Pädagogik der “Kritischen Theorie” [Teil 1] [Textfassung A]
Hier ist das Cover der Erstausgabe des Studienbriefs Pädagogik der Kritischen Theorie zu sehen.
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Hier ist eine Fotografie der Autor*innen abgebildet.
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Autorenspiegel

[V46:1]

Christiane Giffhorn

1949 geboren in Rotenburg/Wümme
1968 Abitur an einem Naturwissenschaftlichen Gymnasium in Celle
1968–1969 studium generale am Leibniz-Kolleg in Tübingen
1969 Jura-Studium in Tübingen, seit 1971 in Göttingen
1972 Abbruch des Jurastudiums, verschiedene Gelegenheitsjobs als Kellnerin und Verkäuferin
1973–1974 Arbeit als
Bezugsperson
in einem Kinderladen
1974/77 Studium der Erziehungswissenschaft in Göttingen
[V46:2]

Wolfgang Keckeisen

1946 geboren in Stuttgart; aufgewachsen in Stuttgart (bis 1963) und Frankfurt
1966/67 Ziviler Ersatzdienst
1967/74 Studium der Erziehungswissenschaft, Soziologie, Psychologie und Rechtswissenschaft in Frankfurt
1973 Diplom in Pädagogik
1974/77 Wiss. Assistent am Pädagogischen Seminar der Universität Göttingen
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[V46:3]

Klaus Mollenhauer

1928 geboren in Berlin
1944/48 Luftwaffenhelfer, Gefangenschaft, Abitur
1948/50 Studium an der PH Göttingen
1950/52 Volksschullehrer in Bremen
1952/58 Studium der Pädagogik, Soziologie und Literaturwissenschaft in Hamburg und Göttingen, Promotion
1958/65 Wissenschaftlicher Assistent bzw. Akademischer Rat in Göttingen und Berlin (Freie Universität)
1965/77 Prof. für Pädagogik an der PH Berlin (1965) und an den Universitäten Kiel (1966), Frankfurt (1969) und Göttingen (1972)
[V46:4]

Michael Parmentier

1943 geboren in Frankfurt
1963 Abitur
1963–1968 Studium der Germanistik, Geschichte, Philosophie, Staatsexamen
1969–1978 Studium der Erziehungswissenschaften in Frankfurt, Tutor
1972/77 Wiss. Assistent am Pädagogischen Seminar der Universität Göttingen
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Studierhinweise

[V46:5] Erziehungswissenschaft wird auf verschiedene Weisen betrieben. Im folgenden Kurs wollen wir einen Typus von erziehungswissenschaftlichem Denken und Forschen darstellen, dem sich – ungefähr seit 1968 – einige Erziehungswissenschaftler zuwandten, angeregt durch die Frankfurter
Kritische Theorie
(zu dieser gehören vor allem die Philosophen/ Soziologen Adorno, Habermas, Horkheimer, Marcuse).
[V46:6] Um diesen Kursus mit Gewinn und ohne übermäßige Verständnisschwierigkeiten durcharbeiten zu können, sollten Sie mindestens über folgende Grundkenntnisse verfügen:
  • [V46:7] Grundprobleme pädagogischer Theoriebildung (Kurs: Einführung in die pädagogische Theoriebildung 1 und 2)
  • [V46:8] anthropologische Grundkenntnisse (Kurs: Einführung in die Anthropologie der Erziehung 1 und 3)
  • [V46:9] Grundkenntnisse von Methoden erziehungswissenschaftlicher Forschung
[V46:10] Wir empfehlen Ihnen besonders, aus dem Kurs : Einführung in die pädagogische Theoriebildung II noch einmal die Interpretation des Vorlesungstextes von F. D. Schleiermacher (S. 11–23) und aus dem Kurs : Einführung in die Anthropologie der Erziehung II das Kapitel über
gesellschaftliche Ansätze
(S. 37 ff.) zu studieren.
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[V46:11] Die Übungsaufgaben dieses Kurses werden Sie vielleicht teils für ungewöhnlich oder gar unzweckmäßig halten. Versuchen Sie dennoch, sie zu lösen. Wir sind nämlich der Meinung, daß die Einsicht in die Hemmungen, Widersprüche und Bedingtheiten des eigenen Denkens, Fühlens und Handelns zu den Grunderfahrungen gehört, ohne die eine
Pädagogik der Kritischen Theorie
u.E. ihren Sinn verlöre.
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Kursübersicht

[V46:12] Kurseinheit 1: Was ist
Kritische Theorie
?
  1. 1.
    [V46:13] Einleitung
  2. 2.
    [V46:14] Zur Geschichte der Kritischen Theorie
  3. 3.
    [V46:15]
    Traditionelle
    und
    kritische
    Theorie
  4. 4.
    [V46:16] Ästhetische Theorie
[V46:17] Kurseinheit 2: Zur pädagogischen Relevanz der Kritischen Theorie
  1. 1.
    [V46:18] Zur Thematik der Kritischen Theorie und ihrer pädagogischen Relevanz
  2. 2.
    [V46:19] Zur Methode der Kritischen Theorie
  3. 3.
    [V46:20] Utopie und Ideologie: Zur Normativitätsproblematik
[V46:21] Kurseinheit 3: Die Rezeption der Kritischen Theorie durch die Erziehungswissenschaft
  1. 1.
    [V46:22] Erziehung als Interaktion
  2. 2.
    [V46:23] Probleme einer kritischen Didaktik
  3. 3.
    [V46:24] Zur Methodologie erziehungswissenschaftlicher Forschung
[V46:25] Kurseinheit 4: Perspektiven einer kritischen Erziehungswissenschaft
  1. 1.
    [V46:26] Abweichendes Verhalten – Normalität und Anormalität
  2. 2.
    [V46:27] Moralische Erziehung – postkonventionelle Moral
  3. 3.
    [V46:28] Ästhetische Erziehung – kritische Produktivität
  4. 4.
    [V46:29] Grundregeln des Erziehungshandelns – Erziehung als Vergesellschaftung
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Lernziele

[V46:30] Wenn Sie den vorliegenden Kurs durchgearbeitet haben, dann sollten Sie
  • [V46:31] die für die
    Kritische Theorie
    charakteristische Kombination von philosophischen und gesellschaftstheoretischen Fragestellungen kennen;
  • [V46:32] die Bedeutsamkeit dieser Fragestellungen für das pädagogische Handeln und seine Ziele, für die Auswahl der Thematik und für die Methoden erziehungswissenschaftlicher Forschung diskutieren können;
  • [V46:33] die Aufnahme und Verarbeitung der Kritischen Theorie in der gegenwärtigen erziehungswissenschaftlichen Diskussion kennen und beurteilen können;
  • [V46:34] beliebige pädagogische Probleme im Sinne der an die
    Kritische Theorie
    sich anschließenden
    Kritischen Erziehungswissenschaft
    darstellen können;
  • [V46:35] Vorstellungen von einer Form des Umgangs mit sich selbst und einer Erziehungspraxis entwickeln können, die mit jener Theorie übereinstimmt.
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Literaturverzeichnis

Einführende bzw. grundlegende Literatur (zur Anschaffung empfohlen)

    [V46:36] Adorno, Th.W.: Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt/M. 1975
    [V46:37] Habermas, J.: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt/M. 1975
    [V46:38] Horkheimer, M.: Traditionelle und kritische Theorie, Frankfurt/M. (Fischer-Taschenbuch 6015) 1974
    [V46:39] Klafki, W.: Aspekte kritisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft, Weinheim 1976
    [V46:40] Lenzen, D.: Didaktik und Kommunikation, Frankfurt/M. 1973 (Fischer Athenäum 3006)
    [V46:41] Marcuse, H.: Kultur und Gesellschaft I, Frankfurt 1965 (edition suhrkamp)
    [V46:42] Mollenhauer, K.:Theorien zum Erziehungsprozeß, München 1975
    [V46:43] Mollenhauer, K./Rittelmeyer, Chr.: Methoden der Erziehungswissenschaft, München 1977
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Grundlegende Literatur (Originaltexte der Kritischen Theorie)

    [V46:44] Adorno, Th.W.: Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt/M. 1973
    [V46:45] Ders.: Ästhetische Theorie, Frankfurt/M. 1974 (suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 2)
    [V46:46] Fromm, E.: Sozialpsychologischer Teil, in: Studien über Autorität und Familie, Paris 1936
    [V46:47] Habermas, J.: Erkenntnis und Interesse, Frankfurt 1968 (suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 1)
    [V46:48] Ders.: Was ist Universalpragmatik? in: Karl-Otto Apel (Hrsg.), Sprachpragmatik und Philosophie, Frankfurt/M. 1976
    [V46:49] Ders.: Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz, in: Habermas/Luhmann, Theorie der Gesellschaft und Sozialtechnologie, Frankfurt/M. 1974
    [V46:50] Habermas, J./Friedeburg/Oehler/Weltz: Student und Politik, Neuwied 1961
    [V46:51] Horkheimer, M. : Kritische Theorie I/II, Frankfurt/M. 1968
    [V46:52] Ders.: Traditionelle und Kritische Theorie, Frankfurt/M. 1975
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    [V46:53] Institut für Sozialforschung (Hrsg.): Soziologische Exkurse. Frankfurt/M. o.J.
    [V46:54] Marx, Karl: Die deutsche Ideologie
    [V46:55] Ders.: Thesen über Feuerbach
    [V46:56] Beide Texte vollständig in: Marx/Engels Werke, Bd. 3, Berlin (DDR) 1969; oder – in für die Zwecke des Kurses hinreichenden Auszügen – in: Karl Marx: Friedrich Engels, Studienausgabe in 4 Bänden, Bd. 1 Frankfurt/M (Fischer Taschenbuch 6059)
    [V46:57] Ziehe, Th.: Pubertät und Narzißmus, sind Jugendliche entpolitisiert? Frankfurt/M. 1975
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Weiterführende Literatur

    [V46:58] Adorno, Th.W.: Noten zur Literatur, Bd. I und II, Frankfurt/M. 1958 und 1961
    [V46:59] Ders.: Negative Dialektik, Frankfurt/M. 1966
    [V46:60] Ders.: Minima moralis. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt/M. 1969 (Bibliothek Suhrkamp 236)
    [V46:61] Adorno/Frenkel-Brunswik/Levinson/Sanford: The Authoritarian Personality (Studies in Prejudice, Vol. I), New York 1950
    [V46:62] Benjamin, W.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt/M. 1963
    [V46:63] Ders.: Berliner Kindheit um Neunzehnhundert, Frankfurt/M. 1975 (Bibliothek Suhrkamp 2)
    [V46:64] Bernfeld/Reich/Jurinetz/Sapir/Stoljarov: Psychoanalyse und Marxismus, Frankfurt/M. 1970
    [V46:65] Brenner, Ch.: Grundzüge der Psychoanalyse, Frankfurt/M. 1967
    [V46:66] Dermitzel, R.: Thesen zur antiautoritären Erziehung, in: Kursbuch 17, 1969, S. 179–187
    [V46:67] Freud, S. : Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Frankfurt/M. 1977
    [V46:68] Fromm, E.: Analytische Sozialpsychologie und Gesellschaftstheorie, Frankfurt/M. 1970
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    [V46:69] Habermas, J.: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt/M. 1975
    [V46:70] Ders.: Strukturwandel der Öffentlichkeit, Neuwied 1961
    [V46:71] Horkheimer, M.: Dämmerung (unter dem Pseudonym Heinrich Regius), Zürich 1934
    [V46:72] Laplanche/Dontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, Bd. I und II, Frankfurt/M. 1973
    [V46:73] Marcuse, H.: Triebstruktur und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1973 (Bibliothek Suhrkamp)
    [V46:74] Offe, C.: Tauschverhältnis und politische Steuerung. Zur Aktualität des Legitimationsproblems, in: Strukturprobleme des kapitalistischen Staates, Offe (Hrsg.) Frankfurt/M. 1972
    [V46:75] Wolf, M.: Individuum/Subjekt/ Vergesellschaftung der Produktion, in: Ästhetik und Kommunikation, Heft 15/16 1974, S. 83–103
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Texte zu erziehungswissenschaftlichen Fragestellungen

    [V46:76] Blankertz, H.: Theorien und Modelle der Didaktik, München (9. Auflage) 1975
    [V46:77] Brumlik, M./Keckeisen, W.: Etwas fehlt. Zur Kritik und Bestimmung von Hilfsbedürftigkeit, in: Krimi. J. 4/1976
    [V46:78] Cicourel, A.: Sprache in der sozialen Interaktion, München 1975
    [V46:80] Döbert, R./Habermas, J. (Hrsg.): Die Entwicklung des Ichs, Köln/Berlin 1977
    [V46:81] Elias, N.: Der Prozeß der Zivilisation, Frankfurt/M. 1976
    [V46:82] Foucault, M.: Überwachen und Strafen, Frankfurt/M. 1976
    [V46:83] Frommann, A./Schramm, D./Thiersch, H.: Sozialpädagogische Beratung, in: Z.f.Päd. 5/1976
    [V46:84] Heinze, Th./Müller, E ./Stickelmann, B./Zinnecker, J.: Handlungsforschung im pädagogischen Feld, München 1975
    [V46:87] Kamper, D. (Hrsg.): Über die Wünsche, München 1977
    [V46:88] Keckeisen, W.: Die gesellschaftliche Definition abweichenden Verhaltens, München 1974
    [V46:89] Klafki, W.: Aspekte kritisch-konstruktiver Erziehungswissenschaft, Weinheim 1976
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    [V46:90] Lenzen, D.: Didaktik und Kommunikation, Frankfurt 1973
    [V46:91] Lorenzer, A.: Zur Begründung einer materialistischen Sozialisationstheorie, Frankfurt 1972
    [V46:92] Meyer-Denkmann, G.: Struktur und Praxis neuer Musik im Unterricht, Wien 1972
    [V46:93] Mollenhauer, K.: Theorien zum Erziehungsprozeß, München 1972
    [V46:94] Mollenhauer, K.: Interaktion und Organisation in pädagogischen Feldern, in Z.f.Päd. 13. Beiheft, hrsg. von H. Blankertz
    [V46:95] Moser, H.: Aktionsforschung als kritische Theorie der Sozialwissenschaften, München 1975
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Literaturverzeichnis

Einführende Literatur (zur Anschaffung empfohlen)

