057:717] Dilthey 1927 (S. 191 ff.); Habermas 1973a; Cicourel 1975; als Beispiel für eine Textinterpretation: Klafki 1959; Henningsen 1964.
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Klassifizieren:[057:718] (am besten am Beispiel von Interaktions-Klassifikationsverfahren studierbar) Medley/Mitzel 1963 (deutsch 1970); Watzlawick 1972; Bales in: König 1972.
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Allgemeine Einführungen[057:719] in Methoden der empirischen sozialwissenschaftlichen und erziehungswissenschaftlichen Forschung: Handbuch der Psychologie (Hrsg. Graumann) Bd. VII/1, 1969; Handbook of Social Psychology (Hrsg. Lindzey/Aronson) Bd. II, 1968; Handbuch der Unterrichtsforschung (Hrsg. Ingenkamp/Parey) 1970/71 ; Handbuch der empirischen Sozialforschung (Hrsg. König) 1967; Friedrichs 1975.
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Beobachtung:[057:720] Cranach/Frenz 1969; Weick 1968; König 1967; McCall/Simmons 1969; Friedrichs/Lüdtke 1971.
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Befragung:[057:721] Scheuch 1967; Anger 1969; König 1962.
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Experiment:[057:722] Bredenkamp 1969; Aronson/Carlsmith 1968.
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Soziometrie:[057:723] Moreno 1953; Höhn/Seidel 1969; Dollase 1973.
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Test:[057:724] Lienert 1967; Cronbach 1965.
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Text- und Bildanalyse:[057:725] Holsti 1968; Gerbner u. a. 1969; Ritsert 1972.