[V47:1] Th.W. Adorno, Aufsätze zur Gesellschaftstheorie und Methodologie,
Frankfurt/M. 1970
[V47:2] Ders., Erziehung nach Auschwitz. In: Adorno: Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt/M. 1975 (4. Aufl.), S. 88 – 104
[V47:3] H. Bokelmann, Erziehungsnormen, in: Wörterbuch der Erziehung, (hrsg. von Christoph Wulf) München 1974, S. 192 – 196
[V47:4] M. Horkheimer, Autorität und Familie in der Gegenwart, in: Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt/M. 1974, S. 269 – 287
[V47:5] Institut für Sozialforschung, Soziologische Exkurse, insbes. Kap. IX (Familie) und Kap. XI
(Vorurteil), Frankfurt/M. S. 116 – 132 und S. 151 – 161
[V47:6] H. Reichelt, Kritische Theorie, in: Wörterbuch der Erziehung (hrsg. von Christoph Wulf) München 1974, S. 353 – 360
II.Grundlegende Literatur (im Text besprochen)
[V47:7] Th.W. Adorno, Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt/M. 1973
[V47:8] E. Fromm, Sozialpsychologischer Teil, in: Studien über Autorität und Familie, Paris 1936, S. 77 – 135
|A 5|
[V47:9] J. Habermas/Friedeburg/Oehler/Weltz, Student und Politik, Neuwied 1961
[V47:10] J. Habermas, Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz, in: Habermas/Luhmann, Theorie der Gesellschaft und Sozialtechnologie, Frankfurt/M. 1974, S. 101 – 141
[V47:11] J. Habermas, Was ist Universalpragmatik? in: Karl-Otto Apel (Hrsg.),
Sprachpragmatik und Philosophie, Frankfurt/M. 1976, S. 174 ff.
[V47:12] M. Horkheimer, Traditionelle und Kritische Theorie, Frankfurt/M. 1975
[V47:13] Ders., Geschichte und Psychologie, in: Kritische Theorie, Bd. I, Frankfurt/M. 1968, S. 9 – 30
[V47:14] Th. Ziehe, Pubertät und Narzißmus. Sind Jugendliche entpolitisiert?
Frankfurt/M. 1975
[V47:17] Ders., Noten zur Literatur, Bd. I
und II, Frankfurt/M. 1958 und
1961
[V47:18] Adorno/Frenkel-Brunswik/Levinson/Sandford, The Authoritarian Personality (Studies in Prejudice, Vol. I)
New York 1950
|A 6|
[V47:19] W. Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt/M. 1963
[V47:20] Bernfeld/Reich/Jurinetz/Sapir/Staljarov, Psychoanalyse und Marxismus, Frankfurt/M. 1970
[V47:21] Ch. Brenner, Grundzüge der Psychoanalyse, Frankfurt/M. 1967
[V47:22] R. Dermitzel, Thesen zur antiautoritären Erziehung, in Kursbuch 17, 1969, S. 179 – 187
[V47:23] S. Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Frankfurt/M. 1977
[V47:24] E. Fromm, Analytische Sozialpsychologie und Gesellschaftstheorie, Frankfurt/M. 1970
[V47:25] J. Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt/M. 1975
[V47:26] Ders., Strukturwandel der Öffentlichkeit, Neuwied 1961
|A 7|
Glossar
Dimension
[V47:27] Gegenstände empirischer Forschung sind in der Regel (in
der Sozialwissenschaft) derart komplex, daß sie, um genau erforscht
werden zu können, zergliedert werden müssen, auch wenn sie der
alltäglichen Erfahrung als ein unteilbares Ganzes erscheinen. Solche
Dimensionen müssen so konstruiert sein, daß sie getrennt voneinander
beobachtbar (oder in einem Fragebogen durch verschiedene Fragen
abfragbar) sind. Beispiel: Das Verhalten eines Kindes beim Spiel –
obwohl ein ganzheitlicher Handlungsverlauf – läßt sich gliedern in
die Dimension Spielabsicht, Motorik, sprachliche Äußerungen,
nichtsprachliche Signale usw.
Disposition (psychische)
[V47:28] Ein Zusammenhang von erworbenen und/oder angeborenen
Merkmalen des Organismus und seiner psychischen Ausstattung, die
eine Vorhersage des Verhaltens in bestimmten
Wahrscheinlichkeitsgrenzen gestatten (dazu kann z.B. das
Intelligenzniveau, die affektive Grundstimmung, die
Folgebereitschaft für Autoritäten, die Kenntnis verhaltensrelevanter
Sachverhalte, Art und Ausmaß sprachlicher Fähigkeiten gehören).
Diskurs
[V47:29] Die Form der Verständigung, in der die im
kommunikativen Handeln naiv unterstellte Legitimität von
Geltungsansprüchen, vor allem die des Anspruchs auf Wahrheit von
Aussagen und die der Richtigkeit von Handlungsnormen problematisiert
und begründet werden. Das Ziel eines Diskurses ist die Herbeiführung
eines Einverständnisses.
Historisches Bewußtsein
[V47:30] Eine Form des Bewußtseins, zu der es gehört, daß die
eigene Erfahrung, das eigene Handeln und Denken als etwas begriffen
wird, das in der geschichtlich besonderen Lage wurzelt, in der das
Subjekt dieses Bewußtseins sich befindet. Dazu gehört die Fähigkeit,
diese Lage als das Ergebnis eines geschichtlichen Prozesses zu
begreifen.
Ideologie (Vgl. Glossar zur 1. Studieneinheit)
[V47:31] Bisweilen auch wird Ideologie ein Zusammenhang von
Behauptungen genannt, deren Überprüfung zwar prinzipiell kein
Widerstand entgegengesetzt wird, deren Gültigkeit jedoch zum
Zeitpunkt der Äußerung keiner Prüfung unterworfen werden kann, ihre
mögliche Wahrheit offen bleiben muß (z.B.
“Gott wird
uns dermaleinst für unsere Sünden strafen”
, oder
“Wenn alle Menschen dem Postulat der
Selbstbestimmung folgen werden, wird sich das Leiden der
Menschen verringern”
)
|A 9|
Identität
[V47:32] Die vom Individuum für die Beteiligung an gemeinsamem
Handeln und Kommunikation zu erbringende Leistung der
Selbstinterpretation und Selbstdarstellung. Identität ist kein
starres Selbstbild, sondern eine Interpretation, in der unter
Berücksichtigung der eigenen Biographie und der gegenwärtigen
Handlungssituation ein sinnhafter Zusammenhang zwischen den
Ereignissen und Erfahrungen im Leben eines Individuums hergestellt
wird. In seiner Identität stellt sich das Individuum durch allen
Wandel hindurch als
“identisch”
mit sich selbst
dar.
Kontext
[V47:33] Der Zusammenhang von Ereignissen oder
Erfahrungsinhalten, der zum Verständnis der Bedeutung eines
Einzelereignisses herangezogen werden muß: der Satz ist der Kontext
des einzelnen Wortes; die ganze Äußerung der Kontext des einzelnen
Satzes; die pädagogische Situation (Mutter-Kind) der Kontext dieser
Äußerung; die Familienstruktur der Kontext dieser Situation
usw.
Liberalismus
[V47:34] Eine im 19. Jahrhundert im Zusammenhang mit der
Entstehung des kapitalistischen Wirtschaftssystems entwickelte
sozialtheoretische Position, deren wesentlichste Annahme darin
bestand, daß der Gesellschaftsprozeß dann am vernünftigsten
verlaufen werde, wenn die Bürger in ihrem Handeln (vor allem im
Wirtschaftshandeln) unbeschränkt bleiben, der Staat auf Eingriffe
verzichte und lediglich Schutzfunktionen gegen äußere (z.B. Krieg)
und innere (z.B. Kriminalität) Bedrohungen ausübe.
Sprechakte
[V47:35] Sprechakte sind sprachliche Äußerungen in
Redesituationen. Als sprachliche Äußerungen haben sie die Form von
Sätzen und bringen als solche etwas zum Ausdruck. Durch ihre
Verwendung in Redesituationen aber werden diese Sätze zugleich
Handlungen und stellen als solche etwas her. Indem ich in einer
aktuellen Gesprächssituation einem Kommunikationspartner gegenüber
den Satz äußere:
“Ich verspreche dir morgen zu
kommen”
, bringe ich nicht nur ein Versprechen zum Ausdruck,
sondern ich gebe ein Versprechen. Die Äußerung ist das Versprechen,
das sie auch darstellt. Durch ein solches Versprechen wird die
Redesituation und mit ihr die Beziehung zwischen den
Kommunikationspartnern verändert. Man kann sagen, das Versprechen
hat für die Gesprächspartner eine neue Situation geschaffen. Was für
das Versprechen gilt, gilt auch für alle anderen Sprechakte wie z.B.
Behauptungen, Fragen, Befehle, Warnungen, Enthüllungen usw.: Sie
erzeugen die Redesituation mit, in der sie geäußert werden.
|A 11|
Typus
[V47:36] Ein theoretisches Konstrukt, das in reiner und
eindeutiger Form nicht in der
“Wirklichkeit”
beobachtet werden kann. Es existiert nur in unseren Deutungen und
Handlungen; mit seiner Hilfe suchen wir uns die Vielfalt der
Erscheinungen verständlich und zugänglich zu machen. Interpretieren
wir verschiedene Wahrnehmungen als ähnlich und finden wir, daß
solche Ähnlichkeiten für unser Handeln bedeutungsvoller sind als
andere, dann fassen wir sie zu einem Typus zusammen. Das geschieht
im Alltagshandeln ununterbrochen (ein
“typischer
Italiener”
, ein
“typisches Landkind”
usw.); der Unterschied zum wissenschaftlichen Gebrauch dieser
Kategorie besteht darin, daß der Wissenschaftler bei der
Konstruktion eines Typus methodisch nach kontrollierbaren Regeln
verfährt und dem Anspruch zu genügen sucht, den objektiven Sinn der
Wirklichkeit zu treffen.
[V47:37] Psychoanalytische Begriffe
[V47:38] (Die folgenden Erläuterungen lehnen sich an das
“Vokabular der Psychoanalyse”
von J. Laplanche und J.P. Pontalis,
Frankfurt/M. 1973 an).
Es – Ich – Über – Ich
[V47:39] Zentrale Termini der sogenannten
“Strukturhypothese”
Freuds
über die Organisation des seelischen Apparates. In diesen drei
Instanzen sind Gruppen von psychischen Inhalten und Prozessen
zusammengefaßt, die jeweils unterschiedliche Funktionen der
Persönlichkeit wahrnehmen.
Es
[V47:40] Psychische Repräsentanz von (organisch fundierten)
Primär betrieben, Bereich des Unbewußten. Es ist frei von Formen und
Prinzipien, die das bewußte soziale Individuum ausmachen, vor allem
frei von Wertungen und Moral, der Unterscheidung von Gut und Böse.
Es hat nur das Bestreben, den Triebbedürfnissen lustvolle
Befriedigung zu verschaffen. Man muß annehmen, daß zum Zeitpunkt der
Geburt das Es den gesamten psychischen Apparat umfaßt, aus dem sich
erst im Verlauf der Entwicklung das Ich und das Über-Ich
ausdifferenzieren.
Ich
[V47:41]
“Vermittler”
zwischen Es, Über-Ich
und Außenwelt, das sich allmählich im Konflikt mit der Umwelt
herausbildet. Seine Hauptfunktion besteht in der Koordinierung,
Abwandlung, Organisierung und Steuerung der Triebimpulse des Es, um
Konflikte mit der Realität zu mildern. Damit übernimmt es zugleich
die Funktion der Selbsterhaltung gegenüber dem Es, das in seinem
blinden Streben nach Triebbefriedigüng zur Daseinsvernichtung führen
würde.
|A 13|
Über-Ich
[V47:42] Psychische Repräsentanz der geltenden Moralgesetze,
sozialen Normen und Ideale. Seine Rolle ist vergleichbar mit der
eines Richters oder Zensors. Seine Funktionen liegen in der
Selbstkontrolle, dem Gewissen und der Idealbildung. Der Ursprung des
Über-Ichs liegt in der langen Abhängigkeit des Kindes von seinen
Eltern. Die Einschränkungen, Gebote und Verbote, die dem Kind
anfänglich von den Eltern und weiterhin von anderen Vertretern der
Gesellschaft von
“außen”
auferlegt werden, werden
vom Kind verinnerlicht und zum eigenen
“Gewissen”
.
Abwehr Abwehrmechanismen
[V47:43] Funktionen des Ich, mittels derer die Integrität und
die Konstanz der psychischen Organisation gegen Bedrohungen von
innen und außen geschützt wird. Die Abwehr kann sich gegen
unerwünschte (tabuisierte und/oder mit Realitätsforderungen
unvereinbare) Triebregungen, gegen das Über-Ich, sofern von ihm
unerträgliche Schuldgefühle oder Bestrafungsängste ausgehen,
schließlich auch gegen identitätsbedrohende Aspekte der Außenwelt
richten. Die Psychoanalyse unterscheidet zwischen verschiedenen
psychischen Operationen, die der Abwehr dienen, z.B. Verdrängung,
Projektion, Identifikation mit dem Angreifer, Rationalisierung
usw.
Identifikation Identifizierung
[V47:44] Psychischer Vorgang, bei dem das Individuum sich
Eigenschaften, Qualitäten, Erwartungen (auch Gebote und Verbote)
eines anderen zu eigen macht und dadurch unbewußt dessen Stelle
einnimmt,
“wird wie der andere”
. In der
Identifikation mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil sieht die
Psychoanalyse die
“normale”
Auflösung des
Ödipuskomplexes.
Libido
[V47:45] Psychische Energie, die mit dem Sexualtrieb verbunden
ist.
Masochismus
[V47:46]
a)
Sexuelle Perversion, bei der die sexuelle Befriedigung an
das Leiden oder die Demütigung, die das Subjekt erduldet,
geknüpft ist.
b)
allgemeiner: eine – nicht manifest sexuelle –
Befriedigungsform, die auf dem Beherrschtwerden durch
Stärkere basiert. Dazu gehört auch der
“moralische Masochismus”
, in dem das Subjekt aufgrund
unbewußter Schuldgefühle sich in die Position des Opfers
begibt. (In unserem Text wird der Begriff in diesem
allgemeineren Sinn verwendet).
|A 15|
Narzißmus
[V47:47]
Die Liebe, die man dem Bild von sich selbst entgegenbringt.
a)
primärer Narzißmus: ein früher Zustand, in dem das
Kleinkind sich selbst mit seiner ganzen Libido
besetzt.
b)
sekundärer Narzißmus: in späteren Entwicklungsstadien ein
psychischer Vorgang, in dem die inzwischen auf fremde
Objekte gerichtete Libido auf das Selbst zurückgewandt
wird.
Projektion
[V47:48] Psychische Abwehroperation, durch die das Subjekt
Qualitäten, Gefühle, Wünsche usw., die es verkennt oder in sich
ablehnt, aus sich ausschließt und in dem anderen (Person oder Sache)
lokalisiert.
Sadismus
[V47:49] Befriedigungsform, die an das dem anderen zugefügte
Leiden, an dessen Demütigung oder Unterwerfung gebunden ist.
|A 17|
Lernziele
[V47:50] Die Abhängigkeit pädagogischer Erscheinungen von
Erscheinungen der gesellschaftlichen Entwicklung sehen lernen.
[V47:51] Fragestellungen der pädagogischen Theorie auf
Fragestellungen der Gesellschaftstheorie beziehen können.
[V47:52] Die Bedeutsamkeit (Relevanz, Wichtigkeit) einer
erziehungswissenschaftlichen Problemstellung erörtern können.
[V47:53] Am Beispiel von Problemen des Sozialisationsprozesses den
Zusammenhang von gesellschaftlicher und individueller Entwicklung verstehen.
[V47:54] Eine Vorstellung von der Methode der Kritischen Theorie erwerben.
[V47:55] Den Geltungsgrund pädagogischer Normen (Erziehungsziele) kritisch
erörtern können.
|A 18|
2.0Einleitung
[V47:57] In der ersten Studieneinheit war Gegenstand unserer
Darstellung,von welchen
Grundannahmen die Kritische Theorie ausgeht, wie der
Gegenstand wissenschaftlicher Art dort bestimmt wird, welche Gesichtspunkte in
die Analyse des Gegenstandes einbezogen werden,inwiefern
sich das erkennende Subjekt der gesellschaftlich-geschichtlichen
Situation, in der es erkennt, vergewissern solle.Bevor wir uns
der Frage zuwenden, auf welche Weise diese Problemstellungen von der
neueren Erziehungswissenschaft aufgegriffen und bearbeitet werden,
wollen wir zunächst erörtern, inwiefern von der Kritischen Theorie selbst solche
Probleme behandelt wurden, die für die wissenschaftliche
Untersuchung der Erziehung als fundamental gelten können.
[V47:58] Die Absicht, das
“pädagogisch Bedeutsame”
der Kritischen Theorie zu
ermitteln und darzustellen, führt zu folgenden grundsätzlichen
Fragen:
–
[V47:59] Was kann uns als Kriterium dienen, mit dessen Hilfe wir
das pädagogisch Relevante vom weniger oder nicht Relevanten
unterscheiden können?
–
[V47:60] Sollen wir uns von Alltagstheorien, vom
“gesunden Menschenverstand”
leiten lassen, der
ja sehr wohl eine Vorstellung davon hat, was für die Vorgänge der
Erziehung und Bildung wichtig ist, und was nicht?
–
[V47:61] Sollen wir die an der Analyse von Erziehungsprozessen
beteiligten Wissenschaften, vor allem also die
Erziehungswissenschaft danach befragen, in der Annahme, das, was sie
sich zum Gegenstand macht, müsse doch schon auf seine pädagogische
Relevanz hin geprüft worden sein?
[V47:62] Die Antwort der Kritischen Theorie ist zunächst, daß sie sich
der Beantwortung der Frage nach der Relevanz eines wissenschaftlichen
Themas oder Gegenstandes nicht von irgendeiner Instanz vorgeben läßt,
sondern daß sie selbst die geschichtlich-praktische Bedeutsamkeit ihrer
Erkenntnisgegenstände sich zum ursprünglichen Thema des |A 19|wissenschaftlichen Nachdenkens macht. Die Frage, welche
Gegenstände bedeutsamer sind als andere, ist eine Frage der praktischen
Philosophie in geschichtlich interessierter Absicht. Was heißt das?