    [V46:97] Th. W. Adorno, Erziehung zur Mündigkeit. Frankfurt (suhrkamp taschenbuch II) 1975
    [V46:98] M. Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie. Frankfurt (Fischer Taschenbuch 6015) 1974
    [V46:99] H. Marcuse, Kultur und Gesellschaft I. Frankfurt (edition suhrkamp 101) 1965

Grundlegende Orininaltexte der Kritischen Theorie

    [V46:100] Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie. Frankfurt (suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 2) 1974
    [V46:101] ders., Dissonanzen. Einleitung in die Musiksoziologie. Frankfurt 1973 (Gesammelte Schriften Bd. 14)
    [V46:102] J. Habermas, Erkenntnis und Interesse. Frankfurt (suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 1) 1975
    [V46:103] M.Horkheimer, Kritische Theorie I/II. Frankfurt 1968
    [V46:104] Institut für Sozialforschung (Hrsg.), Soziologische Exkurse. Frankfurt o.J.
    [V46:105] K. Marx, Die deutsche Ideologie
    [V46:106] ders., Thesen über Feuerbach
    [V46:107] Beide Texte vollständig in: Marx/Engels Werke, Bd. 3, Berlin (DDR) 1969; oder – in für die Zwecke des Kurses hinreichenden Auszügen – in: |A 19|Karl Marx: Friedrich Engels, Studienausgabe in 4 Bänden, Bd. 1 Frankfurt/M (Fischer Taschenbuch 6059)

Darstellungen und Kritiken

    [V46:108] H. Gumnior/R. Ringguth, Horkheimer. Rowohlts Bildmonographien 208. 1973
    [V46:109] M. Jay, Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923–1950. Frankfurt 1976
    [V46:110] Kritik und Interpretationen der Kritischen Theorie. Gießen (Verlag Andreas Achenbach) 1975 (Reprint)
    [V46:111] A. Schmidt, Zur Idee der Kritischen Theorie. München (Reihe Hanser 149) 1974

Weiterführende theoretisch und praktisch relevante Literatur

    [V46:112] Th. W. Adorno, Minima moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt (Bibliothek Suhrkamp 236) 1969
    [V46:113] W. Benjamin, Berliner Kindheit um Neunzehnhundert. (Frankfurt Bibliothek Suhrkamp 2) 1975
    [V46:114] ders., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt (edition suhrkamp 28)
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    [V46:115] M. Horkheimer, Dämmerung (unter dem Pseudonym Heinrich Regius). Zürich 1934
    [V46:118] H. Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft. Frankfurt (Bibliothek Suhrkamp 158). 1973

Nachschlagewerke

[V46:119] Nachschlagewerke, die der Kritischen Theorie voll gerecht würden, liegen nicht vor.
[V46:120] Wir empfehlen dennoch:
    [V46:121] J. Hoffmeister, Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Hamburg 1955
    [V46:122] G. Klaus/M. Buhr(Hrsg.), Marxistisch-leninistisches Wörterbuch der Philosophie. Reinbek (Rowohlt Taschenbücher 6155-7)
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Glossar

  • affirmativ
    [V46:123] vorhandene Einstellungen, Vorstellungen, Handlungsmuster, u.a. verstärkend, bekräftigend
  • Antizipation (antizipatorisch)
    [V46:124] die Vorwegnahme von für die Zukunft erwarteten oder gewünschten Ereignissen in der Vorstellung
  • Deduktion (deduziert)
    [V46:127] die Ableitung von Begriffen, Sätzen, Hypothesen aus einer vorgegebenen Theorie
  • Diskurs
    [V46:132] eine Auseinandersetzung, in der Geltungsansprüche von Sätzen problematisiert und argumentativ überprüft werden, ohne daß andere als argumentative Faktoren den Fortgang der Erörterung wesentlich beeinträchtigen
  • dogmatisch
    [V46:133] ein Standpunkt, der davon ausgeht, daß für wesentlich gehaltene Behauptungen (Theorien) nicht in Frage gestellt werden können oder dürfen, d.h. der den grundsätzlich hypothetischen Status theoretischer Sätze leugnet
  • Emanzipation (emanzipiert)
    [V46:135] Befreiung von Zwängen (Herrschaftsverhältnissen, Vorurteilen, Ideologien), die geschichtlich entstanden sind und infolgedessen auch durch weitere geschichtliche Prozesse wiederum abgeschafft werden können
  • Erkenntnisinteresse
    [V46:136] die Richtung, die die theoretische Aufmerksamkeit nimmt (auf bestimmte Gegenstände, Probleme, praktische Fragen), die die Bevorzugung bestimmter Modelle und wissenschaftlicher Verfahren der Erkenntnisgewinnung zur Folge hat
  • |A [22]|
  • |A 23|
  • Geisteswissenschaftliche Pädagogik
    [V46:137] eine Richtung der Erziehungswissenschaft, die im Anschluß an Wilhelm Dilthey das Verstehen der historischen Zusammenhänge, innerhalb deren Erziehung geschieht, und der Ausdrucksformen, deren sich die pädagogische Praxis bedient, zur Aufgabe macht; das wesentliche Erkenntnisinstrument war dabei das Interpretieren von Texten (Hermeneutik). Wichtigste Vertreter: W. Dilthey, H. Nohl, W. Flitner, E. Weniger
  • heteronom
    [V46:140] einer Sache, um die es geht, fremder Bestimmung bzw. fremdem Gesetz folgend
  • Historizität
    [V46:142] die Geschichtlichkeit eines Gegenstandes, d.h. daß er sowohl geschichtlich entstanden ist wie auch in der weiteren Geschichte verändert werden kann
  • Ideologie
    [V46:144] ein Zusammenhang von Sätzen (Behauptungen), der vom Autor als wahr behauptet wird, bei näherer Betrachtung indessen (Ideologiekritik) sich als ein Zusammenhang falscher Sätze über die gesellschaftliche Wirklichkeit erweist, wobei das spezifisch
    Falsche
    sich seinerseits als Folge historisch-gesellschaftlicher Vorgänge oder Zustände erweisen läßt
  • intersubjektiv
    [V46:148] verschiedenen Subjekten gemeinsam (z.B. Zeichen, deren Bedeutung von verschiedenen an einer Interaktion beteiligten Personen geteilt wird; Behauptungen, deren Geltung von verschiedenen Personen akzeptiert wird, usw.)
  • materialistisch
    [V46:154]
    ein theoretischer Standpunkt, in dem davon ausgegangen wird, daß alle sozialen Ereignisse nur zureichend erklärt werden können, wenn sie letzten Endes auf die der menschlichen Gattung eigentümliche Notwendigkeit zurückgeführt werden, daß der Mensch darauf angewiesen ist, seine materielle Existenz durch Arbeit zu sichern (historischer Materialismus)
  • |A [24]|
  • |A 25|
  • Objektivationen
    [V46:155]
    die vom Menschen produzierten, aber dann relativ unabhängig vom einzelnen bestehenden Gestalten, Institutionen, subkulturellen Erscheinungen (z.B. Formen der Arbeit und Arbeitsteilung, soziale Einrichtungen, Texte, usw.)
  • objektivistisch
    [V46:156]
    eine Betrachtungsweise sozialer Phänomene, nach der die Spontaneität des einzelnen Individuums keine wesentliche Rolle spielt und statt dessen menschliches Verhalten nur aus den sogenannten objektiv gegebenen Verhältnissen erklärt werden soll
  • Operationalisierung
    [V46:158]
    die Definition eines Begriffes dadurch, daß angegeben wird, welche Verfahren (Operationen) angewandt werden müssen, um den empirischen Gehalt des Begriffes zu zeigen. (Beispiel: Intelligenz ist, was der Intelligenztest mißt).
  • Paradigma
    [V46:159]
    der charakteristische Zusammenhang von Begriffen (Theorie) und Methoden, in dem zugleich festgesetzt wird, was als sinnvoller Gegenstand der Erkenntnis gelten soll und auf welche Weise Behauptungen über denselben überprüft werden können (z.B. das Paradigma einer mythologischen Erklärung des Kosmos, das Paradigma einer erfahrungswissenschaftlichen Erklärung des Kosmos)
  • Praxis
    [V46:160]
    das zielorientierte Handeln des Menschen (im Unterschied zu Akten des Erkennens) einschließlich der Verständigung über diejenigen Ziele (Normen, Werte), die für das Handeln Geltung beanspruchen sollen
  • Prognose
    [V46:161]
    ein Typus theoretischer Sätze, in denen Behauptungen über die Zukunft formuliert werden, auf der Grundlage gemachter Erfahrungen
  • Reflexion
    [V46:174]
    eine Art des Denkens, in der das Denken sich selbst und seine Bedingungen zum Gegenstand macht (Nachdenken über die Regeln des eigenen Denkens)
  • |A [26]|
  • |A 27|
  • Telos
    [V46:177]
    das Ziel eines Denk- oder Handlungsvorganges; eine teleologische Betrachtung ist eine solche, die ein Ereignis von seinem Ziel her zu erklären versucht (Beispiel:
    Warum hat X so gehandelt?
    Er hat so gehandelt, um das Ziel Z zu erreichen.
    )
  • universal
    [V46:179]
    unter allen der Erfahrung prinzipiell zugänglichen Bedingungen geltend
  • Verabsolutierung
    [V46:180]
    eine Operation des Denkens, in der eine Behauptung, die nur relative bzw. beschränkte Geltung beanspruchen kann, so vorgetragen wird, als gelte für sie jene Einschränkung des Geltungsanspruches nicht
  • Weltanschauungspädagogik
    [V46:182]
    ein Typus pädagogischen Denkens, in dem die Sätze über Erziehung (z.B. Sätze über das
    richtige
    pädagogische Verhalten) aus Werten und Normen abgeleitet werden, die sich selbst wissenschaftlicher Kontrolle entziehen, durch eine weltanschauliche Entscheidung gesetzt sind
  • Wissenschaftstheorie
    [V46:183]
    der Zusammenhang von theoretischen Aussagen und wissenschaftlichen Verfahren, in denen die (methodologischen, geschichtlichen, gesellschaftlichen) Grundlagen der Wissenschaften einer kritischen Analyse unterzogen werden.
|A [28]| |A 29|

Lernziele

  • [V46:186] Sie sollen die zentralen Begriffe der Kritischen Theorien in ihrem Zusammenhang verstehen und diskutieren können.
  • [V46:187] Sie sollen die Kritische Theorie von dem, was von ihr selbst als
    Traditionelle Theorie
    bezeichnet wird, unterscheiden können.
  • [V46:188] Sie sollen lernen, daß jede Theorie, gleich welcher Gestalt, eine gesellschaftliche Funktion erfüllt.
  • [V46:189] Sie sollen lernen, die Tatsache ernst zu nehmen, daß auch Ihr eigenes Denken in der praktischen Bewegung der Geschichte lokalisiert ist.
  • [V46:190] Sie sollen lernen, sich der Frage zu stellen, wie pädagogische Handlungsziele als geschichtliche Erscheinungen begründet werden können.
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1.1 Einleitung

[V46:191] Im Thema
Pädagogik der Kritischen Theorie
ist nicht ein Sachverhalt benannt, den es völlig zweifelsfrei schon gibt. Mit ihm soll vielmehr eine Frage aufgeworfen werden:
Wir wollen prüfen, ob der Typus von Gesellschaftstheorie, der in der Zeit des herannahenden Faschismus im Frankfurter Institut für Sozialforschung unter dem Namen
Kritische Theorie
entwickelt wurde, ge eignet ist, auch der Wissenschaft von der Erziehung als theoretischer Ausgangspunkt zu dienen;
wir wollen ferner prüfen, inwieweit Erziehungswissenschaftler bisher jene Kritische Theorie in ihrem eigenen Denken verwendet haben;wir wollen schließlich diskutieren, mit welchem Recht solche Erziehungswissenschaftler sich auf die Kritische Theorie berufen.
[V46:192] Eine der fundamentalen Forderungen, die von den Vertretern der Kritischen Theorie an das Denken, an das erkennende Individuum gerichtet werden, hat Horkheimer in der Form einer Behauptung so formuliert:
[V46:193]
Die Tatsachen, welche die Sinne uns zuführen, sind in doppelter Weise gesellschaftlich präformiert: Durch den geschichtlichen Charakter des wahrgenommenen Gegenstandes und den geschichtlichen Charakter des wahrnehmenden Organs.

