Sozialpädagogische Diagnosen II [Textfassung A]
Hier ist das Cover der beiden Auflagen von 1995 und 2000 zu sehen.
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Danksagung

[132:1] Diese Studie wäre ohne die großzügige Unterstützung durch die Stiftung Deutsche Jugendmarke, aber auch – in der letzten Phase – durch die Evangelische Jugendhilfe Schweicheln nicht möglich gewesen. An den Datenerhebungen und -auswertungen waren zu erheblichen Teilen Sigrid Bartram, Udo Dellner, Irene Joschko, Jörn Kamp, Axel Klingenberg, Ali Modjarad-Schafi, Jutta Nolte, Norma L. Rangel-Lopez und Tanja Schack beteiligt. Hannelore Heuer hat uns durch geduldige und zeitaufwendige Transkriptionen, durch Betreuung des Manuskriptes und die Kontrolle der Endgestalt ganz entscheidend unterstützt. Unser besonderer Dank gilt auch den zahlreichen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen öffentlicher bzw. privater Träger der Jugendhilfe sowie allen Jugendlichen, die sich den zeitaufwendigen Interviews zur Verfügung stellten.
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Einleitung

[132:2] Unter dem Titel
Sozialpädagogische Diagnosen
hatten wir 1992 eine Studie vorgelegt, die sich an Erwartungen des 1991 in Kraft getretenen Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG) anschloß. Dort wird der
Hilfeplanung
ein besonderes Gewicht gegeben. Verantwortbare Planung aber ist u. a. an die Voraussetzung zuverlässiger Diagnose gebunden. Da es sich um Hilfen zur Erziehung handelt, müßte die die Planung begründende Diagnose ein relativ breites Spektrum diagnostischer Operationen umfassen, jedenfalls in einem derart komplexen Praxisfeld wie der Jugendhilfe: Beschreibung der Herkunftsmilieus, diagnostische Beurteilungen bereits früher erfolgter Interventionen, Diagnose der Beziehungsnetze, der Selbstdeutungen bzw. Problemsichten von den Kindern und Jugendlichen her, objektivierte Diagnosen aus der Experten-Perspektive wie im Falle der medizinischen, psychiatrischen oder psychologischen Begutachtung. Inzwischen ist die Literatur zu diesem Problem reichhaltiger geworden (vgl. vor allem z. B. Jordan/Schrapper 1994, Müller 1993, Münder u. a. 1993).
[132:3] In der oben erwähnten Studie hatten wir unsere Sichtweise erläutert, nämlich in das Spektrum möglicher diagnostischer Hinsichten die individuellen Selbstdeutungen der Klientel mit aufzunehmen, und zwar im Sinne einer nicht
szientistischen
, sondern einer
hermeneutischen
Diagnose. Wir konnten dies indessen damals nur im Sinne einer Pilotstudie vortragen, mit kleinen Fallzahlen und zudem an ein Praxisprojekt gebunden. Bis zu einem in der Jugendhilfepraxis verwendbaren Vorschlag für diagnostische Prozeduren gelangten wir jedoch nicht. So weit werden wir auch in der jetzt hier vorliegenden Untersuchung nicht kommen. Hermeneutisches Diagnostizieren ist eine höchst zeitaufwendige Operation, die man sich zwar in der Forschung leisten kann, deren praktisch-institutionelle Verwendbarkeit aber noch in den Sternen steht, soll sie nicht auf wenige Einrichtungen beschränkt bleiben, die über die dafür nötigen Personalspielräume (noch) verfügen.
[132:4] Jedenfalls hatten wir – mit der großzügigen finanziellen Unterstützung durch die Stiftung Deutsche Jugendmarke – die Möglichkeit, das angeschlagene Thema weiter zu verfolgen, nun mit einer für empirisch-qualitative Studien vielleicht hinreichenden Fallzahl (n = 70) und mit kategorialen Präzisierungen bzw. Beschränkungen. Ehe jedoch davon genauer |A 10|die Rede sein wird, soll das Problemfeld skizziert werden, in dem sich unsere Sichtweise, unsere Prozeduren und Befunde bewegen. Wir referieren (und wiederholen damit, was andernorts schon ausgeführt wurde):
[132:5] Mit Bezug auf die praktisch-institutionellen, den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen in der Kinder- und Jugendhilfe gesetzlich auferlegten Verantwortungen heißt es im Gesetz:
[132:6]
Die Entscheidung über die im Einzelfall angezeigte Hilfeart soll, wenn Hilfe voraussichtlich für längere Zeit zu leisten ist, im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte getroffen werden. Als Grundlage für die Ausgestaltung der Hilfe sollen sie zusammen mit dem Personensorgeberechtigten und dem Kind oder dem Jugendlichen einen Hilfeplan aufstellen, der Feststellungen über den Bedarf, die zu gewährende Hilfe sowie die notwendigen Leistungen enthält; sie sollen regelmäßig prüfen, ob die gewählte Hilfeart weiterhin geeignet und notwendig ist. Werden bei der Durchführung der Hilfe andere Personen tätig, so sind sie oder deren Mitarbeiter an der Aufstellung des Hilfeplans und seiner Überprüfung zu beteiligen.
(KJHG § 36 Abs. 2)
[132:7] Dieser Passus im Gesetz wird beispielsweise so interpretiert:
[132:8]
Hilfeplanung in der Erziehungshilfe hat also die Gestaltung eines prozeßhaften Geschehens zum Inhalt, als dessen zentrale Interaktionsform die Aushandlung anzusehen ist: Aushandlung als das Vermitteln und Zusammenführen unterschiedlicher Situationsdefinitionen und Handlungsvorstellungen sowie als eine aus den unterschiedlichen Sichtweisen der Beteiligten erfolgende Bewertung des Hilfeverlaufs. Die Beteiligten – Jugendamt, Adressaten, Einrichtungen – müssen sich auf solch prozeßhaftes Geschehen einlassen und damit umzugehen lernen.
(Merchel in Jordan/Schrapper 1994, S. 54)
[132:9] Wie kann die Jugendhilfepraxis diesen aus dem Gesetz gefolgerten Erwartungen entsprechen, vor allem mit Bezug auf die
Sichtweisen der Beteiligten
und insonderheit (was uns hier interessiert) auf die der
Adressaten
? Zeigt sich die
Sichtweise
auf eine für problematisch gehaltene Situation in
einfachen
Antworten auf
einfache
Fragen – zumal in (beispielsweise) administrativen und sonstwie institutionalisierten Kontexten? Den gesetzlichen Imperativ akzeptieren und ihm sinnadäquat in einer entsprechenden Beratungshandlung zu folgen, ist offenbar zweierlei.
[132:10] Das wird von einigen Autoren schon seit längerem gesehen, auch ohne Bezug auf das KJHG. Als der diagnostisch-hermeneutische Königsweg erscheint dann die Fallanalyse. Nun völlig jenseits dessen, was im Berufsalltag der Jugendhilfe möglich ist, werden sehr detaillierte Studien präsentiert – wir selbst haben uns diesen Luxus erlaubt –, die mal mehr, mal weniger überzeugend sind, aber in geduldiger und langwieriger Beschreibung den
Sichtweisen der Beteiligten
auf die Spur zu kommen suchen und diese dann auch noch in die objektiven Kontexte des Jugendhilfe-Systems einfädeln oder gar, noch weiter ausgreifend, zu kulturell-gesellschaftlichen Formationen in Beziehung setzen. Das ist eine |A 11|höchst nützliche Forschungspraxis (vgl. z. B. Müller/Niemeyer/Peter 1986, Niemeyer 1993, Mollenhauer/Uhlendorff 1992, Allert 1993, Winkler 1993), aber sie dokumentiert auch die (notwendige?) Distanz zwischen der Muße der privilegierten Wissenschaft und dem Streß des Berufshandelns in den Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe. Unsere Frage ist, ob es einen mittleren Weg geben könnte, auf dem die Erfahrungen jener theoretisch interessierten Kasuistik dichter an das alltägliche Berufshandeln herangeführt werden könnten. Gesetzliche Imperative und subtile wissenschaftliche Einzelfallanalysen sind, so ist zu vermuten, beide noch ziemlich weit von dem entfernt, was ein praktikables Konzept
hermeneutischer Diagnose
sein könnte.
[132:11] B. Müller (1993) empfiehlt einen mittleren Weg. In Übereinstimmung mit den abstrakten Imperativen des KJHG und mit den hermeneutischen Interessen der
Kasuistiker
bringt er, im Hinblick auf die Ausbildungsaufgabe für sozialpädagogische Berufe, eine produktive Maxime ins Spiel, im Hinblick auf die Differenz zwischen fachwissenschaftlicher Experten-Diagnose und hermeneutischer Erläuterung der Sicht der Betroffenen:
[132:12]
Nicht richtig ist, wenn ... der Schluß gezogen wird, daß im Streitfall der fachlichen Sicht Recht und der Sicht der Betroffenen Unrecht zu geben sei; oder gar der Schluß, daß Betroffene, die sich widerspenstig zeigen oder aus pädagogischer Sicht falsch verhalten, damit das Recht verwirkt hätten, als Subjekte statt als Objekte der Fallbearbeitung zu gelten. Freilich wäre auch das Umgekehrte fatal, sich bedingungslos an dem zu orientieren, was Klienten wünschen. Vielmehr kann die fachliche Sicht in einem solchen Fall nicht mehr (aber auch nicht weniger) beanspruchen, als eine fachlich verantwortete
Deutung
... zu sein, der die
Validierung
durch ihre Adressaten noch fehlt.
(Müller 1993, S. 68)
[132:13] Das ist zwar juridisch formuliert, aber sozialpädagogisch gemeint. Gibt es eine Brücke zwischen
fachlich verantworteter
Deutung
und der
Validierung
durch (die) Adressaten
, und zwar nicht erst nach erfolgter Intervention, sondern schon im Stadium der Erziehungsplanung? Müller formuliert diese Brücke in der lapidaren und altvertrauten Frage:
Wer hat welches Problem?
Da zwischen Selbst- und Fremdverstehen, zwischen Selbstdeutung und Experten-Diagnose bzw. den Vermutungen der Institutionen im Regelfall Differenzen bestehen, andererseits nach den Vorgaben des Gesetzes Kompromisse erwartet werden, stellt sich, über die abstrakte Kompromiß-Empfehlung hinaus, die Frage, ob wissenschaftliche Untersuchungen dazu irgend etwas Aufklärendes beitragen können. Diese Linie möchten wir im folgenden aufnehmen und weiterzuführen versuchen, ohne dabei weder die naturgemäß abstrakten Imperative des Gesetzes noch die fallanalytisch-hermeneutischen Erfahrungen aus den Augen zu verlieren.
[132:14] Im Mittelpunkt unserer Untersuchung stehen die Selbstdeutungen von Jugendlichen, die in Einrichtungen der Jugendhilfe vorwiegend stationär |A 12|betreut werden, bei denen die Angebote der Jugendhilfe auf Grenzen stoßen und die Betreuer unsicher sind, wie es mit ihnen weitergehen soll, wie und ob überhaupt die Hilfeplanung weitergeschrieben werden kann. Zwischen Erziehern, Jugendhilfevertretern, Jugendlichen und ihren Eltern gibt es schon lange kein gemeinsam
anerkanntes Allgemeines
(Müller 1993
) mehr, die Situation ist für alle Beteiligten unklar. Das Ziel der Untersuchung war es, anhand einer regionalen Stichprobe diejenigen Probleme herauszufinden, die diese Klientel für sich selbst sieht. Wir gingen dabei von der Annahme aus, auf diese Weise pädagogische Aufgabenstellungen finden zu können. Das ist freilich nur ein kleiner Ausschnitt aus dem, was unter der Bezeichnung
Hilfeplanung
im ganzen zu erwarten ist. Es betrifft aber eine wesentliche, wenn nicht gar die pädagogisch wichtigste Komponente: das Aushandeln von Erziehungsplänen mit den Betroffenen. Wird diese Komponente wirklich ernst genommen – etwa so wie in der vorzüglichen Problemerläuterung von Merchel (a. a. O., S. 53 ff.) –, dann muß, besonders bei der Hilfe für Jugendliche, alles daran gelegen sein, deren aktive Mitgestaltung an ihrem Bildungsprozeß zu ermöglichen. Ohne sich ernsthaft auf die Selbstdeutungen, Situations- und Problemdefinitionen der Klientel zu beziehen, wird das kaum zu erwarten sein. Wir denken, daß die frühneuzeitliche bildungstheoretische These des Nicolaus Cusanus immer noch Geltung beanspruchen darf: Letzten Endes könne jedes Individuum nur sich selbst belehren, im Sinne einer Bildung, die es selber will und als sinnvoll akzeptiert. Pädagogen können dabei nur Hilfestellungen geben, Arrangements und Unterstützungen bereit halten. Damit solche Unterstützungen gelingen, vor allem damit sie an die Perspektive der
Betroffenen
gebunden bleiben, wenngleich gebrochen, dafür soll das Folgende einige Vorschläge erarbeiten, empirisch erläuterte Gesichtspunkte, die für sozialpädagogische Diagnosen – wenn man denn an diesem mißverständlichen Begriff festhalten sollte – aus erziehungswissenschaftlicher Sicht unerläßlich sind.
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1. Datenerhebung, Stichproben-Beschreibung und Auswertungsmethode

[132:15] Um eine für unsere Interessen geeignete Stichprobe für Gespräche mit Jugendlichen zusammenstellen zu können, haben wir mit informellen Expertenbefragungen begonnen. Sie hatten den Zweck, Kritik und Anregung für mögliche inhaltliche Akzentverschiebungen der Untersuchung zu erhalten, institutionelle Erfahrungen mit psychosozial schwer belasteten Jugendlichen in Erfahrung zu bringen und Anregungen zum weiteren Vorgehen zu bekommen. Es zeigte sich, daß die Experten eher zurückhaltend waren bei der Beschreibung der Verhaltensmerkmale der Klientel und statt dessen häufig ihre eigene Ratlosigkeit und die institutionellen Grenzerfahrungen zur Sprache brachten, die sie bei der Bestimmung von Hilfen haben. Die befragten Mitarbeiter der Landesjugendämter äußerten sich skeptisch gegenüber unserer Absicht, die ins Auge gefaßte Gruppe von Jugendlichen nach typischen Selbstdeutungsthematiken und charakteristischen Profilen sozialer Schwierigkeiten zu unterteilen und zu beschreiben; die Gruppe sei in ihrer Verhaltenscharakteristik so inhomogen, daß eine Problembeschreibung sehr schwer falle. Weil die Hilfen nach dem KJHG so weit wie möglich auf die Besonderheit des Einzelfalles abgstimmt sein sollten, versprachen sich die Experten in der Mehrzahl weitaus mehr Praxisvorteile von einem sensiblen sozialpädagogischen Diagnoseverfahren, das es erlaubt, die Schwierigkeiten und Defizite des Einzelfalls zu erkennen und die Art und Ausgestaltung der Hilfemaßnahme daraus abzuleiten. Wir gaben allerdings zu bedenken, daß der Entwicklung eines handhabbaren Diagnoseinstruments eine sorgfältige und dichte Beschreibung dieser Jugendhilfeklientel vorausgehen müsse. Eine solche Beschreibung kann für das Fallverstehen in der Praxis hilfreich sein, wenn es gelingt, die Klientel nach unterschiedlichen, fallübergreifenden Entwicklungsaufgaben und Deutungs- oder Verhaltensmustern zu beschreiben.
[132:16] Ein Hauptproblem sahen die Experten darin, genaue Kriterien zu bestimmen, die es erlauben, diese Gruppe von anderen abzugrenzen. Man empfahl uns, einen Kriterienkatalog aufzustellen, der nicht, wie anfänglich beabsichtigt, Verhaltensauffälligkeiten zum Maßstab nimmt, sondern von institutionellen Merkmalen ausgeht, in denen sich die Schwie|A 14|rigkeiten im Umgang mit diesen Jugendlichen ausdrücken: z. B. Schwierigkeiten bei der Heimunterbringung aufgrund fehlender eindeutiger Zuweisungskriterien oder zahlreicher Ablehnungen der Heimgesuche, Widersprüche zwischen Hilfeplanung und Entwicklungsverlauf des Jugendlichen.
[132:17] Anhand der transkribierten Experteninterviews wurden solche
Grenzen der Jugendhilfe
zunächst formlos zusammengefaßt und ca. 30 Mitarbeitern dreier Jugendämter vorgelegt mit der Bitte, die Kriterien anhand ihrer Praxiserfahrung zu prüfen. Im Anschluß an die Gespräche und Diskussionen mit den Sozialpädagogen und Sozialarbeiterinnen der einzelnen Dienste wurde der folgende Katalog zusammengestellt. Er diente im weiteren Verlauf zur Auswahl der Stichprobe:
  1. 1.
    [132:18] Die Entwicklung verläuft überhaupt nicht nach dem Erziehungsplan.
  2. 2.
    [132:19] Der oder die Betreffende lehnt seit längerem alle Beziehungs- und Betreuungsangebote ab.
  3. 3.
    [132:20] Die Verhaltensprobleme sind trotz langer intensiver Bemühungen unverändert geblieben.
  4. 4.
    [132:21] Die Betreuer sind sich unsicher im Umgang mit dem/der Jugendlichen. Die medizinischen/psychologischen/psychiatrischen diagnostischen Begutachtungen haben zu keiner Klärung führen können.
  5. 5.
    [132:22] Der oder die Betreffende befindet sich in einer aktuell gefährdenden Lebenssituation (z. B. durch Drogen-, Skinhead-, Punker-, Prostituiertenmilieu oder Straffälligkeit).
  6. 6.
    [132:23] Der/die Heranwachsende steht kurz vor der Volljährigkeit; seine/ihre Schwierigkeiten sind so erheblich, daß eine intensivere Betreuung eingeleitet werden müßte, um zur Selbständigkeit zu befähigen.
  7. 7.
    [132:24] Es handelt sich um eine akute Aufnahme, man vermutet, daß der/die Jugendliche unter erheblichen sozialen und psychischen Belastungen steht; es bestehen große Unsicherheiten hinsichtlich der Erziehungsplanung und der konkreten Hilfen, die er/sie benötigt.
  8. 8.
    [132:25] Der Junge bzw. das Mädchen hat aufgrund seiner/ihrer Schwierigkeiten schon mehrere Heimwechsel hinter sich.
  9. 9.
    [132:26] Er/sie entweicht häufig und für längere Zeit von der Gruppe.
[132:27] Eine Kooperation mit den Trägern der Erziehungshilfe kam rasch zustande. Je nach Absprache mit den für die einzelnen Regierungsbezirke zuständigen Landesjugendämtem wurden die Heimleitungen entweder postalisch informiert oder mündlich bei den regionalen Heimleitertreffen. In anderen Bezirken wurde auf Vorschlag der Jugendämter nur eine Auswahl von Einrichtungen angesprochen. Anhand der Rückmeldun|A 15|gen und nach Maßgabe des Kriterienkataloges wurden insgesamt 10 Einrichtungen ausgesucht, in denen Jugendliche und ihre Erzieher befragt werden sollten. Bei der Auswahl wurde ein breites Spektrum unterschiedlicher Typen von Einrichtungen berücksichtigt, nämlich:
Anzahl
Großeinrichtung mit interner Schul- und Berufsausbildung 3
mittlere Einrichtung mit Heimschule und Fördergruppen für Lernbehinderte 1
Heilpädagogisches Heim 1
Heim mit psychotherapeutischen Angeboten 1
Kleinere Einrichtungen ohne spezialisierte Angebote 2
Sozialtherapeutische Einrichtung mit betreutem Einzelwohnen 1
Sozialpädagogische Wohngruppe für Mädchen 1
Arbeitsstellen zur beruflichen Eingliederung 3
[132:28] Ambulante Hilfen, die Jugendliche und junge Volljährige bei der beruflichen Eingliederung unterstützen, wurden deshalb in die Untersuchung einbezogen, weil zu vermuten ist, daß hier hauptsächlich Heranwachsende betreut werden, die schon vorher über längere Zeit in Heimen betreut worden sind und aufgrund ihres Verhaltens erhebliche Schwierigkeiten im Bereich sozialen Verhaltens haben.
[132:29] Die Leiter und Mitarbeiter der genannten Einrichtungen wurden aufgefordert, uns ihre schwierigsten Kandidaten nach Maßgabe des Kriterienkataloges zu nennen. Bei der Auswahl der Stichprobe wurde darauf geachtet, daß mindestens drei der im Kriterienkatalog enthaltenen Merkmale auf die Betreffenden und ihre Betreuungssituation zutrafen, daß der Anteil von Jungen und Mädchen nicht allzu ungleich verteilt war und daß das Mindestalter 14 Jahre betrug. Es zeigte sich, daß uns von den Einrichtungen wesentlich häufiger Jungen genannt wurden; die meisten der uns vorgeschlagenen Jugendlichen waren älter als 16 Jahre (vgl. Tabelle 1).
[132:30] Die so ermittelten 70 Jugendlichen wurden von uns in den Einrichtungen aufgesucht, über das Projekt informiert und anschließend in einem durchschnittlich 90 Minuten dauernden
Interview
befragt. Das Interview hatte die Form eines lockeren, aber an einem Leitfaden grob orientierten Gesprächs (vgl. Anhang). Die wichtigsten Lebensereignisse, Kindheitserinnerungen, familiären und institutionellen Erfahrungen, die Beschreibung der gegenwärtigen Lebenssituation und die Zukunfts|A 16|

Tab. 1: Verteilung der Stichprobe

Jugen
(n = 42)
Mädchen
(n = 28)
gesamt
(n = 20)
Alter 12 – 14
15 – 17
junge Volljährige
7
18
17
2
16
10
9
34
27
institutionelle Erfahrungen ein Heimwechsel
mehrere Heimwechsel
Pflegefamilie
Psychatrie
Schulabschluss
16
10
11
13
11
10
5
5
4
5
26
15
16
17
16
Art der derzeitigen Betreuung stationär
betreutes Einzelwohnen
ambulant
30
4
8
23
1
4
53
4
12
vorstellungen, ferner Interessen, Freizeittätigkeiten, Verhaltensschwierigkeiten und Gleichaltrigenkontakte waren Gegenstand der Unterhaltungen.
[132:31] Diese
Self-reports
repräsentieren die jeweils individuelle Beschreibung und Deutung der eigenen (aktuellen) Lage und Vergangenheit samt der von den Jugendlichen als problematisch empfundenen Komponenten ihres Lebens. Obwohl wir in erster Linie an den Selbstdeutungen der Jugendlichen interessiert waren, schien uns dennoch eine externe Kontrolle notwendig zu sein, auch wenn diese Kontrolle von uns methodisch eher informell vorgenommen wurde. Während die Jugendlichen von verschiedengeschlechtlichen Projektmitgliedern interviewt wurden, bat ein drittes die
Bezugserzieher
oder zuständigen Betreuer um eine Fallbeschreibung und eine Entwicklungsprognose. Auch diese Gespräche wurden nach einem Leitfaden geführt, aber nur schriftlich protokolliert; die Prognosen wurden auf einem Fragebogen (Anhang) festgehalten. Auf diese Weise erhielten wir sehr genaue und z. T. äußerst sensible Fallberichte, die sowohl zusammenfassende Beurteilungen der Jugendlichen durch ihre Erzieher enthielten als auch Schilderungen von Schlüsselerlebnissen und charakteristischen Anekdoten. Im Unterschied zu den Entwicklungsberichten, Diagnosen und Gutachten der offiziellen Akten sind sie in der Alltagssprache gehalten und kommen einer terminologisch unvoreingenommenen Beschreibung sehr nahe.
[132:32] Es zeigte sich, daß bis auf wenige Ausnahmen die Selbstbeschreibungen der Jungen und Mädchen von den Einschätzungen der Erzieher wenig abwichen. Allerdings beschrieben die Jugendlichen unter anderem auch die Defizite der Einrichtungen, die die Erzieher nicht erwähnten, und umgekehrt brachten die Betreuer deviante Verhaltensweisen der Jugendlichen zur Sprache, die diese uns in den Interviews verschwiegen. |A 17|Die Zusammensetzung und einige Merkmale der Stichprobe zeigt die Tabelle 1. Tabelle 2 dokumentiert die Einschätzungen und Prognosen der Erzieher im Hinblick auf die gegenwärtige Lebenssituation und die zukünftige Entwicklung der Jugendlichen. Insgesamt liegen bei 68 Fällen Erzieherinterviews vor, bei zwei Fällen waren keine Aussagen möglich oder nicht auswertbar.
[132:33]