[V47:63] 1. Relevanz muß vornehmlich für solche Themen oder Gegenstände
beansprucht werden, die sich auf die Idee der Erweiterung der Freiheits-
und Gleichheitsgrade der Gesellschaft , auf ihren
Demokratisierungsprozeß, auf die Verringerung von unkontrollierter
Herrschaft beziehen lassen.
[V47:64] 2. Bezugspunkt der Überlegung müssen daher diejenigen
Handlungsmuster, Erfahrungen und Erziehungsvorstellungen sein, die sich
im faktischen Vollzug von Erziehung durchsetzen oder problematisch
werden und zugleich jenen Prozeß positiv oder negativ, d.h. bestärkend
oder hemmend, betreffen.
[V47:65] 3. Erziehungsprozesse sind in der Gegenwart weit gehend
dadurch charakterisiert, daß sie sich in eigens dafür geschaffenen
Institutionen (Familie, Schule, Jugendhilfeeinrichtungen usw.)
vollziehen. Insofern läge es nahe, in der Bestimmung des pädagogisch
Relevanten die Definitionen, Plausibilitäten und Probleme
institutionalisierter Erziehung aufzunehmen. Ließe man sich indessen die
erziehungswissenschaftlichen Problemstellungen durch die wechselnden
Betrachtungsweisen und Erfordernisse im Erziehungsalltag bzw. in der
öffentlichen bildungspolitischen Diskussion – sozusagen in blindem
Nachvollzug der Praxis – vorgeben oder gar diktieren, begäbe man sich
der notwendigen Freiheit für eine distanzierte und damit
“Kritische”
systematische Analyse eben dieser
Praxis. Man wäre dann in seinen Frage|A 20|stellungen
der Art und Weise, wie sich die Probleme aus den institutionellen
Strukturen herausstellen – und damit letztlich den Strukturen selbst –
unterworfen; man würde diese selbst keiner kritischen Beurteilung mehr
unterziehen.
[V47:66] 4. Die Bestimmung relevanter Gegenstände oder Themen muß also
so vergehen, daß sie den Rahmen vorgegebener Erziehungseinrichtungen,
die in ihnen herrschenden Normen und Formen des pädagogischen Umgangs
zum Gegenstand der Analyse macht und die einzelnen Erziehungsphänomene
so in ihrem gesellschaftlichen Bedingungs- und Wirkungszusammenhang
begreift.
[V47:67] Die Relevanz der Kritischen Theorie für die
Erziehungswissenschaft bedeutet also die Aufforderung an die
Erziehungswissenschaft , bei der Wahl ihrer thematischen Schwerpunkte
den gesellschaftskritischen Bezug und die darauf bezogenen praktischen
(ethischen und politischen) Kriterien zum entscheidenden
Auswahlgesichtspunkt zu machen und keine an sie gerichtete
gesellschaftliche Erwartung zu akzeptieren, es sei denn, diese Erwartung
erschiene ihr selbst nach kritischer Prüfung ihrer gesellschaftlichen
Funktion als legitim. Was die Kritische Theorie nach Maßgabe dieser
Aufforderung selbst im Hinblick auf Erziehungs- und Bildungsprobleme
unserer Gesellschaft bearbeitet hat, wollen wir nun im Folgenden an
ausgewählten Beispielen zur Darstellung bringen.
[V47:68] Bei dieser Darstellung konzentrieren wir uns auf drei
Komponenten:
1.
[V47:69] Die Konstruktion dessen, was als Gegenstand der
Kritischen Theorie ins Auge gefaßt wurde, die Thematik der wissenschaftlichen Arbeit also;
|A 21|
2.
[V47:70] Die Verfahren, die bei der Erkenntnis dieser
Gegenstände Anwendung finden, also die wissenschaftliche Methode;
3.
[V47:71] Die Normativität jeder
Erziehung und jeder auf das pädagogische Handeln gerichteten
Theorie.
|A 22|
2.1Zur Thematik der Kritischen Theorie und ihrer pädagogischen Relevanz
2.1.0Eine exemplarische Fragestellung
[V47:89] Die Kritische Theorie hat in ihrer Geschichte eine Vielfalt
von Themen behandelt, die wir nach herkömmlicher Klassifikation der
Soziologie, Ökonomie, Psychologie, Geschichte, Ästhetik und Politik
zurechnen könnten. Entsprechend ihrem Erkenntnisinteresse und ihrem
Wirklichkeitsverständnis – die wir im ersten Studienbrief dargestellt
haben – hat sie sich der fachwissenschaftlichen Beschränkung jedoch
durchweg dadurch entzogen, daß sie die Untersuchung auch der
speziellsten und scheinbar abgelegensten Gegenstände als konkrete
Gesellschaftskritik durchführte.
[V47:90] Fachwissenschaftlich-pädagogische Untersuchungen sind aus dem
engeren Kreis der Kritischen Theorie kaum hervorgegangen. Daß
diese gleichwohl höchst Bedeutsames für die Pädagogik – d.h. für
das Verständnis und die Kritik von Erziehung und Bildung in
unserer Gesellschaft – hervorgebracht hat, soll im Folgenden exemplarisch gezeigt werden. Wir wählen dafür die Untersuchungen, die
den Zusammenhang von Persönlichkeitsbildung und
gesellschaftlicher Struktur und Entwicklung zum Gegenstand haben
– also das, was in neuerer Terminologie Sozialisation genannt wird. Die Nähe dieser Fragestellung zu solchen
der Pädagogik liegt auf der Hand, geht es doch um Bedingungen
(und Barrieren) von Bildungsprozessen. Von den Vertretern der Kritischen Theorie
wurde allerdings unabhängig von
pädagogischen Absichten diese Fragestellung für
gesellschaftstheoretisch zentral erachtet. Wir stützen uns
vor allem auf die Studien des Instituts für
Sozialforschung über Autorität und Familie (1936), daneben
auf die Untersuchung zum Autoritären Charakter
(1950) |A 23|und schließlich auf eine neue
Studie (Ziehe 1975), die die
Fragestellungen der älteren Arbeiten aufgreift und
auf die gegenwärtige Situation bezieht.
|A 24|
2.1.1Gesellschaft, Familie und
Persönlichkeitsstruktur I: Der autoritäre Charakter
[V47:117] Zunächst einige allgemeine Bemerkungen: In akademisch
unbeteiligter Betrachtung meint
‘Sozialisation’
diejenigen Bedingungen und
Prozesse, aufgrund derer die heranwachsende Generation zu
konformen und zugleich kompetenten Gesellschaftsmitgliedern
herangebildet wird. Dahinter steht die Grundeinsicht moderner
Sozialwissenschaft, daß nicht nur die
‘Natur des
Menschen’
, sondern auch die individuelle Persönlichkeit
gesellschaftliches Produkt sind. Die individuelle Subjektwerdung vollzieht sich als Vergesellschaftung von Subjektivität
– so wie sich umgekehrt Sozialisation nur in individuellen
Lebensgeschichten konkretisieren kann. So unverwechselbar jedes
Individuum als solches auch sein mag, es trägt immer den Stempel
der gesellschaftlichen Verhältnisse an sich. Weil also
Individuation und Sozialisation zwei Seiten eines Prozesses
sind, sind Individuum und Gesellschaft unlösbar ineinander
verschränkt. Im
‘Normalfall’
entspricht darum
– wenn man dieser Betrachungsweise folgt – die
vergesellschaftete Subjektivität den objektiven
gesellschaftlichen Funktionserfordernissen.
[V47:118] Betrachtet man Sozialisation aber vorwiegend oder
ausschließlich als Erwerb von
Kompetenzen, die für die erfolgreiche soziale Teilnahme
erforderlich sind, dann übersieht man leicht einen
entscheidenden Sachverhalt:
[V47:119] Tatsächlich ist keine Gesellschaftsform bisher ohne
permanente Anwendung oder Androhung äußeren
Zwanges ausgekommen. Zwang ist konstitutiv auch für
unsere Gesellschaft. Richtig ist allerdings, daß die Stabilität
gesellschaftlicher Verhältnisse mit zunehmender Komplexität u.a.
davon abhängt, daß die Gesellschaftsmitglieder nicht |A 25|vornehmlich (der Furcht vor) äußerem
Zwang gehorchen, sondern die Gehorsamsforderung, die hinter der
Zwangsgewalt steht, verinnerlichen; daß es ihnen mit anderen
Worten zur
‘inneren Natur’
wird, sich der
herrschenden ökonomischen, politischen und sozialen Ordnung zu
fügen.
‘Sozialisation’
ist also nicht (nur)
das scheinbar zwanglose Hineinwachsen des Kindes in den Status
des erwachsenen Gesellschaftsmitgliedes – Sozialisation ist auch
die Befestigung der
“Herrschaft von Menschen über Menschen
im Inneren der Beherrschten”
.
(Horkheimer: Autorität und Familie. In Ders.:
Traditionelle und kritische Theorie, 1970, S. 179
f.)
[V47:120] Horkheimer, Fromm und andere
waren deshalb nie an einer Theorie der Sozialisation im
erstgenannten (
‘akademischen’
) Sinn
interessiert, ihre Frage war von Anfang an eine andere:
ausgehend von aktuellen geschichtlichen Erfahrungen wollten sie
das ihren geschichtsphilosophischen Annahmen und Hoffnungen
widersprechende Faktum erklären, daß
[V47:121]
“... die beherrschten Klassen auch in
den Zeiten des Niedergangs einer Kultur, in denen die
Eigentumsverhältnisse wie die bestehenden Lebensformen überhaupt
offenkundig zur Fessel der gesellschaftlichen Kräfte
geworden waren, und trotz der Reife des ökonomischen
Apparats für eine bessere Produktionsweise das Joch so lange
ertragen haben”
. (Horkheimer: a.a.O., S.
171)
[V47:122] Sie wollten wissen, welche subjektiven Momente einen
großen Teil auch der Arbeiterklasse dazu veranlaßte, denjenigen
gesellschaftlichen Kräften Gefolgschaft zu leisten, die ihren
Lebensinteressen fundamental entgegenstanden. Problematisch war
für sie darum die fast bedingungslose Anpassungs- und
Unterwerfungsbereitschaft, die dem Faschismus zur
psychologischen Basis verhalf. |A 26|Um Faktoren zu untersuchen, die die Massen daran
hinderten, die gesellschaftliche Wirklichkeit und ihr eigenes
Interesse darin zu erkennen und dem gemäß zu handeln, mußte der
begriffliche Rahmen über das klassische Feld marxistischer
Wissenschaft, die Kritik der politischen Ökonomie, hinaus
erweitert werden.
‘Autorität’
als bejahte Abhängigkeit wurde zur
zentralen Kategorie. Autorität hat viele Erscheinungen. Allem
Anschein nach ist sie ein universales Phänomen –
zumindest als Element jeder Erziehung. (Wie ja auch die
antiautoritäre Erziehung, formal betrachtet, dem Widerspruch
nicht entgeht, daß ihr eine autoritative Entscheidung von
Erwachsenen zugrunde liegt.) Doch derart abstrahierender
Begriffsgebrauch genügt kritischem Denken nicht. Ihm kommt es
darauf an, Autorität in ihrer historischen Spezifität – nach
Form, Inhalt und Funktion für die Individuen und die
Gesellschaft – zu begreifen. Entsprechend anspruchsvoll
formuliert daher Horkheimer, die
“konkrete, das heißt wahre
Definition”
der Autoritätskategorie sei
“die ausgeführte Gesellschaftstheorie
selbst, wie sie in ihrer Einheit mit bestimmten
praktisch-historischen Aufgaben in einem geschichtlichen
Augenblick wirksam ist”
(Horkheimer: a.a.O., S. 181)
[V47:123] Die Anbindung der Autoritätskategorie an den
“geschichtlichen Augenblick”
bringt ein weiteres zum
Ausdruck: Die Kritische Theorie, wie sie sich in den frühen
Studien manifestiert, war nicht
‘antiautoritär’
im Sinne einer unhistorischen
Verurteilung von Autoritätsverhältnissen schlechthin. Daß
“Autorität als bejahte Abhängigkeit ...
fortschrittliche, den Interessen der Beteiligten
entsprechende, der Entfaltung menschlicher Kräfte
günstige Verhältnisse bedeuten (kann)”
(KT I, 301)
, galt ihr als gesicherte historische Erfahrung.
|A 27|
[V47:124] Mit der marxistischen Tradition teilte die Kritische
Theorie damals noch die Überzeugung, daß in der geschichtlichen
Entwicklung gleichsam eine Logik des Fortschritts walte, die es
gestatte, gesellschaftliche Formen der Gewalt, Unterdrückung und
Abhängigkeit auch danach zu beurteilen, ob sie einem allgemeinen
Interesse entsprechen und darum geschichtlich vernünftig sind –
trotz der offenkundigen Leiden und Versagungen, die den
Abhängigen dabei aufgezwungen werden.
[V47:125] Weil die Kritische Theorie sich
aber andererseits dieser untilgbaren Schuld, die auf jedem
Fortschritt an Freiheit und Genuß lastet, immer bewußt war,
verfiel sie nie in fortschrittsgläubigen Zynismus; im Gegenteil:
sie neigte später immer mehr dazu, die Kategorie des
Fortschritts selber in Frage zu stellen.
“Keine
Universalgeschichte führt vom Wilden zur Humanität,
sehr wohl eine von der Steinschleuder zur
Megabombe”
(Adorno, Negative Dialektik, S.
312
, vgl. dazu unten, Abschnitt
2.3)
[V47:126] Die Tatsache, daß in den Untersuchungen der
Kritischen Theorie Autorität zum Angelpunkt der Gesellschaftskritik wird, weist darauf hin, daß es
sich bei ihr in der Gegenwart um eine
außerordentlich ambivalente und sogar bedrohliche Erscheinung
handelt.
[V47:127] Worin liegt nun die Bedeutung von Autorität (im Sinne
der Bejahung von Abhängigkeit)? Zwei Bezugspunkte haben wir
genannt: das Problem der Sozialisation auf der einen, das des
gesellschaftlichen Fortschritts auf der anderen Seite. Auch
deren Zusammenhang wurde schon angedeutet darin, daß
Sozialisation als Vergesellschaftung von Subjektivität zugleich
Verinnerlichung gesellschaftlicher Herrschaft impliziert.
[V47:128] Im Folgenden wollen wir
umrißhaft skizzieren, worin die (theoretische) Antwort der
Kritischen |A 28|Theorie auf die auf geworfenen
Fragen besteht. (Ein tieferes Verständnis der Sache kann
freilich nur der erwarten, der sich auf das Studium der
Untersuchungen selbst einläßt. Wir wollen diese Themenstellung
beispielhaft vorführen – ausführen können wir sie in diesem
engen Rahmen nicht.) Wir beschränken uns zunächst auf die Studien über
“Autorität und Familie”
von 1936
und fassen deren Resultat in Form von Thesen zusammen:
1.
[V47:129] In der kapitalistischen Gesellschaft der
(damaligen) Gegenwart liegt der Kern der
Vergesellschaftung von Subjektivität in einer
spezifischen Formung des Charakters, der die Individuen zur
Unterwerfung unter Autorität disponiert.
2.
[V47:130] Dieser
“autoritäre”
Charakter hat sein Fundament in einer besonderen, dem
Bewußtsein nur schwer zugänglichen Zurichtung der seelischen
bzw. Triebstruktur.
3.
[V47:131] Sozialer
‘Ort’
dieser
Zurichtung – und damit psychische Vermittlungsagentur zwischen
Gesellschaft und Individuum – ist vor allem die Familie in den Jahren der
Kindheit.
4.
[V47:132] Medium dieser
Charakterbildung sind die durch die Struktur der Familie
vorgezeichneten Interaktionen innerhalb der Familie und die
psychischen Verarbeitungsweisen der damit einhergehenden
Erfahrungen.
5.
[V47:133] Die erzeugte
Autoritätsbindung der Subjekte bindet sie an die herrschenden Verhältnisse
ungeachtet dessen, daß diese als ökonomische und politische
Organisationsform objektiv überholt sind (vgl.
1.3.1); sie legt die Menschen auf einen bestimmten Verhaltentypus fest und hindert sie zudem an der Einsicht, daß diese
gesellschaftliche Organisationsform nicht allein die
Entfaltung der produktiven Möglichkeiten hemmt, sondern zunehmend
die Lebensbedingungen selbst |A 29|gefährdet und zerstört.
6.
[V47:134] Im vorherrschenden Typus des autoritären
Charakters schlägt sich die Verinnerlichung des irrational
gewordenen äußeren Zwanges nieder und perpetuiert
ihn.
|A 30|
Exkurs:
[V47:135] Mit welchem Recht – könnte man angesichts dieser
Thesen fragen – wird hier von einem epochenspezifischen
Charaktertypus (einem
‘Sozialcharakter’
)
gesprochen? Widerstreitet dem nicht ebenso unsere alltägliche
Erfahrung einer Vielfalt von Individualitäten wie auch ein
pädagogisches Prinzip, das je Besondere, Individuelle im
Bildungsprozeß nicht an schematisierende Abstraktionen zu
verraten?
[V47:136] Sehen wir genauer hin, so enthält die These zwei
Unterstellungen:
1.
[V47:137] wird unterstellt, daß sich im individuellen
Bildungsprozeß Muster von Strebungen, Erlebnisweisen und
Handlungsbereitschaften zur lebensgeschichtlich relativ
konstanten
‘inneren Natur’
verfestigen,
die sich dem rationalen Einfluß der Individuen weitgehend
entzieht – denn anderenfalls würden wir nicht von Charakter
reden;
2.
[V47:138] wird unterstellt, daß dieser Bildungsprozeß
bei den Mitgliedern der Gesellschaft im Prinzip gleichartig
verläuft und zu gleichartigen Resultaten führt, daß also die
sozialtypische Charakterstruktur über die individuelle
Verschiedenheit dominiert.