(M. Horkheimer: Kritische Theorie Bd. 2, Frankfurt 1968, S. 148)
[V46:194] Wir werden im Verlauf dieses Textes noch sehen, welche Probleme mit dieser Behauptung bzw. Forderung im einzelnen aufgeworfen sind (vgl. 1.3.2.). Hier wollen wir zunächst eine didaktische Konsequenz ziehen und skizzieren, wie es geschichtlich überhaupt dazu kam, daß in den 60er Jahren dieses Jahrhunderts eine Reihe von Pädagogen |A 31|(manche bevorzugen den Ausdruck
Erziehungswissenschaftler
) auf das Denken jener Frankfurter Sozialphilosophen und Soziologen zurückgriff, um für das pädagogische Denken eine
bessere
Orientierung zu finden; was in jener Situation die geschichtliche Besonderheit des
wahrgenommenen Gegenstandes
und das
wahrnehmenden Organs
gewesen ist.
[V46:195] Gegen Ende der 50er Jahre hatten an einigen deutschen Universitäten, beispielsweise in Göttingen und Marburg, mehrere junge Erziehungswissenschaftler ihre Dissertation abgeschlossen, denen Folgendes gemeinsam war:
  • [V46:196] Sie hatten (ungefähr zwischen 1926 und 1929 geboren) den Faschismus noch in seiner letzten Phase bewußt erlebt, in der Zwangsjacke der
    Hitlerjugend
    , als Luftwaffenhelfer, als Soldaten faschistische Gewalt am eigenen Leibe erlebt oder über ihre und ihrer Eltern Freunde kennengelernt.
  • [V46:197] Sie hatten, als sie genötigt waren, die Ausbildung zur Hochschulreife nach Beendigung des Krieges zu Ende zu führen, die politische Hilflosigkeit ihrer Lehrer erfahren. Diese Pädagogen verleugneten plötzlich, was sie gestern noch gelehrt hatten, oder sie versuchten, wo sie ehrlich mit sich und ihren Schülern waren – das moralische, politische und argumentative Dilemma ihrer gesellschaftlichen Existenz offenzulegen.
  • [V46:198] Sie hatten teils bei Hochschullehrern studiert (Abendroth, Blochmann, Heydorn, Plessner u.a.), die selbst Antifaschisten waren und die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft in der Emigration, in Konzentrationslagern oder im Widerstand verbracht haben.
  • [V46:199] Sie hatten schließlich, aus diesen Erfahrungen folgend, |A 32|ein zunächst vorwiegend praktisches Berufsinteresse: Sie wurden, ehe sie an der Universität wiederum ihre wissenschaftlichen Studien fortsetzten, Lehrer an Volks- und Berufsschulen (z.B. Blankertz, Klafki, Lempert, Mollenhauer, Roeder), um einer veränderten pädagogischen Praxis zum Leben zu verhelfen.
[V46:200] Als sie nach Abschluß ihrer akademischen
Lehrjahre
um 1960 sich nach Orientierungen umsahen, die für die von ihnen in der eigenen akademischen Lehre zu verantwortende Erziehungswissenschaft fundamental sein könnten, bot sich ihnen
in ihrer Wissenschaft wie in der gesellschaftlichen Praxis ein verwirrendes Bild. Mit der gesellschaftlichen Restauration im
CDU-Staat
wurden auch die so zialen Ungleichheiten wieder hergestellt, konnten autoritäre Ideologien unangefochten wieder Platz greifen; anscheinend blieb die deutsche Erfahrung mit dem Faschismus ohne deutliche Folgen, es sei denn in der Form eines pauschalen
Anti-Totalitarismus
, der jedoch nur als
Anti-Kommunismus
gesellschaftlich wirksam wurde.
Eine
pädagogische Bewegung
, wie sie in den 20er Jahren als praktischer Bezug für erziehungstheoretische Arbeiten existierte, gab es nicht.
Für theoretische Orientierung waren deshalb – wollte man seine, wenn auch im Vergleich zu Anderen und Älteren harmlose Faschismus-Erfahrungen nicht verleugnen – zwei Wege nicht akzeptabel:
  • [V46:201] Die ungebrochene Fortsetzung der geisteswissenschaft lichen Pädagogik, die die pädagogische Praxis nur interpretierte, und zwar ohne ihren gesellschaftlichen Charakter zu zeigen;
  • [V46:202] Die normative Weltanschauungspädagogik, die im Faschismus ihre brutalste Pointe gebildet hatte und sich nun unter verschiedenen Namen (konfessionellen, existenz|A 33|philosophischen, ideengeschichtlichen, ja selbst empirischen) wiederum empfahl und letzten Endes kein anderes als ein dogmatisches Verständnis von Erziehung und Erziehungswissenschaft produzieren konnte.
[V46:203] Akzeptabel schien nur eine Form von Erziehungswissenschaft, die imstande war,
  • [V46:204] theoretische Konsequenzen aus der Erfahrung mit der geschichtlichen Praxis zu ziehen, also die Frage, wohin die Geschichte nach dem Willen der Menschen laufen sollte, sich zu eigen zu machen, damit wurde akzeptiert, daß das Problem pädagogischer Handlungsziele, das in der Weltanschauungspädagogik dogmatisch beantwortet wurde, nicht etwa unterschlagen werden konnte;
  • [V46:205] solche Konsequenzen mit den Mitteln der gesellschaftlichen Analyse pädagogischer Praxis zu erarbeiten, also auch die hermeneutische Erfahrung der geisteswissenschaftlichen Pädagogik nicht zu verleugnen;
  • [V46:206] sich sozialwissenschaftlich-empirischer Verfahren zu bedienen; denn nur unter dieser Voraussetzung konnte die Hoffnung bestehen, die Ursachen und vielfältigen Zwischenglieder zur Erklärung des Dilemmas der gegenwärtigen Erziehungs- und Bildungspraxis aufzudecken: nämlich daß man sich in Deutschland (Ost und West) abermals aufmachte, die Rede von einer – am Begriff eines möglichen qualitativ-demokratischen Fortschritts gemessen –
    verspäteten Nation
    (Plessner) zu bestätigen.
[V46:207] Unterdessen waren bereits zehn Bände der
Frank furter Beiträge zur Soziologie
, der Buchreihe des nach dem Kriege neu gegründeten Instituts für Sozialforschung in Frankfurt, erschienen. Hier präsentierte sich eine geschichtlich orientierte, mit philosophischen Gründen radikaldemokratisch argumentierende und zugleich empirisch verfahrende Sozialwissenschaft. Und weiter: |A 34|In der Skizze dessen, was
emanzipatorisches Erkenntnisinteresse
heißen könnte, von J. Habermas 1965 vorgelegt, zeigte sich für die erziehungswissenschaftlichen Leser eine Kontinuität nicht nur mit der politischen Philosophie der Aufklärung, sondern auch mit dem pädagogischen Denken z.B. Rousseaus’ und Schleiermacher’s; Adorno’s
Theorie der Halbbildung
(1962) und Marcuse’s
Über den affirmativen Charakter der Kultur
(1965) machten u.a. zum Thema, was in der Pädagogik einem langen Prozeß der Trivialisierung zum Opfer gefallen war: daß
Bildung
nur durch ernsthafte Teilnahme an den kulturellen Gehalten erreichbar ist, nicht aber deren Vermarktung zum politisch affirmativen
Bildungsgut
; die
Stunden über Autorität und Familie
(schon 1936 veröffentlicht) und
The Authorian Personality
(1950) erschienen für jene Erziehungswissenschaftler damals als das in Forschungsprojekte übertragene Interesse einer demokratisch-pädagogischen Perspektive der Erziehungspraxis.
[V46:208] Diese Situation fand ihren ersten, vorerst jedoch nur tastenden literarischen Niederschlag beispielsweise in den folgenden Veröffentlichungen:
    [V46:209] H. Blankertz Berufsbildung und Utilitarismus, Düsseldorf 1963
    [V46:210] K. Mollenhauer Pädagogik und Rationalität in: ders., Erziehung und Emanzipation, München 1968
    [V46:211] K. Mollenhauer Zur pädagogischen Theorie der Geselligkeit in: Erziehung und Emanzipation a.a.O.
    [V46:212] H. Blankertz/ K. Mollenhauer (zwei wissenschaftstheoretische Vorträge), in: Neue Folge der Ergänzungshefte zur Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 1966, Heft 5
    |A 35|
    [V46:213] P.M. Roeder Erziehung und Gesellschaft, Weinheim 1968
    [V46:214] H. Blankertz/ J. Dahmer/ K. Mollenhauer Aufsätze dieser Verfasser in dem Sammelband mit dem programmatischen Titel: Geisteswissenschaftliche Pädagogik am Ausgang ihrer Epoche, Weinheim 1968
    [V46:215] K. Mollenhauer (Einleitung zu) Erziehung und Emanzipation, a.a.O.
    [V46:216] W. Lempert Bildungsforschung und Emanzipation, in: Leistungsprinzip + Emanzipation, Frankfurt 1971
[V46:217] Zugleich aber begann an den deutschen Hochschulen sich ein Stück gesellschaftlicher Praxis zu entfalten, ohne das vermutlich auch die pädagogische Rezeption der Kritischen Theorie anders verlaufen wäre: Die Studentenbewegung und der Versuch einer Hochschulreform. Pädagogik – bis dahin eher Pflichtübung zukünftiger Lehrer – wurde zu einem spannenden Thema gerade für jene Studenten, die sich für eine neue, politisch folgenreiche Form der wissenschaftlichen Arbeit engagierten. Für diejenigen Dozenten, die bereit waren, sich diesem Anspruch zu stellen, konnte deshalb – sofern sie Pädagogen und also auch Didaktiker waren – die Form ihrer Lehre mit deren Inhalt zusammenfallen; sie konnten sich zudem als Beteiligte eines praktischen Prozesses definieren, in dem bald nicht mehr nur von Hochschulen, dem Zustand der Pädagogik, sondern vom Zustand unserer Gesellschaft im Ganzen die Rede war. Damit war ein Punkt erreicht, an dem es nun galt, das zunächst nur in Umrissen antizipierte Programm einer Kritischen Theorie der Erziehung auzuarbeiten, von dem Blankertz 1970 mit Recht sagen konnte:
[V46:218]
Von den Widerständen und Zwängen nicht zu ab strahieren, vielmehr gerade sie in den Mittel punkt des Interesses zu rücken, ist das Programm |A 36|der heute allenthalben geforderten, aber noch kaum ausgeführten Kritischen Theorie der Erziehung. Dabei handelt es sich ebenso um eine Wendung zur politisch-gesellschaftlichen Funktion der Erziehungswissenschaft, wie zu einer erfahrungswissenschaftlichen Orientierung, und zwar so, daß bestimmte Elemente aller zuvor genannten Ansätze (hermeneutische, prinzipienwissenschaftliche, erfahrungswissenschaftliche, d.V.) konvergieren, wenn auch in einem neu gesetzten Bezugsrahmen.

(H. Blankertz: Pädagogik unter wissenschaftstheoretischer Kritik. In: Erziehungswissenschaft 1971 zwischen Herkunft und Zukunft der Gesellschaft . S. Oppolzer (Hrsg.), Wuppertal/ Ratingen 1971, S. 30)
[V46:219] Um die Triftigkeit dieses Programms näher zu prüfen, wenden wir uns im folgenden zunächst dem zu, was
Kritische Theorie
ist bzw. zu sein beansprucht.
|A 37|

1.2. Zur Geschichte der
Kritischen Theorie

1.2.1 Vorbemerkung

[V46:279] Die unter dem Namen
Kritische Theorie
oder auch nach dem Sitz ihres Instituts als
Frankfurter Schule
bekanntgewordene Theorie, ursprünglich insbesondere verbunden mit den Namen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, ist keine einzelwissenschaftliche Disziplin wie Erziehungswissenschaft, sondern in herkömmlicher Terminologie ausgedrückt, Sozialphilosophie. Sie versteht sich als kritische Theorie der Gesellschaft und des Menschen als eines gesellschaftlichen Wesens. Der Ausdruck
kritisch
meint in diesem Zusammenhang
  • [V46:280] Analyse der gegenwärtigen Gesellschaft als Herrschaftszusammenhang unter dem Gesichtspunkt ihrer möglichen Aufhebung, d.h. Begreifen der Gesellschaft in ihrer geschichtlichen Gewordenheit und Veränderlichkeit;
  • [V46:281] Reflexion der eigenen Theorie als Moment eben jenes gesellschaftlichen Zusammenhanges, den sie selbst analysiert, d.h. Begreifen der geschichtlichen Bedingtheit und Relativität von Theorie;
  • [V46:282] Anleitung zu und kritische Reflexion von gesellschaftsverändernder Praxis, in deren Verlauf sich erst Wahrheits- und Geltungsanspruch der theoretisch erarbeiteten Perspektiven einlösen kann, d.h. begreifendes Denken als Moment kritischer Praxis.
[V46:283] Das theoretisch reflektierte praktische Interesse an vernünftigen, menschenwürdigen Zuständen ist also verbunden mit dem Erkenntnisziel Gesellschaft als Ganzes in ihrer je konkreten historischen Ausgeprägtheit zu begreifen. Geleitet von diesem Interesse soll die Struktur der gegenwärtigen Gesellschaft als die eines Zwangszusammen|A 38|hanges analysiert werden, in dem sich ökonomisch Macht zunehmend gegenüber dem einzelnen wie dem Kollektiv verselbständigt und die Menschen beherrscht. Im Mittelpunkt ihrer Theorie steht daher die marxistische Kritik der politischen Ökonomie. Das heißt nicht, daß sie sich auf eine nur ökonomische Betrachtung von Gesellschaft und Geschichte beschränkt. Vielmehr beabsichtigt sie eine Theoriebildung, die an der ständigen Auseinandersetzung mit praktischen, zeitgeschichtlichen Lebens- und Erfahrungszusammenhängen eine theoretische Struktur entfaltet, die Gesellschaft in der Gesamtheit ihrer ökonomischen, kulturellen und psychischen Faktoren erfaßt.
|A 39|