Tab. 2: Prognosen und Einschätzungen der Erzieher (n = 68 Fälle)

Ausbildung/Beruf befriedigende soziale Beziehungen Devianz/seel. Belastungen
eher positive Einschätzungen und Prognosen 12 21 14
deutlich negative Einschätzungen und Prognosen 52 46 52
keine Angaben 4 1 2
insgesamt 68 68 68
[132:34] Mit der Auswertung der 70 transkribierten Interviews begann das Hauptstück der Untersuchung. Zu diesem Zweck mußten Kategorien gefunden werden, nach denen das Material (insgesamt mehr als 1000 Schreibmaschinenseiten) in einem ersten Auswertungsschritt geordnet werden konnte. Zunächst lag es nahe, die Transkripte nach Erfahrungsfeldern zu kodieren, und zwar:
  1. 1.
    [132:35] Familie und Verwandtschaft: Dieser Kategorie wurden alle Äußerungen zugeordnet, die die innerfamiliären Erfahrungen thematisieren.
  2. 2.
    [132:36] Erfahrungen in Pflegefamilien.
  3. 3.
    [132:37] Die außerfamilialen, nicht-institutionellen Kontexte. Hierzu zählen u.a. Äußerungen über Erlebnisse mit Gleichaltrigen. In dieser
    Domäne
    wurden im wesentlichen die peer-group-Erfahrungen gesammelt.
  4. 4.
    [132:38] Berichte der Jugendlichen über Vorkommnisse in den Einrichtungen des Bildungssystems.
  5. 5.
    [132:39] Erfahrungen mit Einrichtungen der Jugendhilfe.
  6. 6.
    [132:40] Mitteilungen über bevorzugte oder abgelehnte Tätigkeiten, Interessen, Spielerisches und Sportliches, handwerkliche Neigungen u. ä.
[132:41] Mit diesen Erfahrungsfeldern sind gleichzeitig auch die wichtigsten sozialen Subsysteme benannt, die für die Sozialisation relevant sind.
[132:42] Im Sinne dieser ersten Klassifikation wurden alle signifikanten Passagen der insgesamt 70 Interviews kodiert und exzerpiert. Die fallbezogenen Exzerpte dokumentieren also die wichtigsten Erfahrungen in relevanten |A 18|sozialen Systemen bzw. Institutionen. Das Gesamtmaterial eignete sich für die Diagnose typischer Profile von Herkunftserfahrungen, es ließen sich typische institutionelle Werdegänge und
Bildungskarrieren
sowie unterschiedliche peer-group-Kontexte erkennen. In dieser Hinsicht also erbrachte unser Material nichts, was im Vergleich zum Forschungsstand (vgl. Hosemann/Hosemann 1984, v. Wolffersdorff/Sprau-Kuhlen 1990, Mollenhauer/Uhlendorff 1992) irgendwie neu wäre. Das Ziel der Untersuchung war aber ein anderes: Im Unterschied zu den genannten Studien sollten typische Themen der Lebensbewältigung gefunden werden, und zwar solche, die einerseits aus der Selbstdeutung der Jugendlichen folgen und andererseits eine pädagogische Hilfeplanung anzuschließen erlauben. Die genannten Klassen sind zwar Felder, in denen die Jugendlichen sich mit sich und ihrer Umwelt auseinandersetzen. Die Deutungsmuster der Jugendlichen hinsichtlich ihrer Entwicklungsthematiken und Lebensaufgaben aber ließen sich, wie sich zeigte, nicht in den genannten Erfahrungsfeldern gesondert lokalisieren, sondern sie durchlaufen das gesamte Spektrum ihrer Lebenswirklichkeit. Es mußten folglich zusätzliche, pädagogisch relevante Kategorien gefunden werden. Das schon sortierte Sprachmaterial wurde im Hinblick auf mögliche Bereiche durchgesehen, in denen die Jugendlichen ihre Lern- und Bewältigungserfahrungen zum Ausdruck bringen und in denen sich die Mitteilungen zu Deutungsmustern verdichten. Nach einer gründlichen Durchsicht entschieden wir uns für die folgenden fünf Auswertungsdimensionen. Das schon nach Erfahrungsfeldern sortierte Sprachmaterial wurde mit Hilfe dieser Dimensionen in einem zweiten Auswertungsschritt kodiert (Tabelle 3).
  1. 1.
    [132:43] Zeitschemata. Probleme der alltäglichen Handlungsplanung, der Überwindung von Zeitdistanzen zwischen Impuls und Befriedigung, der

    Tab. 3: Erfahrungsfelder und Deutungsdimensionen

    Selbst- und Weltdeutung
    Erfahrungsfelder
    2.1 Zeitschemata 2.2 Körpererfahrungen 2.3 Selbstentwürfe 2.4 normative Orientierungen 2.5 Devianz
    1.1 Verwandtschaftssystem
    1.2 Pflegefamilie
    1.3 außerfamiliäre nicht-instituionale Erfahrungen
    1.4 Erfahrungen in Einrichtungen des Bildungssystems
    1.5 Erfahrungen in Einrichtungen der Jugendhilfe
    1.6 Erfahrungen mit Tätigkeiten und Tätigkeitsbedürfnissen
    |A 19| Strukturierung von Erinnerung und die Antizipation von künftigen Lebensschritten schienen uns wichtige Indikatoren für eine Lern- und Entwicklungskomponente zu sein, die in der bisherigen Diagnostik nur eine untergeordnete Rolle spielen. Die befragten Jugendlichen allerdings machten Zeitlichkeit zwar nicht zu einem zentralen, aber dennoch wichtigen Thema ihrer Lebensbewältigung. In dem Material wurden also alle Äußerungen zu zeitlichen Distanzen, Verläufen, Tages- und Freizeitplänen sowie Auseinandersetzungen mit Zeitvorgaben und Zukunftserwartungen kodiert.
  2. 2.
    [132:44] Körpererfahrungen. Eine zweite Auswertungsdimension bildeten die Körpererfahrungen der Jugendlichen. Es zeigte sich, daß Formen der Auseinandersetzung mit der eigenen Leiblichkeit in den Interviews einen zentralen Stellenwert einnehmen. Unter diese Themenklasse wurden alle Aussagen subsumiert, die die Beziehung zum eigenen Körper direkt oder indirekt zur Sprache brachten, also Beschreibungen von konkreten leiblichen Spürenserfahrungen, Tätigkeiten und Freizeitaktivitäten, aber auch die körperbezogenen Interessen und Vorlieben.
  3. 3.
    [132:45] Selbstentwürfe. Diese Kategorie umfaßt Äußerungen, die sich dem zuordnen lassen, was in der theoretischen Diskussion das
    Selbst
    genannt wird (vgl. z. B. Kegan 1991). Hierzu zählt die Selbstsicht im Hinblick auf soziale Beziehungen, Interessen und Kompetenzen und zukunftsbezogene Lebenspläne. Ebenfalls gehören zu dieser Klasse die Wunschbilder der Betreffenden von sich sowie die zwischenmenschlichen Ertwartungen, mit denen sie sich konfrontiert sehen:
    Wie möchte ich sein, was erwarten die anderen von mir?
  4. 4.
    [132:46] Normative Orientierungen. Gesonderte Aufmerksamkeit richteten wir auf die Normenvorstellungen und interpersonellen Erwartungen, die die Jugendlichen in ihren Beziehungen geltend machen, und die damit verbundenen Dilemmata und sozialen Schwierigkeiten. In den Interviews zeigten sich ganz verschiedenen Bemühungen um Orientierungen, die nicht nur handlungsleitend sind, sondern auch dazu dienen, die z. T. schmerzhaften familialen Erfahrungen zu beurteilen und zu verarbeiten.
  5. 5.
    [132:47] Devianz. Die meisten der Jugendlichen der Stichprobe haben oder hatten erhebliche Schwierigkeiten mit abweichenden Verhaltensweisen. In den Interviews zeigte sich, daß sie Beweggründe geltend machen, die mit ihren sozialen, insbesondere ihren familialen Erfahrungen eng zusammenhängen. Wir haben diese Kategorie mit aufgenommen, weil die Selbstbeschreibungen und Erklärungen ihrer devianten Verhaltensweisen einen relativ großen Raum in den Gesprächen einnahmen und weil auf diese Weise ein gleichsam materialinternes Außenkriterium ins Spiel kommt, das es erlaubt, mit den Selbstbeschreibungen unter 1 – 4 verglichen zu werden.
|A 20|
[132:48] Mit diesen Auswertungsdimensionen schließen wir nun dicht an das an, was oben über Hilfeplanung und sozialpädagogisch-hermeneutische
Diagnose
gesagt wurde. Wir unterstellen nämlich, daß es sich bei den Dimensionen Zeit, Körper, Selbst und Moral einerseits um bildungstheoretisch fundamentale Sachverhalte handelt und daß andererseits diese Dimensionen durchaus praktikabel in die Ermittlung der
Betroffenen-Perspektive
im Rahmen von Hilfeplanung und Diagnose eingefädelt werden können. Die folgenden z. T. umständlichen Auswertungen sollen also in keiner Weise ein Muster dafür sein, wie in der Jugendhilfepraxis zu verfahren sei. Wir möchten nur – mit der Basis unseres empirischen Materials – zur Prüfung anbieten, ob es sich dabei tatsächlich um fundamentale und erziehungsplanrelevante Dimensionen und Gesichtspunkte handelt, die auch ohne subtile Einzelfallanalyse von jedem Sozialpädagogen beim
Aushandeln
von Erziehungsplänen (vgl. Merchel a. a. O.) ins Spiel der Aufmerksamkeiten gebracht werden können. Auch für uns ist nicht schon entschieden, ob die Dimensionen letzten Endes überzeugend sind. Uns scheint aber die praktische Frage wichtig zu sein, ob die empirisch-theoretische Erläuterung, die wir im folgenden vorlegen, überzeugend genug ist, um als heuristische Gesichtspunkte dem Verständnis für die Selbst- und Weltdeutungen Jugendlicher im Kontext von Prozeduren der Jugendhilfe dienlich zu sein.
[132:49] Die methodische Schwierigkeit bestand nun darin, das nach diesen Dimensionen kodierte und exzerpierte Material, das pro Fall immer noch durchschnittlich 20 Seiten betrug, zusammenzufassen, und zwar so, daß die jeweiligen individuellen Sinndeutungen nicht verlorengingen und die wichtigsten Mitteilungen für den Auswerter möglichst schnell aufeinander bezogen werden konnten. Zu jedem Fall wurden die wichtigsten Aussagen entlang jeder dieser Dimensionen in tabellarischer Form zusammengefaßt (Auswertungsbeispiele im Anhang).
[132:50] Innerhalb jeder der fünf Dimensionen gibt es, so ist generell zu vermuten, verschiedene Muster. Die 70 Fälle sind zwar alle ganz individuell; sie folgen aber auch allgemeineren Regeln, beispielsweise der Konstruktion von Selbstentwürfen. Die Einzelfälle mußten also vergleichbar gemacht werden, und das ist nicht möglich ohne Abstraktion. Wir mußten also abgesehen von dem jeweiligen Wortlaut der Äußerungen und für jeden Fall eine Art Zusammenfassung erstellen, die es erlaubte, fallübergreifende Deutungsmuster zu ermitteln. Hier ein Beispiel zur Dimension
Selbstentwurf
, und zwar nur für fünf verschiedene Fälle:
[132:51] Fall 17/17/w/A
[132:52] Sucht Unabhängigkeit und Freiraum für individuelle Bedürfnisbefriedigung; ihre Vorstellungen von sich sind nicht besonders gefestigt; punktuell entwirft sie ein deutliches Bild von sich; kontrastreiches Selbstbild; |A 21|kommunikativ; Beziehungen sind wichtig; aktives Aufsuchen von Spannungszuständen; Durchbrechen traditioneller Rollenbilder.
[132:53] Fall 18/17/m/A
[132:54] Sucht Abgeschiedenheit und Ruhe; zeigt sich passiv; sucht unternehmungslustige Interaktionspartner; befolgt Erwartungen, keine besondere auf das Selbst gerichtete Aufmerksamkeit; Selbstbild ist widersprüchlich, fragmentiert; Ambivalenz von Angepaßtheit und Mißachtung von Regeln.
[132:55] Fall 20/16/w/E
[132:56] Hohe Ansprüche an sich selbst; Ehrgeiz; Tatendrang; empfindet Erwartungen als Limitierung, sieht sich durch sie nicht ernst genommen; ist von sich und der Richtigkeit ihres Tuns überzeugt; sehr konturiertes, deutliches Selbstbild; ihr Selbstbild ist in sich stimmig und gefestigt.
[132:57] Fall 21/18/m/E
[132:58] Sehr selbstreflexiv; selbstwertunbeständig; keine festen Zukunftsvorstellungen; Ablehnung konventioneller Werte; individualistisch; vertritt global-ideelle Werte; stellt sich bewußt in Opposition zu gesellschaftlichen Erwartungen.
[132:59] Fall 27/19/w/F
[132:60] Ambivalentes Verhältnis zu eigenen Wünschen und sozialen Erwartungen; Verharren in Lethargie; wenig erfolgreiche Versuche, sozialen Erwartungen gerecht zu werden; veränderliche Selbsteinstellungen; geringer Selbstwert; individueller, von der Gesellschaft losgelöster Lebensstil; Suche nach Harmonie in sozialen Beziehungen; ideelle Mitgliedschaft in Subkultur.
[132:61] Im Vergleich dieser Zusammenfassungen wurden typische Musterkonstellationen zunächst versuchsweise konstruiert und dann, mit erneutem Rückgriff auf das authentische Material,
validiert
. Zu jeder Dimension fanden wir so drei bis vier Deutungsmuster. Diese sollen im folgenden vorgestellt werden. Der Darstellung der Dimensionen und Muster schicken wir je eine Erörterung und Beschreibung der Dimension sowie die von uns geltend gemachte Klassifikation der verschiedenen Muster voran.
|A 22|

2. Zeit

[129:16] Daß Bildung und Erziehung sich in der Zeit erstrecken, auch daß innerhalb unserer Kultur diese Erstreckung geregelt ist, daß sie nach Mustern verläuft, daß es Fortschritte und Einschnitte, kritische und weniger kritische Phasen gibt, dies alles sind triviale Feststellungen. Trivial ist vielleicht auch noch die Einsicht, daß derartige Muster, die das Heranwachsen regulieren, dem Individuum Normalformen der zeitlichen Lebenslaufgliederung auferlegen, mit denen es Schwierigkeiten haben kann. Solche Schwierigkeiten hängen damit zusammen, daß die objektiven Muster, die gesellschaftlichen Normalitätserwartungen für
gelungene
Bildungs- und Entwicklungsverläufe – also z.B. Pünktlichkeitserwartungen, Einschulungstermine, Lernzeiten im Jahresrhythmus, Strafmündigkeitstermine u. ä. – dem Erleben von Zeit konfrontiert sind. Muster und Erleben können also aufeinander abgestimmt sein; sie können aber auch, das ist vielleicht schon weniger trivial, im Streit miteinander liegen. Diese jedem Heranwachsenden auferlegte, als Unterschied zwischen
physikalischer
und
psychologischer
Zeit beschriebene Entwicklungsaufgabe wurde von der Kognitionstheorie gut erforscht unter der Frage, wie und wann es dem Kinde gelingt, die meßbaren Zeitabläufe und das innere Erleben von Dauer aufeinander derart abzustimmen, daß eine Balance gewährleistet ist (vgl. Piaget 1955), auch wenn sie lebenslang labil bleiben sollte.
[129:17] Diese Balance gelingt nicht immer. Das Mißlingen kann auf verschiedene Weise erscheinen oder erkennbar werden: Lernzeiten, die Kinder oder Jugendliche brauchen, können von den institutionellen
meßbaren
Bildungszeiten (Kleinkindalter, Kindergarten, Grundschule usw. bis hin zum Berufsabschluß) abweichen und etwa als
Entwicklungsrückstände
zu Konflikten führen; erinnerte Zeit kann die objektive Chronologie in Verwirrung bringen; die Zeit, die man braucht, um ein auftretendes Bedürfnis sozial verträglich zu befriedigen, kann als unerträglich lange erlebt werden (vgl. Kasakos 1971); das Zeitempfinden in der Gleichaltrigengruppe, der Subkultur, der Clique kann zu den institutionellen Vorgaben im Hinblick auf meßbare Zeit in Konflikt geraten; wenn die Zeit mit Tätigkeit angefüllt ist, vergeht sie rasch, andernfalls streicht sie frustrierend langsam dahin, entsteht Langeweile; die Zukunft kann, wie die Vergangenheit, als ein Fatum erlebt werden, ohne
Per|A 23|spektive
, ohne vorstellbare zeitliche Gliederung; schließlich kann auch der Tageslauf so scheinen, als sei er nichts als eine Abfolge innerer Impulse des Organismus, nicht abstimmungsbedürftig mit äußeren,
objektiven
Zeitsachverhalten. In derartigen Balancierungsleistungen zeigt sich ein anthropologisches Grundproblem, mit dem wir alle zu tun haben, aber auch eine besondere Schwierigkeit, der Jugendliche konfrontiert sind, die in ohnehin schon schwieriger Lebenslage sich befinden.
[129:18-19] Wir wollen deshalb ermitteln, ob in dem Material der Interviews etwas erkennbar ist, das auf derartige Lebensprobleme Bezug nimmt. In welchen Deutungsmustern, so ist also unsere Frage, geben die Jugendlichen ihren Umgang mit Zeit zu erkennen? Da nach solchen Mustern nicht direkt und nicht in standardisierter Form gefragt wurde, können sie nur aus dem Erzählduktus und den zur Sprache gebrachten Inhalten erschlossen werden. Der Spielraum, den der Interpret dabei hat, ist freilich groß und kann zu unkontrollierbaren Vermutungen führen. Er liegt zwischen einer sehr oberflächlichen Auswertung einerseits, bei der etwa nur darauf geachtet würde, ob und in welchen Zusammenhängen überhaupt der Ausdruck
Zeit
oder sinnverwandte Vokabeln auftreten – und andererseits in dem Versuch,
tiefe
Charakteristiken der Rede, die etwa schon im Satzbau, in der Grammatik, in den Verbformen Indikatoren für den Umgang mit Zeitproblemen vermuten lassen, zu beschreiben. Die erste Variante schien uns zu unergiebig; die zweite wäre eher in linguistischer Grundlagenforschung angebracht, nicht aber im Zusammenhang vorwiegend pragmatischer Interessen. Wir haben uns für einen mittleren Weg entschieden, auch wenn er deutlich theoretische Interessen kaum zu befriedigen vermag.
[129:20] Es wurden drei Arten von Äußerungen zum Gegenstand der Auswertung gemacht, die, auch wenn sie nicht in die
Tiefe
der mental verankerten Bewußtseinsformen eindringen, doch etwas vom Zeit-Management und dem ihm zugrunde liegenden Habitus im Umgang mit Zeitproblemen zum Vorschein bringen, nämlich:
  • [129:21] Wie bringen die Jugendlichen ihre biographische Vergangenheit zur Darstellung, wie strukturieren sie ihre Erinnerung?
  • [129:22] Wie beschreiben sie soziale Interaktionen und die Wege zwischen einem auftauchenden Bedürfnis und dessen Befriedigung, die Abstimmungen auf die Erwartungen anderer, die dabei als nötig oder unwichtig erachteten
    Antizipationen
    ?
  • [129:23] Wie gehen sie mit Zukunftsvorstellungen um, nicht nur in mikrosozialen Interaktionszusammenhängen, sondern im Sinne biographischer Entwürfe als zeitliche Strukturierungen im Erwartungsfeld zwischen
    Wunsch und Wirklichkeit
    ?
[129:24] In allen drei Hinsichten muß jene oben angedeutete Balanceleistung erbracht werden zwischen objektiv vorgegebenen chronometrischen Zeit|A 24|schemata und dem subjektiven Erleben von Dauer. Man kann davon ausgehen, daß im sozialisatorischen Regelfall beides im labilen Gleichgewicht gehalten werden kann: Die chronometrischen Vorgaben können akzeptiert werden; hingegen wird das
psychologische
Erlebnis von Dauer, die Befriedigung des Moments gleichsam in den Nischen der Chronometrie lokalisiert, gleichviel ob sie im biographischen Verlauf oder an situativen Besonderheiten gefunden werden. Das chronometrisch auferlegte Schema von Bildungskarrieren z. B. kann, ohne daß daraus gravierende Schwierigkeiten entstehen, gelegentlich durchbrochen werden. Jemand kann mal etwa ein halbes Jahr
durchhängen
, ohne daß die eigene Kontrolle über Zeitdistanzen verlorengeht; Spiel, Abenteuer und Reisen können situativ die Erlebnis-Zeit in den Vordergrund rükken, ohne daß dadurch die gesellschaftlich standardisierten Vorgaben prinzipiell in eine Zone der Ablehnung geraten, wie auch umgekehrt die auferlegte Chronometrie nicht das subjektive Erleben von Dauer oder situativer Intensität beeinträchtigen muß.
[129:25] Die Jugendlichen unserer Stichprobe sind zumeist anders. Sehr viele von ihnen tun sich schwer mit dem, was in der Interaktionstheorie
Perspektiven-Übernahme
heißt, eine Fähigkeit, die nicht nur die allgemeine Interaktionskompetenz betrifft, sondern auch für den Erwerb sozial verträglicher Zeitschemata grundlegend wichtig ist. Das Sich-Hineinversetzen in die Perspektive von anderen bedeutet ja nicht nur, diesen konkreten anderen Menschen, als aktuellen Beziehungspartner, in seinen Erwartungen an mich ernst zu nehmen; es bedeutet auch, den
generalized other
, das, was mir als verallgemeinerte Erwartung begegnet, in meine Handlungsschritte einzubeziehen, also mich in der Perspektive solcher Erwartung zu sehen. Die chronometrische Struktur von Bildungsverläufen in unserer Gesellschaft ist eine solche verallgemeinerte Erwartung. Wer also im Verlauf seiner Sozialisation wenig Gelegenheit hatte, derartige Abstimmungen zu erlernen, gerät leicht in Konflikte. Fast immer entstehen diese entlang dieser kritischen Zone von verallgemeinerungsfähigen objektiven Zeitgliederungsregulativen und den eher subjektiv zu nennenden Erlebnisweisen, die sich von konkreten Situationen, von individuellen Impulsen, von spontanen Befriedigungswünschen nur schwer lösen können. Auch der umgekehrte Fall ist denkbar, daß nämlich die institutionelle Zeitgliederung die subjektiven Erlebnisspielräume überwuchert und deshalb gar nicht mehr zur Erfahrung kommt, daß das subjektive Zeiterleben (
psychologische Zeit
) sein Recht verlangen darf und also auch in der Selbstdeutung einen wesentlichen Platz haben sollte.
[129:26] In solcher Lage entwickeln die Jugendlichen unserer Stichprobe
Schemata
oder
Muster
, nach denen das für jeden von uns irritierende Spiel zwischen persönlichen Impulsen und unpersönlichen Regelvorgaben individuell akzeptabel gedeutet wird. Die Irritation wird, wenn man nicht über die oben beschriebene Frustrationstoleranz und die Fähigkeit zur |A 25|Übernahme genereller Perspektiven verfügt, in durchgehenden Deutungsmustern zur Beruhigung gebracht. Das erlaubt es den Jugendlichen, die Widersprüche oder Differenzen gleichsam zu bereinigen. Drei solcher subjektiver Deutungsmuster haben wir in den Materialien gefunden, und zwar nach Maßgabe der erläuterten Problemlage:
  • [129:27] Es gibt Jugendliche, deren Umgang mit Zeitproblemen ganz oder doch sehr weitgehend von den verallgemeinerten und objektiven Schemata geprägt ist, die in unserer Kultur für biographische Verläufe, für Bildungs- und Lernzeiten geltend gemacht werden. Was ihnen in ihrem Leben relevant erscheint, das wird jenen Vorgaben zugeordnet. Wir bezeichnen dies als das Muster institutionalisierter Zeit.
  • [129:28] Daneben gibt es Jugendliche, die so erzählen, als seien derartige Chronometrien irrelevant. Die Strukturierung von biographischen Erinnerungen, aktuellen Schilderungen und Zukunftserwartungen erfolgt nach Maßgabe wichtiger Beziehungserfahrungen, zumeist in nahen sozialen Kontexten; Zeitverläufe werden entsprechend gegliedert; die Dichte des Erlebens von Interaktionen ist ihnen erheblich wichtiger als die Frage, wie dies sich in die Zeitstruktur etwa von Bildungs- oder Ausbildungskarrieren einfügt. Wir bezeichnen diese Mentalität als an sozialen Beziehungen orientiertes Muster der subjektiven Deutung von Zeit.
  • [129:29] Das dritte Muster umfaßt nicht, wie es scheinen könnte, eine Restgruppe, sondern hat ein ausgeprägtes eigenes Profil. Es wird von Jugendlichen zur Sprache gebracht, denen sowohl die institutionellen Zeitschemata als auch die erlebnisdichten Beziehungsereignisse gleichgültig zu sein scheinen. Ihr Leben – so ist der Eindruck beim Lesen der Interviews – gliedert sich in seinem Verlauf nach aufregenden Episoden, die im übrigen unverbunden bleiben. Eigentlich nehmen sie überhaupt keine Gliederung nach Entwicklungs- oder Bildungsschritten, nach folgenreichen Erfahrungen mit anderen Menschen vor, sondern springen von Episode zu Episode, ohne daß Relevanz-Abstufungen erkennbar wären. Wir nennen dieses Muster
    fragmentiert
    .
[129:30] Jedes dieser drei Muster enthält Stärken und Schwächen. Erst aus deren Abwägung können sich pädagogische Folgerungen ergeben. Vorerst aber sollen sie qualitativ beschrieben werden. (Wie sie sich quantitativ über die Stichprobe verteilen, ist im Anhang dokumentiert).
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Institutionalisierte Zeit