[V47:139] Die Kritische Theorie ist sich dieser Unterstellung
bewußt. Sie versucht in den
“Studien”
zu
begründen, daß die theoretische Konstruktion des autoritären
Sozialcharakters nicht willkürlich erfolge, sondern daß ihr ein
zentrales Moment der gesellschaftlichen Realität entspreche:
Denn die Erziehung unter dem Zwang der herrschenden Verhältnisse
führe tatsächlich zu einer relativ starren wie zu einer sozial
schematisierenden Organisation psychischer Reaktionsweisen, die
wirklicher Individuation wenig Spielraum lasse. Indem der
Charakterbegriff dieses einschränkende und zwingende Moment an
den Bildungsprozessen festhält, wird gleichzeitg die Möglichkeit eines anderen Bildungsprozesses
antizipiert. Insofern enthält der Charakterbegriff seine eigene
Kritik. (Vgl. Adorno: Studien zum autoritären Charakter, 1973,
S.
303-314).
[V47:140] Versuchen wir jetzt, einige Aspekte der Thematik noch
etwas näher zu betrachten – mit dem Hinweis, daß die in den
folgenden Abschnitten über Methode (2.2) und über Normativität (2.3) zur Sprache gebrachten Gesichtspunkte mutatis
mutandis auch für diese Untersuchungen gelten!
|A 31|
[V47:141] Eine wesentliche
geschichtliche Voraussetzung dafür, daß die Familie zur entscheidenden charakterprägenden Instanz
im Sinne gesellschaftlicher Erfordernisse werden konnte,
war der Umstand, daß der Sozialisationsprozeß in der
bürgerlichen Gesellschaft sich in dem scheinbar außergesellschaftlichen Raum der
familialen Privatsphäre institutionell verselbständigte. Dieser Privatisierungsprozeß der familialen
Reproduktion ist aufs engste verknüpft mit dem
spezifisch kapitalistischen Besitzindividualismus, der
aus den Institutionen des Privateigentums und der
Warenproduktion erwächst, (insofern betrifft dieser
Prozeß zunächst einmal die klassische besitzbürgerliche
Familie).
[V47:142] Andererseits aber – und darauf hat die
Kritische Theorie immer wieder hingewiesen – Dadurch entzieht sich die bürgerliche Familie auf Grund ihres privaten und zum Teil intimen
Charakters der totalen
Vergesellschaftung. Denn sie gehorcht nicht allein den
gesellschaftlich herrschenden Gesetzen von Warenproduktion
und Warentausch, von Ausbeutung und Profit, sondern bewahrt
sowohl
‘naturale’
wie
‘feudale’
Elemente in sich. Die mütterliche Zuwendung und Sorge, die mit patriarchaler Macht verbundenen väterlichen Funktionen des Schutzes und der Lebensvorsorge wie auch die Bindung an das biologische Generationenverhältnis sind solche Elemente von
‘Ungleichzeitigkeit’
. Daß sie als solche gleichwohl bedeutsame
Funktionen für die zeitgemäße Persönlichkeitsbildung
erfüllen, gehört mit zur These der Kritschen
Theorie.
[V47:143] Für eine genauere und stichhaltige Analyse wäre es
erforderlich, zumindest nach Entwicklungsstadien der
bürgerlichen Gesellschaft und nach sozialen Gruppen, Schichten
und Klassen zu differenzieren. In den Studien selbst wird das
getan, wenn auch immer noch in stilisierenden Vereinfachungen.
Das Modell für
“Autorität und Familie”
ist
die klassische besitzbürgerliche Familie, die |A 32|Differenzierungen erfolgen zumeist als
Modifizierungen dieses Modells. Insbesondere gilt dies für den
faschistoiden autoritären Charakter, der als historische
Zerfallsform des bürgerlichen Typus erscheint.
[V47:144] Die fundamentale Erfahrung, die das Kind in der bürgerlichen Kleinfamilie macht, ist die
Gleichzeitigkeit von Ohnmacht, unterdrückender Abhängigkeit und
schützender Bewahrung – bzw. die Gleichzeitigkeit von physischer
und ökonomischer Potenz, autoritativem Machtanspruch und
affektivem Interesse (dieses eher durch die Mutter, jenes eher
durch den Vater repräsentiert). Dieses Beziehungsmuster, das den
unausweichlichen familialen Binnenraum strukturiert, ist die
Grundlage des spezifisch bürgerlichen autoritären Verhaltens.
Horkheimer faßt die leitenden Prinzipien
dieser Sozialisation im folgenden Zitat kritisch kommentierend
zusammen:
[V47:145]
“Weil der Vater de
facto mächtiger ist, darum ist er es euch de jure; das Kind sollte dieser
Überlegenheit nicht bloß Rechnung tragen, sondern sie
zugleich achten, indem es ihr Rechnung trägt. In dieser
familialen Situation, die für die Entwicklung des Kindes
bestimmend ist, wird bereits die Autoritätsstruktur der
Wirklichkeit außerhalb der Familie weitgehend vorgenommen:
die herrschenden Verschiedenheiten der Existenzbedingungen,
die das Individuum in der Welt vorfindet, sind einfach
hinzunehmen, es muß unter ihrer Voraussetzung seinen Weg
machen und soll nicht daran rütteln.
Tatsachen erkennen, heißt sie anerkennen. Von der Natur
gesetzte Unterschiede sind von Gott gewollt, und in der
bürgerlichen Gesellschaft erscheinen auch Reichtum und Armut
als naturgegeben. Indem das Kind in der väterlichen Stärke
ein sittliches Verhältnis respektiert und somit das, was es
mit seinem Verstand als existierend feststellt, mit seinem
Herzen lieben lernt, erfährt es die erste Ausbildung für das
bürgerliche Autoritätsverhältnis.”
(Horkheimer, a.a.O., S. 208)
[V47:146] Das bürgerliche
Autoritätsverhältnis beruht demnach auf einer Übertragung der
‘liebenswürdigen’
familialen Autorität auf
die gesellschaftlichen Verhältnisse. Ziel dieser Sozialisation
ist deshalb nicht so sehr blinder Gehorsam gegenüber
personifizierter Autorität (obwohl dies dazuge|A 33|gehört); Ziel ist in erster Linie eine spezifische
Form der
‘Realitätsgerechtigkeit’
: die
Anerkennung der Autorität des Faktischen. Im
klassisch-bürgerlichen
‘Idealfall’
verbindet sich derMachtanspruch des Vaters mit seiner lebenserhaltenden
ökonomischen Funktion für die
‘Seinen’
.
Dadurch
“wird die Kindheit in der
Kleinfamilie zur Gewöhnung an eine Autorität, welche
die Ausübung einer qualifizierten gesellschaftlichen
Funktion mit der Macht über Menschen in
undurchsichtiger Weise vereinigt.”
(KT I, 339)
Freilich entbehrt dieses
Autoritätsverhältnis nicht einer partiellen Rationalität.
Zwar zwingt die fraglose, sittlich überhöhte väterliche
Autorität dem Kinde ein äußerstes Maß von Triebunterdrückung
und Pflichterfüllung ab; zugleich aber bietet der Vater auf
Grund seiner tatsächlichen Stellung dem Kind (dem Sohn) die Chance, den durch diese Unterdrückung
bedingten Konflikt
‘realistisch’
zu
lösen. Durch die identifikatorische Unterwerfung unter die
väterlichen Forderungen, durch deren Übernahme ins eigene
Selbst (als Forderungen des Über-Ich) kann das Kind zu hoffen werden wie der (idealisierte!) Vater selbst, an dem es
zugleich ein Vorbild erfolgreicher Realitätsbewältigung
hat.
[V47:147] Schließlich ruht dieses Autoritätsverhältnis auf dem
Fundament eines wechselseitigen materiellen Interesses: des
Interesses des Vaters an der Fortführung seines
‘Werkes’
, d.h. der Erhaltung und Vermehrung des Besitzes
durch die Nachkommen, und des Interesses der Kinder, dieses Erbe
zu übernehmen. Den Vertretern der Kritischen Theorie war
seinerzeit durchaus schon klar, daß ihre Rekonstruktion der
bürgerlichen Familiensozialisation von der
empirischen Wirklichkeit spätkapitalistischer Verhältnisse so
nicht mehr gedeckt wurde. Denn in dem Maße, in dem die Öko|A 34|nomische Funktion des Vaters sich
raumzeitlich von seiner Position innerhalb der Familie abspaltet
und der vererbbare Familienbesitz die Funktion der
Existenzerhaltung an die Berufstätigkeit verliert, wird das
Autoritätsverhältnis zunehmend irrational und von den Kindern
als bloß schicksalhaft erfahren. Diese Tendenz verstärkt sich,
wenn – durch die strukturelle Trennung von Arbeits- und
Familiensphäre begünstigt – innerhalb der Familie ein
Machtanspruch repräsentiert und durchgesetzt wird, der durch die
untergeordnete, ausgelieferte Stellung im Arbeitsprozeß
materiell nicht eingelöst werden kann. Es wird so die
strukturelle Möglichkeit zur kompensatorischen Weitergabe
erlittener Unterdrückung an die Kinder
und die Frauen geschaffen, die auch breite Schichten von
Arbeitern und kleinen Angestellten empfänglich für die
autoritäre Organisation und Ideologie der Kleinfamilie
macht.
[V47:148] Das Interesse der Kritischen Theorie gilt nun vor
allem derjenigen Charakterstruktur, die unter den zuletzt
benannten Bedingungen typischerweise ausgebildet wird: dem Typus des
“autoritär masochistischen Charakters”
(Erich Fromm).
[V47:149] Die Kritische Theorie geht hier eine Verbindung mit
der psychoanalytischen TheorieFreuds ein, die sie bis heute nicht
aufgegeben hat. Unabhängig von der immanenten Schlüssigkeit der
psychoanalytischen Theorie zum Verständnis psychischer Reaktionsweisen scheinen für
diese Verbindung zwei Gesichtspunkte bedeutsam:
1.
[V47:150] Die Psychoanalyse ist im wesentlichen eine Theorie unbewußter Prozesse. Als
solche aber ist sie den thematisierten Gegenständen einzig
angemessen, weil nach Auffassung der Frankfurter Schule das
Handeln bedeutender sozialer Schichten
“nicht durch die Erkenntnis, sondern durch eine das
Bewußtsein verfälschende Triebmotorik bestimmt
ist”
(Horkheimer, Geschichte und Psychologie, in
Kritische Theorie, Bd. I, S. 20). |A 35|Das heißt zugleich, daß in dem Maße,
in dem das geschichtliche Handeln
“durch
Erkenntnis motiviert”
ist, psychologische Erklärungen
an Bedeutung verlieren.
2.
[V47:151] Auch die Psychoanalyse ist eine kritische Theorie. Sie entlarvt
nicht nur den pathologischen, sondern auch den
‘normalen’
Bildungsprozeß als einen
gewalttätigen und konflikthaften Vorgang psychischer
Zurichtung, der nur gelingt über die Unterdrückung und
Verdrängung von Bedürfnissen und die Verzerrnung innerer und äußerer Realität.
[V47:152] Ein derart kritischer Ansatz konvergiert – wie man
meinen möchte: offensichtlich – mit den Intentionen einer
kritischen Theorie der Gesellschaft. Tatsächlich aber waren
Versuche, marxistische Gesellschaftstheorie und Psychoanalyse zu
verbinden, in den zwanziger und dreißiger Jahren feindseligster
Kritik von beiden Seiten ausgesetzt. (Vgl. Bernfeld
et. al.: Psychoanalyse und Marxismus, 1970). Die
Diskussion dieser Frage ist bis beute nicht abgeschlossen. (Vgl.
M.Wolf: Individuum/Subjekt/Vergesellschaftung der
Produktion. In: Ästhetik und Kommunikation, Heft 15/16,
1974, S. 83-103).
[V47:153] Vor allem Erich
Fromm– damals noch Mitglied des Instituts
für Sozialforschung und Verfasser des
sozialpsychologischen Teil der Studien über Autorität
und Familie – hat die Triebtendenzen und seelischen Mechanismen
untersucht, die der charakterbedingten Autoritätsbindung
zugrunde liegen. (Fromm: Sozialpsychologischer Teil. In Studien über Autorität und Familie, 1936).
[V47:154] Wie wir gesehen haben, stellt sich
für den Fortbestand jeder Gesellschaftsform das Problem, die Mitglieder zur Anerkennung oder
wenigstens zur Hinnahme der Produktions- und
Herrschaftsverhältnisse und der daraus hervorgehenden
gruppen- und klassenspezifischen Privilegien und
Beschränkungen zu veranlassen.Psychologisch betrachtet lautet die
Frage: Wie muß der Prozeß der Persönlichkeitsbildung
verlaufen, damit die Individuen die mehr oder weniger große
Diskrepanz zwischen den beschränkten Befriedigungs|A 36|möglichkeiten
einerseits, den
‘überschießenden’
Triebansprüchen und Bedürfnissen andererseits in sozial
angepaßter Weise bewältigen? – oder: Wie kann die
potentielle Bedrohung der herrschenden Ordnung durch die an
der Befriedigung gehinderten Bedürfnisse psychisch
neutralisiert werden – auch und gerade dann, wenn der
geforderte Verzicht entgegen den eigenen Interessen
geleistet werden soll? Fromm
beantwortet diese Frage mit Hilfe des psychoanalytischen
Modells, das die verschiedenen psychischen
Funktionen der Persönlichkeit unter drei angenommene seelische Instanzen – Es, Ich und Über-Ich – strukturiert (Vgl. Glossar und die einführende Literatur!)Er findet im gesellschaftlich
vorherrschenden Charaktertypus eine psychische Konstellation vor, in
der ein mächtiges Über-Ich ein nur schwach ausgebildetes
Ich beherrscht und in der die Triebe (Es) vorwiegend auf masochistische (aber
auch sadistische) Befriedigungsformen hin orientiert
werden.
[V47:155] Drei sich wechselseitig bedingende Momente wirken
nach Auffassung der Kritischen Theorie zusammen:
1.
[V47:156] eine triebfeindliche Moral;
2.
[V47:157] eine autoritäre Familienstruktur;
3.
[V47:158] das objektive Ausgeliefertsein der meisten
Menschen an von ihnen selbst nicht beherrschbare und
planbare Prozesse.
[V47:159] 1. Nach aller (damaligen) Erfahrung erlebt das Kind von früh an eine allseitige
Unterdrückung seiner Triebregungen. Die bürgerliche Moral mit
ihren Idealen der Selbstdisziplin, Pflichterfüllung und des
Triebverzichts greift – vermittelt durch die Erziehungspersonen
und Erziehungsinstitutionen – in das Leben des Kindes ein: es
muß sauber, pünktlich und gehorsam sein, es muß |A 37|körperliche (sexuelle) Lust nicht nur als ungehörig,
sondern geradezu als Ausdruck existentieller Verworfenheit zu
verstehen lernen, es muß sich – im Idealfall sozusagen – die
bürgerliche Zwangsmoral zum eigenen ausschließlichen Bedürfnis
machen.
[V47:160] 2. Daß diese den spontanen Triebregungen so sehr
zuwiderlaufenden Forderungen nicht ohne Zwang durchgesetzt
werden können, erscheint uns evident. Nur in einer Situation der
Ohnmacht und ausweglosen Abhängigkeit, wie sie in der
Kleinfamilie strukturell angelegt ist, kann das Kind dazu
gebracht werden, sich diesen Forderungen zu fügen.
[V47:161] 3. Triebunterdrückung und schicksalhaft erfahrene
Ohnmacht führen dazu, daß die Ich-Kräfte des Kindes – d.h.
diejenigen seelischen Funktionen, die der aktiven Gestaltung des
Lebens, der Vermittlung zwischen eigenen Bedürfnissen und den
Möglichkeiten und Anforderungen der
‘Realität’
dienen – nur schwach entwickelt werden, denn
sie wären auf die experimentierende, bedürfnisgeleitete
Aneignung der sozialen und natürlichen Welt durch das Kind
angewiesen. (Dieses Gefühl des ohnmächtig Ausgeliefertseins, in
dem sich ein wesentliches Moment der kindlichen
Familienerfahrung ausdrückt, nimmt aber gerade vorweg, was die
gesellschaftliche Situation und Erfahrung des späteren
Erwachsenen mit bestimmt: daß ihm das Leben eher widerfährt als
daß er es gestaltet.)
[V47:162] Diese Momente zusammengenommen charakterisieren die
Sozialisation als einen Vorgang der Unterdrückung und Schwächung
– aber sie erklären noch nicht, wie es zu der affektiven
Autoritätsbindung kommt, die doch für den autoritären Charakter
typisch sein soll. Nicht nackte Furcht vor dem strafenden Zugriff des Mächtigeren,
sondern Achtung, Liebe und Ehrfurcht und Loyalität gegen |A 38| über der Autorität ist ja die
Gefühlsbasis seines Handelns. Diese konstituiert sich erst in
der Auflösung des ödipalen Konflikts, der in der kleinfamilalen
Triade Vater-Mutter-Kind seine schärfste Zuspitzung erfährt und
der von Fromm u.a. ganz in
Übereinstimmung mit der Freudschen Auffassung als
Schlüsselsituation der Persönlichkeitsbildung interpretiert
wird.
[V47:163] Die Angst vor der Eifersucht des übermächtigen Vaters
wird vom kleinen Knaben dadurch bewältigt, daß er auf die
direkte Triebbefriedigung (im sexuellen Kontakt mit der Mutter)
verzichtet und sich mit dem Vater identifiziert. Durch die damit
einhergehende Übernahme (Introjektion) der väterlichen Ge- und
Verbote ins eigene Über-Ich kommt es erst zur eigentlichen
Verinnerlichung des äußeren Zwangs. Damit aber ist eine
innerpsychische Instanz geschaffen, die die triebeinschränkenden
Forderungen der gesellschaftlichen Autorität (hier repräsentiert
durch den Vater) im Individuum selber vertritt. Dies ist für das
überleben umso notwendiger, je schwächer das Ich und damit das
psychische Potential ist, sich entweder gleichsam auf die Seite
der Triebregungen zu schlagen und ihnen im Konflikt mit der
‘Außenwelt’
Geltung zu
verschaffen oder aber sie im Bewußtsein ihrer Unangemessenheit
zurückzuhalten. Die Abwehr sozial tabuisierter Impulse erfolgt
beim autoritären Charakter vorwiegend auf dem Wege ihrer
Verdrängung – aus irrationaler Angst vor dem Über-Ich, das die
Tabus ebenso wie die Ideale vertritt – und also straft und liebt
(bzw. Liebe entzieht).