1.2.2 Geschichte des Frankfurter Instituts für Sozialforschung

[V46:285] Die Kritische Theorie wurde in den 30er Jahren, schon unter dem Eindruck der massiven Bedrohung durch den Nationalsozialismus, von einem kleinen Kreis engagierter linker Intellektueller begründet, die sich in Frankfurt um Max Hofrkheimer sammelten. Die Entwicklung der Kritischen Theorie fällt, zumal in ihren Anfängen, auf weiten Strekken nicht nur zusammen mit der geistigen Biographie Max Horkheimer’s, sondern auch mit der Geschichte des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, dem Horkheimer ab 1931 als leitender Direktor Vorstand.
[V46:286] Das Institut wurde schon 1923 gegen den zunächst heftigen Widerstand der Frankfurter Universität gegründet. Trotz einer losen Angliederung an die Universität, die durch ein Ordinariat des Institutsdirektors gewährleistet werden sollte, war die Institutsarbeit in der Bestimmung ihrer Forschungsinhalte und -methoden frei, da sie aus Mitteln einer privaten Stiftung finanziert wurde.
[V46:287] Motiv für die Gründung und auch später beibehaltenene Zielsetzung des Instituts war, unabhängig von universitärer bzw. staatlicher Reglementierung und ohne Rücksichten, die sich aus der Bindung an eine der sozialistischen deutschen Parteien ergeben hätte, eine Analyse der bürgerlichen Gesellschaft zu leisten, die die Möglichkeiten interdisziplinärer Forschung und marxistischer Theoriebildung ausschöpfte.
[V46:288] Mit diesem Anspruch an eine Gesellschaftswissenschaft widersetzte sich das Institut auch schon unter seinem ersten Leiter, dem Wiener Historiker und Nationalökonomen Carl Grünberg, der aus|A 40|sparung marxistischer Theoreme aus der damaligen akademischen wissenschaftlichen Diskussion. Allerdings wandte sich das Institut erst mit Horkheimer, der zwar schon vorher Mitarbeiter war, aber erst ab 1931 wirklich Einfluß auf die Institutsarbeit gewann, als er die Nachfolge Grünberg’s am Institut und den Lehrstuhl für Sozia1phi1osophie an der Universität übernahm, den Fragestellungen zu, die Programm und Konzept der Kritischen Theorie ausmachen sollten. (Zu den Mitarbeitern Horkheimer’s gehörten u.a. Friedrich Pollock, Leo Löwenthal, Theodor W. Adorno, der zwar erst 1938 offizieller Mitarbeiter wurde, aber über eine Freundschaft mit Horkheimer schon seit 1923 an der Arbeit des Instituts teilnahme, ab 1931 Erich Fromm, Mitglied der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft, ab 1932 Herbert Marcuse, Schüler von Heidegger und Walter Benjamin).
[V46:289] Im Gegensatz zu Grünberg, der zwar auch die Kritik der politischen Ökonomie in das Zentrum seiner Theorie stellte, aber ein stark verkürztes, tatsachengläubiges Verständnis der Marx’schen Theorie hatte und sich fast ausschließlich empirisch-historischen Untersuchungen widmete, ging es Horkheimer, von Haus aus Philosoph, gerade darum, den philosophischen Gehalt der marxistischen Theorie zu erarbeiten, um die dogmatische Verhärtung der materialistischen Theorie, wie sie sowohl für die sowjetmarxistische wie die sozialdemokratische Partei der zwanziger Jahre kennzeichnend war, zu überwinden. Allerdings hielt er an der Notwendigkeit empirischer Untersuchungen fest. In seiner Antrittsvorlesung vom 24. 1. 1931 (
Zur gegenwärtigen Lage der Sozialphilosophie und den Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung
) entwickelte er als Leitfaden für die weitere |A 41|Arbeit des Instituts das Programm einer wechselseitigen Durchdringung und Vermittlung von philosophischer Sinnreflexion und materialer empirischer Forschung als notwendige Voraussetzung einer umfassenden kritischen Theorie der Gesellschaft.
[V46:303] Die
Zeitschrift für Sozialforschung
, die von 1932 bis 1941 von Horkheimer im Auftrag des Instituts herausgegeben wurde, sollte neben ihrer Funktion als Publikationsorgan des Instituts der Verwirklichung dieses Programms dienen. Angesichts der sich zuspitzenden politischen Ereignisse in Deutschland und der Schließung des Instituts wegen
staatsfeindlicher Tendenzen
emigrierte 1933 der größte Teil der Institutsangehörigen über Zweigniederlassungen in Genf und Paris nach New York, wo das Institut 1934 in enger Angliederung an die Columbia Universität neu errichtet wurde.
[V46:308] Während der Emigration wurden zunächst in einer Pariser Ausgabe das Fragment der empirischen Untersuchung zu
Autorität und Familie
veröffentlicht und umfangreiche Untersuchungen zu
autoritärer Charakter
durchgeführt (vgl. den 2. Studienbrief).
[V46:309] Die
Zeitschrift für Sozialforschung
konnte, nachdem 1933 die letzte Ausgabe in Deutschland erschienen war, noch bis 1940 in deutscher Sprache von der Libraire Fêlix Alcan in Paris herausgegeben werden (vgl. A. Schmidt 1974, S. 36 ff). Nach dem Einmarsch der Hitler-Truppen in Paris mußte auch hier der Druck eingestellt werden; vier weitere Hefte der Zeitschrift wurden noch in New York, nun hauptsächlich in englischer Sprache, verlegt.
|A 42|
[V46:311] Erst 1950 wurde das Frankfurter Institut, wieder- wiederum unter Leitung Horkheimer’s, neu eingerichtet.
|A 43|

1.2.3. Auseinandersetzung mit dem Faschismus

[V46:312] Die sich bald nach dem ersten Weltkrieg anbahnende politisch-soziale Katastrophe und die sich am Ende ergebende unmittelbare Bedrohung der Allgemeinheit wie jedes Einzelnen durch die
Barbarei
des Faschismus war so offensichtlich, daß die Forderung der Kritischen Theorie nach umfassender theoretischer Klärung und Reflexion als notwendiges Moment im Kampf gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft auf den ersten Blick entbehrlich erscheint. Insofern scheint auch Adorno’s Forderung,
daß Auschwitz nicht noch einmal sei
, in ihrer gesellschaftspolitischen Brisanz schon als solche einsichtig.
[V46:316] Die Tatsache jedoch, daß Adornodiese Forderung 1966 als Gegenwartsprogramm formulierte, daß er sie als
allererste an Erziehung
ansah (wenngleich er die Verhinderung eines zweiten Auschwitz keineswegs für ein bloßes Erziehungsproblem hielt; Adorno, Erziehung zur Mündigkeit, S. 88 ff.), verdeutlicht,
daß die Kritische Theorie den Faschismus nicht als historische Entgleisung begreift, die mit der Zerschlagung des Hitler-Staates und der Restauration bürgerlich-demokratischer Verhältnisse überwunden wäre, sondern als in der Struktur bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaft latent angelegt.
[V46:317]
Die Nationalsozialisten fallen aus der Ent wicklung nicht heraus, wie die Rede, sie seien Gangster, es unterstellt. ... Nicht einbrechende Gangster haben in Deutschland die Herrschaft über die Gesellschaft sich angemaßt, sondern die gesellschaftliche Herrschaft geht aus ihrem eigenen ökonomischen Prinzip heraus in die Gangsterherrschaft über
.
(Horkheimer, Vernunft und Selbsterhaltung, S. 27/28).
|A 44|
[V46:318] Die Ursachen für den Umschlag des liberalistischen in den faschistischen Staat sind also nach der Kritischen Theorie nicht in der offensichtlichen Verletzung bürgerlich demokratischer Prinzipien in rassistischen Ideologien und Führertum zu suchen, sondern in Entwicklungstendenzen, die in dem liberalistischen Wirtschaftssystem angelegt waren und die mit der autoritären faschistischen Staatsherrschaft sich auch auf politischer Ebene Bahn brachen.
[V46:319] Die ökonomischen Grundlagen für die Entwicklung des autoritären Staates
[V46:320] "liegen im wesentlichen alle auf der Linie der Wandlung der kapitalistischen Gesellschaft von dem auf der freien Konkurrenz der selbständigen Einzelunternehmer aufgebauten Handels- und Industriekapitalismus zum modernen Monopolkapitalismus, in dem die veränderten Produktionsverhältnisse (und besonders die großen
Einheiten
der Kartelle, Trusts etc.) eine alle Machtmittel mobilisierende starke Staatsgewalt forderten ... Im Hinblick auf die Einheit der ökonomischen Basis läßt sich sagen: es ist der Liberalismus selbst, der den total-autoritären Staat aus sich heraus
erzeugt
hat: als seine eigene Vollendung auf einer höheren Stufe der Entwicklung. Der total-autoritäre Staat bringt die dem monopolistischen Stadium des Kapitalismus entsprechende Organisation und Theorie der Gesellschaft.

(Marcuse, Kultur und Gesellschaft , Bd. I, S. 32)
[V46:321] So gesehen muß der Faschismus ohne eine ökonomische Theorie der Gesellschaft und der Geschichte, deren wesentliche Elemente im folgenden kurz dargestellt werden sollen, weitgehend unbegriffen bleiben.
  1. 1.
    [V46:322] Der Liberalismus beruhte auf der Idee der freien Konkurrenz der Individuen. Im Zusammenspiel der viel fältigen Einzeltätigkeiten sollte sich aus dem Widerstreit der verschiedenen Bedürfnisse und Interessen |A 45|das Gleichgewicht der Wirtschaft als harmonisches Ganzes naturwüchsig herstellen und erhalten. Diese Konzeption widersprach jedoch der gesellschaftlichen Realität: Die Unversöhnlichkeit der sozialen Gegensätze zwischen einer herrschenden und einer beherrschten Klasse und die krisenhafte Entwicklung des Kapitalismus, die die behauptete Harmonie immer wieder zu stören drohten, veranlaßten den liberalistischen Staat entgegen seinem Postulat der Selbstregulation des Marktes zu gewaltsamen Eingriffen im Interesse des Privateigentums – und das hieß im Interesse der ohnehin ökonomisch Mächtigen, in deren Hand die Masse des Privateigentums (nämlich an Produktionsmitteln) versammelt war –, um Stabilität und Wachstum des Wirtschaftssystems zu sichern.
  2. 2.
    [V46:323] Die fortschreitende Zusammenballung des Kapitals, der damit verbundene latente oder offene Mißbrauch von Marktmacht durch Monopolgruppen auf der einen Seite, die Deklassierung weiter Teile des Bürger- und Kleinbürgertums und die gleichzeitige Organisierung einer revolutionären Gegenmacht innerhalb der Arbeiterklasse auf der anderen Seite, führten zu einer Verschärfung der sozialen Gegensätze, die die faschistische Bewegung zu bannen versprach. Gleichzeitig erforderte der Kapitalverwertungsprozeß angesichts der immer wiederkehrenden ökonomischen Krisen, die schließlich in der Weltwirtschaftskrise von 1929 einen Höhepunkt erreichten, der die Gesellschaft in ihrer Gesamtstruktur zu erschüttern drohte, eine zentralistische Staatsherrschaft, die mit den Mitteln weitausgreifender Planung und militärischer Organisation die Interessen des organisierten Monopolkapitalismus politisch absichern konnte.
  3. 3.
    [V46:324] Der Begriff der Vernunft, zunächst Mittel der Selbst behauptung des bürgerlichen Individuums gegenüber den geistlichen und weltlichen Autoritäten des absolutistischen Staats, wurde in der realhistorischen Entwicklung um seine ursprünglich gesellschaftskritische Dimension |A 46|verkürzt. Als das aufsteigende Bürgertum an die Macht kam und die privatwirtschaftliche Organisation der Gesellschaft politisch durchsetzen konnte, wurde zwar die Idee eines vernünftigen Interessenausgleichs im Diskurs freier Bürger, mit deren Hilfe sich das Bürgertum gegenüber dem Feudalismus emanzipiert hatte, als allgemeingültiges Prinzip behauptet und formalrechtlich institutionalisiert, real jedoch nicht eingelöst.
[V46:325] In der Rechtfertigung der tatsächlichen Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit der Gesellschaft verformte sich der bürgerliche Vernunftbegriff auf der einen Seite in den metaphysischen Glauben an eine sich über die soziale Ungleichheit und den Widerstreit der Interessen letztlich durchsetzende
natürliche Vernunft
des Ganzen. Auf der anderen Seite verkümmerte er zu besitzindividualistisch motivierter Zweckrationalität, die sich an ökonomischem Nutzen und privatem Vorteil orientierte. Mit anderen Worten, das bürgerlich-liberale Denken baute zwar auf die
Realität
individueller Praxis, vertraute aber blind auf eine sich im freien Spiel der Kräfte eigentätig herstellende
Vernünftigkeit
gesamtgesellschaftlicher Praxis, ohne diese selbst der rationalen Kontrolle zu unterwerfen. Damit blieben Struktur und Ordnung des gesellschaftlichen Ganzen der vernünftigen und bewußten Zielgebung entzogen.
[V46:326]
Gegenwärtig sehen sie (die Menschen) sich auf das Unheil zusteuern oder bereits in es verstrickt; sie sind in vielen Ländern dermaßen paralysiert von der herannahenden Barbarei, daß sie nahezu völlig außerstande sind, zu reagieren und sich in Sicherheit zu bringen. Sie sind Kaninchen vor dem hungrigen Marder. Vielleicht gibt es Zeiten, in denen man ohne Theorie auskommen kann; im Augenblick erniedrigt dieser Mangel die Menschen und macht sie hilflos gegenüber der Gewalt
.
(Horkheimer, Kritische Theorie, Bd. II, S. 308)
|A 47|
[V46:327]
Heute geht es nicht mehr darum, ein Glaubensbekenntnis zu eliminieren; denn in den totalitären Staaten, wo am lautesten an Heroismus und eine erhabene Weltanschauung appelliert wird, regieren weder Glaube noch Weltanschauung, sondern eine fade Mittelmäßigkeit und die Apathie des Individuums gegenüber dem, was von oben kommt. Unsere gegenwärtige Aufgabe ist es viel eher, die Gewähr dafür zu schaffen, daß in Zukunft die Fähigkeit zur Theorie und zum Handeln, das aus der Theorie erwächst, nie wieder verlorengeht ...

(Horkheimer, Kritische Theorie, Bd. II, S. 312)
|A 48|

Übungsaufgabe

  1. 1.
    [V46:337] Stellen Sie sich vor, Sie hätten Ihre Eltern oder andere Angehörige der älteren Generation zu befragen über die gegenwärtige Praxis der Berufsverbote aus politischen Gründen!
  2. 2.
    [V46:338] Formulieren Sie bis zu zehn Fragen, die Sie ihnen stellen würden!
    (Sollten Sie keine Einfälle für die Formulierung von Fragen haben, dann könnten Sie sich Anregungen holen in dem Buch von Max Frisch: Tagebücher 1966 – 71. Suhrkamp Verlag und Büchergilde Gutenberg).
  3. 3.
    [V46:339] Stellen Sie den unter 1. genannten Personen diese Fragen!
[V46:340] Anmerkung:
[V46:341] Der zweite Teil der Aufgabe (Formulierung der Fragen) ist zugleich eine Einsendeaufgabe.
|A 49|

1.3.
Traditionelle
und
Kritische Theorie

(Horkheimer)