[129:31] Unter den 70 interviewten Jugendlichen gab es eine Teilgruppe, die eine in sich konsistente, mehr oder weniger chronologische Lebensdarstellung zur Sprache brachte, und zwar in enger Anbindung des Lebenslaufs an Institutionen wie Familie, Heim und Schule. Ein 17jähriger Junge zum Beispiel beschreibt seinen Lebenslauf folgendermaßen:
[129:32]
Ich war ein Jahr lang im Krankenhaus, weil ich blutkrank war. Und mein Vater und meine Mutter waren ja Alkoholiker und haben sich immer gestritten. Und da kam das Jugendamt und meinte, ein Kind weg oder alle. Und da hat meine Mutter gesagt: eins. Und das war ich, weil ich ja krank war. Und da bin ich gar nicht mehr zu meiner Mutter gekommen, sondern in den Wohnhof in X. Das ist so ein Kinderheim. ... Da war ich dann ungefähr ein halbes Jahr, und dann hat sich ein anderer Heimleiter gemeldet. Und hat gefragt, ob ich nicht da ins Heim möchte. Ich hab natürlich ja gesagt, weil ich das noch nicht alles genau wußte. ... Und dann kam ich auf den Trip, mehr Scheiße zu bauen, also Blödsinn zu machen und sowas. Und dann meinte der Heimleiter, ich hätte so ein kleines, vierjähriges Mädchen betatscht. Und da meinte der Heimleiter, ich kann gehen und sowas. Und dann bin ich in die Jugendpsychiatrie nach D. gekommen. Und die haben dann gesehen, daß ich überhaupt nichts in der Birne habe, noch richtig ticke da oben. ... Und die haben nach einem Heim geguckt, X. und Y. und weiß Gott nicht alles. Und dann haben sie gesagt, A. ist noch ein Platz frei, und dann bin ich hergekommen. Nee, die Leute sind hier in die Psychiatrie gekommen. Und dann haben wir geredet und so und denn hab ich Ja gesagt. Und dann bin ich hierher gekommen.
(15/17/m)
[129:33] Ein anderer erzählt:
[129:34]
Ich bin in A. geboren, das ist bei X. ... Dann ist meine Mutter gestorben. ... Ich bin dann zu Pflegeeltern in X gekommen. Erst habe ich bis zu meinem ersten Lebensjahr, haben wir in Y noch gewohnt und dann eben zu Pflegeeltern nach X. ... Da kam mal eine harte Zeit, da waren meine Eltern arbeitslos. Und da wurde eben alles gekürzt. ... Und dann bin ich auf die Schule gekommen, auf die Hauptschule. Da bin ich bis zur achten Klasse dann gegangen, siebte habe ich einmal wiederholt, ne, weil ich so einen langen Krankheitsfall hatte. ... Und dann bin ich nach S. gegangen in die Ausbildung letztes Jahr.
(14/17/m)
[129:35] Ein Mädchen berichtet:
[129:36]
Also ich bin 1970 hier in X. geboren, ja ich mein’, welches Krankenhaus, das weiß ich jetzt nicht mehr. ... Ich hab zuerst mit meiner Oma, meiner Tante, meinem Opa und meiner Mutter in einem Haus gewohnt. ... Meine Mutter, die mußte ja arbeiten. Also die war eigentlich nie da. Mein Vater, der war eigentlich auch nicht da, also wo ich schon ganz, ganz klein war, da ham se sich auch schon getrennt. Weil ich bin ja auch gekommen, da war meine Mutter 19 und so. Ja, und dann hat se eigentlich so viel Zeit auch nicht gehabt, um sich immer so ganz intensiv zu kümmern, und halt erzogen hat mich halt irgendwie mehr meine Oma. Und darum ist wahrscheinlich auch klar gewesen, daß die halt eben mit 14, wo ich dann 14 war, wo ich dann mit ihr richtig so gewohnt habe, irgendwo dann auch nicht so ganz klargekommen ist. Ja, und dann ging das halt eben nicht mehr, ich hab mich irgendwo |A 27|dann mit meiner Mutter überhaupt nicht verstanden, ja und dann hat se mich eben ins Heim gesteckt, ins Heim geschickt. ... Ich meine, es war auch ganz klar, wenn du immer nur irgendwie mit Jüngeren zusammen warst und nicht so mit Leuten in deinem Alter, wenn du so welche nicht gefunden hast und so, ne, ist natürlich auch schlecht. Und dann war es irgendwo auch so ’ne ulkige Erziehung. Wenn du das und das nicht machst oder das und das nicht aufräumst, dann nehm’ ich dir erst den Cassettenrecorder weg, oder sowas war das da auch. Und genauso das Gleiche war dann halt im Heim auch wieder, und das hat mich auch ganz schön runtergerissen dann.
(56/22/w)
[129:37] Die Erzählweise ist relativ einfach. Die Jugendlichen reihen die für sie relevanten Ereignisse zu einem bestimmten Erfahrungsfeld (Familie, Schule) einfach aneinander, sie verwenden dabei häufig die Konjunktion
und dann
. Selbst bei der Darstellung wichtiger Situationen und Lebensereignisse gibt es selten Hinweise auf das innere Zeiterleben. Die
psychologische Zeit
, Momente der Langeweile oder Ungeduld werden kaum zum Thema. Über die Einschulung heißt es z. B.:
[129:38]
Morgens hat meine Mutter mich fertiggemacht für die Schule, hat mir ’ne Schultüte in die Hand gedrückt, dann sind wir zur Schule hingefahren. ... Ja, und dann kamen auf einmal meine Freunde aus’m Kindergarten, die ich da kennengelernt hatte, ... und dann kamen die Lehrer raus und ham uns die Hand gegeben, ham se uns in unsern Klassenraum gebracht. Na, dann haben se die Eltern weggefahren, ... haben wir so Zettel gekriegt und sollten das ankreuzen, ja weiter weiß ich auch gar nicht mehr. Zwischen elf und zwölf Uhr konnten wir dann gehen. Haben die Eltern uns wieder abgeholt.
(2/16/m)
[129:39] In ihren Erzählungen vermißt man detaillierte Beschreibungen und zeitliche Abfolgen von zwischenmenschlichen Ereignissen und Handlungen mit den ihnen nahestehenden Personen. Für Außenstehende dramatisch erscheinende Ereignisse wie Trennung und Heimeinweisung werden eher distanziert-sachlich mitgeteilt. Das zeigt sich selbst noch in der folgenden, zunächst scheinbar interaktionsdichten Passage:
[129:40]
Ich hab nicht mehr auf meine Mutter gehört, hab mir immer Geld von ihr aus dem Portemonnaie genommen und bin abgehauen. Kam abends wieder so um acht, halb neune. Und dann wollt’ sie mir eine schlagen, hab ich zurückgeschlagen. Na, dann hat se keine Lust mehr drauf gehabt, dann hat se mir gedroht gehabt mit dem Jugendamt und so. Hab ich gesagt: dann mach’ doch, dann hab ich auch meine Ruhe! Ja, das hat sie dann wahrgemacht, aber vorher hat sie noch so’ne Gesprächshilfe für mich geholt gehabt, die hat mit mir Sachen unternommen, schwimmen gegangen ...
. (2/16/m)
[129:42] In vergleichbarer Art werden Tagesverläufe oder auch Interaktionssequenzen dargestellt. Die Beschreibung des Tagesablaufs folgt den vorgegebenen Zeitplänen und Angeboten der Institutionen. Das
Ich
nimmt selten gestaltenden Einfluß, es fügt sich scheinbar dem Rhythmus der Einrichtungen und Lebensfelder.
[129:43]
Erst geh’ ich duschen, frühstücken wir alle zusammen. Es gibt wohl Ausnahmen, die gern noch weiterschlafen. Dann rauchen wir noch eine zusammen am Tisch, |A 28|trinken wohl noch einen Tee und dann gehen wir los.
Nach der Schule,
da machen wir Hausaufgaben. Ich hab noch keine Hausaufgaben, krieg’ ich erst im BGJ, die anderen schreiben ein Berichtsheft.
Es folgt das gemeinsame Abendessen und dann
Fernsehgucken, Spazierengehen, nach N. (ein nahegelegener Ort) Cola trinken oder auf anderen Gruppen.
Das Wochenende sieht so aus:
Da machen wir Autoscooter fahren oder Paddeln. Oder wir fahren irgendwo schön essen oder gucken uns ein Spiel irgendwo an.
(15/17/m)
[129:44] Biographisch relevante Ereignisse wie etwa der Aufenthalt in einer psychiatrischen Einrichtung sind vorwiegend chronometrisch interessant; demgegenüber tritt die mögliche Erlebnisdichte interaktiver Erfahrungen zurück:
[129:45]
Da bin ich mit andern Leuten zusammengekommen, ja, und dann nach ’ner Zeit fing dann die ganze Scheiße an, ne? Mit Klauen und Lügen und zu spät nach Hause kommen, mal ’ne Nacht gar nicht kommen. Und da wurden meine Großeltern nach ’ner Zeit natürlich nicht mit fertig. Wurden ja auch älter, und dann ham die gesagt: so, jetzt können wir nicht mehr. Die ham’s lange mit mir ausgehalten! ... Dann ham die mich in die Kinderpsychiatrie gesteckt nach H., weil die gedacht haben, ich bin innerlich nervös. ... Also ich war da auf ’ner geschlossenen Station, hab jeden Tag ’n Gespräch mit dem Doktor gehabt, so ’n Arzt, und nachmittags hab ich Therapien gehabt. Wenn ich gut, mich gut gefühlt habe, dann hab ich nachmittags mal ’ne halbe Stunde oder ’ne Stunde Ausgang gehabt, na, dann wieder rein, dann um 8 ins Bett. Das war so meist der Tagesablauf, der immer so abging, immer. Da gab’s keinen Tag, der nicht so aussah. ... Und dann ’n halbes Jahr da gewesen, und dann bin ich hierhin gekommen, also nicht direkt hier, erstmal in ’ne andere Außenwohngruppe. Ja, und dann nach ’ner Zeit ham se mich dann hier hingetan. Gucken, wie’s hier läuft.
(35/15/m)
[129:46] Ist, was selten vorkommt, genauer von Interaktionen, von sozialen Beziehungen und damit verbundenen Erfahrungen die Rede, dann scheinen auch sie vorwiegend nach einem an institutionellen Bedingungen orientierten Muster in die Erzählungen eingefügt zu werden:
[129:47]
Freunde
werden im Zusammenhang mit Heimwechsel erwähnt; eine
Freundin
erscheint fast nur als Lebenslaufdatum,
wir werden sehen, was draus wird
; in der Gruppe gibt man nicht den Ton an,
ich hab immer gewartet, bis die anderen was gesagt haben ... so mach’ ich das heute noch
. Tagesläufe werden nicht nach Ereignishöhepunkten gegliedert, sondern als äußere Beschreibung von datierbaren Tätigkeitsabläufen; aus der Malerlehre:
Tapeten abreißen ... dann verputzen ... neuen Boden reinlegen, dann alles mit Makulaturfarbe überstrichen ... aber jetzt wissen se gar nicht, wie das weitergeht
. (2/16/m)
[129:48] Auch die Zukunftspläne scheinen einem Fahrplan zu folgen, den man zwar in seinem Zukunftssinn nicht durchschaut, der aber dennoch akzeptiert wird:
[129:49]
Ein Jahr Hauswirtschaftsschule. Und danach mach’ ich aber noch was anderes, wegen meinem Hauptschulabschluß, damit ich ihn krieg’. Das nennt sich, glaub’ ich, irgendwie BFH oder BVH. ... Danach will ich ’ne Ausbildung als Floristin anfangen. Weil ich Blumen mag, weil ich schon immer hinter Blumen her war, so Gar|A 29|tenarbeit, so Blumengestecke, Blumen binden, Biedermeiersträuße und so weiter.
(30/16/w)
[129:50]
Ich war hier zur Schule. Und dann hab ich erst Hauswirtschaft und Agrar gemacht. Und da hab ich gesehen, das ist überhaupt nichts für mich. Ja, und dann hab ich mal versucht, BVJ, Farbe und Holztechnik. Da hat mir Farbe keinen Spaß gemacht, weil der Meister so mies zu mir war. Und der Meister bei Holz war eigentlich immer voll nett zu mir. Dann hab ich mir angewöhnt, immer schon um halb loszugehen, statt immer ein paar Minuten zu spät zu kommen. Und dann hat’s mir auch immer mehr Spaß gemacht. Auch, wenn ich da morgens reinkam, so ein schöner Holzduft von Kiefer oder sowas.
(15/17/m)
[129:51]
Wenn ich die ganzen Sozialen hier seh’, ich meine die Penner, dann denke ich, hoffentlich wirst du später nicht so ... Vernünftige Arbeit und eine Wohnung, und dann wird der Meister mir helfen, daß ich das BGJ schaffe, dann werde ich zur Tischlerei gehen, und dann ...
(15/17/m)
[129:52]
Berufsgrundbildungsjahr zu Ende machen, dann nach Hause, meine Lehre machen, bei meiner Mutter bißchen mit anpacken. Sonst wüßt’ ich nichts
. (2/16/m)
[129:53] Die Zeit-Deutungsmuster, nach denen diese Jugendlichen ihre biographischen Ereignisse ordnen, sind auf sympathisch, aber häufig auch dürftig anmutende Weise realistisch, haben etwas von der Zuverlässigkeit handwerklicher Orientierungen, wie in alten Handwerker-Chroniken. Individuell Bedeutsames rückt demgegenüber eher in den Hintergrund; statt dessen treten Merkmale eines gleichsam öffentlichen Lebenslaufs hervor. Manchmal lesen sich die Äußerungen der Jugendlichen wie eine Jugendamtsakte: Frühe Krankheit, Scheidung der Eltern, Aufenthalte bei Verwandten, Einschulung, Umzüge, Schulschwierigkeiten, Familienhilfe, Heimeinweisung, psychiatrische Betreuung, Heimwechsel, BGJ, Lehre. Hinter dem (scheinbar) nüchternen und auf institutionelle Abläufe bezogenen Schema der zeitlichen Orientierung bleibt indessen verborgen, was mit der Bildung des Individuums geschieht. Die in den Äußerungen vorherrschende chronometrische Einstellung könnte auch brüchiges Eis sein, ein durch leidvolle Lebenserfahrung akzeptiertes Korsett biographischer Orientierung, das einerseits Stütze, andererseits Restriktion bedeutet. Es gibt bei dieser Art biographischer Mitteilungen keine, in denen die Zeitvergessenheit im Spiel, die eher privaten biographischen Gliederungen, die Zeitabläufe von Freundschaften oder anderen sozialen Beziehungen, die
Biographien
von Gruppenstrukturen, die (vermutbare) Erlebnisdichte von herausragenden Lebensereignissen zur Darstellung gebracht werden.
[129:54] 22 Fälle, das ist ein knappes Drittel unserer Stichprobe, folgen diesem Selbstdeutungsmuster, allerdings entschieden häufiger die Jungen als die Mädchen. Darf man sagen, daß diese Jugendlichen Schwierigkeiten mit dem oben angedeuteten Problem haben, nämlich der kognitiven Verarbeitung dessen, was als
psychologische
Zeit, als Erfahrung innerer Dauer, als die physikalisch oder chronometrisch nicht meßbare Erl|A 30|benskomponente von Zeitdistanzen bezeichnet werden kann? Vielleicht ist dies, trotz jener realistisch scheinenden Mentalität, jener Handwerker-Chronik-Attitüde, ein Problem? Wir wollen nun sehen, ob der Gegen-Typus uns darüber einigen Aufschluß geben kann.