[V47:164] Für die
Problemstellung der Kritischen Theorie ist nun bedeutsam, daß die
internalisierte familiale Autorität (das Über-Ich) in
beständiger Wechselwirkung mit den gesellschaftlichen
Autoritäten steht, sich dadurch festigt und zugleich
gesellschaftlichen Bewegungen anpaßt:
[V47:165]
“Das Verhältnis Über-Ich: Autorität ist
dialektisch. Das Über-Ich ist eine Verinnerlichung der
Autorität, die Autorität wird durch Projizierung der
Über-Ich-Eigenschaften auf sie verklärt und in dieser
verklärten Gestalt wiederum verinnerlicht. Autorität und
Über-Ich sind voneinander überhaupt nicht zu trennen.
Das Über-Ich ist die verinnerlichte äußere Gewalt, die
äußere Gewalt wird so wirksam, weil sie |A 39|Über-Ich-Qualitäten erhält.”
(Fromm, a.a.O., S. 85)
[V47:166] So unangreifbar und zwingend, wie die Forderung des
Über-Ich auf Grund der typischen Ich-Schwäche des autoritären
Charakters sind, so unantastbar erscheint diesem die
gesellschaftliche Macht, der er unterworfen ist. Und kritiklos,
wie das Individuum in den Idealisierungen seines Über- Ich
befangen ist, überhöht es die faktische Gewalt zur einzig
legitimen, weil idealen Autorität, der gegenüber das eigene
Selbst als unwürdig oder gar nichtig erlebt wird.
[V47:167]
“das Kind soll glauben, die Eltern lögen nie und erfüllten tatsächlich alle die moralischen Forderungen,
die sie dem Kinde auferlegen ... Gerade in diesem Stück der
Familienerziehung zu den moralischen Qualitäten, die das
Kind von Anfang an als mit der Autorität verknüpft sehen
lernt, liegt eine ihrer wichtigsten Funktionen bei der
Erzeugung des autoritären Charakters. Es gehört gewiß zu den
schwersten Erschütterungen im kindlichen Leben, wenn es
allmählich sieht, daß die Eltern in Wirklichkeit den eigenen
Anforderungen nur wenig entsprechen. Aber indem es durch die
Schule und später durch die Presse usw. neue Autoritäten an
die Stelle der alten setzt, und zwar solche, die es nicht
durchschaut, bleibt die ursprünglich erzeugte Illusion von
Moralität der Autorität bestehen. Dieser Glaube an die
moralische Qualität der Macht wird wirkungsvoll durch die
ständige Erziehung zum Gefühl der eigenen Sündhaftigkeit und
moralischen Unwürdigkeit ergänzt. Je stärker das
Schuldgefühl und die Überzeugung eigener Nichtigkeit ist,
desto heller strahlt die Tugend der Oberen. Der Religion und
strengen Sexualmoral kommt die Hauptrolle bei der Erzeugung
der für das Autoritätsverhältnis wichtigen Schuldgefühle
zu.”
(Fromm, a.a.O., S. 130)
[V47:168] Fromm
bezeichnet diesen Charaktertypus als masochistisch und bringt damit zum Ausdruck, daß der
Charakterzug der Unterwerfungsbereitschaft auch Befriedigung
verschaffe. Worauf aber beruht die (behauptete) Lust an der
Unterwerfung, die doch immer auch Selbstaufgabe ist?
|A 40|
[V47:169] Wenn es infolge der Familienstruktur
und der in der Erziehung wirksamen Zwangsmoral zu einer starken
Ich-Entwicklung nicht kommen kann und das Erheben eigener
Ansprüche zugunsten der Identifikation mit den sozialen
Autoritäten aufgegeben wird, bietet der Masochismus eine
adäquate Lösung:
[V47:170]
“Die im Masochismus liegende
Befriedigung ist von negativer und positiver Art:
negativ als Befreiung von Angst, beziehungsweise
Gewährung von Schutz durch Anlehung an eine gewaltige Macht, positiv als Befriedigung
der eigenen Wünsche nach Größe und Stärke durch das
Aufgehen in der Macht.”
(Fromm, a.a.O., S. 123)
[V47:171] Der Verzicht auf das eigene Glück, der der Autoritätsbindung von ihrem Ursprung im
ödipalen Konflikt zu Grunde liegt, macht die Liebe zur Autorität
ambivalent, denn sie speist sich auch aus verdrängtem Haß auf
die Instanzen, die den Triebverzicht forder(te)n und
durchsetz(t)en. Insofern enthält der autoritäre Charakter immer
ein hohes (meist latentes) Aggressionspotential, das sein Objekt
jedoch nicht in der unterdrücken den Autorität, sondern in der
Regel in Individuen und Gruppen findet, die die Macht in Frage
stellen und angreifen – also im weitesten Sinne anti-autoritär
sind; oder die von den Autoritäten selbst als Gefahr, als Feind,
als unwürdig oder abartig gebrandmarkt werden.
[V47:172] Neben der Autoritätsbindung im engeren Sinn und der
Neigung zu sadistischer Aggressionsabfuhr gegenüber Schwächeren,
‘Minderwertigen’
kennzeichnet den
Autoritären ein allgemeines masochistisches
Lebensgefühl, das ihn die Welt als unentrinnbares
Schicksal, als höherer Gewalt außerhalb der bewußten Praxis der
Menschen unterworfen erleben läßt.
|A 41|
[V47:173]
“Im Namen Gottes, des Naturlaufs , der
Pflicht ist Aktivität möglich, nicht im Namen des
Ungeborenen, Zukünftigen, noch Ohnmächtigen oder des
Glücks schlechthin.”
(Fromm, a.a.O., S. 120)
[V47:174] Andererseits hat der Autoritäre schon in der familialen Sozialisation gelernt,
[V47:175]
“... jeden Mißerfolg nicht bis zu seinen
gesellschaftlichen Ursachen zurückzuführen, sondern bei den
individuellen stehenzubleiben und diese entweder religiös
als Schuld oder naturalistisch als mangelnde Begabung zu
hypostasieren.”
(Horkheimer, Autorität und Familie, S. 125)
[V47:176] Eine sublime Form des Autoritarismus konstatiert
Horkheimer schließlich in einem
spezifischen Umgang mit der Wissenschaft:
[V47:177]
“Die Beschäftigung mit der Wissenschaft
selbst ist in vielen Fällen durch das Bedürfnis nach fester
Anweisung für Ziel und Weg, nach Sinn und Zweck des Handelns
motiviert.
‘Ihr meint, Ihr suchtet die
‘Wahrheit’
?’
, heißt es einmal bei
Nietzsche.
‘Ihr sucht einen Führer
und wollt euch gerne kommandieren lassen!’
”
(a-a-O-.S.
216
[V47:178] Die allgemeine Bereitschaft des autoritären
Charakters, den Haß, der ursprünglich der unterdrückenden
Autorität gegolten hat, projektiv auf
Minderheiten zu richten, ist im faschistischen Antisemitismus
aufs furchtbarste hervorgetreten. Auf Grund dieser Erfahrung –
und auf Grund verwandter Tendenzen
in anderen Ländern, z.B. den USA – haben sich die nachfolgenden
Untersuchungen der Kritischen Theorie vor allem mit diesem
Aspekt des Autoritarismus, der Vorurteilsbereitschaft und damit
der Anfälligkeit für totalitäre Propaganda, befaßt. Die
Darstellung dieser Untersuchungen ist hier nicht mehr möglich.
Da sie bei allen Unterschieden auf den dargestellten Problemen
und Resultaten aufbauen, müßten sie dem Interessierten ohne
allzu große Schwierigkeiten anhand der Originaltexte er|A 42|schließbar sein (Vgl. dazu Adorno, a.a.O.; den Artikel
“Vorurteil”
in: Soziologische Exkurse).
|A 43|
[V47:179]
[V47:180] Beantworten Sie anhand der bisherigen Ausführungen
die folgenden Fragen in Stichworten:
a)
[V47:181] Welches ist die historisch-politische
Ausgangsfrage der
“Studien über Autorität
und Familie”
?
b)
[V47:182] Welche Gründe sprechen für eine Verbindung von
Kritischer (Gesellschafts-)Theorie und psychoanalytischer
Theorie?
c)
[V47:183] Worin sehen Fromm
und Horkheimer die
grundlegenden Bedingungen für die Ausbildung des autoritären
Charakters?
|A 44|
[V47:185]
[V47:186] (Vorbemerkung: Diese
Aufgabe ist ebenso wie die Übungsaufgabe 4 dieser Kurseinheit mit der Lektüre eines längeren
Textes verbunden. Wir gehen davon aus, daß Sie in der
vorgesehenen Zeit nur eine dieser beiden Aufgaben bearbeiten
können, und bitten Sie, sich bei der Wahl der Aufgabe von
Ihrem sachlichen Interesse bestimmen zu lassen.)
[V47:187] Es ist Ihnen vielleicht aufgefallen, daß die
bisherige Darstellung der Autoritätsproblematik zwei
‘Einseitigkeiten’
aufweist, denn
1.
[V47:188] ist fast nur von der männlichen Seite der
Sozialisation – von Vätern und Söhnen also – die Rede
gewesen;
2.
[V47:189] wurden fast ausschließlich die
gesellschaftlich funktionalen – d.h. die bestehenden
Verhältnisse stützenden – Leistungen der Familie und der
Charakterbildung aufgezeigt.
[V47:190] Auch wenn auf diesen beiden Aspekten der Hauptakzent
der
“Studien über Autorität und Familie”
liegt, bedarf dieses Bild der
Korrektur.
[V47:191] Lesen Sie deshalb im folgenden Text: M. Horkheimer: Autorität und Familie. In: Horkheimer: Traditionelle und
kritische Theorie, 1970 (Taschenbuchausgabe) die
Seiten 218 (unten) – 230!
[V47:192] Beantworten Sie dann die folgenden Fragen:
–
[V47:193] Wie wird die Situation der Frau in der
Kleinfamilie beschrieben?
–
[V47:194] Welche Rolle spielt die Mutter für die
Sozialisation der Kinder?
–
[V47:195] Welche Unterschiede lassen sich im Verlauf des
Erziehungsprozesses für Jungen und Mädchen vermuten?
|A 45|
–
[V47:196] Welche gegen-gesellschaftlichen Kräfte
erwachsen nach Horkheimers Auffassung
(unter bestimmten Bedingungen) aus der Familie?
–
[V47:197] Welche fördernde oder hemmende Rolle spielt
dabei die Frau?
|A 46|
2.1.2.Gesellschaft, Familie und Persönlichkeitsstruktur II: Der narzistisch gestörte Sozialisationstyp
[V47:257] Aus der Vielfalt der Untersuchungen, die sich in der
Gegenwart dem Problem der Persönlichkeitsbildung und deren
gesellschaftlicher Bedingtheit zu wandten, greifen wir
exemplarisch eine Studie neueren Datums (Thomas
Ziehe: Pubertät und Narzißmus. Sind Jugendliche
entpolitisiert?) heraus. An dieser Arbeit kann man
sehen, wie sich die von Horkheimer, Fromm, Adorno u.a.
untersuchte Autoritäts- und Persönlichkeitsproblematik unter dem
Einfluß gesellschaftlicher Veränderungen verschoben hat.
[V47:258] Unter einem im engeren Sinne pädagogisch-didaktischen Interesse an der politischen Bildung von Schülern
geht es Ziehe darum, die Bedingungen
und Möglichkeiten kritisch-reflektierter politischer
Handlungsfähigkeit zu untersuchen. Er will diejenigen Faktoren
analysieren, die die kritische Einsicht in die eigene Situation
und die sie bedingenden gesellschaftlichen Verhältnisse
verstellen und ein von dieser Einsicht geleitetes politisches
Handeln erschweren oder verhindern. Stellte sich für Horkheimer diese Frage noch als Problem der
aktiven Folgebereitschaft der Massen gegenüber einem autoritären
Regime dar, so er scheint sie heute eher als Problem politischer Apathie, als
Rückzug und Verweigerung von politischer Beteiligung überhaupt
(man denke an die Flucht vieler Jugendlicher in subkulturelle
Gruppen, in Beat- und Drogenszenerie , an die Vermeidung von
Leistungsanforderungen usw.). Bestand die Ausgangshypothese
damals in der Annahme einer verbreiteten, starren, psychisch
verankerten Autoritätsabhängigkeit, so ist heute eher
anzunehmen, daß Autoritätsbindungen fehlen. Der Effekt jedoch,
die |A 47| politische Kritik und
Handlungsunfähigkeit und die blinde, wenn auch heute nur noch
passive Stützung bestehender gesellschaftlicher Realität, ist
vermutlich gleich oder zumindest ähnlich geblieben. Die Ursache
für die Verschiebung des Problems sieht Ziehe in
der Veränderung gesellschaftlicher Strukturen, die sich über die
familiäre Primärsozialisation auf die Entwicklung und
Verfestigung bestimmter, sozialtypischer
Persönlichkeitsstrukturen auswirken.
[V47:259] Der traditionell-bürgerlicher Typus der
“Autoritären”
wie er noch den
Untersuchungen Horkheimers zugrundelag, war
gekennzeichnet durch die unverbrüchliche und fraglose Bindung an
traditionelle Inhalte, die über die tatsächliche – oder
zumindest demonstrierte – Autorität der Eltern sowohl als
kognitive Sinnorientierung als auch als affektive
Verhaltensdisposition vermittelt wurden. Heute scheint folgende
Annahme plausibel: Die Elterngeneration und die heranwachsende
Generation sind mit der Tatsache konfrontiert, daß die
Selbstverständlichkeit traditioneller Kulturbestände zerfällt;
die ehemals zweifelsfreien Tugenden des Gehorsams, der
Selbstdisziplin und des Bedürfnisverzichts zugunsten
übergeordneter, scheinbar
‘allgemeiner’
Interessen und Werte sind brüchig geworden. Wie konnte das
geschehen?
–
[V47:260] Der Glaube daran, daß über individuelle
Leistung und Anstrengung soziale Gerechtigkeit und
vernünftiger Fortschritt zu erreichen sei und dadurch jene
Tugenden legitimiert seien, ist ins Wanken geraten (Ziehe folgt in seiner Argumentation
Untersuchungen von Habermas und
Offe, vgl. auch Studienbrief I, Teil 1.2.3),
–
[V47:261]
Die Funktionsschwächen der privaten Marktwirtschaft, die
keineswegs die kontinuierliche Verbesserung allgemeiner
Lebensbedingungen sichert, sie teilweise sogar zerstört
(erinnert sei an Umweltzerstörung, infrastrukturelle
Unterversorgung, Arbeits|A 48|losigkeit, Ansteigen von vor allem psychischer
Arbeitsbelastung) zwingt den Staat, in immer
umfassenderer Weise mit administrativen Maßnahmen,
Investitionen und Sozialleistungen korrigierend und
steuernd in den Markt einzugreifen. Damit sollen
einerseits die Verwertungsschwierigkeiten des Kapitals,
andererseits die schwindende Motivation der Bevölkerung
zu systemkonformem , diszipliniertem Verhalten abgefangen werden.
Das heißt, das administrative System muß in zwei
Richtungen tätig werden:
“Einerseits muß es über die
steuerlich abgeschöpften Ressourcen so
disponieren, daß die Realisationsschwierigkeiten
des Kapitals nicht in ökonomische Wachstumskrisen
einmünden, sondern die Bedingungen für erweiterte
Verwertungschancen geschaffen werden; andererseits
sind von diesen Ressourcen
“Sozialleistungen”
in solchem Umfang zu finanzieren, daß
ein notwendiges Minimum an Massenloyalität dem
politischen System gegenüber fortbesteht. Je
nachdem, welchen Ausgabe-Leistungen von seiten der
staatlichen Haushaltspolitik der Vorrang gegeben
wird, drohen entweder ein Stillstand der
Kapitalakkumulation und hieraus resultierende
ökonomische Krisenerscheinungen oder ein
Loyalitätsschwund und hieraus folgende politische
Massenmobilisierung.”
(Ziehe, Pubertät und Narzißmus, S.
63)
–
[V47:262]
Da diese Maßnahmen sich als politische Entscheidungen
darstellen, bedürfen sie der Begründung (Legitimation),
so sieht sich der Staat gezwungen, ehemals
selbstverständliche kulturelle Inhalte zur Begründung
konkreter politischer Entscheidungen heranzuziehen.
Damit aber verlieren die traditionellen Bestände ihren
Charakter als unhinterfragbare allgemeine
Geltungsprinzipien; sie werden angreifbar und
diskutierbar; sie werden der diskursiven Überprüfung
zugänglich; ihre Funktion als übergeordnete
Sinnorientierung aus der sich zweifelsfrei und ein|A 49|deutig bestimmte Verhaltensformen
ableiten, ist damit erschüttert.
Die administrative Thematisierung kultureller
Selbstverständlichkeiten hat keine legitimatorische
Wirkung, sondern erzeugt gerade durch diese
Funktionalisierung bisher unbefragter Symbole ein
vermehrtes Kontingenzbewußtsein. Dieses
Kontingenzbewußtsein aber ist unvereinbar mit dem
“ganzheitlichen”
Charakter, den das
klassisch-bürgerliche Weltbild gehabt hat; seine auf
“das Ganze”
gerichtete sinnstiftende
Funktion, die geschichtliche und gesellschaftliche
Identität zu vermitteln versprach, ist damit
irreversibel zersetzt. (a.o.O., S. 101)
–
[V47:263]
Zugleich wird die, zumindest teilweise gesellschaftliche
Funktionslosigkeit der bürgerlich-asketischen Tugenden,
nämlich des Bedürfnisaufschubs und -verzichts im
Konsumbereich (z.B. Sparsamkeit) direkt erfahrbar. Die
Konsumwerbung zielt gerade darauf ab, durch aktuelle
Weckung und Umlenkung von Bedürfnissen, die nach
unmittelbarer Befriedigung verlangen, die
Konsumbereitschaft der Massen zu erhöhen. Das heißt, die
psychische Bereitschaft zum Triebverzicht wird durch
gezielte Planung und Manipulation von seiten der
Konsumgüterindustrie unterlaufen.