[V46:342] In Ansehung der praktisch-geschichtlichen Bedeutung bürgerlicher Denktraditionen entfaltet Horkheimer in seinen frühen Essays die Idee einer kritischen Theorie der Gesellschaft in der ständigen Auseinandersetzung mit fachsoziologischen, wissenschaftstheoretischen und sozialphilosophischen Gegenpositionen, die er unter dem Titel
traditionelle Theorie
zusammenfaßt.
[V46:343] Mit
traditioneller Theorie
ist zum einen jenes klassisch-philosphische Wissenschaftsverständnis gemeint, das in der Introspektion bzw. der autonomen, eigentätigen Reflexion des erkennenden Subjekts die Frage nach dem Sinn der Welt zu beantworten sucht und insofern der philosophischen Reflexion Vorrang vor jeder konkreten Analyse und empirisch gewonnenen Aussage einräumt.
[V46:344] Zum anderen – und dem gilt die weitaus schärfere Kritik Horkheimer’s – ist damit jener, im Zusammenhang mit der bürgerlichen Geschichte entstandene Begriff einer
modernen Wissenschaft
gemeint, die ihre Aufgabe nur noch in der Auffindung vorgegebener Erfahrungstatsachen und deren Einordnung in ein geschlossenes theoretisches System sieht und die der philosophischen Reflexion umfassender sozialer und kultureller Fragen Wissenschaftlichkeit abspricht.
[V46:345] Beide theoretischen Ausrichtungen erweisen sich als vereinseitigende Standpunkte, die entweder das autonome Bewußtsein bzw. den Geist oder aber die Vorgefundene, positiv konstatierbare Wirk lichkeit als einzig wahre Realität behaupten. Die Kritische Theorie sieht sich gleichsam in der Mitte zwischen diesen beiden Extremen. In |A 50|deren kritischer Vermittlung liegt nach ihrem Begreifen die Möglichkeit zur Überwindung und Aufhebung vereinseitigender Welt- und Wissenschaftsverständnisse. Ihre Kritik wendet sich jedoch nicht nur dagegen, sondern auch gegen die den beiden Betrachtungsweisen innewohnende Tendenz zur Verabsolutierung bestehender Verhältnisse, angelegt in ihrer Suche nach einer universal und ewig gültigen Wahrheit, die sich von der konkreten historischen Situation unberührt wähnt.
[V46:346] An der heute vorherrschenden
modernen
empirisch-analytischen Wissenschaft kritisiert Horkheimer
  • [V46:347] die theoretische Vernachlässigung von Genesis und Wirkung (Entstehungs- und Verwertungszusammenhang) wissenschaftlicher Erkenntnis. Dagegen will die Kritische Theorie die sich blind durchsetzende wechselseitige Abhängigkeit von Therapieproduktion und gesellschaftlicher Entwicklung, von unerkannter Parteilichkeit der Theorie und theoretisch nicht reflektierter Anwendung ihrer Ergebnisse durchbrechen;
  • [V46:348] die fachspezifische Bornierung der Forschungstätigkeit und die damit verbundene Herauslösung der Untersuchungsgegenstände aus ihrem Realzusammenhang. Ohne die Berechtigung fachwissenschaftlichen Vorgehens grundsätzlich zu bestreiten, will die Kritische Theorie die Partikularisierung der Erkenntnis und die Isolierung der Erkenntnisgegenstände in der Reflexion des beiden gemeinsamen geschichtlich-gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs aufheben;
  • [V46:349] die Verselbständigung der wissenschaftlichen Methode von ihrem Gegenstand und deren Vereinheitlichung nach dem Muster naturwissenschaftlichen Vorgehens. Demgegenüber fordert die Kritische Theorie, |A 51|daß die Methoden der Gesellschaftswissenschaften dem praktisch-geschichtlichen Charakter ihrer Erkenntnisgegenstände entsprechen.
  • [V46:350] das Postulat der Wertfreiheit von Wissenschaft. Aus der Einsicht in die unausweichliche Interessengebundenheit von menschlicher Erkenntnis erhebt die Kritische Theorie die Begründung gesellschaftlicher Parteinahme zum Gegenstand ihrer theoretischen Reflexion.
|A 52|

1.3.1 Interesse und Vernunft

[V46:351] Wenn es für die Kritische Theorie der Gesellschaft etwas Elementares gibt, dann ist es die Sehnsucht der Menschen nach Glück und Freiheit. Die Sehnsucht nach einem glücklichen Dasein geht hervor aus der universalen Erfahrung von Leid und Unterdrückung und bedarf nach der Überzeugung der Kritischen Theorie keiner weiteren theoretischen Legitimation. Das Bild, das sich die Menschen vom Glück machen, die konkrete Erfüllungsvorstellung, verwandelt sich allerdings im Laufe der Geschichte. In der Kritischen Theorie wird es deshalb
[V46:352]
nicht als
Urbild
hingestellt, sondern von seinen Trägern selbst als durch die gegenwärtigen Verhältnisse bedingte, mit ihnen selbst vergängliche Zielvorstellung aufgefaßt.

(Horkheimer: Kritische Theorie, Bd. 1, S. 210 – im folgenden abgekürzt: KT I/II)
.
[V46:353] Die konkrete Vorstellung von einem glücklicheren Dasein entsteht und vergeht mit der historischen Konstellation, zu der sie gehört.
[V46:354] Die christliche Religion z.B. hat lange Zeit das Glück als menschliche Möglichkeit aus der geschichtlichen Welt verbannt und in die unbewegte Ewigkeit jenseitiger Paradiese projiziert. Die bürgerliche Emanzipation dagegen hat Glück zum herstellbaren Resultat diesseitiger gesellschaftlicher Organisation und Praxis erhoben. Freiheit, Gleichheit, Solidarität und Genuß für alle – das ist das Glücksversprechen der bürgerlichen Epoche und an diesem bilden sich dann in erster Linie die Vorstellungen der Menschen von einem er füllten Leben.
|A 53|
[V46:355] Aber ihr Glücksversprechen hat die bürgerliche Gesellschaft nicht eingelöst. Ihr Ideal einer Gemeinschaft freier und gleicher Bürger trat in Widerspruch zur gesellschaftlichen Wirklichkeit. Die Kritische Theorie hat in der Nachfolge von Karl Marx diesen Widerspruch aufgegriffen und zum Gegenstand ihres Nachdenkens gemacht. Unversöhnlich weist sie in der historischen Analyse nach, daß zwischen dem realen Zustand der bürgerlichen Gesellschaft und dem glückverheißenden Begriff, den diese von sich selber hat, ein Gegensatz besteht, der im Rahmen ihrer kapitalistischen Organisationsform nicht aufgehoben werden kann. Die Aufhebung dieses Gegensatzes aber ist das Interesse, wie schon der Marx’schen so auch der Kritischen Theorie. Sie hält deshalb der bürgerlichen
Idee einer vernünftigen, der Allgemeinheit entsprechenden gesellschaftlichen Organisation
(KT I, 162)
gerade dann die Treue, wenn sie die umwälzende Realität fordert. In dem, was sie überwinden will, ist die Kritische Theorie konkret, in dem, was sie erreichen will, notwendig abstrakt, weil es den Erfahrungshorizont der Vergangenheit und Gegenwart überschreitet. Wie das Glück aussehen soll, an dem sie sich orientiert, kann die Theorie nur ex negativo sagen: in der Kritik der bestehenden Verhältnisse.
[V46:356]
Das Ziel, das sie erreichen will, der vernünftige Zustand, gründet zwar in der Not der Gegenwart. Mit dieser Norm ist jedoch das Bild ihrer Beseitigung nicht schon gegeben. Die Theorie, die es entwirft, arbeitet nicht im Dienst einer vorhandenen Realität, sie spricht nur ihr Geheimnis aus.

(KT II, 165)
.
[V46:357] Erst in dem praktisch-geschichtlichen Kampf um die Veränderung bestehender Lebensbedingungen konkretisiert sich die Idee einer zukünftigen besseren Gesellschaft.
|A 54|

1.3.2. Theorie und Praxis

[V46:358] Die
traditionelle
, d.h. die moderne, bürgerliche Wissenschaft neigt dahin, das Theorie-Praxis-Problem als das der Anwendbarkeit und Nützlichkeit der Theorie für die Praxis zu sehen – besonders da, wo es sich um eine
praxisorientierte
Wissenschaft wie die von der Erziehung handelt. Sie entwirft ihre Theorien als gedankliche Instrumente zur Beherrschung natürlicher, ökonomischer, sozialer und psychischer Vorgänge. Im (Labor-)Experiment – orientiert an dem Zweck der Vorhersagbarkeit von Ereignissen – findet dieses
instrumentelle Interesse
seinen idealen wissenschaftspraktischen Ausdruck.
Praxis
ist dieser Auffassung nach eins mit der technischen Manipulation von Wirklichkeitsfaktoren zur Erreichung vorgegebener Zwecke.
[V46:359] So wird auch in der universitären erziehungswissenschaftlichen Ausbildung der Wert von Theorien häufig danach bemessen, ob sie als intellektuelles Handwerkszeug bei der Meisterung
praktischer
Probleme dienlich sind oder nicht, ob sie sich, mit anderen Worten, als Technik verwenden lassen.
[V46:360] Von einer Beschränkung des Erkenntnisinteresses auf derart unmittelbare
Praxisrelevanz
als Gütezeichen der Theorie setzt sich die Kritische Theorie entschieden ab. Ihrem eigenen Begriff von Kritik widerspräche es, wollte sie Rezepte fürs tägliche Geschäft, und sei es das scheinbar unschuldige der Erziehung, formulieren und der praktischen Erprobung zuführen. (
Kritische
Experimente – wie z.B. das Happening – dienen darum nicht der Ermittlung und Beherrschung invarianter sachlicher Abhängigheitsverhältnisse, sondern sie folgen dem Interesse an der Stimulierung spontanen, selbstbestimmten Verhaltens. Kritisches Denken läuft nicht
auf irgendeinen |A 55|deutlich zu umreißenden Konsum hinaus
(KT II, S. 166 bzw. Horkheimer, Traditionelle und Kritische Theorie, S. 36)
. Im folgenden wird nach der letzteren Ausgabe – abgekürzt: TKT – zitiert
[V46:361] Denn es
... ist nicht nur darauf gerichtet, irgendwelche Mißstände abzustellen, diese erscheinen ihm vielmehr als notwendig mit der ganzen Einrichtung des Geselslchaftsbaus verknüpft. Wenngleich es aus der gesellschaftlichen Struktur hervorgeht, so ist es doch weder seiner bewußten Absicht noch seiner objektiven Bedeutung nach darauf bezogen, daß irgendetwas in dieser Struktur besser funktionierte. Die Kategorien des Besseren, Nützlichen, Zweckmäßigen, Produktiven, Wertvollen, wie sie in dieser Ordnung gelten, sind ihm vielmehr selbst verdächtig und keineswegs außerwissenschaftliche Voraussetzungen, mit denen es nichts zu schaffen hat.

(TKT, S. 27)
[V46:362] Insofern die Kritische Theorie auch in partikularen Erscheinungen noch das gesellschaftliche Ganze, daß diese bestimmt, zum Gegenstand hat, kann sie die herkömmlichen Forderungen an praktisch verwertbare Theorie nicht erfüllen. Sie gibt nicht an, welche Mittel zur Erreichung gegebener, wohl definierter Ziele zu verwenden seien, weil jede partikulare Zwecksetzung und Mittelwahl innerhalb der unverändert belassenen gesellschaftlichen Struktur an deren Reproduktion notwendig teilhat. Die Ziele, die die Kritische Theorie im Auge hat, entziehen sich darum dem Postulat vorgängiger Operationalisierung – sie lassen sich allein negativ, durch Kritik des durch Ausbeutung, Unterdrückung, Entfremdung be stimmten Lebens der Gesellschaft formulieren. Ein gesellschaftlicher Zustand, in dem aus der kritischen – d.h. an Vernunft, Freiheit und Glückinteressierten – Theorie der Gesellschaft Anweisungen für das richtige Alltagshandeln sich |A 56|bündig ableiten ließen, hätte – mit Marx zu reden – die Philosophie bereits verwirklicht; der Widerspruch zwischen aktuellem Zustand und menschheitlicher Möglichkeit wäre schon überwunden und die als Kritik konzipierte Theorie wäre in ihrem veränderten Objekt, der dann befreiten Gesellschaft, praktisch aufgehoben. Das damit aufgeworfene Problem wird in der frühen Kritischen Theorie unter den drei folgenden Aspekten diskutiert:
  1. 1.
    [V46:363] dem Aspekt der Erkenntnistheorie
  2. 2.
    [V46:364] dem Aspekt der Gesellschaftskritik
  3. 3.
    [V46:365] dem Aspekt revolutionärer Praxis.
|A 57|

1.3.2.1. Erkenntnistheoretischer Aspekt

[V46:366]
Dieselbe Welt, die für den einzelnen etwas an sich Vorhandenes ist, das er aufnehmen muß und berücksichtigt, ist in der Gestalt, wie sie da ist und fortbesteht, ebensosehr Produkt der allgemein gesellschaftlichen Praxis ... Die Tatsachen, welche die Sinne uns zuführen, sind in doppelter Weise gesellschaftlich präformiert: durch den geschichtlichen Charakter des wahrgenommenen Gegenstandes und den geschichtlichen Charakter des wahrnehmenden Organs
.
(TKT, S. 21 f.)
[V46:367] Horkheimer’s Sätze formulieren in gedrängter Form eine fundamentale Kritik unseres alltäglichen Denkens und unserer alltäglichen Erfahrung. Machen wir sie uns zu eigen, setzt sie uns, zunächst intellektuell, in ein verändertes Verhältnis zur gesellschaftlichen Praxis. Dies wird im folgenden ersichtlich werden.
[V46:368] Die Wahrnehmungen und das Denken der Menschen richten sich auf einen in geschichtlicher Praxis gebildeten, d.h. von Menschen produzierten Gegen stand. Die Welt, wie sie uns erscheint, ist bearbeitete Welt: Nichts von dem, was wir sehen, fühlen, hören, riechen und schmecken, ist frei von Spuren menschlicher Arbeit, und wo dies doch so scheint, etwa bei der Wahrnehmung entfernter Gestirne, gehört die Differenz zwischen bearbeiteter und unbearbeiteter Natur untilgbar zur Wahrnehmung des
Natürlichen
selber hinzu.
[V46:369] Aber nicht nur der Gegenstand, das Erkenntnis objekt, sondern gleichermaßen die
Instrumente
unseres Denkens und Wahrnehmens sind Resultate menschlicher Aktivität. Die spezifische Zurichtung unserer Sinnesorgane, die unterschiedliche Gerichtetheit, schließlich die Begriffe und Regeln, nach denen wir die Welt denkend ordnen und nachzukonstruieren suchen, spiegeln die im kollektiven Kampf um das Überleben |A 58|akkumulierten und veränderten geschichtlichen Erfahrungen. Die Auseinandersetzung mit der Natur und deren zunehmende Beherrschung durch die Steigerung der produktiven menschlichen Kräfte, die Formen der Arbeitsteilung und Kooperation, Elend und Hoffnung auf heraufkommende Möglichkeiten, Klassenherrschaft und Klassenkämpfe schlagen sich in dieser Erfahrung und damit in der das Denken und die Wahrnehmung strukturierenden Ordnung nieder, in der wir die Welt begreifen.
[V46:370] Für unser alltägliches Denken ist eine Wandtafel eine Wandtafel , ein Brief ein Brief, eine Universität eine Universität, ein Verbrechen ein Verbrechen. Solange wir uns daran halten, d.h. solange wir die
Tatsachen
durch unser Verhalten fraglos als
Gegebenes
bestätigen, können wir als Subjekte mit diesen Dingen (Objekten) umgehen, wir können uns – wie wir vielleicht sagen –
ihnen gemäß
verhalten. Darin liegt der pragmatische Vorteil dieser Sichtweise. Daß wir diesen alltagspragmatischen Vorteil aber aus der spezifischen Blindheit gegenüber der doppelten gesellschaftlichen Präformierung der Tatsachen ziehen, das ist die These der Kritischen Theorie.
|A 59|