Beziehungszeit

[129:55] Die von uns konstruierte Alternative von eher an institutionellen Verläufen oder eher an sozialen Beziehungsereignissen orientierten Selbstdeutungen im Hinblick auf die Organisation von Zeit-Problemen ist freilich ziemlich grob. Schon das zugrunde gelegte Schema würde vier Problemkonstellationen ergeben (vgl. Tabelle 4).
[129:56]
Tab. 4: Schema der Problemkonstellationen
an Institutionen orientiert an sozialen Beziehungen orientiert
chronometrische
Deutungen
Deutungen der
inneren Dauer
[129:57] Bezöge man dies auf die je individuelle Kontur der einzelnen Fälle, ergäben sich weitere Differenzierungen, die, angesichts der insgesamt geringen Fallzahl, zwar theoretisch interessant sein mögen, für praktische Perspektiven des Jugendhilfe-Handelns aber wenig hilfreich. Solche Differenzierungen nämlich liefen letzten Endes auf die alte Praxis-Maxime hinaus, es sei eben – was man ohnehin schon weiß – jeder Fall individuell zu betrachten und zu beschreiben, oder auf die neuerdings modisch gewordene Maxime, man müsse die ganze
Lebenswelt
der Jugendlichen ins Auge fassen. Beides ist sicher nicht falsch. Demgegenüber aber ist unser Vorgehen von der Vermutung geleitet, daß es nützlich sein könnte, wenige elementare Strukturen solcher
Lebenswelten
ausfindig zu machen, hier im Hinblick auf Zeitschemata der Selbstdeutung, einen differentiellen Beitrag also zu leisten zu der pauschalen Aufforderung, sich in der Jugendhilfe-Praxis an
Lebenswelten
zu orientieren. Das soll hier untersucht werden.
[129:58] Das folgende Beispiel eines türkischen Mädchens zeigt, trotz chronologischer Erzählweise, die zeitliche Gliederung der Vergangenheit nach Maßgabe mehr oder weniger dramatischer Beziehungsereignisse:
|A 31|
[129:59]
Ich bin in Deutschland geboren, ... dann bin ich gleich, nachdem ich geboren bin, hat mich meine Mutter nach Türkei gebracht, bin ich mit meinen Großeltern da aufgewachsen, bis ich sieben Jahre alt war, meine Mutter kam ab und zu mal zu Besuch, und dann hab ich sie Tante genannt, weil ich sie ja nicht kannte, und dann hat sie sich immer über mich geärgert. ... Und meine Großeltern haben versucht, irgendwie zu beweisen, daß sie meine Eltern sind, also meine richtigen Eltern. Das wollt’ ich einfach nicht kapieren, weil ich hab gedacht, ich hab meine Eltern, das sind meine Großeltern, und dann basta, hab ich gedacht. Und ich wollte meine Eltern nicht akzeptieren. Und als ich dann sieben geworden bin, hat mein Vater ’n Brief geschrieben nach Türkei und hat gesagt: ... wir wollen unsere Tochter wiederhaben. ... Und bin ich wieder zurückgekommen, und dann hab ich meine Eltern kennengelernt und meine richtigen Geschwister. ... Und da war ich ganz entsetzt ... ich hab mich selber gefragt: was soll das jetzt, auf einmal hab ich Geschwister, und ich hab nicht meine Ruhe, und ich wollte meine Großeltern also für mich haben, weil die mir mehr Liebe gegeben haben, und alles was ich brauchte. Und mein Vater und meine Mutter, die waren eifersüchtig, weil ich meine Großeltern mehr mochte als meine Eltern. Meine Geschwister, die waren auch eifersüchtig, weil meine Oma hat mir alles gegeben, ... die sind eifersüchtig gewesen, die sind immer noch eifersüchtig. Die hetzen mich gegen meine Oma auf. Und als dann dieses Problem kam, also dieses Problem mit meinem Vater, er wollte was, naja – er wollte was von mir, was ein normaler Vater nicht machen konnte. Dann bin ich zur Schule gegangen in H., erst in die Grundschule, ich hatte riesige Probleme erst mit meiner Familie, weil ich erst meine Geschwister kennengelernt habe, und dann, mit der Schule wollt’ ich ja nichts anfangen irgendwie, die Schule war mir nicht wichtig in dem Augenblick. Und dann bin ich in die Sonderschule gekommen, mit meinem Bruder zusammen, der hatte, glaub’ ich, auch Probleme. ... Und als ich in der Sonderschule war, dann nach paar Wochen wollt ich Selbstmord machen. ... Naja, meine Großeltern sind ausgezogen, und dann kam das Problem mit meinem Vater, ... hab ich ganz viele Tabletten genommen. ... Da war ich ... noch nicht ganz 13.
(29/16/w)
[129:60] Es folgt eine detaillierte Beschreibung der Reaktionen auf den Selbstmordversuch, die familiäre Aufregung, die Behandlung im Krankenhaus, die peinlichen Fragen der Ärzte,
ob mich jemand vergewaltigt hat, warum ich diesen Selbstmord gemacht habe
. Sie beschreibt ihre Loyalitätskonflikte gegenüber ihrem Vater, der sie sexuell mißhandelt hat, dann ihren Versuch, einen türkischen Rechtsanwalt einzuschalten, eine dramatische Entführungsszene in die Türkei. Wieder zurück in Deutschland, so erzählt sie,
[129:61]
... bin ich denn abgehauen, hab ich ’n Auto angehalten, und da war ein Mann, wollt’ ich lieber nicht einsteigen. Hab ich denn ’ne Frau angehalten, und sie mußte zum Zahnarzt, hat sie da den Termin abgesagt, hat mich zum Polizeirevier gefahren. Und der Direktor kannte mich ja nicht, dann kam der andere Polizist, der mich schon kannte. Der hat gesagt: sie sagt die Wahrheit, dann hat man gleich das Jugendamt verständigt, dann wußten auch meine Eltern schon, wo ich war. Mein Bruder kam, meine Mutter kam, die ganzen türkischen Leute haben sie mitgebracht. Mein Bruder hatte gesagt: bitte tu das nicht, gehe nicht zum Heim zurück. Dann war ich noch verzweifelter und noch bescheuerter an dem Tag! ... Dann bin ich ins Internat gekommen. Ja, und von da aus bin ich nach J. (Heim) gekommen, nach zwei Jahren.
|A 32|
[129:62] Die erinnerten Erwartungen und die damit verbundenen Spannungen geben dem Lebenslauf seine eigentliche Dynamik. Dramatische soziale Zuspitzungen (wie z.B. die Entführung), die verschiedenen Versuche des Mädchens, die Situation zu lösen (Selbstmordversuch, die Bemühung, über eine Lehrerin einen Rechtsanwalt einzuschalten, die Flucht) und die Gegenhandlungen der Eltern und Reaktionen der Jugendhilfevertreter markieren die verschiedenen Etappen und Wendepunkte innerhalb des Lebenslaufs. Im Zentrum der Erinnerungen stehen aber – im Unterschied zum
institutionellen
Zeit-Muster – die Wünsche sowie Strebungen des Individuums und die damit verbundenen sozialen Schwierigkeiten, Ängste und Verzweiflungen. Die erinnerten konflikthaften zwischenmenschlichen Situationen und die mit ihnen verbundenen inneren Bewegungen bilden die eigentlichen Säulen der Autobiographie. Sie verdichten sich zu Beziehungsthematiken, die sich über einen längeren Lebensabschnitt hinziehen und nur hier und da mit dem institutionellen Werdegang verknüpft werden. Institutionsbezogene Ereignisse wie Einschulung oder Heimeinweisung tauchen vereinzelt in der Lebensbeschreibung auf, aber mehr im Schatten der sozialen Beziehungsereignisse; sie dienen, wie auch die jeweiligen Altersangaben, mehr als chronologische Orientierungshilfen.
[129:63] Die Biographie verliert dadurch, daß eigene und fremde Handlungsabsichten mitgeteilt werden, ihre starre und an institutionelle Abfolgen gebundene Form. Diese Jugendlichen ziehen andere zeitliche Gliederungspunkte heran und strukturieren ihre Biographie nach einer anderen Logik als jene, die dem Prinzip institutioneller Zeitschemata folgen. Die Autobiographie wird als eine Art Etappendrama aufgebaut, in dem die Entwicklung eines zwischenmenschlichen Konfliktes über einen längeren Zeitraum dargestellt wird, und zwar aus der Sicht des Hauptakteurs; die einzelnen Etappen bzw. dargestellten Lebensstationen bilden bewegende Höhepunkte des Lebensweges, die zumeist mit wichtigen Veränderungen und Wendungen einhergehen:
[129:64]
Also sie (Mutter) wußte so irgendwie nicht, wie sie alleine mit mir umgehen konnte, weil ihr Mann war verstorben, war ich da, und das war irgendwie so total verzwickt. ... Und meine Mutter hatte auch keinen Freund die erste Zeit. Und dann hat sie doch einen gehabt. Aber mit dem hab ich mich nicht so gut verstanden, weil, ... er hat mir immer Geld gegeben, ich war noch ziemlich klein, 5 Jahre. Er hat gemeint, geh’ weg, mach’ dir einen schönen Tag, geh’ raus und so. Also ich wurde immer abgeschoben von ihm. Und das hat meine Mutter dann irgendwann mitgekriegt, nach ungefähr einem dreiviertel Jahr oder so. Und dann haben die sich getrennt. ... Dann (einige Jahre später, nach dem Tod der Mutter) fing das so langsam an, daß gesagt wurde, ich bin doch nur das Kind, das zur Pflege ist, ich dürfte mir nicht so viel erlauben. ... Und dann war’s mal soweit, daß die Mutter den Mann mal so aufgehetzt hat, hat ihm Sachen erzählt, die hat sie total verdreht. Sie hat erzählt, ich bin drei Stunden später gekommen, ... obwohl ich nur zwei Minuten oder so später gekommen bin. Und dann war es so, daß der Mann mir irgendwann mal eine geklatscht hat, also eine gehauen hat. Und das war das erste Mal für mich, ich |A 33|war 13, daß ich im Leben geschlagen wurde. Das war nicht äußerlich so, das hat schon irgendwie wehgetan, aber nicht so, daß man weinen muß, aber innerlich ... Und dann bin ich ... da abgehauen. Also, ich hab mich mit Freunden in Verbindung gesetzt, und die wußten auch über alles Bescheid.
(20/16/w)
[129:65] Hier werden Interaktionen relativ detailliert beschrieben und dabei die eigenen Handlungsabsichten ins Spiel gebracht. In den Lebensgeschichten entstehen Spannungsbögen, weil sich unterschiedliche Interaktionserwartungen gegenüberstehen.
[129:66] Kennzeichnend für die Erzählweise ist, daß Handlungen in dichten zeitlichen Schritten berichtet werden:
Bin ich dann abgehauen, hab ich ’n Auto angehalten, und da war ’n Mann drin, wollt’ ich lieber nicht einsteigen ... usw.
Schwierig wird es nur dann, wenn ein Handlungsgeschehen beschrieben werden soll, in dem mehrere Personen einbezogen sind, die parallel, also zeitgleich handeln, und deren Handlungen schließlich aufeinandertreffen. Hier ein Beispiel:
[129:67]
Da war ich 13 1/2. ... Und dann wollt’ ich, also hat mein Bruder gesehen, daß ich die Tabletten geschluckt habe, hat meine Mutter geholt. Damals hatt’ ich ja, hatte meine Mutter noch ’n Kind gekriegt, das war mein jüngster Bruder, der war, glaub’ ich, gerade 4 oder 5 Jahre alt, der jüngste jetzt. ... Und meine Mutter hat ja meinen kleinen Bruder bißchen ausgeführt, ... in’ Spielplatz, das war in der Nähe. ... Und dann, als mein Bruder gesehen hat, daß ich Tabletten genommen habe, hat mein Bruder meine Mutter geholt, dann hat sie – mein Vater hat immer Geschichten erzählt, daß ich angeblich in den Toiletten mit deutschen Jungs rumgemacht habe, aber das stimmte gar nicht. Mein Bruder hat gesagt, das stimmt gar nicht, also ich war immer bei meinem Bruder. Und dann hat mein Vater meinen Bruder auch geschimpft, und dann hatt’ ich die Nase voll, ich hab gesagt: Ich will nicht mehr weiterleben! Hab ich Tabletten genommen, ich hatte meinem Bruder auch erzählt davon, und dann, was mein Vater für Märchen zu meiner Mutter erzählt hat, mit den Jungen da – dann hat meine Mutter mich auch halt, als ich Tabletten genommen hab, ... dann hat meine Mutter gesagt: Du bist ’ne alte, was weiß ich, Hure und so. Hat mein Bruder dann alles in dieser Sekunde erzählt, er hat gesagt: das stimmt alles nicht, sie traut sich nicht, dir die Wahrheit zu sagen. Meine Mutter wollt’ das aber nicht glauben, und dann in dem Moment ist mein Vater einen trinken gegangen in ’ne Kneipe, ist mein Bruder schnell hingefahren, hat meinen Vater geholt ... Und dann ist mein Vater gekommen, ham se mich zum Hausarzt gebracht.
(29/16/w)
[129:68-69] Es fällt auf, daß es dem Mädchen noch nicht gut gelingt, die verschiedenen Handlungen der beteiligten Personen in der Erzählung zeitlich aufeinander abzustimmen; man weiß beim ersten Lesen nicht so richtig, was vorher und was gleichzeitig passiert ist, wer wann dies oder jenes erzählt hat und zu welchem Zeitpunkt sich dies oder jenes ereignet hat. Erst nach mehrmaligem Lesen läßt sich das Geschehen rekonstruieren. Die Erzählerin reiht Handlungen, die sich parallel zur selben Zeit ereignen, aneinander, so als würden sie zeitlich nacheinander erfolgen (
Hat mein Bruder in dieser Sekunde dann alles erzählt. Meine Mutter wollt’ das aber nicht glauben, und dann in dem Moment ist mein Vater einen trin|A 34|ken gegangen ..., ist mein Bruder schnell hingefahren ... hat meinen Vater geholt.
). Alles geschieht zur selben Zeit und doch zeitlich nacheinander. Nun könnte man dies mit den sprachlichen Schwierigkeiten des Mädchens begründen, ihr fehlen solche adverbialen Bestimmungen der Zeit, welche Zeitrelationen verdeutlichen, wie z. B. während, bevor, zur gleichen Zeit, vorher, nachher. Sie verwendet nur ungenaue zeitliche Bestimmungswörter wie
und dann
,
damals
,
da
,
in dieser Sekunde
. Es scheint aber eher ein Entwicklungsproblem zu sein. Bei der ersten Gruppe wurden Zeitverläufe beschränkt auf eine Handlungsabfolge beschrieben, in ihrer Vorstellung schien es noch keine parallel verlaufenden Geschehensabläufe zu geben. Für die Jugendlichen, die sich diesem zweiten Typ zuordnen lassen, existieren neben den eigenen Handlungen auch andere, von ihnen unabhängige Geschehensabläufe, die sich zeitgleich ereignen. Sie können sie aber noch nicht zeitlich koordinieren. Das Mädchen, das hier prototypisch für die ganze Gruppe steht, scheint sich auf einer Entwicklungsstufe zu befinden, wo das Individuum in seinen Vorstellungen noch nicht in der Lage ist, zwei Handlungen in ihrer Gleichzeitigkeit zu denken bzw. darzustellen, es gibt noch keine von dem Geschehen abstrahierte Zeitvorstellung, in der verschiedene Handlungsverläufe aufeinander bezogen werden könnten. Die Erzählweise folgt einer
zentrierten Handlungslogik
(Dux 1989): Verschiedene Handlungsabläufe, in die mehrere Personen verwoben sind, die zum Teil parallel verlaufen und aufeinander Bezug nehmen, werden von der Position eines der Beteiligten beschrieben. Einen dem Geschehen übergeordneten und wechselnden Betrachterstandpunkt gibt es nicht. Das Mädchen versetzt sich in ihre damalige Notsituation und beschreibt sie allein aus ihrer Perspektive. Das Muster der
institutionalisierten Zeit
ist der entgegengesetzte Fall: die eigene Perspektive fehlt und wird gleichsam der eines abstrakten Anderen geopfert.
[129:70] Die Lebensbeschreibungen unterscheiden sich von denen der ersten Gruppe noch durch ein weiteres Merkmal: Handlungsabfolgen ereignen sich nicht mehr schicksalhaft, sondern werden z. T. selbst mitbestimmt; Ursachen für Veränderungen werden begründet. Ein Jugendlicher teilt beispielsweise folgendes mit:
[129:71]
Naja – weil jedes Mal, wenn ich da zu Hause war, dann gab’s irgendwie immer Streit wegen irgendwelchen Sachen! Und wenn’s so Kleinigkeiten waren. Ich mein’, meine Mutter, die hat Brustkrebs, und die hat auch nicht mehr viel von ihrem Leben zu erwarten, kann ich auch verstehen. Aber deswegen muß sie sich nicht gleich ganz verkriechen und so. Mit meinem Vater ist es auch nicht so ganz einfach, der hat krankhafte Eifersucht. Das ist schon schlimm, also wenn’s nach mir geht, würd’ ich den sofort in’ne Klapse einweisen. Naja, mein Vater, der hält eh nicht viel von mir, der meint, ich wäre zu dumm und so. Aber ich hab mir gesagt, ich geh’ arbeiten, und dann kann ich ihm wenigstens beweisen: ich hab was gelernt, und du nicht! ... Naja, eine Zeit hab ich ziemlich intensiv über meine Eltern nachgedacht. In letzter Zeit träum’ ich auch sehr viel von ihr (Mutter). Aber mehr so die grausigen Sachen. Da hab ich z. B. schon den eigenen Kopf von meiner Mutter in der Hand gehalten! Und |A 35|– ach – aber jetzt geht’s eigentlich so, find’ ich. Also ich find’, ich muß mich jetzt mehr auf die Arbeit konzentrieren, das ist wichtiger. Weil es geht jetzt im Endeffekt um meine Zukunft, weil ich hab mich sechs Jahre – oder besser gesagt, fünfeinhalb – mehr um meine Eltern gekümmert als um mich selbst. Weil, um mich hat sich keiner gekümmert! Die waren entweder nie da, oder es gab nur Streit und waren weg.
(47/17/m)
[129:72] Jugendliche, die am institutionen-orientierten Zeitmuster hängen, bevorzugen eine relativ bewertungsfreie Schilderung von Ereignisabfolgen, für die die Konjunktion
dann ... und dann ... und dann
steht. Jugendliche des an Beziehungsereignissen orientierten Musters von Zeitgliederungen bringen die Lebenssachverhalte in einer Darstellungsweise zur Geltung, in der interaktiv wichtige Gründe und Folgen mitgeteilt werden. Die von ihnen bevorzugte Konjunktion, auch wenn sie nicht wörtlich verwendet wird, ist
weil ...
. Die zeitliche Abfolge von Lebensereignissen ist, innerhalb dieses Musters, an das subjektive Wollen und Können gebunden, mehr jedenfalls als an die institutionalisierte Chronometrie. Das zeigt sich auch in der Schilderung von Tagesabläufen:
[129:73]
Ja, wenn ich aufsteh’, denk ich erstmal: Scheiße, heute ist Schule, so in der Art, und dann erstmal fertigmachen für die Schule, dann hab ich irgendwie keine Lust mehr zu frühstücken oder sowas. Dann geh’ ich sofort zur Schule. Dann in der Schule wird es bißchen langweilig manchmal, immer das Gleiche zu tun, ist auch anstrengend jetzt in der Berufsschule, und dann, wenn ich wieder zurückkomme, dann wird’s zu Hause auch bißchen anstrengend, und wenn ich denn manchmal weggehe, ... also hab ich bißchen Ablenkung. Immer zu Hause zu bleiben, da wird man irgendwie verrückt. ... Abends muß man um halb elf hier ins Bett, im Bett sein. Manchmal streiten wir uns wegen dem Fernseher abends so, also mit der Gruppe klappt das nicht so gut. ... Ja, die eine will das gucken, die andere will doch das andere gucken.
(29/16/w)
[129:74]
Wenn ich dann morgens aufsteh’, koch’ ich mir meinen Tee, dann lieg’ ich noch ’ne Stunde im Bett, und dann werd’ ich so langsam wach und krieg’ Bock auf irgendwas. Ja, und dann mach’ ich auch meistens ’n bißchen Yoga, und dann krieg’ ich noch mehr Bock auf irgendwelche geistigen Arbeiten (lacht), und dann hab ich auch Bock, irgendwie zu schreiben oder so, irgendwie über irgendwelche Themen, ne.
(28/19/m)
[129:75] Ähnlich wie bei der Tagesgestaltung folgen diese Jugendlichen auch bei der Zukunftsplanung stärker als die erste Gruppe ihren individuellen Wünschen, oft entgegen den Ratschlägen ihrer Erzieher und unabhängig von den tatsächlichen Verwirklichungschancen. Ein Mädchen möchte unbedingt Sozialpädagogin werden und entwirft gemeinsame Lebenspläne mit ihrem Freund:
[129:76]
Wir sind jetzt fast ein Jahr zusammen, und wir wollen noch länger zusammen bleiben. Und wir glauben auch, daß es klappt. Und wir lassen uns nicht von außen beeinflussen, von den Erziehern, das fand ich also ziemlich erniedrigend, daß die kommen und sagen, hör mal zu, der steht doch sowieso nicht auf deinem Niveau, der ist doch etwas tiefer, laß ihn doch hängen, es bringt nichts mit euch beiden. ... |A 36|Wenn, dann muß ich das selber für mich rauskriegen, ob es stimmt, was die sagen. Aber das können die doch gar nicht beurteilen. Wenn er arbeiten geht und ich arbeiten gehe, dann ist es ... also, ich find’s besser, wenn man zwei verschiedene Arbeiten hat, als wenn z. B. beide im Büro wären. Das wäre überhaupt nichts. ... Und manche sehen das hier nicht ein. Die Erzieher, was die gesagt haben, das fand ich echt total daneben, oh, ich fand das so gemein.
(20/16/w)
[129:77] Bei einem Jungen sehen die Zukunftsvorstellungen folgendermaßen aus:
[129:78]
So ein normales Verhältnis irgendwie würd’ ich, glaub’ ich, auch nicht mehr schaffen. Immer regelmäßig arbeiten, sowas könnt’ ich, glaub’ ich, auch nicht. Ich muß irgendwas machen, wo ich nicht regelmäßig arbeiten muß. Wo ich halt, wenn ich Bock habe, hingehe und wenn ich keinen Bock habe, daß ich dann kurzfristig anrufen kann und sage: Heute mal nicht. ... Oder ich muß halt irgendwas Lockeres machen, mich sponsorn lassen oder so. Aber das Problem ist halt, ich hab schon mal so’n Vertrag angeboten bekommen, mit Skateboard und so. Weil die halt wissen, daß ich fahre. ... Und nach ’ner gewissen Zeit, daß es mehr Publicity ist, daß man selber als Publicity-Gegenstand ausgestellt wird. Z. B. würde ich wieder als Hardcore-Skater dargestellt werden.
(21/18/m)
[129:79] Jugendliche, die ihren Lebenslauf stärker nach Beziehungsereignissen gliedern, orientieren sich in ihren Zukunftsvorstellungen weniger an konventionellen Karrieren, sondern folgen mehr ihren Interessen, Neigungen, Bedürfnissen. In der eigenen Vorstellung folgt der Lebensweg nicht festgelegten Bahnen. Das Geschehen in der Zeit kann von ihnen mitbestimmt werden, sie vertreten also ein eher
aktives
Konzept von Lebenszeit. Die eigene Lebenszeit wird als Entwicklungszeit erlebt: die persönliche Vergangenheit zeichnet sich durch die Bewältigung sozialer Konflikte und den Erwerb von Kompetenzen aus, das Leben wird als ein individueller sozialer Reifeprozeß gesehen. Sie stehen vor der Entwicklungsaufgabe, ihre Lebensvorstellungen und Interessen den eigenen Könnens- und Wollensmöglichkeiten anzupassen.
[129:80] Auch angesichts dieses Zeitmusters – es mutet nicht weniger sympathisch an als das erste – kann man sich fragen, warum eigentlich Jugendliche mit derartigen Orientierungen in Schwierigkeiten geraten, die sie zu Klienten der Jugendhilfe machen. Wir werden diese Frage später noch diskutieren. Um Mißdeutungen zu vermeiden, soll aber hier schon darauf hingewiesen werden, daß die in den Zitaten von uns (!) vorgenommenen Stilisierungen (denn die individuellen Fälle decken sich nicht immer vollständig mit den
Mustern
) auch eine Art von Einseitigkeit der Selbstdeutungen der Jugendlichen dokumentieren: eine Unterschlagung gleichsam der subjektiven Erlebniskomponente im
institutionsorientierten
Fall, ein Mangel an institutionellem Realismus – wenn man so sagen darf – im zweiten, ganz an das individuelle Zeiterleben gebundenen Fall.
|A 37|