Solche durch die gesellschaftlichen
Verhältnisse hervorgerufene Erschütterung von
Verhaltensnormen und psychischen Verhaltensdispositionen
wirkt sich in charakteristischer Weise auf die
innerfamiliären Interaktionen und Strukturen, also auf
die Sozialisationsbedingungen von Kindern aus:
–
[V47:264] Die Eltern erleben diese Erschütterung als
eine massive Störung der eigenen Identität, als kognitive
und affektive Verunsicherung; sie werden dadurch zu dem
Versuch verführt, sich über innerfamiliäre Beziehungen,
ins|A 50|besondere zu den Kindern (dies
gilt vor allen Dingen für die Mutter, die in ihren
Selbstbestätigungswünschen immer noch weitgehend auf den
Bereich der Erziehung verwiesen ist), eine neue Stabilität
zu schaffen. Für die heranwachsende Generation stellt sich
das Problem, überhaupt erst zu einer Identität zu finden,
und zwar angesichts einer doppelten Störung: der Auflösung
gesellschaftlicher Normen und der
Veränderung der familiären Primärsozialisation, der nach wie
vor entscheidende Bedeutung für die
Persönlichkeitsentwicklung zukommt. Denn die Verunsicherung
und Labilisierung der Eltern führt zu einer gegenüber der
traditionell bürgerlichen Familienstruktur außergewöhnlichen
Dominanz der Mutter, die sich über eine besonders enge und
liebevolle Mutter-Kind-Beziehung selbst emotional zu
stabilisieren sucht, und zu einer stark herabgesetzten
Bedeutung des Vaters, der den Anspruch auf väterliche
Autorität angesichts eigener Identitäts- und
Verhaltensschwierigkeiten kaum realisieren kann.
[V47:265] In dieser Entwicklungsproblematik der heranwachsenden
Generation kristallisiert sich nach den Erörterungen von Ziehe eine neue Form typischer
Persönlichkeitsstrukturen heraus, die sich von den
Charaktermerkmalen des
‘klassischen’
Autoritären in wichtigen Punkten unterscheidet.
[V47:266] Ziehe nennt diesen neuen
‘Sozialisationstyp’
narzißtisch
gestört, weil er über die Kindheit hinaus an einem
primär-narzißtisch fundierten Gleichgewichtsstreben und
Selbstideal festhält. |A 51|Die früheste –
primär-narzißtische – Entwick lungsphase ist durch ein dem
intrauterinen Zustand noch nahekommendes Gefühl der fast
uneingeschränkten und versagungsfreien Geborgenheit und Versorgheit gekennzeichnet, die von der Mutter gewährleistet
wird.
[V47:267]
“Dieser affektive Zustand zeichnet sich
durch ein von Freud als
‘ozeanisch’
beschriebenes Gefühl aus; ein Gefühl der unauflösbaren
Verbundenheit, der Zusammengehörigkeit mit der ganzen
Außenwelt ... [V47:268] Nur
das als diffus und elementar wahrgenommene Objekt, das
gewissermaßen die gesamte Eigenpersönlichkeit umschließt und
einbettet, kann also die Nachfolge des ersehnten Urzustandes
gewährleisten ... [V47:269] Das spezifische der narzistischen Besetzung ist also nicht in der Qualität der
Objekte selbst zu sehen, sondern im angestrebten oder
erreichten Zustand des positiven Selbstgefühls, der vom
Selbstobjekt und vom Fremdobjekt verursacht werden
kann.”
(A.a.O., S. 122, 123)
[V47:270] Da die Mutter noch nicht als ein vom eigenen
getrenntes fremdes Selbst wahrgenommen wird, repräsentiert das
früher Mutterbild eine Allmächtigkeit und Güte, die als
positives Selbstgefühl erlebt wird, d.h. mit dem allmächtigen
Bild der Mutter korrespondiert ein Omnipotenzanspruch des
Kindes. Diese narzißtische Wahrnehmungsverzerrung wird nach dem
klassisch-psychoanalytischen Muster eines
‘normalen’
Entwicklungsverlaufs überlagert durch die
libidinöse Besetzung und Identifikation mit den, nun vom eigenen
Selbst unterschiedenen, Eltern. Über die Identifikation mit den
idealisierten Bildern als auch den Verboten der elterlichen
Autoritäten wird die Ausbildung eines realitätsgerechten
Über-Ichs als wesentliches Verhaltensregulativ erreicht. In der
narzißtisch gestörten Entwicklung kommt es zwar auch zu einer
libidinösen Besetzung der Eltern. Sie tritt aber, da die |A 52|frühe Mutter-Kind-Symbiose von der in
ihrer eigenen Stabilität geschwächten Mutter künstlich
verlängert wird, hinter der narzißtischen Besetzung des
frühkindlichen Mutterbildes stark zurück. Zugleich kommen die
realen Eltern aufgrund ihrer eigenen
Schwäche als geeignete Identifikationsobjekte kaum noch in
Frage; sie können immer seltener als stabile Vermittlungsinstanz
zwischen dem Kind und einer außerfamiliären gesellschaftlichen
Realität angesehen werden, die ihnen selbst fremd und
unverständlich zu werden droht. Aber auch eine konflikthafte
Auseinandersetzung mit den Eltern wird von den heranwachsenden
Kindern, aus Furcht vor einer narzißtischen Kränkung des
allmächtigen Selbstanspruchs, vermieden. Aus diesen Gründen
kommt es nicht zu einer Über-Ich-Bildung im traditionell
bürgerlichen Sinne. Das Über-Ich speist sich nicht aus
elterlicher Autorität, sondern viel mehr aus der phantasierten
Allmacht und Güte des frühkindlichen Mutterbildes und einem
damit korrespondierenden überhöhten Selbstideal. Als
Verhaltensregulativ fungiert nicht mehr eine die Realität
repräsentierende Autorität, sondern der narzißtische Wunsch nach
Allmacht und versagungsfreier Geborgenheit, der nur auf
Kosten eines partiellen Rückzugs von der
“kränkenden”
Realität aufrecht erhalten werden kann. Die
Kluft zwischen dem hochfliegenden Selbstideal und dem relativen
Versagen im realen Verhalten führt aber zu so starken
Schuldgefühlen, daß die Verhaltensforderungen des Über-Ichs
durch Abwehrmechanismen zurückgedrängt werden müssen. Die
Verdrängungsleistungen richten sich also nicht, wie beim
autoritären Typ, gegen die Triebe, sondern – umgekehrt – gegen
das Über-Ich. So kommt es zu der für den narzißtisch gestörten
Sozialisationstyp charakteristischen flexiblen und offenen |A 53|Persönlichkeitsstruktur, bei der ein –
sogar überstrenges – Über-Ich gebildet wird, das aber
gleichzeitig an Einfluß auf das reale Verhalten verliert. Aus
dieser familialen Interaktions- und Bildungsstruktur ergeben sich die
folgenden Verhaltensmerkmale:
1.
[V47:271] eine erhöhte Anpassungsfähigkeit, aber auch
Anpassungsbedürftigkeit, die aus der hohen Instabilität und
Flexibilität der Persönlichkeitsstruktur resultiert;
2.
[V47:272] ein ausgeprägtes Rückzugs- und
Verweigerungsverhalten gegenüber konflikthaften
Auseinandersetzungen mit gesellschaftlicher Realität, das
der Vermeidung von Kränkungen eines äußerst verletzlichen
Selbstwertgefühls dient;
3.
[V47:273] eine Tendenz zur symbiotischen Verklammerung
in Gruppen- und Partnerbeziehungen, die das narzißtisch
überhöhte, allerdings stark von außen beeinflußbare
Ich-Ideal unangetastet lassen und ein Gefühl
uneingeschränkter Wärme und Geborgenheit vermitteln.
|A 54|
[V47:274]
[V47:275] Beantworten Sie anhand des voranstehenden Textes die
folgenden Fragen:
[V47:276] a) Inwiefern hat sich gegenüber den Untersuchungen
von Horkheimer und Fromm –
nach den Ergebnissen von Ziehe – die Bedeutung der
Mutter und des Vaters für das Kind verschoben? (zugleich
Einsendeaufgabe 2)
[V47:277] b) Inwiefern hat sich nach Ziehe die
Bedeutung tradierter Normen in der Erziehung verändert?
[V47:278] c) Wie reagiert der
“narzißtisch
gestörte Sozialisationstyp”
auf Leistungsanforderungen,
z.B. in der Schule?
|A 55|
[V47:279] Welche seelische Funktion erfüllt dieses
Verhalten?
[V47:280] d) Stellen Sie sich eine kleine Gruppe vor, die sich
zur gemeinsamen Arbeit trifft. Versuchen Sie auszuphantasieren,
welche Atmosphäre, welche Art von Beziehungen vorherrschen und
welcher Verlauf der Gruppensitzungen zu erwarten ist – je
nachdem, ob in der Gruppe autoritäre oder narzißtische Tendenzen
überwiegen. Welchen Bedürfnissen und Erwartungen käme die Gruppe
im einen und welchen im anderen Fall entgegen?
|A 56|
2.1.3.Zwischenresumée: Gesellschaftliche Bedingungen und
Erziehungspraxis
[V47:309] Kehren wir nach der exemplarischen Darstellung und Erörterung von
Untersuchungen der Kritischen Theorie zu der eingangs aufgestellten These
zurück, daß von der Kritischen Theorie selbst Problemstellungen untersucht
wurden, die als fundamental für Erziehungs- und Bildungsprozesse gelten können! Wir können
nunmehr Folgen des festhalten:
1.
[V47:310] Die Vertreter der Frankfurter Schule haben die Theorie eines wichtigen Erziehungsfeldes – der Familie – formuliert. Sie haben die Struktur dieses
Erziehungsfeldes und die sich darin realisierenden zwischenmenschlichen
Prozesse in ihrer gesellschaftlich-geschichtlichen Funktion und
Abhängigkeit aufgezeigt.
2.
[V47:311] Sie haben die Theorie einer relevanten Dimension von Erziehung – der Persönlichkeitsbildung – formuliert. Dabei wurde sowohl den
allgemeinen gesellschaftlichen Bedingungen, den vermittelnden Instanzen
wie der gesellschaftlichen Funktion dieser Sozialisationsleistungen
Rechnung getragen.
[V47:312] In unserer Darstellung ist jedoch weitgehend offen geblieben,
welche handlungsleitende Relevanzdiesen Erkenntnissen zukommt. Allgemein gesprochen geht es um das Verhältnis von
geschichtlich-gesellschaftlich vorgegebenen
Sozialisationsbedingungen und den Möglichkeiten einer bewußten,
zielgerichteten (internationalen) Erziehungspraxis, die diese
Bedingungen kritisch zu reflektieren und zu verändern sucht.
[V47:313] Die kritische Theorie hat kaum Zweifel daran gelassen, daß den objektiven gesellschaftlichen |A 57|Bedingungen gegenüber dem individuellen Erziehungshandeln weitgehend determinierende Kraft zuzuschreiben ist
– unabhängig davon, von welchen Vorstellungen und Zielen die
Erziehenden sich leiten lassen. So schreibt Horkheimer über das, was in der heutigen pädagogischen
Diskussion
‘Erziehungsstil’
heißt:
[V47:314]
“Ob in der Erziehung Zwang oder Milde
waltet, ist hierbei nicht entscheidend; denn der kindliche
Charakter wird durch die Struktur der Familie selbst weit
mehr als durch die bewußten Absichten und Methoden des
Vaters gebildet.”
(Horkheimer: Autorität und Familie, a.a.O., S.
216)
[V47:316] In der Kritik am autoritären Charakter bzw. am
narzißtisch gestörten Sozialisationstyp sind jedoch auch
Vorstellungen von Sozialisationsverläufen und
Persönlichkeitsstrukturen enthalten, die – wie implizit und abstrakt
auch immer sie formuliert sein mögen – dem Glück der Einzelnen wie
dem gesellschaftlichen Fortschritt nach Ansicht der Kritischen
Theorie eher gerecht werden als die in der Vergangenheit und
Gegenwart vorherrschenden. Welche Rolle aber spielen diese
Vorstellungen für die pädagogische Praxis? Wenn die Skepsis
gegenüber den Möglichkeiten und Aussichten von Erziehung, wie sie in
dem Zitat von Horkheimer zum Ausdruck kommt, berechtigt ist, muß es doch
fraglich erscheinen, ob die Vorstellung einer geglückteren
Sozialisation auch als Erziehungsziel gelten
kann, das tatsächlich unser erzieherisches Handeln und seine
Wirkungen bestimmen könnte.
[V47:317] Trotz der pessimistischen Beurteilung der Möglichkeit, eine vernunftsbestimmte Erziehungspraxis zu
verwirklichen, und trotz der Überzeugung, daß die befreiende
Veränderung der Gesellschaft keine vorrangig pädagogische Leistung
sein könne, hat die |A 58|Kritische Theorie dennoch
nicht die Bedeutungslosigkeit kritischer Erziehung behauptet. So
betont zwar auch Adorno die Zwangsläufigkeit der
gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklung, wenn er sagt:
[V47:320]
“Wenn im Zivilisationsprozeß selbst die Barbarei
angelegt ist, dann hat es etwas Desparates, dagegen aufzubegehren”
.
(Erziehung nach Auschwitz, in: Adorno, Erziehung zur Mündigkeit, 1975, S.
88)
[V47:321] Und dennoch heißt es im selben Text:
[V47:322]
“Ich gehe soweit, die Entbarbarisierung für eines
der wichtigsten Erziehungsziele zu halten.”
(S.
94)
[V47:323] Der darin ausgesprochenen Aporie
muß eine kritische Erziehungswissenschaft und Erziehungspraxis sich
stellen: die Ohnmacht individuellen Erziehungshandelns gegenüber
seinen gesellschaftlichen Bedingungen nicht zu verdrängen und trotz
dieser Einsicht an der Notwendigkeit festzuhalten, bewußt und
kritisch – entgegen den in den Heranwachsenden und in den Erziehenden sich niederschlagenden
gesellschaftlichen Zwangstendenzen – zu erziehen.
|A 59|
[V47:324] Mit dem Begriff des autoritären Charakters wird ein bestimmter
Sozialisationstyp der Kritik unterzogen. Zwar erhebt die Kritische Theorie, wie wir dargestellt
haben, prinzipielle Einwände gegen die positive Beschreibung
praktischer Ziele. Dennoch scheint es unvermeidlich, daß im Vollzuge
der Kritik vernünftigere Alternativen ansatzweise
hervortreten.
a)
[V47:325] Versuchen Sie darum zunächst noch einmal, sich ein möglichst anschauliches Bild des
autoritären Charaktertyps zu machen! Ziehen Sie erforderlichenfalls die
entsprechenden Passagen des Studientextes mit hinzu!
b)
[V47:326] Versuchen Sie, in wenigen Sätzen die Elemente des
impliziten
‘Bildungsideals’
zu benennen, die ihres
Erachtens für die Kritik am autoritären Charakter besonders bedeutsam sind!
c)
[V47:327] Diese Kritik wurde von der Studenten- und Schülerbewegung
am Ende der sechziger Jahre aufgegriffen. Lesen Sie dazu die
programmatischen
“Thesen
zur antiautoritären Erziehung”
von Regine Dermitzel (in: Kursbuch 17, 1969, Suhrkamp Verlag, S.
179-187)!
d)
[V47:328] Prüfen Sie, inwieweit die dort formulierten
Erziehungsziele mit dem unausgesprochenen
‘Bildungsideal’
der frühen Kritischen Theorie – bzw. Ihrer
Antwort auf Frage b) – übereinstimmen!
|A 60|
2.2.Zur Methode der Kritischen Theorie und ihrer
erziehungswissenschaftlichen Bedeutsamkeit
2.2.0.Die Komponenten des wissenschaftlichen Verfahrens
[V47:329] Schaut man sich die größeren Untersuchungen an, die aus der
“Frankfurter Schule”
hervorgegangen sind, dann fällt
eine Eigentümlichkeit ins Auge, die diese Arbeiten von denen anderer
theoretischer Traditionen oder Disziplinen unterscheidet: Es verbinden sich
dort drei Formen der erkennenden Bearbeitung des wissenschaftlichen
Gegenstandes, die sonst häufig (oder sogar im Regelfall) von einander
getrennt bleiben:
–
[V47:330] die geschichtliche Deutung des Objekts,
–
[V47:331] die philosophische Reflexion der Kategorien, die zur Deutung des Objekts verwendet
werden,
–
[V47:332] die erfahrungswissenschaftliche
Kontrolle der Aussagen, die aus solchen Deutungen und Reflexionen gewonnen
werden.
[V47:333] Freilich fügt sich nicht jeder beliebige Gegenstand demjenigen
Begriff von Erfahrungskontrolle, wie er z.B. in den Regeln der empirischen
Sozialforschung oder gar in der methodologischen Theorie des psychologischen
Experiments enthalten ist; das zeigt sich beispielsweise in
literaturtheoretischen Arbeiten Adornos über Balzac, Proust
oder Beckett (Th. W. Adorno: Noten zur Literatur I und II,
Frankfurt 1958 und 1961) oder auch in Studien Walter
Benjamins (z.B. W. Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner
technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt 1963). Dennoch gelten für die Methode der Kritischen
Theorie jene drei Bearbeitungsformen als integrale, unverzichtbare
Bestandteile. Sie sind die methodische Einlösung dessen, was
“kritisch”
genannt wird.
|A 61|
[V47:334] Das bedeutet jedoch nicht, daß jeder der drei Komponenten des wissenschaftlichen Verfahrens auch gleiche
Bedeutsamkeit zugesprochen wird: geschichtliche Deutung und Reflexion der
erkenntnisleitenden Kategorien sind der empirisch operationalisierten
Erfahrungskontrolle vorgeordnet.