Übungsaufgabe

  1. 1.
    [V46:371] Versuchen Sie an den genannten oder beliebigen anderen Tatsachen Ihrer Erfahrung, sich deren gesellschaftliche Produziertheit bewußt zu machen!
  2. 2.
    [V46:372] Folgen Sie dabei der von Horkheimer vorgenommenen analytischen Trennung zwischen wahrgenommenem Gegenstand und wahrnehmendem Organ: Notieren Sie Ihre Einfälle nachfolgend entsprechend dieser Aufteilung!
  3. |A 60|
  4. 3.
    [V46:373] Versuchen Sie sich aber schließlich bewußt zu machen, daß die beiden Seiten der Tatsachenproduktion in Wirklichkeit nicht voneinander zu trennen sind; denn wir können vom wahrgenommenen Gegenstand uns eben auf Grund von Wahrnehmungen eine Vorstellung zu machen.
|A 61|
[V46:374] Dem Alltagsdenken ist dies alles nicht gegenwärtig – die Reflexion auf die geschichtspraktische Konstitution seiner selbst wie seiner Objekte gehört ihm nicht zu. Die Dinge sind ihm vielmehr, was sie scheinen: nämlich objektiv gegeben. In diesem
Objektivismus
folgt ihm die
traditionelle Theorie
und Empirie. Jener Schein verhüllt jedoch, daß die Tatsachen, indem sie aus der gesellschaftlichen Praxis hervorgehen, immer schon subjektiv bestimmt sind: Sie sind zum einen Resultate gegenständlicher Tätigkeit – und sie sind zum anderen dem Denken und der Wahrnehmung allein kraft gesellschaftlich formierter (sozialisierter) Sinnesorgane und in Begriffen zugänglich, die sich in der Praxis gesellschaftlicher Reproduktion immer aufs Neue bewähren und entwickeln müssen.
[V46:375] Für die Kritische Theorie steht die geschichtlich-gesellschaftliche Welt als das Erkenntnisobjekt der Wissenschaft dieser nicht bloß gegenüber – hier der Begriff, die Theorie, das wahrnehmende Organ; dort der Gegenstand, die Realität. Weder läßt sie eine Auffassung gelten, nach der die Wirklichkeit ihre Ordnung nur nach Maßgabe der Kategorien des denkenden Subjekts erhalte, noch akzeptiert sie die entgegengesetzte, daß daß sich in der Erkenntnis die sinnlich wahrnehmbare Welt unabhängig von der konstruktiven Aktivität des erkennenden Subjekts einfach abbilde.
[V46:376] Vielmehr haben Subjekt und Objekt darin ihren Zusammenhang, daß sie beide Momente des geschichtlichen Prozesses sind, in dem die Menschen ihr Leben und damit die Verhältnisse, in denen sie zueinander und zur Natur stehen, produzieren und reproduzieren.
|A 62|
[V46:377] Daß diese Einheit von Subjekt und Objekt sich dem Alltagsbewußtsein entzieht, das wird bestärkt und befestigt durch die Teilung der Ar beit. Die Arbeitsteilung – innerhalb der Familie, nach Produktionszweigen, nach Stadt und Land, nach Hand- und Kopfarbeit, schließlich in ihrer äußersten kapitalistischen Form, in der Abtrennung des individuellen Arbeitsvermögens von den Produduktionsmitteln – läßt dem denkenden Subjekt in der bürgerlichen Gesellschaft (und damit auch in seiner Theorie) die Welt als übermächtig erscheinen, als eine Welt, deren Strukturen und Gesetzen es passiv unterliegt.
[V46:378]
Die gesamte wahrnehmbare Welt, wie sie für das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft vorhanden ist und in der damit in Wechselwirkung stehenden traditionellen Weltauffassung interpretiert wird, gilt ihrem Subjekt als Inbegriff von Faktizitäten, sie ist da und muß hingenommen werden. Das ordnende Denken jedes einzelnen gehört mit zu den gesellschaftlichen Reaktionen, die dahin tendieren, sich in einer den Bedürfnissen möglichst entsprechenden Weise anzupassen.
(TKT, S. 21)
[V46:379] Das einzelne Subjekt kann, sofern es die in den gegebenen Verhältnissen herrschenden Gesetzmäßigkeiten erkennt und anerkennt, einzelne Elemente dieser Welt zu seinem Vorteil manipulieren; die Gesetzmäßigkeiten selber entziehen sich seiner verändernden Aktivität.
|A 63|

1.3.2.2. Gesellschaftskritischer Aspekt

[V46:380] Aus der Sichtweise der Kritischen Theorie folgt, daß Subjekt, Theorie und Objekt nicht in einem überzeitlich konstanten Verhältnis zueinander stehen können, sondern daß ihre jeweilige Konstellation wie ihre je eigene Qualität veränderliche Momente eines sich verändernden geschichtlich-gesellschaftlichen Ganzen sind. Die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsorganisation ist von dem Widerspruch durchherrscht, daß sie mehr als jede vorangegangene Gesellschaftformation sich von dem unmittelbaren Naturzwang befreit hat, also Produkt menschlicher Arbeit ist und dennoch auf ihre Produzenten als eine äußerliche, fremde Macht einwirkt, der sich zu fügen bei Strafe des sozialen Untergangs geboten ist. Angesichts dieses Widerspruchs wäre eine nur
verstehende
Erkenntniskonzeption ebenso unangemessen wie eine nur
erklärende
: Eine
verstehende
Konzeption des Sozialen müßte die Ein heit des gesellschaftlichen Subjekts und seiner Objektivationen prinzipiell als gegeben voraussetzen; Aufgabe der Theorie wäre die Auslegung des
Geistes
, des
Sinns
oder des
seelischen Zusammenhangs
, welcher die Subjekte in ihren ökonomischen und kulturellen Hervorbringungen bestimmte.
[V46:381] Eine
erklärende
Konzeption hingegen würde die verabsolutierende Trennung des Subjekts von einem Objekt, des Denkens von der Gegenstandswelt (s.o.) als universale Notwendigkeit unter stellen; Aufgabe der Wissenschaft wäre es, diejenigen invarianten Gesetzmäßigkeiten aufzudecken, nach denen die individuellen und gesellschaftlichen Lebensprozesse ablaufen und sich erklären lassen sollen.
|A 64|
[V46:382] Daß beide Konzeptionen, jede auf ihre Weise, der
Verklärung
(Hegel) des Bestehenden dienen, hat Horkheimer in den frühen Schriften immer wieder herausgearbeitet.
Verklärung
heißt: die Verhältnisse können bleiben, wie sie sind; es besteht keine Notwendigkeit, sie zu ändern. Ob nun die Theorie, wie in der Hegel’schen Philosophie, Vernunft und Wirklichkeit als versöhnte vorstellt anstatt diese Versöhnung als Aufgabe revolutionärer Praxis zu begreifen; oder ob mit den Geisteswissenschaften der Anspruch praktischer Vernunft aufgegeben und in den historisch sich wandelnden kulturellen Gestaltungen lediglich wechselnde Ausdrucksformen ein und derselben Menschennatur gesehen werden – solch verstehende Betrachtungsweise gibt keine Grundlage für Kritik, die eine fundamentale Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse als legitim und notwendig erscheinen lassen könnte. Denken dieser Art ist darum ebenso
affirmativ
, wie die an der modernen Naturwissenschaft orientierte, auf
Erklärung
abzielende objektivistische Konzeption. Denn mit ihrer scheinbar sachlichen Nüchternheit und Gleichgültigkeit, in der sie alle Erscheinungen, auch der Gesellschaft als Wirkungen objektiver Gesetzmäßigkeiten zu erklären sucht, reproduziert sie in der Theorie unbewußt die Mechanismen einer bewußtlosen, entfremdeten Praxis. Schon die Form traditioneller Theorie – ein hypothetisch-deduktives System raumzeitlich unabhängiger allgemeiner Aussagen – setzt darauf, daß an dieser Verfassung der Wirklichkeit sich auch künftig nichts ändere. In dieser implizierten Erwartung liegt die Parteinahme traditioneller Theorie.
[V46:383] Trotz dieser Parteilichkeit ist die traditionelle, objektivistisch erklärende Theorie nicht schlechterdings falsch. Denn daß
die bisherige |A 65|Geschichte ... nicht eigentlich verstanden werden
(TKT, S. 28)
(kann) – weil sie weniger dem bewußten kollektiven Willen ihrer Produzenten als objektiven Gesetzmäßigkeiten ökonomischer Prozesse gehorcht – ist eine Grundannahme jeder marxistischen und damit auch der Kritischen Theorie. Lapidar formuliert Horkheimer:
Die gegenwärtige Gesellschaftsform ist in der Kritik der politischen Ökonomie erfaßt.
(TKT, I. 263)
. Doch deren geschlossene Gestalt eines sich logisch entwickelnden Sachzusammenhanges bezieht ihre Rechtfertigung nicht – wie die traditionelle Theorie – aus einer allgemeinen Wissenschaftstheorie, sondern aus der geschichtlichen Beschaffenheit ihres konkreten Gegenstandes:
[V46:384]
In der theoretischen Notwendigkeit spiegelt sich die reale Zwangsläufigkeit, mit der in dieser Epoche die Produktion und Reproduktion des menschlichen Lebens vor sich geht, die Selbständigkeit, welche die ökonomischen Mächte den Menschen gegenüber gewonnen haben, die Abhängigkeit aller gesellschaftlichen Gruppen von der Eigengesetzlichkeit des wirtschaftlichen Apparates.

(TKT I, 263)
[V46:385] Doch gerade darin, daß die Geschichte nicht aus den gemeinsamen Intentionen der Menschen verstanden, sondern daß sie – gleich einem Naturgeschehen – aus Gesetzmäßigkeiten erklärt werden muß, die den Subjekten als bestimmende Mächte übergeordnet sind, liegt der Skandal:
[V46:386]
Wenn von Vernunft bestimmtes Handeln zum Menschen gehört, ist die gegebene gesellschaftliche Praxis, welche das Dasein bis in die Einzelheiten formt, unmenschlich, und diese Unmenschlichkeit wirkt auf alles zurück, was sich in der Gesellschaft vollzieht. Der intellektuellen und materiellen Aktivität der Menschen wird immer etwas äußerlich bleiben, nämlich die Natur als Inbegriff der jeweils noch unbeherrschten Faktoren, mit denen die Gesellschaft |A 66|es zu tun hat. Soweit aber dazu als weiteres Stück Natur die einzig von den Menschen selbst abhängenden Verhältnisse, ihre Beziehung bei der Arbeit, der Gang ihrer eigenen Geschichte gehören, ist diese Äußerlichkeit nicht nur keine überhistorische, ewige Kategorie – das ist auch bloße Natur im angegebenen Sinn nicht –, sondern das Zeichen einer erbärmlichen Ohnmacht, in die sich zu schicken widermenschlich und widervernünftig ist.

(TKT, S. 30)
[V46:387] Die Kritische Theorie beschränkt sich also nicht auf die Kritik herrschender Erkenntniskonzeptionen durch den Aufweis, daß Erkenntnisgegenstände wie Erkenntnismittel Produkte geschichtlicher Praxis und damit in geschichtlicher Praxis veränderbar sind. Die Kritik greift über auf die Gesellschaft selber.
[V46:388] Wiewohl die Menschheit ihre materiellen und intel lektuellen Kräfte soweit hat steigern und ein solches Maß an Reichtum hat anhäufen können, daß die weitgehende Emanzipation des gesellschaftlichen Lebens aus unwiderstehlichen Naturzwängen als reale Möglichkeit in Erscheinung tritt, reproduziert sich die Gesellschaft nach wie vor unter dem Bann von
Naturgewalten
durch Krisen, Elend und Katastrophen hindurch. In der Konkretisierung dieses Widerspruchs als eines Wesenszuges kapitalistischer Produktionsweise wird die Kritische Theorie zur Kritik der herrschenden Praxis, in der Subjekt und Objekt, Individuum und Gesellschaft, Denken und Handeln auseinanderfallen. Das wechselseitige Bedingungsverhältnis von Theorie und Praxis (ihre
Einheit
, wie es bisweilen mißverständlich heißt) ist deshalb keine Frage der Wissenschaftsauffassung und Wissenschaftspraxis allein; es verweist viel mehr auf einen revolutionären Gesellschaftszustand:
|A 67|
[V46:389]
Das Zusammenwirken der Menschen in der Gesellschaft ist die Existenzweise ihrer Vernunft ...
(TKT, S. 25)
.
[V46:390] Aber:
Die Vernunft kann sich selbst nicht durchsichtig werden, solange die Menschen als Glieder eines vernunftlosen Organismus handeln.
(TKT, S. 28)
[V46:391] Daß die Vernunft sich selber durchsichtig werden, heißt nichts anderes, als daß die Menschen, die ihr Leben schon immer produzierten, das Leben mit Willen und Bewußtsein im Interesse aller pro duzieren. Das wäre
Einheit
von Theorie und Praxis. Subjekt und Objekt veränderten darin aber ihre Konstellation wie ihre Qualität, denn Theorie wird wesentlich zum Selbstbewußtsein einer befreiten Gesellschaft, in der Subjekt und Objekt – soweit dieses gesellschaftlich ist – zusammenfallen. In diesem zugleich utopischen und kritischen Sinn ist Horkheimer’s Satz zu verstehen:
[V46:392]
Im Denken über den Menschen klaffen Subjekt und Objekt auseinander; ihre Identität liegt in der Zukunft und nicht in der Gegenwart.

(TKT, S. 31)
|A 68|

1.3.2.3 Praktisch-Revolutionärer Aspekt

[V46:393]
Das dialektische Denken ... neigt dazu, das Ergebnis seines eigenen Tuns jeweils mehr im Sinn einer gesellschaftlichen Triebkraft als eines ewigen Besitzes zu begreifen. Das Bewußtsein von der eigenen Wahrheit wird dadurch nicht geschmälert; denn das Verhältnis zwischen Dauer, Sicherheit und Wahrheit ist nicht so starr und uniform, wie es dem Dogmatismus auf der einen Seite und der Skepsis auf der anderen scheinen mag.