Fragmentierte Zeit

[129:81] Die Strukturierung des Zeiterlebens an den meßbaren institutionellen Abfolgen des Lebens und die Orientierung an erfahrungsdichten Interaktionsereignissen ließen beide Ordnung und eine gewisse Logik erkennen. Daneben gibt es Jugendliche (ca. 25% der Fälle), deren Erzählweise abgehackt und sprunghaft erscheint, gelegentlich beliebig assoziativ, jedenfalls so, daß zunächst Regelhaftes kaum zu entdecken ist.
[129:83] Ein Jugendlicher z. B. sagt zur Zeit im Kindergarten:
Ou! Tja, das ist schwer. Also da war ich, glaub’ ich, von vier bis fünf. Sind wir spazieren gegangen, auch zusammen was gemacht. Mein Bruder kam ja ein’ Tag später rein. Wir sind zusammen eingeschult worden. War ja vorher auch schon im Vorschulkindergarten. Zweimal im Kindergarten. War langweilig das zweite Mal. ... Ich weiß nur noch, daß ich mal im Kindergarten Geburtstag hatte. Denn war ja bei uns so Sitte, so auf’n Stuhl. Und die Jugendlichen durften mich mit Stuhl hochheben. ... da bin ich eine Woche auf Sonderschule gekommen. Dann waren wir schwimmen, haben wir auch schon gemacht. Mein Djako (Schwimmabzeichen) in der Sonderschule gemacht. Einer mußte sich ja freiwillig melden, ne. Waren ja mehrere. Fragte ein Direktor oder was er war: Wer hat Lust auf den Stuhl? Alle haben sich gemeldet. Außer ich, ne. Er hatte mich drangenommen. Auf’n Stuhl, dann kamen noch drei, vier Stühle drunter. Hat er mir erstmal gratuliert. Da hab ich Schiß gehabt, weil ich Höhenangst hatte.
(22/17/m)
[129:85] Zu seiner Schulzeit sagt er folgendes:
Nur Schreckliches. Wir haben uns nur geprügelt. Der hat angefangen, da hab ich zurückgeschlagen. Ich hab nur einen Zahn verloren ... Wenn ich Schule geschwänzt habe, bin ich meistens zum Wald gegangen, nur rumgegangen, Scheiße bauen, Bäume ausreißen. Da bin ich aber geflitzt, weil ein Wildschwein kam.
(22/17/m)
[129:87] Auch andere wissen von der Schulzeit wenig zu berichten, was auf die Institution bezogen ist:
An die Schultüte kann ich mich noch erinnern, aber sonst? Nö. Da war ich noch bei meinen Pflegeeltern, glaub’ ich, so genau weiß ich das nicht ... Was hab ich damals gemacht? Wir ham draußen gespielt, mit den Autos da, und was weiß ich. Oder wir sind in Scheunen vom Bauern gegangen, ins Heu reinfallen lassen oder so. Dann ham wir auch so einige Einbrüche gemacht, mal ’n bißchen Alkohol rausgeholt und so.
(12/18/m)
[129:88] Diese Jugendlichen haben offensichtlich gravierende Schwierigkeiten mit der Chronologie. Zwischen verschiedenen Lebenszeitpunkten springen ihre Schilderungen assoziativ hin und her. Dennoch kann man nicht behaupten, daß ihr Zeiterleben ohne jede Ordnung sei; sie ist nur schwerer zu erkennen: Nicht die institutionelle Zeit, nicht Geschichten und Vorgeschichten von Beziehungsereignissen strukturieren ihre biographische Erinnerung, sondern aufregende Momente. Was zwischen diesen liegt, scheint gänzlich irrelevant zu sein (
Was hab ich denn immer gemacht?
). Die Bruchstücke stehen in einem Sinnzusammenhang, der sich nicht aus der zeitlichen Abfolge von Ereignissen ergibt, auch nicht aus der Relevanz und
inneren
Dauer von Beziehungskonflikten, |A 38|sondern aus Momenten, die nur durch das Merkmal miteinander verbunden sind, aufregend gewesen zu sein. Auch die Beschreibung von Situationen, für die man im Regelfall die Verdeutlichung von Handlungsabläufen erwarten würde, fällt nach dem gleichen Muster der Reihung aufregender Momente aus, z. B. die Beschreibung einer Jugendgerichtsverhandlung:
[129:89]
Ich dachte, das wär’ hier nicht öffentliches Gericht. Meinte ich, was sind das für Leute? Ja, das sind Praktikanten. Ich hab mich immer kaputtgelacht. Die sahen ja schlimmer aus als ich. Die sahen ja verbrechermäßig aus. Und der Richter: Wie alt bist du? Hab ich gesagt. Wann bist du geboren? Stimmt das wie, wie du heißt? Ich sage, ja. Ich sag’ ihm, daß ich von Geburt so alt bin. Sag’ ihm, daß ich von Geburt auch so heiße. Immer Gericht verarscht. Eine viertel oder halbe Stunde später meinte dieser Rechtsanwalt – ich hatte keinen Anwalt, ne: Das war das erste Mal, lassen wir ihn davonkommen! Meinte der Richter ganz blöd – da hätte ich mich allerdings aufregen können, ne: Wenn ich Sie noch einmal erwische, dann sieht das gar nicht so gut für dich aus! Ja, ja, laber mal, ich so gedacht. Tschau, geh mal schön. Bin ich rausgegangen.
(22/17/m)
[129:90] Die beschriebenen Ereignisse haben den Charakter von in sich abgeschlossenen Episoden, sie fügen sich in keine zeitliche biographische Abfolge und haben scheinbar auf das weitere Lebensgeschehen keinen Einfluß. Hier andere, nicht weniger skurrile Beschreibungen:
[129:91]
Und dann bin ich auch abgehauen einmal, mit’m Fahrrad, ... hab ich Streit gehabt mit so’m Jungen, mein Rennrad geschnappt, dann bin ich per Autobahn gleich zurückgefahren nach X. ... Da ham mir noch 20, 30 Kilometer gefehlt auf diesem Schild – steht ja 130, ne. ... Dann hab ich gesagt: och Scheiße, ich hab keinen Bock mehr. ... Und dann sind se, das waren Anhalter, mit mir dann aus der Ausfahrt runter, und ich wollte das gar nicht. ... Dann, ja, ham se mich zur nächsten Tankstelle, die Erzieher angerufen, wo ich war, aus dem Heim da, ne? Dann ist ’n Erzieher gekommen, hat mich da wieder abgeholt. Erst mal wieder zurückgefahren, erst mal geduscht. Weil, ich mußt’ ja mal pinkeln auch mal auf dem Fahrrad. Na, hab ich nicht extra angehalten, sondern ich bin gefahren und hab dabei gepinkelt, ne.
(33/15/m)
[129:92] Ein Junge erinnert sich an seine Kindheit:
Ich bin damals in die Regentonne gefallen bei unseren Nachbarn. Da war ich ein paar Stunden da drinne. Überall haben sie mich gesucht und so, und dann haben sie mich wiedergefunden.
(18/17/m)
[129:94] Eine Jugendliche berichtet:
Und, ja, diese Cousins wurden halt innerhalb von zwei Jahren auch zwei Jahre alt, logisch, ne? Ja, und die ham dann immer zu Weihnachten halt immer ihre Süßigkeiten gekriegt, und die hatte dann halt jeder für sich alleine. Na, seit dem Tag an hab ich gemerkt, daß das auch für mich dann besser kommt, wenn ich für mich die Sachen behalte, weil ich hab ja dann mehr, ne! ... Also ich hab ’ne Puppe gekriegt, und die ham ’n LKW gekriegt, so ’n Truck, so ’n Modelltruck, ne. Und das fand ich ja natürlich völlig genial, so’n Modelltruck. Na, und da hab ich, bin ich einfach zu P. hin und meinte so: Du, laß mich doch mal tauschen! Er so: Ja, aber nicht lange! Ich so mir den Truck genommen, ihm die Puppe in die Hand gedrückt und weg damit, das Zimmer abgeschlossen! (lacht) Naja, gut, und den hab ich dann auch behalten. ... Äh (lacht), ich muß da ganz ehrlich zu sa|A 39|gen, vor zwei Jahren, da war ich ja noch 17 und alle drei Cousins 15, und da war ich mit einem von den dreien ’ne ganz kurze Zeit zusammen, aber das ist daran gescheitert, daß ich nie wußte, welchen ich denn nun habe. Weil, irgendwie bin ich da immer so’n bißchen durcheinandergeraten! ... Das waren Drillinge!
(50/19/w)
[129:96] Wieder ein anderer Jugendlicher beschreibt seine Kindheit so:
Meine Onkels, die waren auch erst 16, 17, also: Skateboard, Karton draufgenagelt und mich reingesetzt und angefahren. Oder irgendwie beim Fußballspielen in ’n Riesenmüllcontainer eingesperrt, ja, und dann ham se Fußball gespielt und mich natürlich auch rausgeholt. ... Wo ich meinen ersten Hund hatte, an den erinner’ ich mich auch noch. ... Immer wenn’s irgendwie Ärger gab, dann bin ich immer bei dem Hund in die Hütte reingekrochen, und keiner konnte was machen!
(3/18/m)
[129:97] Ein Heranwachsender nennt als das wichtigste Ereignis während der Grundschulzeit folgendes:
Da standen wir vorn auf der Treppe. Und ich ganz hinten. Und dann Fotos gemacht, da war ich natürlich nicht drauf, weil ich der Kleinste war.
(18/17/m)
[129:98-99] Wie schon im Zusammenhang der Chronologie von Lebenslaufdaten nützen auch hier die Nachfragen der Interviewer wenig. Sie werden teils übergangen, teils bleiben sie mit dem Hinweis darauf, sich nicht erinnern zu können, unbeantwortet, teils werden sie geradezu unwillig abgewehrt, als
stressig
empfunden. Zu einem geordneten Nachvollzug ihrer Lebensgeschichte sind sie aufgrund der häufigen Brüche und Wechsel in ihrem Leben nicht in der Lage. Befragt man sie zu einem Lebensabschnitt, dann können sie je nach Erlebnisdichte eine Reihe kurzer Episoden beschreiben; unangenehm in Erinnerung gebliebene Lebensetappen werden, wenn überhaupt, dann stark verkürzt abgehandelt.Die Anekdote, diese biographische Mischung aus Wahrheit und Dichtung, scheint der eigentliche Motor ihrer Erzählung zu sein. Vor einer ständig wechselnden Kulisse werden auf der Vorderbühne immer gleichartige Sketches inszeniert. Die Anekdote scheint deshalb das geeignete Erzählmittel zu sein, mit dessen Hilfe erlebte Diskontinuität in positive Momente gewendet werden kann und die Darstellung der bruchstückhaften Vergangenheit in Form einer Selbststilisierung als Held der Unbeständigkeit gelingt. Veränderungen scheint es dabei nur in der Außenwelt, Bewegung nur zwischen Personen zu geben. Das Selbst bleibt in ihrer Wahrnehmung zwangsläufig unverändert, und zwar deshalb, so läßt sich vermuten, weil ihnen die nötige Selbstdistanz fehlt, um eine sensible Innenwelt zu konturieren. Dadurch kann Lebenszeit von ihnen nicht als Entwicklungszeit wahrgenommen werden. Veränderungen sind gleichsam nur auf der Außenseite der Persönlichkeit denkbar, nämlich in der Dimension von Interessen und Tätigkeiten. Für einen Fünfzehnjährigen z. B. scheint Therapie eher ein
netter
Zeitvertreib gewesen zu sein. Mit der Frage, ob er sich im Hinblick auf seine früheren sozialen Schwierigkeiten verändert habe, scheint er überfordert zu sein. Therapie hat für ihn eher den Charakter einer ausgefüllten Freizeit:
|A 40|
[129:100]
Und dann konnt’ ich da kokeln, konnt’ ich da auf meiner Therapeutin reiten, so’n Gurt anlegen und dann hinten so: schneller, und so! Im Matsch rum, und das war ganz nett da. Da ... hab ich dann auch vier Jahre Therapie gekriegt. (I: Aber hat das was für dich gebracht, diese Therapie? Daß es dir besser ging?) Also ich glaube nicht. Außer, daß meine Freizeit dann bißchen besser war, ne. Daß ich nicht mehr so rumgegammelt habe, sondern daß ich was zu tun hatte. Nee, ansonsten glaub’ ich nicht.
(33/15/m)
[129:101] Entsprechend bleiben die Zukunftsvorstellungen und -wünsche dieser Jugendlichen blaß, wirken kontextlos, zufällig, willkürlich, bleiben völlig unerläutert:
[129:102]
Sanitäter will ich werden, aber ich weiß noch nicht, wie ... Die Ideen kommen später noch
(6/15/m).
Fliesenleger oder Schreiner, aber das interessiert mich noch nicht
(7/13/m).
Ich will Millionär werden
oder
Flugzeugbauer – meine Mutter hat da wohl Beziehungen zum Flughafen.
(12/18/m)
[129:103] Es gibt keine artikulierten Vorstellungen über Ausbildungswege. Wie man einmal sozial lokalisiert sein will, auch im Hinblick auf familiäre Kontexte, bleibt ganz unbestimmt, ein phantasierendes Ausmalen, oder auch nur die Andeutung davon, ist nicht zu beobachten. Die Unfähigkeit oder Unwilligkeit, die eigene biographische Vergangenheit nach dem Muster sinnhafter Zeitfolgen zu strukturieren, hat in der Diffusität von Zukunftserwartungen ihre Entsprechung. Es herrscht der mal mehr, mal weniger aufregende Lebensaugenblick, ohne in die Ordnungen von Erinnerung und Erwartung eingefügt zu werden.
|A 41|

3. Körperbilder

[132:62] Das Thema ist derart umfänglich und komplex, daß man nicht hoffen darf, seine sozialpädagogische Bedeutsamkeit hier befriedigend darstellen zu können. Wenn wir dennoch wagen, den
Körper
oder
Leib
als eine wesentliche Dimension der Selbstdeutung von Jugendlichen hervorzuheben, so geschieht das aus einem praktischen Grund. Trotz der vielfältigen Bemühungen um
Abenteuer
- oder
Erlebnis
-Pädagogik, trotz der Jugendforschungsberichte über körperintensive Freizeittätigkeiten, über gesundheitspädagogische Problemstellungen, trotz Spieltherapie, Gewalt-Diskussion,
Streetworker
-Erfahrungen usw. scheint das öffentlich Diskutierte des sozialpädagogischen Alltags in den Einrichtungen der Jugendhilfe eher am Wort als am Körper orientiert zu sein. Der Eindruck mag täuschen; die unter Sozialpädagogen am häufigsten anzutreffenden therapeutischen Zusatzausbildungen – vielleicht sind sie ein zu schwacher Indikator – sind nicht etwa, wie immer man sie auch beurteilen mag, die körperorientierten, sondern solche, die mit dem Medium der Sprache operieren. Ist das der Sachlage angemessen, besonders im Hinblick auf verhaltensschwierige Jugendliche, die in ihren Leiberfahrungen vermutlich schwierige Phasen durchlaufen haben und einen Spielraum für Nachzuholendes brauchen?
[132:63] An Theorien ist kein Mangel. Über die fundamentale Unausweichlichkeit der Leibkomponente belehren uns nicht nur alte Texte der europäischen Neuzeit. Auch die Psychiatrie, die Psychoanalyse, die Einsichten in die sensomotorischen Komponenten des Lernens, die phänomenologischen Erläuterungen unseres
exzentrischen
Verhältnisses zum Körper, dessen Folgen für den Entwicklungsvorgang, die Erforschung der körperlichen Determinanten der Pubertät, des Unterschieds zwischen Leibschemata und Leibbildern – all dies hat ein eigentlich respektabel zu nennendes Wissen zusammengetragen, das pädagogisch-praktische Folgerungen möglich machen könnte. Auch die in diesem Problemfeld besondes aufmerksamen Studien Foucaults haben eine breite intellektuelle Diskussion entfacht – was daraus aber pädagogisch zu gewinnen ist, das ist bis heute unklar geblieben.
[132:64] Die Quelle dieser Unklarheit scheint uns in folgendem zu liegen: Die verbreiteten – aber durchaus noch prüfenswerten – Meinungen über die Körperdistanz, über die
Disziplinierung
des Körpers in der europäi|A 42|sehen Neuzeit sind im Hinblick auf praktische Entscheidungen neutral; man kann das begrüßen oder mißbilligen. Sie bringen zur Sprache, wie man sich überhaupt das Verhältnis zwischen Körper und Geist denken darf. Und in dieser Hinsicht ist Verschiedenes möglich. Nicht sinnvoll indessen wäre es – nach dieser Art von Fragestellung – zu leugnen, daß die Beziehung zwischen Körper und Geist nicht nur in der Kindheit, wie Piaget beispielhaft erläutert hat (Piaget/Inhelder 1980), eine fundamentale Rolle spielt, sondern ein relativ dauerhaftes Thema darstellt. Auf eindeutige Entscheidungen erpichte Pädagogen mögen in dieser Frage gelegentlich rasch Partei nehmen: für die nach spontaner Expression drängenden Antriebe oder somatischen Konstellationen und damit für deren Rechtfertigung – oder für die Geist-Komponente derartiger Vorgänge, für
Körper-Disziplinierung
also oder doch wenigstens für deren Kontrolle im konturierten Bewußtsein.
[132:65] Aus solchen Problemlagen hat man nun gefolgert (beispielhaft Seewald 1992), daß es sinnvoll wäre, das somatisch-kognitive Spiel zwischen Körper und Geist genauer ins Auge zu fassen. Wie macht man das? Die Möglichkeiten, die uns, hier in diesem Projekt, zur Verfügung stehen, sind begrenzt. Wir haben es nur mit Sprachmaterialien zu tun, nicht mit direkten Beobachtungen der körperlichen Komponente des Verhaltens. Kann man dennoch daraus etwas für die Frage gewinnen? Auf den Körper bezogene Entwicklungsthemen, so heißt es bei Seewald, haben ein
symbolisches Echo
. Die Symbolik, in der das Thema zur Darstellung kommt, kann in verschiedenen Weisen geäußert werden: in äußerlich beobachtbaren Tätigkeiten (Spielen z. B.), in Bildern, im Tanz, im Drogengebrauch, in anderen Äußerungsformen, an denen der Körper beteiligt ist – aber auch im Reden, sofern Körpererfahrungen das Thema der sprachlichen Äußerungen sind. Und nur von diesen soll im folgenden die Rede sein.
[132:66] Dabei ist zweierlei zu bedenken. Körper-Inszenierungen haben nicht nur einen Entwicklungssinn, sondern auch einen kulturellen. Es wäre wohl abwegig, alle Körperäußerungen, die nicht unmittelbar verständlich scheinen (die Graffiti-Malereien z. B., das Skateboard-Fahren mit großer Geschwindigkeit, die tätlichen Auseinandersetzungen der Fans in den Fußballstadien), nur im Sinne von Entwicklungsthemen zu interpretieren. Denkt man etwa an die Körper-Inszenierungen in den Initiationsriten von Stammeskulturen, dann wird deutlich, daß
Entwicklung
höchstens eine Komponente derartiger Symbolisierungen sein kann. Die andere Komponente muß anderswo gesucht werden, beispielsweise und – wie wir meinen – vorwiegend in den Mustern der kulturellen Formation, zu der die moderne Kunst (Graffiti) ebenso gehört wie die Favorisierung von Geschwindigkeit oder der bei Jugendlichen häufig anzutreffende, an intensivem Selbstempfinden orientierte oder gar
hedonistische
Habitus.
|A 43|
[132:67] In solchen Vorkommnissen liegen Körper-Schema und Körper-Bild dicht beieinander: Das
Schema
liefert die primäre körperliche Sozialisation in vielleicht frühen Stadien einerseits, der kulturelle Habitus andererseits, das
Bild
ist das eigene Verhältnis dazu. Gespräche mit Jugendlichen – und das ist das zweite Bedenkenswerte – können nur Informationen zu dieser letzten Komponente des Problemfeldes beibringen. Das im Skateboard-Fahren aktivierte Körper-Schema können wir, die Autoren, gewiß beobachten, vielleicht auch bewundern oder distanzieren; aber es ist nicht unbedingt das unsere; wir könnten es nicht ohne weiteres in unser Körper-Bild, in die Sicht, die wir von uns selbst entwerfen, integrieren. Dennoch können wir uns redend dazu verhalten. Gleiches gilt für die Jugendlichen: Redend verhalten sie sich zu dem, was
schematisch
sein könnte; redend entwerfen sie ein Körperbild von sich, das mit anderen Komponenten ihrer Selbstdeutung, so hoffen sie, verträglich ist.
[132:68] Für Jugendliche in Pubertät und Adoleszenz ist nun entwicklungspsychologisch naheliegend, daß zwei Komponenten des Bildes, das sie von ihrer eigenen Leiblichkeit haben, besonders hervortreten: Der Antriebshaushalt ihres Organismus verändert sich dramatisch, und die Selbstempfindlichkeit im Hinblick auf die verletzliche Integrität des eigenen Leibes tritt deutlich in das Bewußtsein ein. Da, bei Durchsicht der Materialien, sich zeigte, daß die Lebensschwierigkeiten dieser psychosozial belasteten Jugendlichen am ehesten in dieser Beziehung zwischen Antrieb und Bewußtsein sich äußern, ihre Körper-
Bild
-Kommentare am ehesten um dieses Problemfeld kreisen, haben wir nach Deutungsmustern gesucht, in denen auf diese Bezug genommen wird. Hätten wir die Untersuchung an relativ erfolgreichen Gymnasiasten durchgeführt oder an Mädchen eines teuren konfessionellen Internats, wären wir wohl zu anderen Klassifikationen gelangt. Allein: wir haben es mit Jugendlichen zu tun, deren Leib-Vorgeschichte in sehr vielen Fällen bedrückend ist (vor allem bei Mädchen); deren Sozialisationsmilieu sie in der Bildung eines flexiblen Körperbildes kaum unterstützt hat; die in den Chancen, eine sprachlich artikulierte Sicht auf sich selbst hin zu entwickeln, gewiß nicht gefördert wurden und denen (deshalb?) nur wenige Alternativen zur Verfügung stehen, wenn sie Probleme des Körper-Geist-Verhältnisses zur Sprache zu bringen versuchen.
[132:69] Wir haben uns deshalb für eine Konstruktion von typischen Mustern der Selbstdeutung im Hinblick auf die eigene Leiblichkeit entschieden, die solchen Einschränkungen Rechnung trägt. Wir lassen uns dabei zusätzlich leiten von den fundamentalen Maximen der Interaktionstheorien: auch Körper-Bilder müssen in soziale Beziehungen eingefädelt werden, sind auf Reaktionen der je anderen angewiesen, gleichviel ob man diese zu ignorieren versucht, sie nur berücksichtigt oder sie gar in die eigenen Handlungspläne integriert (Perspektiven-Übernahme). Zwischen den eigenen organismischen Antrieben und der entwicklungsangemessenen Selbstempfindlichkeit einerseits, der unausweichlichen Verstrickung in |A 44|soziale Interaktionen mit deren Nötigung, nicht nur Worte, sondern auch Körper-Bilder zueinander in Beziehung zu setzen andererseits, muß die hier vorgestellte Stichprobe von Jugendlichen ihren Weg finden. Das gilt zumal angesichts der ambivalenten Erwartung/Befürchtung, damit entweder buchstäblich im Elend zu enden oder in einer vielleicht dennoch erträglichen Form von Sozialität ein Auskommen zu finden. Die körperbezogenen Selbstdeutungen, ein Aspekt ihrer Körper- Bilder also, haben wir nach den folgenden Mustern geordnet:
  • [132:70] Körperliche Stärke und Durchsetzung gegen andere;
  • [132:71] ein Körperbild, das Kraft/Antrieb und Interaktion in Beziehung zu setzen versucht, besonders im Bild des Wettkampfes;
  • [132:72] den Ausgleich zwischen Körper-Antrieben und Interaktionserwartungen, ohne das Interesse, der oder die körperlich Überlegene sein zu wollen;
  • [132:73] ein Verzicht auf Durchsetzung, Wettkampf, Streit zugunsten einer Konzentration auf die eigene Körper-Empfindlichkeit.
[132:74] Es läßt sich hier schon denken, daß jedes dieser Selbstdeutungs-Muster eigene pädagogische Probleme aufwirft. In welchen Hinsichten dies der Fall ist, wird sich im folgenden zeigen (quantitative Verteilung vgl. Anhang).