[V47:335] Häufig nun konzentrieren sich – ohne dabei das Programm der Integration jener drei Bearbeitungsformen
aufzugeben – die aus der Kritischen Theorie hervorgegangenen
Untersuchungen vorwiegend auf jeweils einen dieser drei Zugänge.
Ein Beispiel für die Konzentration auf die Reflexion der
Kategorien ist Adornos Ästhetik (Th. W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt 1973); ein Beispiel für die Konzentration auf
die geschichtliche Deutung ist Habermas’
historische Darstellung der
“bürgerlichen
Öffentlichkeit”
(J. Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit ,
Neuwied 1962). Beispiele für eher empirisch verfahrende Untersuchungen sind die
“Studien zum autoritären
Charakter”
oder
“Student und Politik”
.
Allerdings gibt es keine Beispiele – und das ist charakteristisch – für empirische
Untersuchungen, in denen die Komponenten der geschichtlichen Deutung und
der philosophischen Reflexion gänzlich fehlen. Das ist bemerkenswert, weil z.B. in der
pädagogischen Literatur dieser Fall gar nicht selten
ist.Es ist deshalb nützlich, das Verfahren der Kritischen Theorie am Beispiel einer
Untersuchung zu demonstrieren und im Anschluß daran zu fragen,
ob und welche Konsequenzen sich daraus für die
erziehungswissenschaftliche Forschung ergeben können. Wie wählen
dafür die – immer noch aktuelle – Untersuchung von Habermas/Friedburg/Oehler/Weltz
mit dem Titel
“Student und Politik”
(Neuwied 1961).
|A 62|
2.2.1.Die geschichtliche Deutung
[V47:336] Das besondere Interesse, das die Autoren verfolgen, besteht in der
“Frage nach der Anteilnahme der Studierenden an der
Politik”
(S. 13)
. Wie ist eine solche Frage zu entfalten, und zwar so, daß die Antwort
zuverlässig überprüfbar, also (auch) mit Hilfe empirischer Verfahren (in
diesem Fall mit den Mitteln des Interviews) gegeben werden kann? Gleich zu
Beginn des Buches heißt es:
[V47:337]
“Die Untersuchung über
‘Student und Politik’
, deren Ergebnisse wir vorlegen
und deren Implikationen wir nachgehen, bedarf eines
theoretischen Rahmens. Nicht bloß darum, weil sie im
beschränkten Umkreis einer einzelnen Universität, der in
Frankfurt, durchgeführt wurde, und weil ihre Befunde allzu
unverbindlich blieben, wenn sie nicht in weitere
Perspektiven gerückt würden, sondern vor allem auch wegen
ihres Gegenstandes. Die Studie war subjektiv gerichtet: will
sagen, sie hat Ansichten, Verhaltensweisen und durchgehende
Haltungen der befragten Studenten zu ermitteln, zu ordnen
und zu deuten gesucht. Diese subjektiven Vorfindlichkeiten
jedoch sind keineswegs letzte Daten, bei denen sich
beruhigen könnte, wer über das Verhältnis von Student und
Politik wissenschaftlich etwas ausmachen möchte; sie sind
weitgehend von objektiven Verhältnissen produziert. Diese
wirken auf die Studierenden, sei es in Gestalt der
akademischen Institutionen, sei es gesamtgesellschaftlich
ein, und darüber hinaus sind die Studenten selbst, samt
ihren Überzeugungen, Neigungen und Attitüden, wie man so
sagt, Kinder ihrer Zeit. Nur wer sich des Wechselspiels
zwischen der gesellschaftlichen Objektivität und den
Subjekten versichert, erwehrt sich der Illusion,
institutionelle Probleme heute wären unmittelbar durch die
Kenntnis derer zu lösen, welche zu den Institutionen in
Beziehung stehen.”
(Habermas/Friedeburg/Oehler/Weltz: Student und
Politik, S.
13)
[V47:338] Ein bestimmtes empirisches Datum also – der Befund
beispielsweise, daß 22% der befragten Studenten eine
“autoritäre”
Einstellung im Sinne der in der Studie verwendeten
Definition haben – ist nach zwei Seiten hin zu erweitern.
|A 63|
–
[V47:339] Einerseits muß der ermittelte Sachverhalt erklärt werden, und zwar nicht aus den subjektiven Merkmalen der
befragten Individuen, sondern auch und besonders aus den sozialen
Bedingungen (
“akademische Institutionen”
, aus gesamtgesellschaftlichen" Faktoren, wohl auch aus sozialer Herkunft, Familiensituation
usw.), den
“objektiven
Verhältnissen”
also, weil erst dann das Datum bei der Lösung
“institutioneller Probleme”
verwendet werden kann.
Dies ist die Position jedes Erfahrungswissenschaftlers (Empirikers), der
nicht nur beschreiben, sondern auch erklären will.
–
[V47:340] Andererseits steht auch die Bedeutung eines ermittelten Sachverhalts zur Diskussion. Handelt es sich –
wie im vorliegenden Fall – um soziale Vorgänge und Zustände, dann hängt
deren Bedeutung an der sozialen Situation, in der sie auftreten. Diese
also muß ermittelt werden, will man den Sinn irgendeiner Einzelheit
verstehen. Anderenfalls geschieht, was in der empirischen Forschung
häufig der Fall ist: Wo eine Problemstellung
“abstrakt, ohne Rückfrage nach der Situation,
und ihrem möglichen Sinn in dieser, untersucht wird, gerinnt sie zu einer Art
Selbstzweck”
(S. 13)
. Solche Rückfragen nach der gesellschaftlichen Situation können
nur dadurch zureichend beantwortet werden, daß auch deren Geworden-sein ermittelt wird. Da eine soziale Situation nicht nur
ein Bündel von Ursachen und Folgen ist, das in erklärenden Sätzen
zureichend abgebildet werden kann, sondern einen Sinnzusammenhang darstellt, ist die Rekonstruktion ihres Geworden-seins eine
Entfaltung der Sinn-konstituierenden Momente in ihrem geschichtlichen Kontext und Ablauf.
Interessieren sich |A 64|also die Autoren der
Untersuchung für die Frage, von welchem Umfang und von welcher Art das
Potential
“politischer Beteiligung”
der jungen
Generation ist, dann ist zunächst nach dem geschichtlichen Zusammenhang
zu fragen, innerhalb dessen
“politische Beteiligung”
seine bestimmende und aktuelle Bedeutung gewinnt. Ein Verzicht auf
diesen Untersuchungsschritt – so meinen die Autoren – verriet eine
“Freilich hatte die unhistorische
Denkungsart einmal
eine andere Funktion: Waffe des
‘aufsteigenden Bürgertums’
im Kampf gegen die
überlieferten Privilegien der beiden ersten Stände; deren
historische Legitimation zerbrach vor der sich geschichtslos
dünkenden Vernunft. Heute hingegen wird mit dem historischen
Bewußtsein zugleich die Angst vor der Einsicht verdrängt,
daß sich in solchen Erscheinungen eine geschichtliche
Alternative anmelden könne: daß der bürgerliche Rechtsstaat
entweder den liberalen zu einem sozialen Rechtsstaat
entfaltet und Demokratie als eine soziale verwirklicht –
oder am Ende wiederum in die Formen eines autoritären
Regimes zurückfällt. Politische Beteiligung jedenfalls
gewinnt erst Funktion, wo Demokratie derart als
geschichtlicher Prozeß begriffen wird.”
(A. a. O., S.
17)
[V47:342] Unter einer Überschrift, die zugleich die historische These
ausspricht, die entfaltet werden soll, folgt die Darstellung der Entwicklung
unseres politischen Systems vom 19. ins 20. Jahrhundert: "Entwicklung des liberalen Rechtsstaates zum Träger kollektiver
‘Daseinsvorsorge’
. Im Rahmen
dieser Entwicklung wird von den Verfassern ein Merkmal besonders
hervorgehoben: die tendenzielle Neutralisierung der politischen Beteiligung
der Staatsbürger. Als Ursache für diese Tendenz wird die Tatsache
angenommen, daß
|A 65|
–
[V47:343] einerseits die Form Demokratie die politische Beteiligung der Bürger fordert und Chancen für
solche Beteiligung auch verspricht,
–
[V47:344] andererseits aber die gesellschaftlichen
Bedingungen der Verwirklichung der Beteiligungsforderung im Wege stehen: die
geltende Eigentumsordnung und die durch sie ermöglichte Konzentration
privater Macht ohne öffentliche Kontrolle.
[V47:345] In diesem Vorgang wird indessen noch eine dritte Komponente für
wichtig gehalten, die mit der Entwicklung des Sozialstaates (
“Kollektive Daseinsvorsorge”
) zusammenhängt:
–
[V47:346] die
“Verselbständigung”
der staatlichen
Institutionen der politischen Willensbildung gegenüber den Wählern (die
Macht der Administration, die Verselbständigung der politischen
Parteien).
[V47:347] So kommt die Analyse zu der historisch-prognostischen Hypothese, daß das
politische Beteiligungspotential der Bürger mit darüber entscheiden wird, ob
die weitere politische Entwicklung eher in Richtung auf eine
“autoritäre”
oder in Richtung auf eine
“soziale”
Demokratie verlaufen wird. Damit ist methodisch die Stelle
im wissenschaftlichen Verfahren bezeichnet, an der eine
sozialpsychologische, mit sozialwissenschaftlich-empirischen Methoden zu
beantwortende Fragen mit dem geschichtlichen Sinnzusammenhang verknüpft
werden kann.
|A 66|
2.2.2.Reflexion der leitenden Kategorien
[V47:348]
“Die Kategorie der politischen Beteiligung ist eine
der bürgerlichen Gesellschaft spezifisch zugehörige”
(S. 51)
. Damit ist gesagt, daß es eine historische Kategorie ist, deren
Problematik ja auch in einer historischen Analyse entfaltet wurde.
Historische Kategorien können aber überlebt sein. Warum also lassen die
Autoren trotz ihrer für die Chancen von Beteiligung nicht gerade
optimistischen Analyse, den Begriff und seine praktische Bedeutsamkeit nicht fallen? Die Antwort ergibt sich, wenn man darüber nachdenkt, ob
“politische Beteiligung”
nicht noch einen anderen,
von historischen Schwankungen relativ unabhängigen, allgemeinen Sinn hat, ob
in ihr und im Begriff
“Demokratie”
etwas ausgedrückt ist,
das für den Menschen als Vernunftwesen von Bedeutung ist und deshalb nicht
beliebig – z.B. wenn die Verhältnisse die Verwirklichung des
Beteiligungspostulats erschweren – aufgegeben werden sollte. So heißt es
beispielsweise in unserem Text:
[V47:349]
“Demokratie arbeitet an der Selbstbestimmung
der Menschheit, und erst wenn diese wirklich ist, ist jene
wahr.”
(S. 15)
[V47:350] Das heißt: Im Begriff
“Demokratie”
ist ein
Zustand des menschlichen Gemeinwesens skizziert, in dem durch die
Beteiligung der Bürger deren Fremdbestimmung (die Tatsache, daß andere über
sie herrschen) auf ein Minimum herabgedrückt ist; die
Sätze, in denen dieser Zustand beschrieben werden kann, sind zwar
gegenwärtig nicht
“wahr”
, da diese Sätze das, was heute
“wirklich”
ist, nicht zutreffend beschreiben; sie
werden aber wahr sein dann, wenn das Gemeinwesen einmal jenen skizzierten
Zustand erreicht haben sollte. Da aber dieser Zustand wesentlich |A 67|mit der
“Selbstbestimmung”
des
Menschen zu tun hat, müssen wir an der möglichen Wahrheit jener Sätze festhalten; in dem
“Selbstbestimmung”
keine
wesentliche Bedeutung mehr hat.
[V47:351] Dies ist zwar eine Art Entscheidung; wir treffen sie
aber nicht ganz ohne Gründe. Diese Gründe können wir dadurch ermitteln, daß
wir uns überlegen, was wir – vielleicht ohne es uns einzugestehen – wollen, wenn wir
“Selbstbestimmung”
als unwesentlich für
die Menschheit behaupten würden. Wir würden dann beispielsweise die
“Manipulation”
von Menschen gut heißen, eine Art von
Beeinflussung also, die durch deren Vernunft nicht mehr kontrollierbar wäre;
das müßte natürlich auch für uns selbst gelten: wir müßten billigen, daß wir, ohne unsere eigene Vernunft ins Spiel bringen zu können, zu
einem Handeln veranlaßt würden, das nicht wir selbst, sondern andere
wollen.
[V47:352] Indessen: Können wir sicher sein, daß das Bild von
“Demokratie”
, das wir uns machen und das die
Verwirklichung von Selbstbestimmung sichern soll, diese
Verwirklichung in der Zukunft auch wirklich sichert, daß es
zweifelsfrei
“wahr”
ist? Wir können dessen
nicht sicher sein, und zwar deshalb nicht, weil unsere
Vorstellungskraft im Hinblick auf die Verwirklichung der Zwecke
unseres Handelns – auch wenn sie uns vernünftig scheinen – durch
unsere eigene historische Lage begrenzt ist; und auch wenn wir
diese Begrenzungen,
“wenn wir die psychologischen
Determinanten der Ideologien (denen wir folgen) kennen,
wissen wir immer noch nicht, welches die wahre Ideologie
(diejenige Vorstellung, in der zweifelsfrei die
richtigen Bedingungen für ein vernunftgemäßes Handeln
formuliert sind) ist; wir können nur ein paar
Hindernisse aus dem Weg räumen, auf dem wir |A 68|sie suchen”
(Th. W.
Adorno: Studien zum autoritären Charakter,
Frankfurt 1973)
.
[V47:353] Daraus folgt für die Untersuchung, deren Methodologie wir hier zu
beschreiben versuchen:
–
[V47:354] Die Orientierungsmarke
“Selbstbestimmung”
bedeutet für die Autoren nicht, daß
sie wüßten, wie der Zustand aussehen müßte, in dem sie realisiert wäre.
Aber sie bedeutet, daß Verfahren bestimmt werden können, in denen eine minimale Bedingung dafür
enthalten ist, daß
“Selbstbestimmung”
gegenwärtig
schon, wenngleich nur auf dem Niveau von Vorläufigkeit, realisierbar
ist: die Stärkung der rationalen Kräfte im
“reifen Charakter”
(Adorno, a.
a. O., S.
15)
, d. h. die Fähigkeit, den Manipulationen der Fremdbestimmung
möglichst keine Chance zu lassen, das Geschehen zu begreifen, dessen
Teil jener Charakter ist, kurz: rationale Diskurse führen zu können (zu
diesem Problem vergl. das dritte Kapitel dieser Studienheinheit).
–
[V47:355] Die empirische Aufgabe bestünde dann darin, jene Barrieren
in den Individuen und den Verhältnissen, unter denen sie leben,
ausfindig zu machen, die politische Selbstbestimmung und mithin auch
politische Beteiligung blockieren. Die Kenntnis solcher Sachverhalte ist
zwar keine hinreichende, aber offenbar doch eine notwendige Bedingung
dafür, die Spielräume für eine
“soziale Demokratie”
,
also einen Zuwachs an Selbstbestimmung, zu vergrößern.
|A 69|
2.2.3.Empirische Kontrolle
[V47:356] Nun erst hat das oben zitierte statistische Datum historischen
Sinn: Eine
“autoritäre Einstellung”
kann einerseits als
Produkt von gesellschaftlichen Verhältnissen verstanden werden
(Neutralisierung der Beteiligungsmöglichkeiten der Bürger); andererseits
blockiert sie die Chancen einer Entwicklung auf mehr Selbstbestimmung hin,
und zwar sowohl für das Individuum selbst als auch vermutlich für die, auf
die das Individuum seine Einstellung erweitern möchte. Womit also – so
können wir die Ausgangsfrage des empirischen Teils der Studie formulieren –
müssen wir im Hinblick auf künftige politische Entwicklungen rechnen? genauer: wie ist das politische Bewußtsein eines Teil der heranwachsenden
Generation, mithin deren Disposition zu politischen Wertungen,
Entscheidungen und Handlungen in Richtung auf Vermehrung der
Selbstbestimmung strukturiert?
[V47:357] Die Fragestellung legt es nahe, mit dem methodischen Instrument
der Befragung zu arbeiten. Um dieses Instrument konstruieren zu können – d.h. um zu
sichern, daß die Fragen des Interviews wirklich auch die für das Problem
entscheidenden Merkmale des Bewußtseins der Befragten treffen – sind
wiederum theoretische Überlegungen nötig. Die wichtigste davon betrifft die
Frage, in welchen Begriffen das
“politische Bewußtsein”
beschrieben werden soll, damit die Beschreibung (die Auswertung der
Interviews) für eine geschichtlich bedeutsame Prognose verwendet werden
kann. Die Autoren formulieren diese Frage so:
[V47:358] Wie müßte das politische Bewußtsein beschaffen sein, damit wir
berechtigt wären,
“den heute erkennbaren, das politische Verhalten
bestimmenden Dispositionen eine gewisse Kraft auch noch in |A 70|Situationen der Krise zuzutrauen”
; wie müßte es beschaffen sein, wenn es
“einen drohenden Übergang der parteienstaatlichen
Massendemokratie in eine wie immer geartete Form des
Obrigkeitsstaates”
verhindern soll
(S. 58)
?
[V47:359] Um der Beantwortung dieser Frage mit Hilfe der empirischen
Untersuchung näher zu kommen, wird nur
“politisches
Bewußtsein”
näher bestimmt: Es werden diejenigen Merkmalsgruppen
(Dimensionen) zusammengefaßt, die einerseits dem theoretischen und
geschichtspraktischen Interesse der Autoren entsprechen, andererseits aber
auch zur Konstruktion eines Fragebogens oder Interview-Leitfadens tauglich
sind. In diesem Sinne bestimmen (definieren) die Autoren den Begriff
“politisches Bewußtsein”
in drei Dimensionen (hier als
Fragen formuliert):
–
[V47:360] welche Bereitschaft zu politischem Engagement (politischer Habitus) zeigen die Befragten?
–
[V47:361] wie ist ihre Einstellung zum demokratischen System (politische Tendenz)?