(KT I, S. 219)
[V46:394] Die frühe Kritische Theorie wurde in der Isolation des New Yorker Exils formuliert. Der Anspruch, zum vorwärtstreibenden Faktor im Prozeß der Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu werden, war durch die Vertreibung aus Deutschland an der praktischen Einlösung weitgehend verhindert und vertagt. So abstrakt die Überlegungen zum Verhältnis zwischen der Kritischen Theorie und der politischen Praxis darum auch sind, sind sie doch integraler Bestandteil des kritisch-revolutionären Denkens von Max Horkheimer, wie es sich in seinen frühen Aufsätzen dokumentiert.
[V46:395] Kritische Theorie und revolutionäre Praxis sind weder unmittelbar eins, noch sind sie derart getrennt, daß theorieimmanent deduziert werden könnte, was praktisch zu tun sei. Die Theorie kann den gesellschaftlichen Veränderungsprozeß nicht als Abfolge und Summe wohldefinierter Einzelschritte – gleichsam als operationales Programm – vorgeben. Denn im Unterschied zur
traditionellen Theorie
, die auf Reproduktion und Variation des Bestehenden abzielt, auf empirische Prozesse also, die ja nur sinnvoll sind, wenn konstante Bedingungen angenommen werden, erweist sich die Wahrheit der Kritischen Theorie erst in der Herstellung vernünftiger Zustände; für diese allerdings wird prognostisch angenommen, |A 69|daß die Überwindung der Klassenherrschaft eine ihrer Bedingungen ist.
[V46:396]
Mit dem Siegel aller logischen Kriterien versehen, entbehrt sie bis ans Ende der Epoche doch der Bestätigung durch den Sieg. Bis dahin währt auch der Kampf um ihre richtige Fassung und Anwendung.

(KT II, 189)
[V46:397] Überhaupt deduziert die Kritische Theorie die Ziele der emanzipierenden Praxis nicht aus einer allgemein und überzeitlich gültigen Theorie. Eine revolutionäre Praxis, die ihr Handeln von der Kenntnis der notwendigen und hinreichenden Bedingung ihres Erfolges abhängig machte, wäre keine.
[V46:398] (Die nicht verstummende Forderung nach einem Bild der künftigen Gesellschaft und der Aufgabe der zu ihr hinführenden Schritte ist so töricht, wie die, zu einer Endeckungsreise nicht eher aufzubrechen, als man das Ziel in Agfacolor sich hat vor Augen führen lassen.)
[V46:399] Insofern die Kritische Theorie mit dem geschichtlichen Charakter aller Erscheinungen ernst macht, bezieht sie sich selber in den Geschichtsprozeß ein, dessen Einfluß auf ihre Struktur
zu ihrem eigenen Lehrbestand
gehört (
TKT, S. 53
).
[V46:400]
Die Theorie ist nur ein Element im geschichtlichen Prozeß, ihre Bedeutung läßt sich jeweils nur im Zusammenhang mit einer umschriebenen geschichtlichen Situation bestimmen.

(KT I, 136)
[V46:401] Entsprechend der 2. Feuerbachthese von Marx wird darum Theorie nicht
über
der Praxis, sondern als deren Moment begriffen:
[V46:402]
Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergißt, daß die |A 70|Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muß. Sie muß daher
– und das wird kritisiert –
die Gesellschaft in zwei Teile – von denen der eine über ihr erhaben ist – sondieren. Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefaßt und rational verstanden werden.
[V46:403] In organisierter revolutionärer Praxis verschmilzt
der Wille zu einer freieren Menschheit mit der expliziten und höchst entwickelten Theorie der Gesellschaft
(KT I , 217)
. Der Wille zur Veränderung aber kann sich in der Theorie zwar klären und aus ihr Bestätigung ziehen – motiviert werden kann er aus ihr allein nicht.
In die Zielvorstellungen der Menschen gehen vielmehr ihre jeweiligen Bedürfnisse ein, die keine Schau zum Grunde, sondern eher die Not zur Ursache haben.
(KT I, 206)
[V46:404] Mit anderen Worten: Die Theorie kann nach Horkheimer’s Überzeugung ihre
Triebkraft
nur auf der Grundlage der gesellschaftlichen Elendserfahrung und Hoffnung derjenigen freisetzen, die die Träger sowohl der bestehenden Gesellschaft wie ihrer Transformation sind. Das bedeutet, daß der aus gesellschaftlicher Erfahrung und Hoffnung auf eine bessere Zukunft gespeiste Wille das kritische Denken etwa nicht überflüssig, sondern erst sinnvoll macht.
[V46:405] Diese
bessere Zukunft
, die Herstellung einer befreiten Gesellschaft, sei – so Auffassung der Kritischen Theorie – weder allein vom Willen der Menschen abhängig, noch sei ein teleologisches Vertrauen darauf gerechtfertigt, daß der Sozialismus mit
objektiver Notwendigkeit
aus dem ebenso objektiv notwendigen Zusammenbruch des Kapitalismus hervorgehen werde. Notwendig ist der |A 71|Sozialismus nur "im Sinne von Ereignissen, die man erzwingen kann, insoweit die bestehende Gesellschaftsordnung die dafür notwendigen Bedingungen und Tendenzen aus sich selbst hervortreibt.
[V46:406] Zwar ist Horkheimer mit Marx und Engels der Überzeugung, daß noch am ehesten das Proletariat auf grund seiner Situation das Interesse an der Überwindung kapitalistischer Verhältnisse ausbilde. Doch garantiert dies nicht die richtige Erkenntnis. Soll Kritische Theorie ihrem Anspruch gerecht werden,
die intellektuelle Seite des historischen Prozesses seiner (des Proletariats) Emanzipation
zu sein
(TKT. S. 34)
, so muß sie sich verbieten, bloß die Gefühle und Vorstellungen dieser Klasse – oder auch einer Partei – zu formulieren. Das bittere eigene Erleben,
daß gerade das aktuellste, die geschichtliche Situation am tiefsten erfassende, zukunftsreichste Denken in bestimmten Perioden es mit sich bringt, seinen Träger zu isolieren und auf sich selbst zu stellen
(TKT, S. 34)
, hat die frühe Kritische Theorie sicher ebenso dazu bestimmt, an der Differenz zwischen Theorie und Praxis unnachgiebig festzuhalten, wie die Erfahrung der intellektuellen Korrumpierung weiter Teile der sozialistischen Bewegung durch Reformismus auf der einen, Dogmatismus auf der anderen Seite.
[V46:407]
Wird ... der Theoretiker und seine ihm spezi fische Aktivität mit der beherrschten Klasse als dynamische Einheit gesehen, so daß seine Darstellung der gesellschaftlichen Widersprüche nicht allein als ein Ausdruck der konkreten historischen Situation, sondern ebensosehr als stimulierender verändernder Faktor in ihr erscheint, dann tritt seine Funktion hervor. Der Gang der Auseinandersetzung zwischen den fortgeschrittenen Teilen der Klasse und den Individuen, welche die Wahrheit über sie aus|A 72|sprechen, ferner die Auseinandersetzung zwischen diesen fortgeschrittensten Teilen mitsamt ihren Theoretikern und der übrigen Klasse ist als ein Prozeß von Wechselwirkungen zu verstehen, bei dem das Bewußtsein mit seinen befreienden zu gleich seine antreibenden, disziplinierenden, aggressiven Kräfte entfaltet. Seine Schärfe zeigt sich in der stets gegebenen Möglichkeit der Spannung zwischen dem Theoretiker und der Klasse, der sein Denken gilt.

(TKT, S. 34)
[V46:408] Seine Kritik hätte schließlich darüber zu wachen, daß die antizipatorischen Momente der kritischen Praxis, die der leitenden Idee einer freien Gesellschaft entspringen, nicht liquidiert werden (darin zeigt sich, daß die Kritische Theorie eine Form praktischer Philosophie, als ethische Reflexion, sein will). Sofern sie ihrer Intention treu bleibt, kann nämlich
in der Organisation und Gemeinschaft der Kämpfenden ... trotz aller Disziplin, die Notwendigkeit, sich durchzusetzen, begründet ist, etwas von der Freiheit und Spontaneität der Zukunft
(TKT, S. 36)
erscheinen.

Lektüreaufgabe 1

[V46:409] Lesen Sie zum vorstehenden Studientext den Aufsatz von Max Horkheimer: Traditionelle und Kritische Theorie, im gleichnamigen Taschenbuch (Fischer-Verlag) oder in: Kritische Theorie, Bd. II. (vgl. Literaturverzeichnis). Lektüre-Minimum sind die Seiten 27 – 42 (im Taschenbuch) bzw. 155 – 173 (Kritische Theorie II).
|A 73|

4.1. Ästhetische Theorie

[V46:467] In einem frühen Aufsatz von 1932 vergleicht Adorno die Aufgabe der Musik und mit ihr die der Kunst insgesamt mit der Kritischen Theorie:
[V46:468]
Heute und hier vermag Musik nichts anderes als in ihrer eigenen Struktur die gesellschaftlichen Antinomien darzustelllen, die auch an ihrer Isolation Schuld tragen. Sie wird um so besser sein, je tiefer sie in ihrer Gestalt die Macht jener Widersprüche und die Notwendigkeit ihrer gesellschaftlichen Überwindung auszuformen vermag; je reiner sie, in den Antinomien ihrer eigenen Formensprache, die Not des gesellschaftlichen Zustandes ausspricht und in der Chiffrenschrift des Leidens zur Veränderung aufruft. Ihr frommt es nicht, in ratlosem Entsetzen auf die Gesellschaft hinzustarren: sie erfüllt ihre gesellschaftliche Funktion genauer, wenn sie in ihrem eigenen Material und nach ihren eigenen Formgesetzen die gesellschaftlichen Probleme zur Darstellung bringt, welche sie bis in die innersten Zellen ihrer Technik in sich enthält. Die Aufgabe der Musik als Kunst tritt damit in gewisse Analogie zu der der gesellschaftlichen Theorie.

(Th. W. Adorno, Zur gesellschaftlichen Lage der Musik, in: Zeitschrift für Sozialforschung 1 (1932), S. 105)
[V46:469] Diese Stelle war Adorno so wichtig, daß er sie 30 Jahre später in seiner
Einleitung zur Musiksoziologie
wieder zitiert. Die vorsichtig ange deutete
gewisse Analogie
zwischen der künstlerischen und der theoretischen Tätigkeit ist ein durchgehendes Motiv in Adorno’s Denken, In seinen ästhetischen Schriften darf deshalb zumindest indirekt noch einmal Aufschluß darüber erwartet werden, was das ist: Kritische Theorie der Gesellschaft. Aber noch aus einem anderen Grund scheint es uns sinnvoll, im Rahmen dieser Studieneinheit die ästhetische Theorie zur Kenntnis zu nehmen: Seit mit dem Begriff
Bildung
ein Kernbestand derjenigen Problematik, mit der die Pädagogik sich befaßt, benannt wird, wurde immer wieder, jedenfalls versuchsweise, die Tätigkeit |A 74|des praktischen Pädagogen mit der des Künstlers (zumal des
bildenden
) verglichen. Es ist mindestens interessant zu fragen, ob die
Kritische Theorie der Ästhetik
einen solchen Vergleich zuläßt und in welchem Sinne er vorgenommen werden könnte.
[V46:470] Die künstlerische Tätigkeit ist für Adorno sowenig wie die theoretische ein bloß sich selbst genügendes Geschehen.
Reine Kunst
, wie sie Kandinsky gefordert hat, ohne jeden Zusammenhang mit der Gesellschaft , ist schon deshalb nicht denkbar, weil der Künstler als empirisches Subjekt Mitglied derselben, weil das Material, dessen er sich in seiner ästhetischen Produktion bedient, seinerseits ein gesellschaftlich produziertes ist .
[V46:471] "Die historisch konkreten, vom Inbegriff der Gesellschaft ihrer Zeit wiederum geformten Subjekte, von deren Fähigkeiten die materielle Gestalt der Produktion jeweils abhängt, sind nicht absolut andere als die, welche Kunstwerke verfertigen ... [V46:472] Ihre Arbeit, selbst die dem eigenen Bewußtsein nach individuellste des Künstlers ist stets
gesellschaftliche Arbeit

(Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie, Frankfurt a.M. 1975, S. 249).
[V46:473] Aber wie wenig die ästhetische von der gesellschaftlichen Produktionsweise getrennt werden darf, sie ist dennoch nicht mit ihr identisch. Wer etwa unter der Parole
Kunst = Leben
die Differenz zwischen ästhetischer und gesellschaftlicher Produktion leugnet, vernichtet die Besonderheit der Kunst und subsummiert sie dem herrschenden Entfremdungszusammenhang.
[V46:474] Kunst ist also sowenig bloß Bestandteil des Be stehenden wie autonom. Ihre Besonderheit gegenüber der gesellschaflichen Wirklichkeit ist aber |A 75|auch nicht die eines Spiegels.
[V46:475]
Die Gesellschaft setzt sich nicht, wie die verhärtete Doktrin des Diamat ihren Untertanen einbläut, direkt handfest, nach dem Jargon jener Doktrin: realistisch in den Kunstwerken sich fort, wird nicht geradewegs sichtbar in ihnen.