Körperliche Stärke, Durchsetzung

[132:75] In den sprachlichen Darstellungen ihrer Leiblichkeit überwiegen bei einer Gruppe von Jugendlichen Themen, die mit gleichsam egozentrischen körperlichen Durchsetzungstendenzen verbunden sind. Stärke zeigen, sich beweisen durch Überwinden von Widerständen, Überlegenheit und Unterlegenheit in sozialen Beziehungen, Beherrschen und Verursachen-Wollen sind Aspekte, mit denen sich Jugendliche dieses Selbstdeutungsmusters beschäftigen. Der Körper wird vorwiegend als Instrument der Durchsetzung und Demonstration von Kraft dargestellt, und zwar nicht nur bezogen auf Formen dinglich-instrumenteller Beherrschung sondern auch im zwischenmenschlichen Bereich, wie das folgende Beispiel zeigt:
[132:76]
Und wenn wieder Neue kommen, dann macht derjenige, der verdroschen wurde, wieder mit, und die nächsten, also das ist immer weiter so, das wird immer weiter gegeben.
(I:
Machst du das auch?
)
Ja! Auch wenn wir ’n Neuen auf Gruppe gekriegt haben, hab ich auch gleich eingeweiht.
(I:
Und in deiner Gruppe, wie würdst’n da so sagen, ist deine Position? Bist du da der Stärkste?
)
Jaa! lm Moment wohl. Da würd’ ich sagen, ich hab meine Gruppe in der Hand. Weil ich hab ’n |A 45|14jährigen, ’n 16jährigen – zwei 16jährige – und einen 15jährigen noch drauf.
(I:
Und wodurch haste die in der Hand?
)
Eben durch meine Stärke. Und dann ’n bißchen Druck.
(35/15/m)
[132:77] Dementsprechend ist die Körper-Selbstwahmehmung; das Messen der eigenen Stärke steht im Vordergrund. Die
Stärkerelationen
spielen bei der Beschreibung von Gleichaltrigenkontexten eine wichtige Rolle:
ich bin stärker als X, vor Y muß ich mich in acht nehmen
. Ein Teil der Jugendlichen, bei denen dieses Muster vorherrscht, orientiert sich an den Vorbildern des muskulösen, abgehärteten Körpers, der Überlegenheit aus dem Stand. Andere sind fasziniert von instrumentell vermittelten Darstellungsformen der Körperkraft oder von Tricks, durch die sie ihre Muskelkraft ins Unermeßliche steigern können:
[132:78]
Ich kann mit dem kleinen Finger eine Person hochheben.
(I:
Hmm. Erzähl.
)
Ja, hier. Nimm mal jetzt ’ne Stange. Das Brett, ne. Und da stellt sich ’ne Person drauf. Und ich kann mit einem Finger den so hochheben. Da muß aber das Ende ein bißchen kürzer sein als das andere. Das hat viel mit Hebelkraft zu tun.
(22/17/m)
[132:79] Grenzen der körperlichen und gesundheitlichen Belastbarkeit und psychosomatische Phänomene werden selten reflektiert. In den Interaktionsbeschreibungen tauchen Körpergesten, in denen sich Seelisches ausdrückt, wie Lachen, Weinen, Gesten der Zuneigung etc., selten auf. Überhaupt scheinen diese Jugendlichen in Interaktionen wenig Sensibilität zu zeigen.
[132:80] Das Repertoire an Tätigkeiten, Interessen und Verhaltensweisen, in denen ihre Leib- und Beziehungsthematik zum Ausdruck kommt, variiert zwischen Formen des unvermittelten Ausagierens und Formen symbolisch vermittelter Stärke. Es werden sowohl körperliche, gewaltsame Auseinandersetzungen beschrieben als auch spielerische Kämpfe mit groben Regeln gegenseitiger Fairneß (Rangeln,
Spaßkämpfe
); hier einige Interviewbeispiele:
[132:81]
Ich habe zusammen mit meinem Bruder gerne Spaßkämpfchen gemacht. ... Einmal war mein Bruder brutal, hat mir fast den Arm gebrochen, beim Schlittenfahren. Vorher hatten wir uns gestritten. Wollen wir nun Schlitten fahren, ho, ho. War eine scharfe Linkskurve. Ich flieg’ runter, Arm gebrochen. Dann haben wir wieder ein Spaßkämpfen gemacht. Da war ich brutal, hab ich ihm das Schlüsselbein gebrochen. Gleiche Rechte für alle.
(22/17/m / )
[132:82]
Da ham wir Stöcke geholt, da ham wir denn gekämpft, bloß eines Tages gab's ’n Bruch im Stock, in meinem, und dann war natürlich Sense. ... Der eine, der wollte ’n Auskampf. Hm, wer sich auf den Boden legt, hat verloren. Einer gegen einen, die andern ham sich nicht eingemischt. Außer hätten sich die andern eingemischt, hätten sich meine eingemischt. So wie auch mein Cousin. Da ham wir ’n Auskampf gemacht, aber leider hat keiner gewonnen, weil, wenn der Bademeister kam, dann ham wir aufgehört, da ham wir so gesessen (lacht etwas), rumgucken und gefreut, schönes Wetter heut, ne?
(7/13/m)
|A 46|
[132:83]
Und dann hat’s halt irgendwann Streß gegeben mit’m Heimleiter. Weil mir hat ’n Jugendlicher halt meine Uhr kaputtgemacht, die erste Uhr, die ich mir selbst gekauft habe. Und ich war halt der Meinung, er müßte die bezahlen. Und der Heimleiter meinte halt, wenn ich mich mit dem irgendwie ’n bißchen rumkabbele, so aus Spaß, dann müßt’ ich die selbst bezahlen. Und ja, dann hab ich mich halt mit dem Heimleiter geprügelt, und er meinte dann, ich wär’ so bekloppt, daß ich jetzt in die Psychiatrie gehöre, ne. Und hat mich in ’ne geschlossene Anstalt überwiesen.
(61/24/m)
[132:84] Die Jugendlichen bevorzugen Sportarten und antagonistische Spiele mit hohem Einsatz körperlicher Kraft (Fußball, Squash, Badminton, Bodybuilding). Sie lieben spontane, aber auch ritualisierte riskante, abenteuerliche Aktionen (Räuber- und Gendarmspiele mit Gaspistolen, Autocrash). Der peer-group-Kontext ist hierbei besonders wichtig, weil es um Standhalten und Mutproben geht. Sie interessieren sich für Waffen, Silvesterböller, Fahrzeuge, für alles, was pufft und knallt und wo sich Stärke symbolisch ausdrückt.
[132:85]
Heute ist sowas schon modern, da nehmen wir ’nen Chinacracker, kleben ’n untern Schreibtisch, zünden ’n an: Bong, Herr Lehrer, bumm !
(7/13/m)
[132:86] Fahrzeuge wie LKWs und Geländekrafträder scheinen gleichsam als Verlängerung ihres eigenen Leibes ihre Bestrebungen am besten zu bündeln: Stark und schnell sein, geschickt ausweichen, beherrschter und gezielter Einsatz von Kraft, schnell ans Ziel gelangen, Unabhängigkeit und Selbständigkeit. Mit Maschinen verbinden sie, wie das folgende Fallbeispiel zeigt, auch soziale Allmachtsphantasien:
[132:87]
Aber am besten wär’ jetzt ’n Flügel, ’n Eisenpanzer, richtig hart! Richtig hart müßte der sein, aber nicht schwer! Wenn ich andere Flugzeuge, dann puste ich dem die Flügel weg! Und dann steuer’ ich ’ne, dann laß’ ich ’ne zwischen die Bäume richtig durchfliegen, richtig bei uns landen, und dann versteck’ ich das Vieh immer. Am liebsten würd’ ich’s ins Fort stellen. Und wenn ich Lust habe, hol’ ich’s raus und dann laß’ ich’s fliegen, am besten mit ’ner Kamera eingebaut. Kann ich gucken, was sie (Erzieher) da machen.
(7/13/m)
[132:88] Ihr Problemprofil läßt sich u. a. durch die Schwierigkeit beschreiben, die eigenen Antriebe zu kontrollieren. Glaubt man ihren Lebensgeschichten, so waren sie in der Familie oder Schule immer die Schwächeren und Unterlegenen, wurden ausgegrenzt und abgeschoben. Derart vorbelastet stehen sie den institutionellen Ausbildungsarrangements und Jugendhilfen mit ihren z. T. hohen Erwartungen eher ablehnend gegenüber und fürchten auch hier, die sogenannten Schlußleuchten zu bilden. Verständlicherweise werden sie in institutionellen Ausbildungszusammenhängen leicht aggressiv oder brechen aus und suchen Erfahrungen der Omnipotenz und Überlegenheit in devianten Aktionen, die Polizei und Justiz besonders provozieren: Einbrüche, Raub, Diebstähle, wilde Autofahrten. Der Genuß von Alkohol und Nikotin dient dabei der Stimulierung oder zur Demonstration körperlicher Abhärtung.
|A 47|
[132:89] Autoritätspersonen gegenüber schwanken sie zwischen Auflehnung und Anpassung. Sie versuchen sich gegenüber solchen Autoritäten durchzusetzen, bei denen die Erfolgschancen relativ hoch sind. Das Aufbegehren gegen Erzieher wird oft mit einer gewissen sportlichen Attitüde erzählt:
[132:90]
Dann ham wir zu viert ’ne Dings rausgeekelt, ’ne Erzieherin. Die sah aus wie ’ne Punkerin, war aber keine, lief in Leggings rum, so verwuschelte Haare, und die mochten wir nicht, na, ham wir die rausgeekelt, so: äh, was willst’n hier? Ihr Auto kaputtgemacht, also Spiegel: krrr, Antenne: krrr – naja
(33/15/m)
[132:91] Auffallend ist, daß sich diese Jugendlichen wenig für langatmige Tätigkeiten mit ausgedehnter Zeitperspektive und Bedürfnisaufschub interessieren; sie suchen eher kurzzeitige, intensive, sie ganz vereinnahmende Reiz- und Spannungsmomente (z. B. Achterbahnfahren, Horrorshows, riskante Autofahrten, Spielautomaten, Zündeln, sexuell stimulierende Aktivitäten wie Strip-Poker am Computer). Bei manchen Beschreibungen hat man den Eindruck, daß das Thema Kraft und Durchsetzung bei einigen Jugendlichen nicht direkt körperlich ausgetragen wird, sondern daß es vorwiegend sprachlich, als Phantasie und Vorstellung, gleichsam als Medien-Produkt artikuliert wird:
[132:92]
Ja, internationale Karate. ... Wettkampf und Freistil – alles mit freien Bewegungen. ... Wir spielen gegen den Computer oder zu zweit. Sebastian! (lacht) Ich kenn’ einen ganz fiesen Trick, dann kick’ ich dem meinen Computer immer ins Gesicht, krieg’ ich über 2000 Punkte. Das sieht immer hart aus: buff! und er: brrich!... Megaman kann ich besonders gut, da schaff ich fast alle. Da ist Dr. Willi, den krall’ ich mir öfter mal. Dr. Willi ist der Härteste. An diesem Drachen, das ist so’n Drachentier, weiß auch nicht, komm’ ich nicht vorbei. ... Na, Übung hab ich ja, aber – ich hatte mal leider, waren meine Patronen alle, das war das Problem. Mit meiner Metallsäge hätt’ ich’s geschafft.
(7/13/m)
[132:93] Gelegentlich scheinen sie sich von diesem kurzzeitigen Unterhaltungsschema abzuwenden und suchen Kompensation in handwerklicher Tätigkeit. Aber auch hier zeigen sie wenig Geduld und Ausdauer, sie brauchen die Unterstützung von außen. Ihre Berufswünsche tragen z. T. diesem Interesse in Form traditioneller Handwerksberufe Rechnung. Andere Berufsziele wie LKW-Fahrer, Mechaniker, Berufssoldat spielen auf ihre oben genannte Thematik an. Ein Junge möchte Polizist werden, weil:
[132:94]
Weiß nicht, war ’n Riesenvorbild irgendwie, weiß ich nicht, das war damals. Polizei, geil, kann man mit ’ner Pistole rumschießen und dies und jenes, Verbrecher fangen und so.
(33/15/m)
[132:95] Ein anderer möchte Einzelkämpfer werden:
Aber eins ist ja geil, wenn man Schwimmer ist, wenn man auf m Schiff ist, Marine. Die können ja bis zur letzten Minute das Schiff verteidigen, wenn das tiefer ist, das Bug, Deck über Wasser ist. Dann kann man ja schnell runterspringen. Ist man ja ausgebildet. Oder wenn das Schiff so steht, dann muß man nach oben laufen, übern Bug kriechen und dann runterspringen. Kann ich, ist ja kein Problem. Die fünf Meter.
(22/17/m)
|A 48|
[132:96] Bei den Mädchen ist das Interesse an Symbolen der Stärke wie Maschinen und Fahrzeuge weniger stark ausgeprägt, aber auch bei ihnen dominieren körperliche Kraft und Gewalt als Mittel der Durchsetzung. Ähnlich wie ein Teil der Jungen sind sie mehr oder weniger Mitglieder in gleichgeschlechtlichen peer-groups, die hierarchisch strukturiert sind und zum Teil kriminelle Delikte begehen:
[132:97]
Bin ich dann halt immer abgehauen. Und da kam ich in so’ne Gang rein, und da bin ich auch noch tätowiert worden. Und da ham wir Raubüberfälle gemacht, gehascht, gekokst. Was ham wir noch gemacht? Leute zusammengeschlagen, das Geld abgenommen. ... Crime Boys, das stand jetzt auch in der oberhessischen Presse. ... Ja, ich hab mit zu den Mädchen und zu den Jungs gehört, weil ich, äh, das erste Mädchen bei den Jungs war. Also ich war von den Mädchen der Chef, und von den Jungs war ich, hab ich mit zu den Höchsten gehört.
(68/14/w)
[132:98] Die Jungen beschreiben Hierarchien zum Teil nach militärischem Vorbild:
[132:99]
Wir ham so’ne Rangfolge gehabt bei uns im Heim. Es kam der König, Offiziere, Leutnant, und dann die ganz unteren, die dann also für die anderen Leute die Arbeit verrichten durften, und wer halt König werden wollte, der mußte sich mit dem damaligen jetzigen König halt prügeln, ne. Und wer dann halt ohne blaue Augen und kaputte Nase vonkam, der wurde halt der neue König.
(49/23/m)
[132:100] Die Mädchen schwanken in ihren Körpervorbildern zwischen dem Klischee der attraktiven, Männer sexuell provozierenden Frau und der Identifizierung mit traditionellen Männerberufen. So möchte ein Mädchen
Friseuse oder Dachdeckerin
werden.
[132:101] Deutlich aber überwiegt der Anteil der Jungen; von den insgesamt 17 Fällen, die sich diesem Deutungsmuster zuordnen lassen, sind 13 männlich und nur 4 weiblich (vgl. Tabelle im Anhang). Es handelt sich dabei um Jugendliche mit dem stärksten Konfliktpotential in Heimen; die meisten von ihnen stammen aus sozial schwachen Familien, die diesem Körperhabitus zu entsprechen scheinen.

Wettkampf und Wetteifer

[132:102] Bei dieser Gruppe von Jugendlichen konzentrieren sich die mitgeteilten Körpererfahrungen um das Thema Wettkampf und Wetteifer. Ihre Thematik hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der des ersten Typs; die Körperbilder werden aber deutlicher auf soziale Kontexte bezogen. Auch ihnen ist es wichtig, Stärke zu zeigen, im Unterschied zur ersten Gruppe sind sie aber an gelungener Interaktion interessiert. Nicht das Ausfechten von Rangordnungen und die situative Durchsetzung von egozentrischen Interessen stehen im Vordergrund der Aktivitäten – obwohl auch dies ge|A 49|legentlich vorkommt –, sondern die Kooperation und das körperliche Zusammenspiel unter Berücksichtigung von Spielregeln und gegenseitigen Absprachen.
[132:103]
Wir haben jetzt selber ’ne Fußballmannschaft aufgebaut. Wo jetzt hier am Samstag ein Sportfest ist, da kommen andere 16 Mannschaften und wird ein großes Turnier veranstaltet. ... Mein Vater kommt extra aus B. ... zum Training
. Auf die Frage, was beim Spielen besonders wichtig ist, antwortet derselbe Jugendliche:
nicht foulen ... richtiges Zusammenspiel, ... ja, gucken, was der andere macht und zur richtigen Zeit abgeben und nicht alles alleine machen.
(19/17/m)
[132:104] Die Zwischenleiblichkeit, das körperliche Aufeinander-Eingehen spielt eine wichtige Rolle in den Interaktionen. Stärke wird nicht mehr ausschließlich am Grad der Überlegenheit und Durchsetzung gemessen, sondern an dem Grad der körperlichen oder sportlichen Leistung und des Zusammenspiels. Dem Können, der Beherrschung einer Disziplin wird große Bedeutung zugemessen. Einige Jugendliche dieser Teilgruppe unterwerfen sich einem regelmäßigen Training und verfolgen ehrgeizige Ziele:
[132:105]
Ja, ich mach’ modernen Fünfkampf. ... Ich fahre ab und zu mal mit’m Bekannten ins Bundesleistungszentrum nach Hannover, dort fechte ich, also gegen Ältere, da bin ich zur Zeit die Jüngste. Und sonst hab ich immer dienstags und donnerstags Fechten, und Laufen ist halt immer nach Ankündigung, da kriegen wir immer Bescheid. Dann laufen wir auch mal hier so, wenn Volksläufe sind, laufen wir mit. ... Also wir waren noch vor’m halben Jahr, da waren wir noch alle da, und jetzt seit den Sommerferien ham die andern dann aufgehört, wollten wohl nicht mehr. Dadurch bin ich die einzigste, die das da noch trainiert. Naja, vielleicht alleine ist das ’n bißchen zu anstrengend, weil man keinen hat, mit dem man mithalten kann irgendwie. Aber vielleicht schaff ich’s ja, mal sehen.
(31/15/w)
[132:106] Im Zweikampf werden deutlich Regeln berücksichtigt. Weil das Zusammenspiel u. a. die Perspektive des verallgemeinerten Dritten erfordert, ist das Körperbild dieser Jugendlichen weitaus reflektierter als das der ersten Gruppe; sie sind bemüht, ihre Antriebe zu kontrollieren. Beherrschung von Körperschemata und Bewegungsmodi, die Steigerung der Leistungsfähigkeit werden Gegenstand der Betrachtung, ebenso Probleme des Zusammenspiels und der darin zum Ausdruck kommenden körperlichen Komponente der Interaktion. Glaubt man ihren Berichten, dann scheinen sie beim Erlernen von sensomotorischen Koordinationsschemata und in der Auseinandersetzung mit Regeln der Kooperation wesentlich ausdauernder und ehrgeiziger zu sein als die anderen Jugendlichen der Stichprobe. Ihren Darstellungen zufolge sind sie im Unterschied zur ersten Gruppe wesentlich sensibler in der Beobachtung, sie können Köperschemata von anderen auf sich übertragen:
[132:107]
Also wir rappen ab und zu zusammen. ... Z. B. der eine oder andere, der hat was Neues gelernt. Und dann versuchen wir, uns gegenseitig was abzugucken.
(19/17/m)
|A 50|
[132:108] Das Vorbild der Jugendlichen entspricht eher dem Typ des Sportlers; das Spielfeld ist der Raum, wo ihre Thematik sich materialisiert. Sie bevorzugen Sportwettkämpfe, Mannschaftssportarten, z. T. Leichtathletik, aber auch schwieriger zu erlernende Sportarten wie Tennis oder Judo. Ihr Interesse gilt u. a. auch Bewegungsformen, die längere Lernzeiten voraussetzen, wie Skateboardfahren oder Eiskunstläufen. Körperbeherrschung und gelungene Interaktion stehen im Mittelpunkt; einem Mädchen gefällt am Schlittschuhlaufen
[132:109]
... das Laufen selber, die Drehungen, also die Runden drehen, rückwärts laufen, wer am schnellsten laufen kann, ja, was Neues ausprobieren. Und man lernt viele Leute kennen.
(32/17/w)
[132:110] Was diesen Jugendlichen zum Teil im Alltag, besonders in Schule und Ausbildung schwerfällt, gelingt ihnen, so scheint es, im Spiel: Antriebskontrolle, Stärke zeigen, Körper- und Dingbeherrschung, Kooperation und Zusammenspiel, Belohnung für geleistete Einsätze. Im Spiel sind, gerade weil es auf Wiederholung setzt, die Toleranzgrenzen gegenüber dem Alltag nicht so eng abgesteckt, ein Foul wird zwar bestraft, es ist dennoch Bestandteil des Spiels und unter Umständen Höhepunkt zugleich.
[132:111] Für diesen Typ von Jugendlichen sind Zeitperspektiven von Bedeutung; die Planbarkeit von Bewegungsabläufen und des Zusammenspiels, die Steigerung von Leistungsfähigkeit in der Zeit sind in das Bewußtsein gerückt. Obwohl sie eine größere Sensibilität in bezug auf sich selbst und andere haben, gibt es Ähnlichkeiten im Problemprofil mit der ersten Gruppe: Auch diese Jungen und Mädchen verlieren gelegentlich ihre Antriebskontrolle. In Situationen, in denen sie sich besonders provoziert fühlen, haben sie mit ihren Aggressionen zu kämpfen. Körperliche Auseinandersetzungen kommen gelegentlich vor:
[132:112]
Mit meinem Bruder habe ich mich immer gerne geschlagen. Aber sonst so, ich gehe eigentlich Streit aus dem Weg. Aber wenn’s mir zu bunt wird, dann schlag’ ich mich auch, wenn’s nötig ist. Und mit meinem Bruder hab ich mich immer gerne geschlagen. ... Mit Jungs schlag’ ich mich halt richtig. ... Die Mädchen ziehe ich meistens in die Haare ... Jungs sind kräftig genug immer, find’ ich.
(32/17/w)
[132:113] Sie neigen dazu, ihre körperlichen und gesundheitlichen Belastungsgrenzen zu vernachlässigen (Bänderriß, Kniescheibenverletzungen etc.). Die Abgrenzung zu devianten peer-group-Kontexten fällt ihnen z. T. schwer. Überhaupt gelingt ihnen die Transformation der Erfahrungen und der sozialen Kompetenzen vom Spiel auf Alltagssituationen nicht immer, z. B. im Hinblick auf Leistungsmotivation, Regelverständnis etc.. Das Sprechen über Beziehungsthematiken (Vertrauen) und emotionale Spannungen (Ängste) fallt ihnen nicht leicht.
[132:114] Der Anteil von Jungen und Mädchen ist in dieser Gruppe ungefähr gleich, gegenüber den anderen ist sie zahlenmäßig die kleinste, nur 6 Jugendliche ließen sich diesem Körperbild zuordnen. Nach Einschätzung |A 51|ihrer Erzieher sind diese Jugendlichen in ihren sozialen Kontext relativ gut integriert. Jugendliche mit dem beschriebenen Körperbild scheinen, bis auf gelegentliches Ausrasten und Schwierigkeiten in der Ausbildung, weniger als die anderen Sorgenkinder der Heimerziehung zu sein. Sie sind sozial relativ verträglich, zudem scheinen viele Angebote in Heimen auf diese Klientel zugeschnitten zu sein und den Interessen der Erzieher entgegenzukommen, nämlich Sport, Wettkampf und Spiel. Sie scheinen sich am besten in solchen pädagogischen Arrangements zu stabilisieren, die der Möglichkeit zu sportlicher Aktivität und ihrem Bewegungsdrang, ihrem Interesse an spielerisch-kämpferischer Interaktion Rechnung tragen. In den sprachlichen Auseinandersetzungen mit ihren Erziehern scheinen sie für abstrakte soziale Erwartungen und Beziehungsthematiken nur wenig aufgeschlossen zu sein.