–
[V47:362] über welchen Fundus zugrundeliegender weltanschaulicher Motive, den
gesellschaftlichen Zusammenhang betreffend, verfügen sie (Gesellschaftsbild)?
[V47:363] Mit Hilfe einer Reihe von Fragen zu jeder der drei Dimensionen sollte nun
ermittelt werden, ob sich typische Grundmuster politischen Bewußtseins
finden lassen. Beispielsweise lautete eine der Fragen, die auf den politischen Habitus zielten:
[V47:364]
“Kann man eigentlich die Welt verbessern;
glauben Sie, daß alle Menschen glücklich und ohne Not leben
könnten, oder wird es, wie die Menschen nun mal beschaffen
sind, im Grunde immer bleiben wie jetzt? Liegt das in erster
Linie an der Natur der Menschen oder mehr an den
gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen sie
leben?”
|A 71|
[V47:365] Jenachdem wie die Antwort auf diese und ähnliche Fragen ausfiel, wurde die
Antwort einem Typus auf einer Skala zwischen den Extrempunkten
“Die Unpolitischen”
und
“Die Politisch
Engagierten”
zugeordnet.
[V47:366] Analog wurde mit der Dimension
“politische
Tendenz”
verfahren: Auch hier haben
die Autoren mit dem Konstrukt einer Skala politischer Einstellungen
operiert, die sich von den
“genuinen Demokraten”
über die
“formalen Demokraten”
bis zu
den
“Autoritären”
erstreckt. So wurde mit Hilfe der
Interviewfragen ermittelt, wie weit die Befragten elitäre oder
obrigkeitliche Lösungen bevorzugten (die Autoritären) bzw. eine Lösung
gesellschaftlicher Probleme eher durch fortschreitende Demokratisierung
sozialer Institutionen erwarteten (genuine Demokraten).
[V47:367] Die je besondere Intensität des poltitischen Engagements (Habitus)
und die politisch-inhaltliche Richtung auf ein Mehr oder ein Weniger an
Demokratie hin, die dieses Engagement nimmt (Tendenz) wird nun – nach der
Annahme der Autoren – gestützt oder korrigiert durch die Vorstellungen, die
die Befragten vom Funktionieren des gesellschaftlichen Zusammenhanges haben (Gesellschaftsbild). Sind die
“Gesellschaftsbilder”
der Befragten
ermittelt, dann läßt sich nach dem Grad der Übereinstimmung zwischen
Habitus, Tendenz und Gesellschaftsbild fragen. Ist die Übereinstimmung hoch, dann kann man die Prognose
riskieren, daß das sich darin ausdrückende
“politische
Potential”
auch bei sich ändernden gesellschaftlichen Zuständen
handlungsrelevant bleiben wird, d.h. man hat denjenigen Anteil an der
befragten Stichprobe ermittelt, der – beispielsweise – aus den relativ
“verläßlichen”
Demokraten einerseits und den relativ
“verläßlichen”
Autoritären andererseits besteht, |A 72|den
“harten Kern”
gleichsam des
politischen Handelns. (In der vorliegenden Studie wurden so ca. 9 %
Demokraten und 16 % Autoriäre ermittelt). In der historischen Deutung wurde herausgestellt, daß das Bewußtsein eines Subjektes nicht als gleichsam
letztes Datum genommen werden dürfe, daß vielmehr solches Bewußtsein unter
dem Eindruck von Verhältnissen sich bildet, in denen das Individuum
heranwächst und agiert. In die empirische Studie geht diese Komponente des
Untersuchungsinteresses dadurch mit ein, daß nicht nur Bewußtseinsdaten
abgefragt werden, sondern ebenso Informationen zur sozialen Lage der
Befragten, zu ihrer Biographie, ihrer zu erwartenden beruflichen Stellung.
Hat man also bei der Analyse der Bewußtseinsdaten heraus bekommen, wie groß
beispielsweise die Gruppe der
“genuinen Demokraten”
ist,
die gleichzeitig politisch engagiert sind und über
ein an sozialer Gleichheit orientiertes Gesellschaftsbild verfügen, dann
läßt sich jetzt auch noch die Frage beantworten, unter welchen besonderen
sozialen Bedingungen gerade dieser Typus vermutlich sich bildet.
[V47:368] Es scheint einleuchtend, daß eine solche Anlage
wissenschaftlicher Forschungen, in der historische Analyse, kategoriale
Reflexion und empirische Kontrolle sich verbinden, auch für die pädagogische
Forschung mindestens nützlich ist:
–
[V47:369] Der Bildungsprozeß im Ganzen und jedes einzelne Ereignis
in seinem Zusammenhang ist ein möglicher Gegenstand empirisch
kontrollierter Erfahrung (das
“Bewußtsein”
des Kindes
oder Jugendlichen; deren Einstellung und Handlungsweisen; ihre
Beziehungen zu den erziehenden Erwachsenen; die Erwartungen, |A 73|die an sie gerichtet werden; die sozialen
Bedingungen, denen sie ausgesetzt sind usw.)
–
[V47:370] die Momente dieses Bildungszusammenhanges haben allesamt
eine Vergangenheit, haben Bedeutung in einem weiteren Kontext
geschichtlich gewordener Verhältnisse und also auch eine in ihren
Möglichkeiten zu kalkulierende geschichtliche Zukunft;
–
[V47:371] sie sind schließlich allenthalben durchsetzt mit
normativen Orientierungen und Entscheidungen, die zwar einerseits
geschichtliche Besonderheiten sind, immer aber auch eine prinzipielle
Komponente haben, schon deshalb, weil der Umgang mit Kindern nicht nur
“opportune”
, sondern
“wahre”
Entscheidungen verlangt.
|A 74|
[V47:372] Stellen Sie sich – möglichst mit Ihren Kommilitonen und Ihrem Mentor
im Studienzentrum – eine alltägliche pädagogisch relevante Situation vor
(z.B.: Ein sechzehnjähriges Mädchen beklagt sich bei einer Freundin darüber,
daß ihre Eltern von ihr erwarten, daß sie nach dem Besuch einer Diskothek
spätestens um 23 Uhr zu Hause sein solle; oder andere Situationen.)
[V47:373] Prüfen Sie dann, ob für das Verständnis und die Beurteilung
dieser Alltagssituation – auch ohne daß daraus gleich ein Problem für die
erziehungswissenschaftliche Forschung gemacht wird – die drei Komponenten
der wissenschaftlichen Methode in Anspruch genommen werden können (oder gar
ohnehin schon immer in Anspruch genommen werden):
1)
[V47:374]
“War das schon immer so?”
oder: Wie ist
es zu Situationen dieser Art gekommen?
2)
[V47:375] Ist in der Situation – in den Erwartungen des
“Educandus”
, in den Erwartungen der
Erwachsenen/Erzieher – etwas enthalten, das einen Anspruch auf
unbedingte Geltung erheben kann und wie ist diese Geltung vor dem
“Educandus”
(der Jugendlichen) zu vertreten?
3)
[V47:376] Welche empirischen Hypothesen (oder Prognosen über die
Folgen eines Verhaltens) hat der
“Educandus”
(die Jugendliche) und haben die Erwachsenen/Erzieher;
welche Tatsachen machen sie für ihre jeweilige Meinung geltend?
|A 75|
2.3.Utopie und Ideologie: zur Normativitätsproblematik
2.3.0Fragestellung
[V47:377] Jedes Erziehungshandeln ist ein zielgerichtetes Handeln und
enthält somit einen Vorgriff auf die Zukunft. Ohne einen solchen Vorgriff,
ohne Antizipation wenigstens des nächsten Lernschrittes, ohne eine normative
Gerichtetheit kommt so etwas wie ein Erziehungsvorgang nicht zustande. Die konkreten Ziele, an denen sich das Erziehungshandeln orientiert,
können sich freilich wandeln. Im Laufe der Geschichte und von Kultur zu
Kultur, ja von einer sozialen Gruppe zu anderen haben sich immer wieder und
noch dazu auf wechselnden Stufen der Konkretion andere Erziehungsziele
bewußt oder unbewußt Geltung verschafft. Solange die Entscheidung für das
eine oder das andere der möglichen Erziehungsziele noch wie von selbst und
ungebrochen von statten geht oder aber zu einem Akt des Glaubens mystifiziert
wird, gibt es kein Normativitätsproblem. Das Normativitätsproblem entsteht
erst in dem Augenblick, in dem man versucht, die Beliebigkeit der Entscheidung zu
überwinden, und nach Begründung sucht. Das Normativitätsproblem in der Erziehung ist so gesehen das Problem der Legitimation von Erziehungszielen. Es
läßt sich in die Frage Kleiden:
“Wie kann ich das Ziel
meines erzieherischen Handelns und mithin dieses selbst rational
rechtfertigen?”
|A 76|
2.3.1.Der normative Bezugspunkt
[V47:378] Das Erziehungshandeln verlangt nicht nur einen Vorgriff auf den
nächsten Lernschritt, sondern darüber hinaus einen Vorgriff auf alle
weiteren Lernschritte und schließlich sogar
einen Vorgriff auf die gesellschaftliche Wirklichkeit, in der das
heranwachsende Subjekt einmal leben soll. Das Ziel der Erziehung, wie es
auch definiert sein mag, enthält immer eine Vorstellung von dem zukünftigen
gesellschaftlichen Zustand. Dieser zukünftige gesellschaftliche Zustand kann
als eine Art Fortsetzung der Gegenwart, als Verlängerung all dessen, was man
schon kennt, begriffen werden. Der Nachweis der Legitimität eines
Erziehungszieles wäre dann zugleich auch der Nachweis der Legitimität der
bestehenden Verhältnisse. Wenn die bestehenden Verhältnisse als legitim
nachgewiesen sind, dann braucht eine vernünftige Erziehung das
heranwachsende Subjekt nur zu veranlassen zu tun, was ihm von diesen
Verhältnissen vorgeschrieben und auferlegt wird. Das ist der Fall beim Typus
der so genannten
‘traditionsgeleiteten
Gesellschaften’
.
[V47:379] Von dem dort dominierenden Begründungstyp für Erziehungsziele
unterscheidet sich der Begründungstyp, den man in der Pädagogik der
Kritischen Theorie wiederfindet. Der zukünftige Zustand, an dem sich das
Erziehungshandeln orientiert, wird hier nicht als
eine bloße Verlängerung der Gegenwart begriffen, sondern als etwas ganz
anderes, als etwas, das noch nie da war, als Utopie. Mit welchen Argumenten
aber kann man dem Verdacht begegnen, der anvisierte bessere Zustand sei nur
ein Phantasiegebilde und als solches selber nur eine ins positive Gegenteil
gewendete und in die Zukunft verlängerte gegenwärtige Erfahrung?
|A 77|
[V47:380] Die
Theorie von Karl Marx liefert ein
frühes Beispiel für die Orientierung des Handelns an einem
zukünftigen besseren Dasein. Dieses zu künftige bessere Dasein
haben sich Marx und Engels vorgestellt als
“Assoziation, worin
die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die
freie Entwicklung aller ist.”
(Marx/Engels: Manifest
der Kommunistischen Partei. In: Marx/Engels: Werke, Bd.
4, Berlin 1972, S. 482)
.Marx und Engels
glaubten noch, dieses Ziel als ein notwendiges Resultat der
Geschichte nachweisen zu können. Nach ihrer Analyse sollten die
Bewegungsgesetze des Kapitals, der
“ökonomische
Mechanismus”
die bestehende Gesellschaft gleichsam
automatisch in den vernünftigen Zustand überführen. Die
Vertreter der Kritischen Theorie jedoch haben den Glauben an
die, wie es Adorno formulierte,
“zwangsläufige Befreiung vom Zwang der
Herrschaft”
(Adorno: Negative Dialektik, Frankfurt 1966,
S.
314)
nicht mehr teilen können. Was für Marx und
Engels noch wissenschaftlich verbürgt
schien, ist für sie nur noch eine schwache, freilich
unausrottbare Hoffnung. Die Hoffnung richtet sich auf etwas, das
noch unbekannt und nicht vorhersehbar ist, auf, wie Adorno es bisweilen nennt, das
“Neue”
. Es bleibt notwendig abstrakt. Die
Kategorie des
“Neuen”
ist bei Adorno eine Leerstelle. Sie ist bestimmt
mehr durch die Negation dessen, was nicht mehr sein soll, als
durch positive Merkmale. Selbst die beste Phantasie wäre nicht
in der Lage, sich das wirklich
“Neue”
vorzustellen. Sie bliebe noch in ihren kühnsten Flügen an die
Gegenwart als ihren negativen Brennpunkt gekettet.
“Das bis heute gefesselte
Bewußtsein ist wohl des Neuen nicht einmal im Bilde
mächtig; es träumt vom Neuen, aber vermag das Neue
selbst nicht zu träumen.”
(Adorno: Ästhetische Theorie, Frank|A 78|furt 1973, S.
354)
.Wer das
Neue konkretisiert, den vernünftigen besseren Zustand ausmalt,
vielleicht um dem Einwand zu begegnen, er wisse nicht, was er
wolle, verrät nach Adorno die Utopie an den
Kitsch, verwandelt die Hoffnung in Ideologie. Wenn es aber nicht
möglich ist, den vernünftigen besseren Zustand antizipierend zu
beschreiben, dann ist es auch nicht möglich, die Entwicklung zu
prognostizieren, die vielleicht zu diesem Zustand führt. Jede
Prognose setzt ja voraus, daß die Bedingungen, unter
denen sie gemacht wurde, gleich bleiben;
wenn sie sich ändern würden, würde die Prognose nicht mehr
gelten können. Mit dem erwähnten besseren Zustand aber würden
gerade die Bedingungen sich verändern, unter denen die
Herbeiführung dieses Zustandes prognostiziert wurde. Die
Prognose könnte dann paradoxerweise, genau in dem Augenblick, in
dem sie sich erfüllt, nicht mehr gelten.
|A 79|
2.3.2.Die Begründung
[V47:381] Wie wenig auch eine von der Gegenwart qualitativ unterschiedene
bessere Zukunft antizipiert und die Entwicklung dahin vorhergesehen werden
kann, wie sehr das Neue also ungewiß und vage bleibt, auf eine Orientierung
des praktischen Verhaltens haben die Vertreter der Kritischen Theorie
deshalb nicht verzichtet. Sie orientieren sich – nicht anders als die Väter
des Historischen Materialismus – an der im Ursprung bürgerlichen
“Idee einer künftigen Gesellschaft
als der Gemeinschaft freier Menschen”
(Horkheimer:
Traditionelle und kritische Theorie. In: ders.: Traditionelle und Kritische
Theorie – vier Aufsätze, Frankfurt 1970, S.
36)
[V47:382] Nur: wie läßt sich die Orientierung des Handelns an dieser Idee
überhaupt begründen, wenn diese Idee weder konkret beschrieben noch ihre
Verwirklichung prognostiziert werden kann? Die bloße Tatsache, daß jemand
sich an dieser Idee orientiert, ist ja noch kein Grund dafür, daß diese
Orientierung auch vernünftig, notwendig und möglich ist.
[V47:383] Hegel, auf den sich die Vertreter der
Kritischen Theorie immer wieder berufen haben, hat sehr früh schon eine
Begründung für die Orientierung an dieser Idee geliefert. Er hat gezeigt,
daß jedes Individuum im Interesse seiner eigenen Entwicklung Wert darauf
legen muß, daß auch sein Gegenüber sich frei entwickeln kann. Ohne das
gegenseitige Zugeständnis von Entwicklungsmöglichkeiten, postulierte Hegel,
können Individuen sich gar nicht bilden. Sie konstituieren sich als
individuelle und einmalige erst im Prozeß reziproker
Anerkennung. Jedes Individuum ist, was es ist, allein durch die von seiner
Anerkennung ihrerseits abhängige |A 80|Identität des
Anderen, der es anerkennt. Sollen Individuen sich bilden, dann
müssen sie sich gegenseitig anerkennen als
“gegenseitig sich anerkennend.”
Dieses, wie Hegel es nannte,
“sittliche
Verhältnis”
der Subjekte zueinander wurde in der Kritischen Theorie
zum fundamentalen Maßstab, zum regulativen Prinzip sowohl für das
theoretische wie für das praktische Verhalten.
[V47:384] Habermas hat in jüngster Zeit die Begründung des
regulativen Prinzips noch weiterentwickelt. Er hat es in Zusammenhang
gebracht mit der idealen Sprechaktstruktur der Rede und zu zeigen versucht,
daß die
“Idee der Gleichverteilung der
Entfaltungsmöglichkeiten”
eine
“ideale
Sprechsituation”
und diese wiederum die Idee einer herrschaftsfreien
Lebensform impliziert. Die
“ideale Sprechsituation”
ist
zunächst charakterisiert durch die Zurechnungsfähigkeit der Subjekte. Alle,
die sich in der
“idealen Sprechsituation”
begegnen,
wissen, was sie sagen, und sind fähig, dies, wenn sie danach gefragt werden,
auch zu rechtfertigen. Man könnte sagen, die Subjekte in der realen
Sprechsituation verhalten sich rational. Die ideale Sprechsituation ist
darüberhinaus charakterisiert durch die symmetrische Verteilung von
Kommunikationschancen. In der idealen Sprechsituation hat jeder die gleiche
Möglichkeit, Sprechakte zu wählen, und alle können dran kommen, wenn auch
nicht auf einmal, so doch nacheinander. Keine Äußerung soll auf die Dauer
von der Kommunikation ausgeschlossen bleiben. Unter solchen Bedingungen ist
die Verständigung allgemein und ungezwungen. Die ideale Sprechsituation existiert allerdings nicht wirklich,
sondern nur in Form einer Unterstellung, die der Sprecher vornimmt
(kontrafaktisch). Immer wenn wir in einem Prozeß der Ver|A 81|ständigung eintreten, unterstellen wir lediglich die ideale Sprechsituation:
–
[V47:385] wir unterstellen, daß der jeweils andere, mit dem wir uns
verständigen wollen, weiß, was er sagt und dies auch begründen kann,
also zurechnungsfähig ist, und
–
[V47:386] wir unterstellen, daß er die gleichen Chancen hat wie wir,
sich an der Kommunikation zu beteiligen.