(Einleitung in die Musiksoziologie, S. 214)
.
[V46:476] Kunst läßt sich weder linear aus etwas anderem herleiten, das ihr vorausgeht und das sie nur
wiederspiegelt
oder
transportiert
, noch ruht sie genügsam in sich selbst. Sie wird vielmehr als Kritik realisiert. Sie geht weder restlos auf in den ihr heteronomen Funktionszusammenhängen noch kann sie sich davon befreien. Sie bedarf des ihr Fremden, sonst hat sie keinen Angriffspunkt und läuft in sich leer. Sie ist abhängig von dem, was sie verneint. Maß der gesellschaftlichen Wahrheit der Kunst heute ist, daß sie
in Gegensatz tritt zu der Gesellschaft, in der sie entspringt, und in der sie steht: daß sie selber in einem wie immer auch vermittelten Sinn
kritisch
wird
. (Th. W. Adorno, Klangfiguren, Frankf. 1959, S. 29).
[V46:477] Als Kritik bricht die ästhetische Praxis die Zeichen unseres Alltags aus ihrem konventionellen Zusammenhang, ihren eingeschliffenen codes, und arrangiert sie uno actu auf eine neue und völlig ungewohnte Weise. Nichts ist in der Kunst, auch nicht in der sublimiertesten, was nicht aus der Welt stammte, aber nichts davon ist unverwandelt. Alles, womit der Künstler umgeht, ist schon da. Nur wird es von ihm wie mit einem Magneten abgelenkt von seiner gewohnten Bahn,
verfremdet
, und in eine neue Konstellation gebracht. So macht die Destruktion des Bekannten den Blick frei für bisher Ungesehenes.
|A 76|
[V46:478] Der neue Zusammenhang entsteht weder durch geduldige und kumulative Aneinanderreihung der verschiedenen Elemente noch durch ihre wechselseitige Nivellierung. Um die verschiedenen Elemente des tradierten Zusammenhanges an einer neuen Einheit zu verschmelzen, ist ihre Reduktion aufeinander so untauglich wie ihre Summierung. Im letzten Falle entsteht ein Potpourri mit willkürlichen und schematischen Verknüpfungen, im ersten ein trüber differenzloser Brei mit unausgeführten und flachen Details. Der neue Zusammenhang als ein entfaltetes System durchsichtiger und notwendiger Beziehungen entsteht vielmehr durch eine Prozedur, die Adorno, wie vor ihm Eisenstein, die Dadaisten und und Surrealisten (z.B. Max Ernst) als
Montage
beschrieben hat. Durch Montage werden die einzelnen Elemente nicht addiert oder reduziert, sondern viel mehr einander entgegengesetzt und durch die festgehaltene Differenz hindurch ihr verborgener Zusammenhang sichtbar gemacht. Montage ist eine Technik der Kontrapunktion. Durch sie versucht der Künstler die Einzelelemente syntaktisch zusammenzufügen, und eben dadurch werden sie bedeutungsvoll (Die moderne Musik, z.B. Berio und Cage, gibt dafür viele Beispiele).
[V46:479] Im Wie der Komponier- oder Malweise können unvergleichlich viel mehr Erfahrungen sich niederschlagen als in treuen Portraits von Generalen oder Revolutionshelden. Nach einem Wort von Karl Kraus taugt ein gut gemalter Rinnstein mehr als ein schlecht gemalter Palast. Was ein Kunstwerk sagen kann, sagt es durch seine Gestalt, die Konfiguration seiner unterschiedenen Momente. Bei einer gelungenen Montage überläßt sich der
Macher
(= Poeta) nicht seiner Spontaneität.
[V46:480] Was dabei herauskäme, wäre bestenfalls ein marktgängiges Produkt, das sich zwar vom übrigen Ange|A 77|bot unterscheidet und durch seine bizarre Form vielleicht sogar auffällt, aber keinerlei Gewohnheit wirklich verletzt. Ein Gebilde, das spontan montiert wird, hat nicht die Radikalität und innere Stringenz, die es braucht, um die beherrschenden Konventionen und rituellen codes auch im Ernst zu durchbrechen.
[V46:481] Die Montage bloß durch Spontaneität wie die Montage nach einem determinierenden Plan erzeugen keinen wirklich neuen Sinnzusammenhang. In beiden Fällen wird das ohnehin Bekannte reproduziert. Zu einem neuen Sinnzusammenhang gelangt die ästhetische Praxis erst dort, wo sie, nicht anders als die wissenschaftliche Praxis, im Umgang mit vor handenen Materialien, den Zeichen und codes, experimentell verfährt. Indem ein Kunstwerk, das wirklich eines ist, die konventionelle Umklammerung des Daseins sprengt, befreit es die unterdrückten und historisch liegengebliebenen Erfahrungen und holt sie gegen Ritual und Willkür ins Bewußtsein der Menschen zurück. Ästhetische Praxis ist mithin ein Prozeß der Erkenntnis. Je rücksichtsloser sie gegen die Selbstverständlichkeiten der herrschenden Kultur das Verdrängte, das Widerwärtige und Unscheinbare zur Sprache bringt, desto besser ist sie. Die
Avanciertheit
eines Kunstwerkes ist deshalb das einzige Kriterium seiner Güte. Immer wieder zitiert Adorno Rimbaud:
Il faut etrê absolument moderne
.
[V46:482] Für alle, die wie der Künstler selbst aus Ungenügen am Bestehenden das Neue gesucht haben, bedeutet der Augenblick, in dem die disparaten Elemente vor ihren Augen zur Einheit zusammenschießen, einen
Augenblick der Freiheit
(Adorno) und zugleich eine Provokation. Als Skandal (z.B. im Happening) bricht das Kunstwerk in den Alltag |A 78|ein. Durch jede avancierte ästhetische Praxis wird die bisherige Wahrnehmungs- und Handlungsweise der Subjekte und mit ihnen das Vertrauen in die etablierte Art intersubjektiver Verständigung angegriffen. Je radikaler ein ästhetisches Produkt die codes in Frage stellt, je weniger es den zur Gewohnheit gewordenen subjektiven Reaktionsweisen sich anpaßt, desto eher trifft es auf das, was in der Psychoanalyse Widerstand heißt. Adorno, wie die Theoretiker der Frankfurter Schule insgesamt, hat im Widerstand gegen das Neue einen neurotischen Mechanismus bemerkt: den Zwang zur Wiederholung:
[V46:483]
Die Sehnsucht wird ins Vergangene zurückgestaut. Die regredierenden Subjekte benehmen sich wie Kinder. Sie verlangen immer wieder nach der einen Speise, die man ihnen einmal vorgesetzt hat
.
[V46:484]
(Th. W. Adorno, Über den Fetischcharakter in der Mimik und Regression des Hörens, in: Th. W. Adorno: Dissonanzen, Göttigen 1963, S. 34)
[V46:485] Weil Ihnen die Hoffnung auf etwas Besseres ausgetrieben wurde, wehren sie sich voller Angst gegen jede Veränderung, die ihnen auch das Wenige, das sie haben, noch nehmen könnte. Ihr Widerstand ist konservativ. Er sichert ihre eingeschliffenen Produktions- und Kommunikationsweisen. Offen und naiv wird der Widerstand gegen das Neue nur von den Reaktionären ausgesprochen, weil sie real von dem abgeschnitten sind, was sie sein könnten, ergreift sie die Wut, wenn Kunst sie daran erinnert.
[V46:486]
Sie offenbaren, wann immer es ihnen erlaubt wird, den verkniffenen Haß dessen, der eigentlich das andere ahnt, aber es fortschiebt, um ungeschoren leben zu können, und der darum auch am liebsten die mahnende Möglichkeit ausrotten möchte
.
(Dissonanzen S. 29)
|A 79|
[V46:487] Bedeutende Kunstwerke bringen tendenziell alles aus ihrer Zeit zur Bedeutungslosigkeit, was ihren Standard nicht erreicht. Sie, die einmal die Invarianz von Seh- und Hörgewohnheiten, von Stilen aufgebrochen haben, wirken nun selber stilbildend. Sie bewerkstelligen in der Kunst, was in der Wissenschaft
Paradigmenwechsel
genannt wurde. Ein solcher
Wechsel
ist kein unvermittelter Gegenschlag gegen das Vorausgegangene, aber auch nicht bloß dessen stetige Erweiterung, sondern ein umwälzender Prozeß. Er bewahrt und vergegenwärtigt das überlieferte Material, die alten Codes und Zeichen, indem er sie verwandelt, auseinandernimmt und neu arrangiert. Ob ein ästhetisches Ereignis jedoch als
Fortschritt
bezeichnet werden kann, ist prinzipiell riskant. Ob angesichts eines konkreten Kunstwerkes es sinnvoll ist, von Fortschritt zu reden oder ob es nicht eine Veränderung ist, deren Richtung beliebig bleibt, ist mit theoretischer Gewißheit für den Zeitgenossen nicht auszumachen. Ähnlich in der Erziehung: Ob ein Erziehungsprozeß gelungen oder ob die erreichte Selbstbestimmung, Mündigkeit, Emanzipation (oder wie immer der angezielte Zustand des Subjektes bestimmt sein mag) nichts als willkürliche Freisetzung von Beschränkung ist, deren praktische Richtung und Bedeut samkeit nicht gültig beurteilt werden kann, ist vom Erzieher selbst kaum mit Gewißheit entscheidbar. Insofern sind ästhetische Produktionen wie Erziehungsprozesse notwendig
riskante
Unternehmungen.

Lektüreaufgabe 2

[V46:488] Lesen Sie zum vorstehenden Abschnitt des Studientextes die
Thesen gegen die musikpädagogische Musik
von Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, Bd. 14, Frankfurt 1973, S. 437 – 447)
|A 80|

Übungsaufgabe

  1. 1.
    [V46:489] Haben Sie schon einmal – natürlich außerhalb des Karnevals – Ihr Gesicht stark geschminkt, wie z.B. Clowns, Pantomimen oder Schauspieler es häufig machen? Warum haben Sie Hemmungen, dies zu tun?
  2. 2.
    [V46:490] Versuchen Sie einmal, Ihr Gesicht vor dem Spiegel anzumalen, so daß es Ihnen wenig vertraut erscheint. Versuchen Sie, sich über die Empfindungen, die Sie dabei haben, und über die Widerstände, die in Ihnen auftauchen, klar zu werden! Welche besondere Art von Lust bereitet Ihnen das?
  3. 3.
    [V46:491] Stellen Sie sich nun noch vor, daß Sie so geschminkt anderen Personen beliebigen Alters gegenüber treten würden: z.B. Gäste empfangen, Nachbarn besuchen, einkaufen, auf einen Spielplatz gehen, an einem Gottesdienst teilnehmen. Wie, glauben Sie, verändern sich Ihre Lust- und Unlustgefühle, Ihre Widerstände, Ihre Ängste und Erwartungen?
  4. 4.
    [V46:492] Tun Sie es!
|A 81|

Resumée: Fragen an die Pädagogik

[V46:493] In knappen Umrissen haben wir versucht, Grundthesen und -Annahmen der Kritischen Theorie darzustellen, zunächst allerdings noch unter Absehung von der weiteren Entwicklung, die diese Theorie im letzten Jahrzehnt genommen hat. Zum Abschluß dieser Studieneinheit aber soll doch schon die Frage aufgeworfen werden, welche Theoreme der Kritischen Theorie für eine pädagogische Theorie bzw. Erziehungswissenschaft von Bedeutung sein könnten. Wir wollen diese Fragen in der Form von Interpretationshypothesen formulieren, d.h. in der Form von Annahmen darüber, welche Theoreme der Kritischen Theorie in welcher Hinsicht für die Pädagogik von grundsätzlicher Bedeutung sein könnten.
  1. 1.
    [V46:494] Kinder kommen mit einer biologisch beschreibbaren Ausstattung ihres Organismus zur Welt. Andererseits ist ihr Bildungsprozeß sowohl als eine Ausformung dieser Ausstattung wie auch als Lern- und Umlernprozeß bestimmbar. Die Pädagogik drückt diesen Sachverhalt mit dem Begriff
    Bildsamkeit
    aus. Der Kritischen Theorie können wir nun in dieser Sache die Aufforderung entnehmen, die Bildsamkeit, den Weg, den sie durch den Bildungsprozeß des Einzelnen nimmt, als ein Produkt gesellschaftlich-menschlicher Tätigkeit, ja selbst als solche Tätigkeit zu sehen und nicht als Entfaltung einborener Anlagen.
  2. 2.
    [V46:495] Wo die bürgerliche Pädagogik das Erziehungs- und Bildungsziel in seiner allgemeinsten Form zu beschreiben versuchte, sprach sie von der
    Mündigkeit
    . Die Kritische Theorie verlangt hier eine Präzisierung, und zwar in zwei Richtungen: einerseits muß ermittelt werden, was aus der Tatsache folgt, daß
    Mündigkeit
    eine normative Kategorie ist, die historisch der bürgerlichen Gesellschaft zugehört und in dieser |A 82| Historizität ideologiekritisch bedacht werden muß. Andererseits steckt auch in dieser Kategorie, freilich in historisch besonderer Form, eine geschichtspraktische Antizipation, die Idee der Selbstbestimmung des Menschen nämlich, die über die bürgerliche Gesellschaft hinausweist; wo aber liegt der Geltungsgrund für eine Norm, in der Selbstbestimmung und Freiheit von Leid für alle gefordert ist und wie hätte die Pädagogik mit dieser Frage umzugehen?
  3. 3.
    [V46:496] Die Kritische Theorie verlangt vom Wissenschaftler wie vom Bürger überhaupt, daß sie sich zu dem gegebenen historischen Bestand an Institutionen, Werten, Vorstellungen, Gewohnheiten in eine kritische Distanz setzen, d.h. diese nicht als unveränderbare Fakten akzeptieren, sondern sie unter dem Gesichtspunkt ihrer Änderbarkeit betrachten. Für den Erziehungsvorgang nun ist wesentlich, daß das Kind, um sich bilden zu können, mit dem historisch gegebenen kulturellen Bestand vertraut gemacht wird. Wie der Künstler auf das historisch produzierte Material der von ihm verwendeten Medien angewiesen ist, um Neues zu
    montieren
    , so ist das Kind auf die Aneignung jener Kompetenzen angewiesen, die die Beteiligung als Gesellschaftsmitglied überhaupt erst möglich machen. Zugleich aber müßte es – nach den Postulaten der Kritischen Theorie – lernen, sich jenem kulturellen Material gegenüber distanziert zu verhalten, um ihm nicht ideologisch zu verfallen. Ist dieses Problem innerhalb einer pädagogischen Theorie lösbar?
  4. 4.
    [V46:497] Und schließlich: Folgt man den Grundannahmen der Kritischen Theorie, dann muß jede Lebensäußerung als Moment des ganzen gesellschaftlichen Zusammenhanges in einer besonderen geschichtlichen Situation betrachtet werden, im Falle der gegenwärtigen Form der bürgerlichen Gesellschaft besonders als Moment der kapitalistischen Ökonomie. Für die Erziehungswissenschaft sind damit mindestens zwei Fragen aufgeworfen, die sich aus der |A 83|erkenntnistheoretischen Position der Kritischen Theorie ergeben: Was folgt aus der Annahme, daß auch der, der über Erziehung (wissenschaftlich) nachdenkt, durch die Begriffe, Verfahren und
    wahrnehmenden Organe
    an den geschichtlichen Zusammenhang gebunden ist, den er erkennen will und was folgt aus der Annahme, daß auch der Gegenstand des Erkennens – die Erziehung nämlich in allen ihren Ausprägungen – Moment des gleichen Zusammenhanges ist? Was folgt daraus für die Wahl, die der Erziehungswissenschaftler für seine Themen und die Wahl, die er hinsichtlich seiner Methoden zu treffen hätte?