Ausgleich

[132:115] Wenn weder die körperlich-aggressive Durchsetzung noch der körperlich anspruchsvolle Wettkampf geliebt wird, sondern die interaktive Verträglichkeit eigener Körperäußerungen in die Aufmerksamkeit rückt, haben wir es mit dem von uns
Ausgleich
genannten Muster zu tun. Mit der Kontrolle von Antrieben und Aggressionen haben diese Jugendlichen weniger Schwierigkeiten. Sie vermeiden gewaltsam ausgetragene körperliche Auseinandersetzungen und haben wenig Interesse daran, körperliche Stärke und Leistung zu beweisen. Ihre Stärke liegt allenfalls in ihren handwerklichen Kompetenzen, vor allem aber in der sozialen Interaktion mit anderen. Sie nehmen sich und die Körperlichkeit von anderen Personen relativ sensibel wahr, ihre körperlichen und gesundheitlichen Grenzen kennen sie z. T. gut und vermeiden deshalb starke, unkalkulierbare Belastungssituationen und riskante Abenteuer. Ein Kennzeichen der ersten beiden Teilgruppen bestand u. a. darin, den Körper durch die Bewältigung herausfordernder Situationen aufs Spiel zu setzen; diese Jugendlichen hingegen vermeiden Mutproben solcher Art, sie bevorzugen überschaubare Tätigkeiten und vermeiden
Körperwagnisse
mit hohem Risiko der Selbstverletzung:
[132:116]
Geräteturnen, das find’ ich nicht gut. Weil ich immer Angst hab, da könnt’ ich mein Genick brechen. Bei Trampolin oder so, wenn ich da drauf springe, ... da hat sich schon einer mal 'n Bein umgeknickt, ... darum mach’ ich auch das nicht.
(5/16/m)
[132:117]
Fußball mag ich nicht so, hab Schiß, ’n Ball abzukriegen. ... Ich laufe aber sehr viel. Am Tag so morgens raus, so Frühsport.
(13/14/m)
[132:118] Sie interessieren sich für typische Handwerkerberufe und lehnen Arbeiten mit hohen Streßbelastungen ab:
|A 52|
[132:119]
14 Stunden, und dann bei 150 Grad vielleicht, dann mit’m Schutzanzug in 150 Meter Höhe, dann im Schornstein hängen – das ist nichts für mich! ... Ich hab vorher Koch ausprobiert, das war mir zu stressig. Und Elektriker hab ich ausprobiert, da – das war mir irgendwie zu schwer. Da hab ich nur mal reingeschnuppert, und jetzt mach’ich eben halt Maler und will auch die Ausbildung zu Ende machen.
(47/17/m)
[132:120] Auch in ihrem Habitus scheinen diese Jungen und Mädchen stärker einem Handwerkertypus zu entsprechen. Die Körperthematik ist von Normalitätsentwürfen geprägt: In ihrem äußeren Erscheinungsbild wollen sie möglichst nicht auffallen und passen sich deshalb an konventionelle Körper- und Kleidungskonzepte an; exzentrisches Gebaren liegt ihnen fern. Sie suchen den Ausgleich im Wechsel der Aktivitäten; nach längerer Anstrengung brauchen sie Ruhe und Entspannung, nach konzentrierter handwerklicher Tätigkeit suchen sie eher friedliche Geselligkeit. Sie bevorzugen einen geregelten Tagesrhythmus mit der Sicherheit häuslicher Versorgung, ein soziales Setting, das sowohl dichte soziale Kontakte bietet als auch Möglichkeiten des Rückzugs in eigenen Räumen:
[132:121] Ein Jugendlicher z.B. spielt nach getaner Arbeit Gitarre:
Und ich spiele da unheimlich gern drauf, und ist auch so, daß dann absoluter Zeitvertreib ist, ne. Wenn ich darauf spiele, dann geht die Zeit so wie Butter aufs Brot, ne. Merkst auch gar nicht, wie schnell das weggeht. ... Es ist unheimlich schön, wenn man drauf spielt, weil dann relaxt du absolut, hast dann überhaupt keine so Hemmungen und so, spielst einfach drauflos und vergißt dann die Zeit, das ist für mich ziemlich wichtig so, die Zeit vergessen ’ne Zeitlang.
(59/19/m)
[132:122] Ein anderer geht angeln:
Ich meine, es gibt Tage, da hat man keinen Bock, äh, alles scheißegal. ... Und beim Angeln, da kann man da rumsitzen, da wird man nicht von allen Leuten angelabert. ... Ich fahr’ immer mit’m Boot alleine raus, und dann angel’ ich da. Dann rauch’ ich ab und zu mal ’ne Zigarette.
(55/14/m) Wieder andere brauchen nach Schule oder Arbeit den lockeren, spielerischen Kontakt im Jugendzentrum:
Ja, und dann abends zum Jugendraum runter, ’n bißchen rumhängen, ... Musik hören und Salzstangen und dann herumhängen, Kickern oder ’ne Runde Billard spielen.
(13/14/m)
[132:123] Diesem Typ liegen eher die leichteren, in der Motorik gut kalkulierbaren, wenig kraftbezogenen und verausgabenden Sportarten und Bewegungsformen wie Billard, Tischtennis, Kegeln, Kicken, Fahrradfahren, aber auch Spiele in sozialen Kontexten wie Jugendzentren und Teestube. Die Jungen und Mädchen dieser Fallgruppe interessieren sich gleichermaßen für handwerkliche und versorgende Tätigkeiten. Die meisten räumen dem gemeinsamen Essen einen hohen Stellenwert ein:
[132:124]
Ich mein’, wir machen’s schon mal so, wenn wir mal ’n dicken Topf Spaghettis machen und holen uns auch mal ’n Kotelett und machen da ’n richtig gutes Essen, und heut morgen hab ich mit dem Jörg hier erstmal fett gefrühstückt, so Eier gekocht und richtig zwei Stunden gefrühstückt! Ja, macht Spaß, mach’ ich gerne, ist ganz witzig. Schönen Tee gekocht und so, schon ganz gut.
(44/20/m)
|A 53|
[132:125] Tätigkeiten, in denen sie zur Ruhe finden können, sind ihnen wichtig, sie brauchen Oasen, wo sie für sich sein können.
[132:126]
Oder ’ne einsame Insel kaufen oder sowas, wo dann nur du bist. Hab ich auch Bock, klar. Wo du dich dann mal zurückziehen kannst, einfach mal so zwei Monate, einfach mal ausruhen.
(44/20/m)
[132:127] Sie sind ständig um eine Balance zwischen Situationen mit hohen Interaktionserwartungen und Momenten der Besinnlichkeit bemüht, so als müßten sie immer wieder den
ruhenden Pol
in sich finden:
[132:128]
Eigentlich brauch’ ich immer ’n paar Leute um mich rum. Weil sonst, nee, so alleine – aber so ab und zu mal zurückziehen, bißchen Musik hören, nachdenken. Ja, muß man alles mal machen, aber so – eigentlich brauch’ ich immer ’n paar Leute um mich rum. Sonst ist mir das zu langweilig.
(44/20/m)
[132:129] Insgesamt ließen sich 14 Jungen und ein Mädchen diesem Körperbild zuordnen. Es handelt sich also anscheinend, was überraschen mag, um eine typisch männliche Problemgruppe. Mädchen teilen ihr Körperbild kaum im Rahmen dieses Musters mit. Die Gründe dafür sind vorerst nicht auszumachen. Einiges, besonders auch im Hinblick auf die Jungen, wird vielleicht deutlicher, wenn man sich folgendes vor Augen hält: Die Zitat-Beispiele signalisieren fast immer eine Komponente von Körper- Ängstlichkeit; Situationen körperlicher Belastung sollen möglichst vermieden werden; gelegentlich deutet sich gar ein Leiden an Milieus an, die dem eigenen Körper zudringlich werden, wie etwa in den folgenden Äußerungen:
[132:130]
Laute Musik, wenn du schlafen willst, kommst von der Arbeit, duschen, dann schlafen gehen, das kannste hier nicht. Dann machen se hier Krach, am Wochenende um elf gehen hier schon die Anlagen los. Ich lieg’ genau zwischen zwei Zimmern, der eine hat ’ne große 48er Box da drinne, dann geht das Gedröhne los, die ganzen Dinger, Bilder, fallen alle runter. Das ist das reinste Irrenhaus! Aber da kannste nämlich nichts machen.
(2/16/m)
[132:131] Das Bedürfnis nach ausgeglichenen, körperlich nicht an-, sondern entspannenden Situationen wird eher frustriert. Dieses Körperbild liegt im Konflikt mit den Gewohnheiten und Inszenierungen der relevanten Gleichaltrigen-Bezugsgruppen; eine naive Körpergewißheit wie im Falle des
durchsetzungs
- und
wetteifer
orientierten Musters paßt nicht dazu. Dieses Körperbild ist deshalb in dem sozialen Kontext, in dem solche Jugendlichen leben, beständig gefährdet, labil, problematisch. Was also zunächst wie eine sympathische Verhaltenssicherheit erschien, zeigt sich als ein ziemlich fragiles Muster der Selbstdeutung: Die Jugendlichen sehen sich tatsächlichen oder phantasierten Gefährdungen ausgesetzt, denen man nur schwer entgehen kann. Daß nun in diese Konfliktzone Jungen, ständig mit
Männlichkeits
-Konzepten konfrontiert, eher als Mädchen hineingeraten, wird so schon eher verständlich.
|A 54|
[132:132] Vermutlich repräsentieren die 15 Jugendlichen dieser Fallgruppe einen Typus, der in vielen sozialpädagogischen Einrichtungen leicht zu kurz kommt. Aus dem Anlaß soll noch einmal daran erinnert werden, daß der Begriff
Lebenswelt
einer differentiellen Beschreibung bedarf. Die
Lebenswelt
dieser 15 Jugendlichen ist eine andere als die, von der sie sich bedrängt fühlen. Der phänomenologische Sinn dieses Begriffs meint ja gerade nicht das soziologisch beschreibbare Feld, in dem man lebt, sondern die artikulierten Sinnrichtungen, in denen das Individuum seine Gewißheiten sucht. Körper-Sinn wird also von den um
Ausgleich
bemühten Jugendlichen anders artikuliert als von denen, in deren Relevanzhierarchie die körperliche Kraft und Durchsetzung eine hervorgehobene Bedeutung hat. Es handelt sich also um zwei Lebenswelten, die sich potentiell konflikthaft zueinander verhalten und häufig aktuell in einer sozialpädagogischen Einrichtung (einem Lebens-
Feld
also) zusammengebunden werden. Will man die Sozialpädagogik, wie es häufig heißt, wirklich an
Lebenswelten
orientieren, dann bedürfen gerade derartige Brüche und Differenzen einer genaueren Aufklärung. Es könnte sonst nämlich geschehen, daß die sozialpädagogischen Problemstellungen sich an den spektakuläreren Lebensentwürfen orientieren, die tatsächlichen Zerstückelungen der Lebensfelder darüber in den Hintergrund geraten und mithin – um bei unserem Beispiel zu bleiben – die Lebenswelt der um Ausgleich von Körperaktivitäten und -empfindungen bemühten Jugendlichen aus dem Blick gerät. Gleiches gilt natürlich auch für die anderen Deutungsmuster.
Lebenswelten
können also soziale oder entwicklungsthematische Sackgassen sein. Unter der modernen Bedingung der Pluralität von Lebensformen, der je internen Sinndifferenzen, wäre es vielleicht besser, man würde die sozialpädagogische Tätigkeit nicht an jenen
Lebenswelten
orientieren, sondern an dem Problem, das mit einer Vielzahl von Lebenswelten innerhalb eines gezwungenermaßen gemeinsamen, aber in sich differenten Feldes von Gesellschaftlichkeit gegeben ist, an den Interaktionsproblemen also, die sich zwischen den je subjektiven Lebenswelten einstellen.

Die Körperselbstempfindlichen

[132:133] Auch die diesem Muster folgenden Jugendlichen zeigen wenig Interesse, ihre Stärke und körperlichen Leistungen sozial zur Geltung zu bringen. Der Körper ist für sie vorwiegend ein Mittel des seelischen Ausdrucks, ein Medium, in dem situative Befindlichkeiten darstellbar sind. Sie befassen sich stärker als alle anderen mit expressiven, ästhetischen Tätigkeiten wie Musikmachen oder Malen, und mit Aktivitäten, in denen die Empfindung der Eigenmotorik und die Stilisierung des Körpers im Mittelpunkt stehen, wie z. B. Eisläufen, Tanzen, Ballett. Die Be|A 55|schreibungen ihrer zwischenmenschlichen Beziehungen zeichnen sich durch eine hohe Aufmerksamkeit für die körperlichen Komponenten von Interaktion aus, und zwar nicht nur für die eigenen, sondern auch für die der anderen:
[132:134]
Meinen Vater, den hab’ ich, wo ich dreizehn war, ... kennengelernt. ... Der hat mich gleich in den Arm genommen, und ich wußte überhaupt nicht, was ich machen sollte. Er hat voll geheult. Ich hab mich irgendwie ein bißchen geekelt vor ihm.
[132:135] Dasselbe Mädchen beschreibt ihre Beziehung zur Mutter so:
Immer, wenn ich mit meiner Mutter rede, weine ich.
Über sich und ihre Erwartungen an ihren Freund sagt sie:
... ich bin immer zu anhänglich. Bei den Heimkindern ist das, also die sind anhänglicher,... wenn man gern viel in den Arm genommen werden will.
(17/17/w)
[132:136] Entschieden häufiger als im Rahmen der anderen Körperbilder tauchen hier Beschreibungen leiblich-seelischer Ausdrucksphänomene auf: Lachen und Weinen, Wut, in den Arm nehmen, Gesten der Zuneigung und Abneigung. Anders als bei den vorherigen Fällen bilden psychosomatische Reaktionen in dem Körperbild dieser Jugendlichen ein wichtiges Motiv. Körperlich-seelische Befindlichkeiten, Spannungen und psychosomatische Symptome, die sie z. T. in Verbindung mit sozialen Konflikten bringen, sind Themen der Auseinandersetzung mit sich.
[132:137]
Dann, als ich 14 geworden bin, hat sich mein Vater umgebracht. Und da ist für mich die Welt erstmal zusammengestürzt irgendwie. War halt ’ne Woche nicht zur Schule. Und total wenig gegessen und so. Dann bin ich irgendwann wieder drüber hinweggekommen. Was heißt, weggekommen, also hab’s verdrängt, besser gesagt. Was halt mein Fehler war irgendwie. Und hab halt nicht mehr dran gedacht. Und halt in der Wohngruppe ist mir das alles bewußt geworden, was das überhaupt für 'ne Scheiß-Situation ist. Und da ging das dann los mit Depressionen und was weiß ich nicht was alles. Denn irgendwie in der Kur ist mir halt selber so einiges bewußt geworden, weil ich auch Gesprächsgruppen hatte und so.
(21/18/m)
[132:138] Ein Mädchen berichtet davon, daß sie Herpesausschläge am Mund bekommt, wenn sie ihre Mutter trifft. Ein Junge beschreibt die Reaktionen auf einen Familienkonflikt so:
Und dadurch hab ich irgendwie, äh, weiß nicht, so Migräneanfälle gekriegt, die von Woche zu Woche jeweils am selben Tag zur selben Uhrzeit bis zur selben Uhrzeit gewesen sind, und dann Kopfschmerzen, irgendwie total die komischen Sachen. Ich weiß jetzt nicht, ob das durch Streß oder durch Überanstrengung kommt, auf jeden Fall hat sich das irgendwie – nachdem dann echt dieser ganze Terror abgebaut wurde, nachdem ich, oder meine Eltern halt auch gesagt haben: so, jetzt lassen wir den Streß erstmal wieder ’n bißchen ruhen, da hat das halt auch aufgehört.
(66/18/m)
[132:139] Diese Jugendlichen, die diesem Muster folgen, vermeiden grobe, kraftintensive Tätigkeiten und haben, ihren Erzählungen zufolge, im Vergleich zu den anderen eine schwächere körperliche Konstitution. Ihre körperlichen Antriebe und Impulse können sie jedoch am besten von allen reflektieren:
|A 56|
[132:140]
Hab ’ne Zeitlang so Fingernägel gekaut, weil ich richtig nervös war und so.
(39/16/w)
[132:141] Die Körperthematik dieser Jugendlichen ist nicht nur bestimmt durch die Sensibilität für die eigene Körperwahmehmung und für Interaktionen, sondern auch für körperlich vermittelte Selbstdarstellungen und Stilexperimente:
[132:142]
Ich weiß nicht, ich hab irgendwie so angefangen, bei meiner Konfirmation zu sagen: ich werd' da in ’ner gestreiften Hose auflaufen ...
(I:
Und da biste dann also auch schon in anderen Klamotten hingegangen, als man das so erwartet?
)
Ja, auf jeden Fall. Also ich bin auf dem Bild, auf dem Konfirmationsfoto stech’ ich voll raus!
(66/18/m)
[132:143]
Oder genau die Mütze da, die find’ ich z. B. total bescheuert. Und der, der mich kennt, weiß, daß ich die Mütze bescheuert finde. Ist halt witzig, wenn ich sie aufsetze. Und so’n Blödsinn machen wir halt. Ein Freund von mir, der hat sich jetzt neulich eine Milchkuh auf die Brust tätowieren lassen, ungefähr so groß. Weil er es einfach nur blöde findet. Sowas machen wir halt gerne.
(21/18/m)
[132:144] Sie beschäftigen sich mit ästhetischen Erfahrungen und sind in der Lage, enttäuschte Interaktionserwartungen im Medium der Musik, Malerei oder Sprache auszudrücken:
[132:145]
Das schreien wir dann halt raus, so in der Musik, ne. Was uns ankotzt. Oder die ganzen Drogenabhängigen und sonstwas. Das ist halt das, was uns nervt irgendwie. Und das kotzen wir dann halt ins Mikrofon rein. Deswegen ist das auch ziemlich derbes Gebrülle meistens. Ist aber schön.
(21/18/m)
[132:146] Sie interessieren sich neben den schon genannten expressiven, ästhetischen Aktivitäten für leichte Sportarten wie Reiten, Yoga, Schwimmen, Ballett und für eher selbstreflexive Tätigkeiten wie Tagebuchschreiben. Sie haben aber auch Interesse an Aufgaben im häuslichen Bereich wie Kochen, Möbel bauen, Handarbeiten. Hinsichtlich ihrer Berufswünsche sind sie unentschieden, schwanken zwischen sozialen Berufen wie Sozialpädagogin oder Kindergärtner, zwischen künstlerischen oder ausgefallenen Tätigkeiten wie Designer, Zoopfleger oder Taxifahrer und pragmatischen traditionellen Berufszielen wie Friseuse unentschlossen hin und her. Diese Jugendlichen haben, darin den um
Ausgleich
bemühten ähnlich, am ehesten Schwierigkeiten im Umgang mit enttäuschten Interaktionserwartungen und formellen, institutionell organisierten Lebenszusammenhängen. Bei sozialen Konflikten neigen sie zur Kompensation durch Drogen; Tablettenabhängigkeit und übermäßigen Haschischkonsum gibt es in dieser Gruppe am häufigsten. Sie bringen ihre psychosomatischen Symptome zum Teil selbst in Zusammenhang mit Spannungen in ihren sozialen Beziehungen; in den Interviews findet sich eine große Spannbreite von psychisch bedingten Schwierigkeiten: Kopfschmerzen, Nervosität, Schlafstörungen, Magersucht, Hautausschläge,
Nervenzusammenbruch
. Suizidversuche werden erwähnt:
|A 57|
[132:147]
Sagen wir mal, melancholisch bin ich, daß ich manchmal ’nen Depri habe. ... Ich hatte keinen Bock mehr. Keinen Bock mehr gehabt auf gar nichts mehr. Schnauze voll von allem. Und Selbstmordgedanken, Tabletten geschluckt und sonstwas. Aber das hat alles nicht geklappt irgendwie. Wo ich im nachhinein auch ganz froh bin. Daß es nicht geklappt hat.
(21/18/m)
[132:148] Auch selbst verursachte Körperverletzungen (
Schnibbeln
) gibt es bei einigen Fällen. Es fällt auf, daß in den Selbstäußerungen schmerzhafte und leidvolle Körpererfahrungen überwiegen. Dieses Körper-Selbstbild scheint uns im Hinblick auf die psychosoziale Entwicklung von Jugendlichen die problematischste zu sein. Ihm fehlt die positive Selbstbewertung der Durchsetzungs-Orientierten, das Vertrauen auf körperliches Wetteifer-Gleichgewicht, das Festhalten wenigstens an der Hoffnung auf erträgliches Auskommen in der Beanspruchung des eigenen Körpers, auf geschützte Innenräume. Sie wenden das schon bei den an
Ausgleich
Orientierten sich andeutende
Leiden an der Gesellschaft
nur noch gegen sich selbst. Ihnen scheint die Vorstellung der Integrität des eigenen Leibes als Träger seelisch-geistiger Vorgänge zu entgleiten – oder genauer gesagt: sie haben, in der Adoleszenzphase, größte Schwierigkeiten, ein solches integres Bild von sich im Verhältnis zu den sozialen Kontexten zu entwickeln. Die starke, nur noch subjektivistisch gemeinte expressive Geste nach außen korrespondiert der selbstdestruktiven Bewegung nach innen hin, gegen sich selbst.
[132:149] Im Vergleich unserer Stichprobe ist diese Gruppe die größte (vgl. Tabelle im Anhang). Die Prognosen der Erzieher sind, wie bei dem ersten Typ, ähnlich pessimistisch. Die Jugendlichen haben mit dem reglementierten Gruppenalltag die größten Probleme. Ihre Erzieher sind ihren psychosomatischen Symptomen und ihrer Drogengefährdung gegenüber oft ratlos. Die Psychiatrieaufenthalte häufen sich. Deutlich überwiegt der Anteil der Mädchen.
|A [58]| |A 59|