[V47:387] Schon mit dem ersten Satz, den wir zum Zweck der Verständigung
äußern, nehmen wir diese Unterstellung vor. Wir tun mit jedem Sprechakt so, als sei die
“ideale Sprechsituation”
Wirklichkeit, obwohl
sie es gar nicht ist. Auf dieser unvermeidlichen kontrafaktischen
Unterstellung beruht die Humanität des Umgangs unter Menschen, die sich wie
Menschen und nicht wie Gegenstände zueinander verhalten. Ohne die
kontrafaktische Unterstellung einer
“idealen
Sprechsituation”
wäre humane Verständigung nicht möglich.
[V47:388] Die ideale Sprechsituation als kontrafaktische Bedingung jeder Verständigung
wird bei Habermas zum Maßstab der Kritik an den faktischen
Sprechsituationen. Sie bildet eine Art normative Folie, auf der die
Erscheinungsformen verzerrter Kommunikation wahrgenommen werden können. Aber
die ideale Sprechsituation ist nicht nur Maßstab der Kritik, sondern auch
der normative Bezugspunkt, an dem sich das eigene Handeln orientieren soll.
Mit der normativen Orientierung an der
“idealen
Sprechsituation”
, der uneingeschränkten und herrschaftsfreien
Kommunikation, bleibt Habermas ganz in der Tradition, der die
Kritische Theorie insgesamt verpflichtet ist. Er gibt der in ihrem Ursprung
bürgerlichen
“Idee einer künftigen
Gesellschaft, als Gemeinschaft freier Menschen”
, die bei Marx in
der Formulierung vom
“wahren |A 82|Staat”
wiedererscheint und
deren Verwirklichung Horkheimer bisweilen als den
“vernünftigen Zustand”
bezeichnet hat, nur eine
kommunikationstheoretische Fassung.
[V47:389] Aber Habermas begnügt sich nicht mit der bloßen
Neuformulierung einer alten Idee. Die Neuformulierung war nur die notwendige
Vorbereitung für seine
“Universalpragmatik”
(Habermas: Was heißt
Universalpragmatik? In: Apel (Hrsg.):
Sprachpragmatik und Philosophie, Frankfurt 1976) oder seiner
“Theorie der kommunikativen Kompetenz”
. In dieser Theorie versucht Habermas im Rückgriff
auf die Sprechakttheorie von Austin
und Searle, die
“universalen Bedingungen
möglicher Verständigung”
und das heißt auch die universalen
Bedingungen der idealen Sprechsituation zu identifizieren. Er formuliert
diese universalen Bedingungen möglicher Verständigung in Gestalt von vier
Geltungsansprüchen, die jeder kommunikativ Handelnde im Vollzug eines
beliebigen Sprechaktes erheben muß. Jeder, der sich verständigen will, muß
danach beanspruchen, daß
–
[V47:390] die verwendeten Sätze verständlich
–
[V47:391] die mitgeteilten Aussagen wahr
–
[V47:392] die zum Ausdruck gebrachten Intentionen wahrhaftig
–
[V47:393] und die gewählten Äußerungen richtig sind.
[V47:394] Stellen Sie sich vor, eine Kindergärtnerin äußert gegenüber dem
fünfjährigen Ralf,
kurz nachdem dieser mit einem Messer erst den Tisch und dann die hölzerne
Türverkleidung angeschnitzt hat, u.a. folgenden Satz:
“Ich
möchte, daß du nie wieder ein Messer mitbringst.”
[V47:395] Wenn die Kindergärtnerin sich verständigen will, dann erhebt sie
mit diesem Satz zugleich folgende vier Geltungsansprüche:
|A 83|
1.
[V47:396] Der Satz soll verständlich sein, damit ihn der Junge, an
den er gerichtet ist, verstehen kann. Er wird ihn verstehen können, wenn
er die gleiche Sprache spricht wie die Kindergärtnerin, also die
gleichen grammatischen Regeln beherrscht.
2.
[V47:397] Die Aussage, die der Satz mitteilt, sein propositionaler
Gehalt, soll wahr sein, damit der fünfjährige Ralf das Wissen der
Kindergärtnerin teilen kann. Der Satz ist wahr, wenn der Vorgang, auf
den sich der Satz in direkt bezieht, wirklich stattgefunden hat. Die
Aussage ist, kurz gesagt wahr, wenn es zutrifft, daß Ralf das Messer tatsächlich
mitgebracht hat.
3.
[V47:398] Die in dem Satz zum Ausdruck gebrachte Intention soll
wahrhaftig sein, damit Ralf der Kindergärtnerin vertrauen kann. Die von der
Kindergärtnerin geäußerte Intention ist dann wahrhaftig, wenn sie sich
deckt mit dem, was sie wirklich meint. Die Kindergärtnerin darf, wenn
ihre Intention wahrhaftig sein soll, den Wunsch nicht nur äußern, weil
z.B. eine Mutter zuhört, sondern weil sie wirklich wünscht, daß Ralf nie wieder ein
Messer mit bringt. Wahrhaftig ist der Wunsch der Kindergärtnerin, wenn
sie weder sich noch andere täuscht.
4.
[V47:399] Die Äußerung soll richtig sein, so daß Ralf mit der Kindergärtnerin in
Anerkennung eines vorausgesetzten normativen Hintergrundes
übereinstimmen kann. Die Äußerung der Kindergärtnerin ist richtig, wenn
sie dem institutionellen und situativen Kontext des Kindergartens
angemessen ist, wenn sie, so könnte man sagen, zu dem von allen
anerkannten Stil paßt. Die Äußerung wäre unrichtig, wenn in dem Kinder
garten der Umgang mit mitgebrachten Werkzeugen aller Art, einschließlich
der Messer, zum bewährten Erziehungskonzept gehört.
[V47:400] Diese vier Geltungsansprüche: Verständlichkeit, Wahrheit,
Wahrhaftigkeit und Richtigkeit muß jeder erheben, der sich verständigen
will. Aber es genügt nicht, diese vier Geltungsansprüche nur zu erheben. Wenn Verständigung stattfinden soll, dann müssen alle beteiligten
Subjekte anerkennen, daß die vier Geltungsansprüche auch zu Recht erhoben werden, d.h. entweder bereits eingelöst sind oder eingelöst
werden können. Die gemeinsame Anerkennung der |A 84|Rechtmäßigkeit der vier Geltungsansprüche ist die vorausgesetzte Basis
jeder Verständigung. Sobald auch nur die Rechtmäßigkeit eines dieser vier
Geltungsansprüche in Frage gestellt wird, ist diese Basis zerbrochen. In
unserem Beispiel käme ein solcher Bruch zustande, wenn Ralf, anstatt die Äußerung der
Kindergärtnerin und die damit verknüpften Geltungsansprüche zu akzeptieren,
behaupten würde:
[V47:401]
“Ich habe gar kein Messer mitgebracht!”
[V47:402] Mit dieser Behauptung würde Ralf die Rechtmäßigkeit des
Wahrheitsanspruches in der Äußerung der Kindergärtnerin in Frage stellen.
Genauso gut könnte er auch die Rechtmäßigkeit aller anderen
Geltungsansprüche problematisieren, z.B. mit folgenden Äußerungen:
–
[V47:403]
“Was meinst du mit
‘Messer’
?”
–
[V47:404]
“Das glaube ich dir nicht, denn du möchtest, daß ich das
Messer mitbringe, damit du es mir verbieten kannst.”
–
[V47:405]
“Ich darf aber ein Messer mitbringen!”
[V47:406] Im ersten Fall würde Ralf die Rechtmäßigkeit des Anspruchs
auf Verständlichkeit , im zweiten die des Anspruchs auf Wahrhaftigkeit und
mit der dritten die des Anspruchs auf Richtigkeit in der Äußerung der
Kindergärtnerin in Frage stellen. Wenn Ralf wirklich diese
oder entsprechende Sätze äußert, bleiben der Kindergärtnerin zwei
Reaktionsmöglichkeiten. Entweder sie verzichtet auf weitere Verständigung
und besteht z.B. unter Einsatz all ihrer zur Verfügung stehenden
Disziplinierungsmittel und ohne Rücksicht auf RalfsEinwände auf der Erfüllung ihres
Wunsches, oder aber sie tritt in den von Ralf eröffneten Diskurs ein und versucht über eine argumentative Prüfung der in Frage
gestellten Geltungsansprüche das verlorengegangene Einverständnis
wiederherzustellen. Aber läßt sich ein verlorengegangenes |A 85|Einverständnis argumentativ überhaupt wieder herstellen? Müssen
die beteiligten Subjekte nicht immer befürchten, daß der im Diskurs
herbeigeführte Konsens vielleicht eine Täuschung ist? Wie sollen sie am Ende
einen
“wahren”
von einem
“falschen”
Konsens unterscheiden? Habermas weist nun darauf hin, daß die
Herbeiführung eines wahren Konsensus über problematisch gewordene Geltungsansprüche
eine Situation voraussetzt, in der die
“Kraft des besseren
Argumentes”
sich ohne Einschränkung durchsetzen kann. Dies ist nur
der Fall in der
“idealen Sprechsituation”
. Jeder Konsens,
der unter ihren Bedingungen erzielt wird, kann deshalb als wahrer Konsens
gelten. Wenn wir also einen wahren Konsens erzielen wollen, dann müssen wir
die
“ideale Sprechsituation”
unterstellen, d.h. ihre
Verwirklichung kontrafaktisch vorwegnehmen.
[V47:407]
“Der Vorgriff auf die ideale Sprechsituation
ist Gewähr dafür, daß wir mit einem faktisch erzielten
Konsens den Anspruch auf wahren Konsens verbinden
dürfen.”
(Habermas, Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie
der kommunikativen Kompetenz. In: Habermas/Luhmann/ Theorie der Gesellschaft oder
Sozialtechnologie, Frankfurt 1971, S. 136)
[V47:408] An dieser Stelle des Gedankenganges wird die Bedeutung erkennbar,
die die regulative Idee der
“idealen Sprechsituation”
für
die Legitimation von Erziehungszielen und pädagogischen Handlungsnormen hat.
Mit ihr ist die Bedingung der Möglichkeit formuliert, unter der Subjekte
Geltungsansprüche problematisieren und durch diese Problematisierung
hindurch zu einem neuen
‘wahren’
Konsens gelangen können. Wenn durch Erziehung
‘diskursfähige’
und
‘konsensfähige’
Subjekte und
nicht abgerichtete Organismen hervorgebracht werden sollen, dann muß für das
Erziehungshandeln die
“ideale Sprechsituation”
|A 86|real antizipiert werden. Ohne diese reale
Antizipation der idealen Sprechsituaion im Erziehungsgeschehen müßte die Herausbildung eines diskursfähigen
Subjektes durch eben dieses Erziehungsgeschehen ein Mysterium bleiben. Wie
sollte sich auch ein diskursfähiges Subjekt bilden, wenn die Bedingung der
Möglichkeit dafür nicht besteht? Die
“ideale
Sprechsituation”
muß deshalb real im Erziehungsgeschehen präsent
sein, wenn daraus ein
‘diskursfähiges’
und
‘konsensfähiges’
Subjekt hervorgehen soll. Die
“ideale Sprechsituation”
, die zwanglose und
herrschaftsfreie Verständigung zwischen zurechnungsfähigen Subjekten, kann
allerdings auch in der pädagogischen Interaktion präsent nur sein in Gestalt
einer kontrafaktischen Unterstellung, die der Erwachsene in der Rolle des
handelnden Pädagogen vornimmt. Der Erwachsene, der die ideale
Sprechsituation in seinem pädagogischen Handeln antizipiert, muß gegenüber
dem Heranwachsenden so tun als ob dieser die gleichen Chancen habe, Sprechakte zu wählen und auszuüben
wie er selbst und das vernünftige Subjekt schon sei, das er erst werden
soll. Dieses
“Tun als ob”
darf nicht als ein Akt der
Täuschung mißverstanden werden. Es ist vielmehr eine notwendige Bedingung
dafür, daß vernünftige
‘diskurs-’
und
‘konsensfähige’
Subjekte sich bilden können. Im Kontrast zu der
Unterstellung einer
“idealen Sprechsituation”
im
Erziehungsgeschehen steht die Unterstellung eines Kompetenzgefälles zwischen
Erwachsenen und Kind. Die Unterstellung einer, wenn man so will,
naturnotwendigen Unterlegenheit des einen, des kindlichen Partners, ist
konstitutiv für alle Erziehungshandlungen. Ohne diese Unterstellung würde
Erziehung weder möglich noch notwendig erscheinen. Wenn ein Pädagoge Kinder
zu
‘diskurs-’
und
‘konsensfähigen’
Subjekten |A 87|erziehen will, muß er ihnen deshalb nicht
nur Zurechnungsfähigkeit und gleiche Beteiligungschancen wie sich selbst
unterstellen, er muß zugleich auch unterstellen, daß ihre
Zurechnungsfähigkeit, verglichen mit der seinen, begrenzt und ihre
Beteiligungschancen an der gemeinsamen
Interaktion gemindert sind. Mit der Unterstellung einer beschränkten und
noch unfertigen kindlichen Kompetenz kann der Erwachsene dann auch seine
autoritativen Maßnahmen begründen. Sie erlaubt ihm, den Kindern auf legitime
Weise zumindest partiell ihre Verantwortlichkeit abzusprechen und stellvertetend für sie zu handeln, und zwar solange, bis das Kompetenzgefälle
zwischen ihm und ihnen eingeebnet ist und die Kinder das geworden sind, was
sie nach seinem Willen werden sollten: kompetente Erwachsene.
[V47:409] Für die Beschreibung und Beurteilung von Erziehung – so wollen
wir noch einmal zusammenfassen – bedeutet dies:
–
[V47:410] Erziehung kann sich nicht gleichsam routinemäßig auf die
Einlösbarkeit der in der Kommunikation gesetzten Geltungsansprüche durch
den kindlichen Partner verlassen.
–
[V47:411] Der Erziehungsprozeß kann nicht unmittelbar am
(sprachphilosophisch gewonnenen) Maßstab der idealen Sprechsituation
gemessen und dadurch kritisiert werden.
–
[V47:412] In der Erziehung und ihrer Kritik muß vielmehr den
empirischen Bedingungen der Entwicklung bzw. des Erwerbs kommunikativer
Kompetenz (Ontogenese) systematisch und bewußt Rechnung getragen
werden.
[V47:413] Die Interaktion des Erwachsenen mit dem Kind muß |A 88|sich also unter anderem dadurch legitimieren, daß er den
individuellen Bildungsprozeß in dieser fundamentalen Dimension des Erwerbs
kommunikativer Kompetenz fördert; er muß die Verantwortung vor der
“Idee der Kommunikationsgemeinschaft”
(Apel) stellvertretend für das Kind wahrnehmen.
[V47:414] Der Erwerb der
“Vernunft”
kann aber ebenso
offenbar nicht in der Form autoritativer Belehrung oder nur
konditionierender Verhaltenssteuerung durch den Wissenden/Könnenden
erfolgen, sondern letztlich allein durch teilnehmende Einübung in Diskurse –
so brüchig diese auch in der Erziehungspraxis
gelingen mögen. Erziehung hätte dann mit einem Widerspruch umzugehen, ohne
ihn auflösen zu können:
–
[V47:415] Einerseits müßte sie auf Grund der unentwickelten
kommunikativen Kompetenz des Kindes die in der ablaufenden Kommunikation
enthaltenen Geltungsansprüche und die Unterstellung ihrer Einlösbarkeit
durch das Kind systematisch in Frage stellen – und damit auch seine
soziale Verantwortlichkeit suspendieren oder relativieren. Insofern
enthält Erziehung ein unvermeidbares und legitimes autoritatives
Element, das aber seine Grenze findet am Grad der Entfaltung der
kommunikativen Kompetenz des Kindes.
–
[V47:416] Andererseits müßte Erziehung – um des Gelingens des
Bildungsprozesses willen – den kommunikativen Vernunftanspruch in der faktischen Interaktion mit dem Kinde aufrechterhalten.
Insofern enthält legitimierbare Erziehung notwendig ein egalitäres
Element (als virtuelle Aufhebung der Herrschaft der Erwachsenen über die
Kinder).
|A 89|
[V47:417] In einem vorschulischen Erziehungsfeld ist folgende Interaktion
zwischen Erwachsenen und Kindern beobachtet und aufgezeichnet worden:
[V47:418] Unter den Kindern herrscht Unklarheit und Uneinigkeit darüber,
was geschehen soll. Die einen wollen hinaus auf die Schillerwiese, die an
deren wollen in der Spielstube bleiben und wieder andere scheinen
unentschieden. Da sagt die Bezugsperson zu den Kindern:
“Ja, guckt mal, die anderen wissen doch noch nicht,
was sie wollen. Ihr müßt sie jetzt erst fragen und dann gemeinsam
beschließen.”
[V47:419] ein Kind zu einem anderen:
“Och, wir machen nicht, was
die (die Bezugsperson) sagen.”
[V47:420] Bezugsperson:
“Ihr sollt ja auch nicht machen,
was wir sagen, sondern ihr sollt die anderen Kinder fragen!”
[V47:421] eines der Kinder:
“Bla, bla bla bla ..”
1.
[V47:422] Versuchen Sie die Erziehungsziele zu formulieren, an denen
sich die Bezugsperson offenbar orientiert.
2.
[V47:423] Wie könnte die Bezugsperson, wenn sie gefragt würde, ihr
Erziehungsziel auf eine überzeugende Weise begründen?
3.
[V47:424] Vergleichen Sie das wirkliche Verhalten der Bezugsperson,
die Art ihrer sprachlichen Äußerungen, mit ihrem Erziehungsziel.
Beurteilen Sie das Verhalten der Bezugsperson.
[V47:425] (Wenn Ihnen der Zugang zur Lösung dieser Aufgabe schwer fällt, können Sie folgenden Text zur Hilfestellung
heranziehen:
[V47:426] Gerd Jungblut: Gestörte
Kommunikation oder hilft die Interaktionsanalyse bei der
Veränderung von Unterricht? in: Päd.extra, Nr. 8/74 S.
9-20)