4. Selbstentwürfe

[132:150] Bedenkt man, wie häufig der Ausdruck
Selbst
in pädagogischen, sozialpsychologischen, tiefenpsychologischen Texten auftaucht, dann ist immer wieder überraschend, wie wenig geklärt eigentlich dieser Ausdruck ist. Das liegt vermutlich daran, daß der Sachverhalt, von dem da die Rede sein soll, zu den schwierigsten der Anthropologie und der Bewußtseinstheorien gehört. In einer Hinsicht scheint indessen Einigkeit zu bestehen – auch wenn diese Einigkeit auf Voraussetzungen beruhen mag, die keinesfalls so klar sind, wie manchmal behauptet wird – nämlich: Das
Selbst
ist in irgendeiner Weise das, was das Ich sich zum Gegenstand macht, wenn es über sich redet. Aber diese Behauptung ist schwieriger, als es scheinen mag. Wenn ich sage,
ich habe einen Schmerz im Knie
, oder wenn ein Jugendlicher sagt,
ich hab auch mal Tage, da will ich nicht, da hab ich keine Lust
, oder
ich hab überall Angst, wo ich keinen kenne
oder
ich komm’ jetzt in das Alter, wo man ’ne feste Beziehung haben will
– wenn so geredet wird, wovon wird geredet? Ist es das
Selbst
, das den Schmerz spürt, Angst hat, etwas will oder nicht will, oder bin
Ich
es? Man sieht schon – auch wenn dies in einem pragmatisch interessierten pädagogischen Text wie diesem stören mag –, daß, wenn vom
Selbst
die Rede ist, die eigentümliche Doppelung der menschlichen Existenz zur Sprache kommt, die H. Plessner (1965)
exzentrisch
genannt hat. Wir sind uns offenbar in zweierlei Weise gegeben: als erste Person Singular im Satz (ich) und als die Verfaßtheit unserer eigenen Leib-Geist-Verhältnisse, die das Ich sich zum Gegenstand seiner Rede machen kann. Das gilt nicht nur für den philosophierenden erwachsenen Intellektuellen, sondern von Kindheit an.
[132:151] Es gibt nun zwei auseinanderliegende Wege, mit dieser Problemstellung ins reine zu kommen. Den einen Weg haben die an der Entwicklung des Individuums interessierten Fachwissenschaften beschritten. Das Objekt der Rede, wenn das
Ich
von oder über
sich
spricht, ist ein Objekt, das sich in der Zeit ändert und über das sich etwas aussagen läßt wie über andere Gegenstände auch. Die Aussagen (Theorien) mögen verschieden ausfallen. Freud spricht darüber anders als Rogers oder Piaget. Alle drei aber unterstellen, daß das Objekt, von dem die Rede ist und das
Selbst
genannt wird, eines ist, über das sich objektivierend beschreibend etwas Sinnvolles sagen ließe. Der andere Weg ist skeptischer und |A 60|wird von Philosophen bevorzugt: Dieses
Objekt
ist uns in gar keiner Weise gegeben als durch die Art, wie wir, die
Ich
sagenden Subjekte, davon reden. Das
Selbst
existiert also nirgends als in unserer Sprache, z. B. in den Worten und Metaphern; was auch immer an objektivierend beschreibbaren Merkmalen unserer Leib-Seele-Geschichte eine (etwa psychologisch interessierte) Fachwissenschaft zusammentragen mag: derartige Prägungen durch Milieus und Entwicklungsverläufe werden zum
Selbst
erst dann, wenn das Subjekt
sich mit der blinden Prägung ... die der Zufall ihm gegeben hat
, versöhnt, und zwar durch die
Neubeschreibung dieser Prägung in Ausdrücken, die, wie marginal auch immer, doch seine eigenen sind
(Rorty 1989, S. 83)
.
[132:152] Fachwissenschaftlicher Positivismus und philosophische Skepsis können zum Folgenden etwas beitragen. Der Philosoph gemahnt uns, das Reden über
Selbst
und
Selbstentwürfe
eben als ein Sprechen des Ich über sich zu interpretieren. Er bestärkt uns darin, von den Selbstdeutungen der Jugendlichen auszugehen, sie gar in den Mittelpunkt des Interesses zu rücken. Freilich werden wir, bei einem derart bescheiden angelegten Forschungsvorhaben, den Erwartungen der sprachanalytischen Philosophie nicht gerecht werden können. Aber sie gibt uns eine Rechtfertigung dafür, daß wir die in den Interviews verstreut aufzufindenden Bemerkungen sehr ernst nehmen – und zwar nicht erst im Lichte dieser oder jener Theorie des
Selbst
. Andererseits aber ist uns auch die Psychologie eine Hilfe; denn jene
Prägungen
, von denen der Philosoph spricht, gibt es ja
tatsächlich
, wenn man sich einmal entschlossen hat, die in Entwicklungstheorie, Psychoanalyse und Diagnostik vorgetragenen Behauptungen als Beschreibung von
Tatsachen
zu akzeptieren. Vielleicht wäre es der Sachlage angemessener, nicht von Tatsachen, sondern von Geschichten zu reden. Es ist keine Mißachtung der Psychologie oder der Psychoanalyse, wenn man sagt, Freud sei, im Hinblick auf das Seelenleben,
unser wichtigster Geschichtenerfinder
und
Mythenschöpfer
gewesen
(Bloom, zit. bei Rorty 1989, S. 63)
. Das Verhältnis des Ich zu seinem
Selbst
läßt sich im Geschichtenerzählen vielleicht dem anthropologischen Dilemma angemessener zur Darstellung bringen als im Behaupten wissenschaftlich zuverlässiger Tatsachen. Wie dem auch sei: Jugendliche, wenn sie
über sich
reden, erzählen einerseits Geschichten, manchmal nur einen kurzen Satz, wie in einer Nußschale verpackt; sie beschreiben darin aber auch etwas, das mit anderen Erzählungen vergleichbar ist. Die auf psychosoziale Sachverhalte bezogenen Wissenschaften sind an solchem Vergleich interessiert und an dem Allgemeinen, was dabei sich zeigen könnte. Was zeigt sich also im Hinblick auf denjenigen Sachverhalt, den wir meinen, wenn wir sagen,
ich
spüre
mich
, und zwar im Hinblick auf dieses vielleicht nur fiktiv gemeinte oder grammatisch zu verstehende
Objekt
des Spürens:
mich
oder
mein Selbst
?
[132:153] Die Erinnerung an die Schwierigkeiten unserer Rede über uns selbst, an das damit verbundene anthroplogisch-philosophische Problem sollte ei|A 61|nerseits warnen vor einer vielleicht voreilig
objektivistischen
Redeweise, die dem Problem nicht gerecht wird, auch wenn wir im folgenden aus dieser Warnung nicht die letzten Endes nötigen Konsequenzen ziehen. Sie sollte uns aber auch entlasten insofern, als es nun nicht mehr so abwegig erscheint, den selbstbezüglichen Satz, in dem
Ich
und
Selbst
Vorkommen, nach der Seite des Selbst hin genauer zu betrachten. Dieses
Selbst
ist nun in zweifacher Hinsicht ein
Objekt
. Es ist es für uns, die wissenschaftlichen Beobachter; es ist es aber auch für das Subjekt, das, so darf man sagen, sein eigener Selbstbeobachter ist. Zwischen diesem Beobachtungssubjekt und seinem Objekt besteht nun eine Beziehung, die in zwei Hinsichten veränderlich ist: es verändert sich das Objekt (
Selbst
), und es verändert sich die Weise, in der das Ich auf dieses Selbst hinblickt. Nur diese Weise des Hinblickens können wir, unseres Materials wegen, zu rekonstruieren versuchen. Das aber ist nicht ohne wenigstens einige grobe Annahmen über die Eigentümlichkeit dessen möglich, das da in den Blick genommen wird.
[132:154] Es sind vor allem zwei Arten solcher Annahmen nötig, um überhaupt entscheiden zu können, welche der Äußerungen der Jugendlichen auf dieses Objekt bezogen sind:
  • [132:155] Das Selbst erscheint in verschiedenen Dimensionen, und zwar einerseits in Aussagen, die sich in die Form
    so bin ich
    (existentes Selbstkonzept), andererseits in die Form
    so möchte ich sein
    (Wunsch-Konzept) bringen lassen (vgl. dazu besonders Rosenberg 1965, 1979). Außerdem kann es deutlich oder undeutlich sein, positiv oder negativ bewertet werden, nach Eigenschaften mehr oder weniger facettenreich erscheinen, intensiv oder nur oberflächlich zum Bewußtsein kommen.
  • [132:156] Das Selbst bzw. das Bild, das das Subjekt sich von ihm macht, verändert sich in der Zeit, eine Veränderung, die in der Art von Entwicklungsstufen gedacht werden kann, und zwar so, daß das, was in der einen Stufe das Kind oder den Jugendlichen gleichsam noch voll gefangen nimmt, weil es keine Distanz dazu aufbauen kann, in der folgenden Stufe distanziert und also zum Gegenstand der Reflexion wird. Kegan (1986) hat, in der Kombination von psychoanalytischen und kognitionstheoretischen Annahmen und erläutert an therapiebedürftigen Jugendlichen einer psychiatrischen Einrichtung, ein Entwicklungsmodell vorgeschlagen (vgl. Tabelle 5).
[132:157] Man muß dieses Schema, obwohl es von Kegan sehr plausibel erläutert und begründet wird, nicht in allen seinen Teilen übernehmen. Auf den Grundgedanken aber kann man kaum verzichten, zumal es nicht nur theoretisch überzeugend, sondern auch praktisch hilfreich ist: Um über Probleme, die in den Selbstbildern von Jugendlichen zur Darstellung kommen, begründet reden und eine hilfreiche pädagogische oder therapeutische Praxis daran anschließen zu können, ist es nötig, denjenigen |A 62|

Tab. 5: Entwicklungsmodell nach Kegan

Grundstruktur (Subjekt (S) vs. Objekt (O)
S O
Stufe 0: einverleibend Reflexe (Empfindungen, Bewegungen) keins
Stufe 1: impulsiv Impulse, Wahrnehmungen Reflexe (Empfindungen, Bewegungen)
Stufe 2: souverän Bedürfnisse, Interessen, Wünsche Impulse, Wahrnehmungen
Stufe 3: zwischenmenschlich wechselseitige zwischenmenschliche Beziehungen Bedürfnisse, Interessen, Wünsche
Stufe 4: institutionell Eigenautorität, Identität, psychische Verwaltung, Ideologie wechselseitige zwischenmenschliche Beziehungen
Stufe 5: überindividuell Überindividualität, Austausch zwischen verschiedenen Selbstsystemen Eigenautorität, Identität, psychische Verwaltung, Ideologie
Stand und diejenigen Dimensionen des Selbst zu kennen, die dem Jugendlichen in den Blick kommen.
[132:158] Vor diesem Hintergrund soll im folgenden beschrieben werden, was sich in unserer Stichprobe zeigt. Allerdings tritt dabei der Entwicklungsgesichtspunkt eher zurück, da die Altersstreuung zu gering ist. Statt dessen beschränken wir uns, wie auch im Falle der anderen Auswertungskategorien, auf Zustandsbeschreibungen, biographische Momentaufnahmen gleichsam, und zwar vor allem unter Berücksichtigung der Äußerungen zur eigenen Person (existentes Selbst), zu den sozialen Erwartungs-Kontexten (gewünschtes Selbst) und unter Verwendung der je mitgeteilten Lebenskontexte. Bei der Durchsicht der Protokollmaterialien zeigte sich, daß die Selbstdeutungen sich in vier groben Klassen (Typen oder Mustern) ordnen lassen, nämlich:
  • [132:159] Die Beschreibung des Selbst als ein vorwiegend antriebsgeleitetes, die Impuls-Charakteristik steht gleichsam naiv im Vordergrund, ohne unter dem Blickwinkel der
    Anderen
    reflexiv vergegenständlicht zu werden.
  • [132:160] Eine eher
    konforme
    Selbstbeschreibung, in der ein Ausgleich zwischen egozentrischem Selbstkonzept mit den verallgemeinerungsfähigen Erwartungen des sozialen Umfeldes möglich zu sein scheint, allerdings ohne daß die Impuls-Komponenten des Selbst erkennbar reflexiv zum Gegenstand der Rede werden.
  • |A 63|
  • [132:161] Ein
    unsicheres
    Bild von sich selbst. Es schwankt noch hin und her zwischen Antriebs- und Erwartungskomponenten. Diese Jugendlichen ahnen offenbar die Schwierigkeit, die darin liegt, einerseits sich ein deutliches Bild von sich zu machen, andererseits dieses aber auch in einer sozial verträglichen Weise zu relativieren und so in die zwischenmenschliche Verständigung einzubringen, daß ein Übergang in eine folgende oder weiterentwickelte Form von Selbstkonzept noch nicht problemlos in Sicht ist.
  • [132:162] Ein
    eigenständiges
    Bild von sich. Diese Jugendlichen scheinen (!) auf dem entwicklungslogisch (vgl. Kegan a. a. O.) erwartbaren Stand innerhalb unserer Kultur zu sein. Sie bringen eine reflexiv-distanzierende Sicht auf sich zur Darstellung, können sich selbst deshalb auch kritisieren; allerdings nicht problemlos, besonders in interpersonellen Beziehungen. Jedenfalls aber scheinen sie am ehesten die Entwicklungsaufgabe zu sehen, der sie konfrontiert sind.
[132:163] Mit jedem dieser Selbstdeutungsmuster sind nicht nur entwicklungs- und selbstthematische theoretische Annahmen verknüpft, sondern auch praktische Fragen. Jedes Muster (jeder
Typus
) macht je besondere Überlegungen nötig im Hinblick darauf, welche Art pädagogischer Unterstützung sinnvoll sein könnte. Um hier schon einen später ausführlicher zu kommentierenden Befund vorwegzunehmen: Die zunächst, nach den üblichen pädagogischen Standard-Erwartungen, so sympathisch anmutenden
Eigenständigen
neigen zu selbstdestruktiver Devianz, gehören moralisch eher zu den an
Gleichberechtigung
Orientierten und im Körperbild eher zu den
Empfindlichen
. Derartige Fragen – und sie zeigen eine ziemlich problemhaltige Mischung an – sollen später diskutiert werden. Hier genügt es vorerst, darauf hinzuweisen, daß jedes Selbstdeutungsmuster in sich je besondere pädagogisch-praktische Problemstellungen verbirgt. Andernfalls wäre es schwer verständlich – und darauf muß hier immer wieder hingewiesen werden –, daß es sich bei allen 70 Jugendlichen, von denen hier die Rede ist, um solche handelt, die mit ihren Entwicklungs- und Bildungskarrieren, mit den Institutionen formeller Sozialkontrolle, mit sich selbst und anderen also in schwierige Konflikte geraten sind. Daß sie gelegentlich in ihren Selbstdeutungsmustern auch den Selbsterfahrungen der wissenschaftlichen Berichterstatter ziemlich nahe kommen, darf nicht darüber täuschen, daß, für diese Jugendlichen, darin ein besonderes
Leiden an der Gesellschaft und gesellschaftliches Leiden
(Dreitzel 1968) zum Ausdruck kommt (quantitative Verteilungen vgl. Anhang).
|A 64|

Das antriebsgeleitete Selbst

[132:164] Das Selbstreflexionsvermögen ist bei diesen Jugendlichen vergleichsweise niedrig ausgeprägt. Zu welchen Anteilen des Selbst sie in Distanz treten können, ist deshalb kaum erkennbar. Ihr Bild von sich besteht überwiegend aus harten Kontrasten; wenn Stimmungen bzw. Zustände, Befindlichkeiten und Affekte beschrieben werden, dann handelt es sich zumeist um Zustände von Lust oder Unlust, Langeweile und Spannung, Wut und
Genervtsein
; man vermißt feinere Zwischentöne und Abstufungen. In ihren Beschreibungen bedienen sich diese Jugendlichen überwiegend mechanisch-technischer Metaphern:
viel zu aufgedreht gewesen
,
zudröhnen
,
eine ballern
,
der kriegt ’ne Abfuhr
,
gut bei abgefahren
. Die Darstellungen von Interaktionen folgen oft dem Muster von Reiz und Gegenreaktion:
[132:165]
Dann, ja, Erzieher kriegen dann immer das meiste ab. Wenn die mich, was weiß ich, belehren wollen oder irgendwie sauer machen, dann kann ich mich da immer gut dran ablassen.
(12/18/m)
[132:166] Facettenarm sind auch, bei näherem Nachfragen, die Begründungen des eigenen Handelns; das Ich steht selten unter dem Druck, zwischen mehreren Handlungsalternativen entscheiden oder moralische Prinzipien abwägen zu müssen. Häufige Begründung für den Entschluß, etwas zu tun oder zu unterlassen, sind Unlust und Lust. Ein siebzehnjähriger Junge z.B. begründet sein häufiges Schuleschwänzen so:
  • I:
    [132:167] Wieso bist du nicht zur Schule gegangen?
  • J:
    [132:168] Keinen Bock gehabt. Pauker.
  • I:
    [132:169] Waren die für dich zu nervig, die Pauker?
  • I:
    [132:170] Ja. Wenn man älter wird, dann hat man eben keine Lust mehr zur Schule.
  • I:
    [132:171] Bist du nicht mehr hingegangen.
  • J:
    [132:172] Nee.
  • I:
    [132:173] Was war das Nervige an den Paukern?
  • J:
    [132:174] Mach’ mal dies, mach’ mal jenes. Haste nicht gesehen, mach’ mal. ... Darauf hab ich keinen Bock. (22/17/m)
[132:175] Schuldgefühle gegenüber anderen, Gewissensbisse sind selten. Das Ich ist vordergründig immer Herr der Lage. Das beschriebene Selbst gewinnt seine Kontur erst bei Erläuterungen von aufregenden, selbst inszenierten Handlungen. Es ist das aktive Ich, das im Mittelpunkt der Selbstbeschreibungen steht. Intensive Spürenserfahrungen sind hauptsächlich mit lustvollen Tätigkeiten und abenteuerlichen Eskapaden verbunden.
[132:176] Im Hinblick auf soziale Kontexte sehen sie sich selbst eher als Einzelgänger, die mit sozialen Regeln und Interaktionserwartungen Schwierigkeiten haben:
|A 65|
[132:177]
Freunde in dem Sinne hatt’ ich nie gehabt. Auch keine Spielkameraden. Ich bin immer meinen eigenen Weg gegangen. Das war auch das Beste so.
(14/17/m)
Bin mehr Einzelgänger. Ist auch geiler. ... Keine Sorgen mit anderen.
(22/17/m)
[132:178] Um in zwischenmenschlichen Kontakten nicht enttäuscht zu werden, geht man lieber gleich auf Distanz:
  • I:
    [132:179] Und hattest du mal einen Freund, dem du alles erzählen konntest?
  • J:
    [132:180] Ja. Hatte ich schon mal, ja. Aber zur Zeit nicht. Nee, will ich auch gar nicht mehr haben. ... Ja, wo dann meine schlimme Zeit kam, wo ich dann Scheiß gebaut hab, wollten die auf einmal nichts mehr von mir wissen, ne. Und das ist für mich kein Freund. Der geht dann mit mir durch dick und dünn. Ich bin noch nie von jemandem abhängig gewesen, jedenfalls noch nicht in der Form. (14/17/m)
[132:181] Andererseits beurteilen diese Jugendlichen auch sich selbst nicht gerade als zuverlässige Partner in sozialen Beziehungen:
  • I:
    [132:182] Hast du ’ne Freundin?
  • J:
    [132:183] Nee, nicht mehr! Na, das klappt bei mir irgendwie länger nicht so!
  • I:
    [132:184] Und wie muß die sein, damit’s länger klappt?
  • J:
    [132:185] Äh – nicht so anhänglich. Ich mein’, wo man auch mal ’n Monat nicht hingehen kann, ne. Wo man überhaupt nix, überhaupt nicht Bescheid sagen muß. Die ist muffig, wenn man nicht kommt, hab ich auch keine Lust. ... Das ist echt schlimm, ... die rufen jeden Tag an, eh! Bestimmt drei- oder viermal am Tag. Kommen vorbei, auch wenn man sich’s anders überlegt hat – das ist schlimm. ... Ja, wenn man auch in die Disco hingeht – die können das nicht verstehen, wenn man nicht ... hinter denen herdackelt, ne! Naja, bin ich meist viel alleine. (3/18/m)
[132:186] Es fällt ihnen schwer, ihre Erwartungen an andere, ihnen nahestehende Personen mitzuteilen und soziale Rollen sowie Regeln im gegenseitigen Umgang auszuhandeln. Sie erleben Interaktionen zwischen sich und ihren Eltern und Erziehern stärker symmetrisch als komplementär, sich ergänzend. Weil ihnen (und, so läßt sich vermuten, auch ihren Eltern) oft diese Interaktionskompetenzen fehlen, sind sie in bezug auf befriedigende zwischenmenschliche Beziehungen eher pessimistisch. Hoffnungen auf positive Veränderungen scheinen sie sich kaum zu machen:
  • I:
    [132:187] Aber nach Hause, willst du irgendwann wieder richtig nach Hause?
  • J:
    [132:188] Wieso – richtig, nö! Das ist vorbei, hat sich erledigt.
  • I:
    [132:189] Und wieso hat sich das so kraß erledigt? Das hört sich so an, als wenn da irgendwas passiert ist.
  • J:
    [132:190] Ja, weil, wenn meine Mutter was trinkt oder was, dann labert se mich auch immer voll, was weiß ich nicht. Jetzt auch, hatt’ ich auch was getrunken, und dann hab ich mich fast mit ihr geschlagen und so. Da ging se mit ’ner Colabuddel auf mich los und was weiß ich nicht, ne. (12/18/m)
[132:191] So wie bei diesem Fall erscheinen in den Augen der Jugendlichen viele ihrer zwischenmenschlichen Kontakte durch bestimmte Interaktionsmuster als festgefahren; ein anderer beschreibt die Schwierigkeiten mit seinen Eltern so:
|A 66|
  • I:
    [132:192] Und warum bist du da (ins Heim) reingekommen?
  • J:
    [132:193] Na, weil ich da in B. wieder von der Schule geflogen bin, ja, und da gab’s schon wieder Ärger mit meinem Vater, und der konnte auch mit Schlägereien nichts mehr machen. Und da hab ich, wieder zurück und ... seinen Autoreifen kaputtgestochen. Da sind wir erst zu ’ner Beratungsstelle hin, aber der konnte, nach ’n paar Wochen meinte der auch, das bringt nichts mehr. Ja, und da hab ich mit meinen Eltern geredet, und die meinten immer: du kommst ins Heim, du kommst ins Heim! Und nun hatte ich ja ’n paar Freunde aus’m Heim, und die haben dann gesagt: ja, laßt uns mal hingehn, zum Jugendamt. Bin ich mit denen hingegangen zu dem Sozialarbeiter. Mit dem geredet, und der ist dann zu meinem Eltern hingegangen, hat der mit denen gesprochen, und da waren die auch, dann kommt er ins Heim. Und da dachten sie erst, so die erste Woche würd’ ich irgendwie sagen: Bitte nicht! Bitte nicht! Wo sie dann kapiert haben, daß ich selber rein will, ham sie erst mal nichts mehr gesagt. (3/18/m)
[132:194] Die zwischenmenschlichen Verhandlungsspielräume scheinen eng begrenzt zu sein. Man wünscht sich, daß die gegenseitigen Erwartungen möglichst niedrig und überschaubar sind. Derselbe Jugendliche formuliert die zwischenmenschlichen Erwartungen so:
  • I:
    [132:195] Was erwarten die Erzieher von dir?
  • J:
    [132:196] Tja, daß ich meine Lehre zu Ende mache. Das erwarten sie. Ja, und daß ich keinen Mist mehr baue. Das wär’s eigentlich. Also machen kann ich sonst, was ich will.
  • I:
    [132:197] Was erwartest du von den Erziehern?
  • J:
    [132:198] Daß sie mich in Ruhe lassen! Ja, und daß sie da sind, wenn ich sie mal brauche. Aber sonst, eigentlich auch nicht viel. (3/18/m)
[132:199] Sie kommen am besten mit Erziehern klar, die einen
kumpelhaften
Umgangsstil pflegen. Die Beziehungen zu Gleichaltrigen sind in ihren Augen im wesentlichen nach zwei Beziehungsmustern gestrickt. In Beschreibungen von institutionellen Kontexten dominiert das Schema Hierarchie:
  • I:
    [132:200] Versuch’ einfach mal so’n bißchen von dem Heim zu erzählen. Wie war das für dich?
  • J:
    [132:201] Ja, es war eher so, Rangordnung mußte erstmal festgestellt werden, da, ne, also wer der Stärkere ist. So, was weiß ich, wenn da ’n Neuer kommt, das hab ich dann auch so später mitgekriegt, dann wird der erstmal niedergemacht und so. Und mit der Zeit bauste dir das da so auf ... ich hab mir die Stärksten zu Freunden gemacht. (12/18/m)
[132:202] Die Gleichaltrigen-Kontakte außerhalb der Institutionen Schule und Heim basieren zumeist auf der Vorstellung wechselseitiger materieller Hilfe, eines nicht psychisch verstandenen Tauschs nach dem Muster
do ut des
:
  • I:
    [132:203] Und ein guter Freund, wie müßte der für dich sein?
  • J:
    [132:204] Ouh! Der dürfte von mir nie was verlangen. Außer wenn ich ihm was leihen tue, und wenn er das wieder zurückgibt. Und wenn er nicht andauernd kommt: Gib’ mal das, haste mal das. Das kann ich zum Tode nicht ab. Aber mit meinem Bru|A 67|der komm’ ich klar. Weil, hab ich nichts, gibt er mir was. Hat er nichts, geb’ ich ihm was. (22/17/m)
[132:205] In ihrem Selbstwertgefühl schwanken die Jugendlichen sehr stark. In normalen institutionellen Kontexten fühlen sie sich unsicher und beurteilen ihr Leistungsniveau als eher niedrig:
Da (in der Schule) bin ich immer ziemlich, ganz turboschlecht
(33/15/m). Ganz anders beschreiben sie sich in peer-group-Kontexten, in denen sie als Gleichberechtigte oder Überlegene geschätzt werden.
[132:206] Innerhalb der Gesamtgruppe der Befragten haben diese Jungen und Mädchen die meisten Schwierigkeiten mit den Erwartungen ihres sozialen Umfelds. Ihr persönliches Konzept scheint insbesondere durch die folgenden Tendenzen geradezu auf Konflikte angelegt zu sein: dichten sozialen Beziehungen möglichst aus dem Weg gehen, Streben nach größtmöglicher Autonomie, seine Interessen nach Möglichkeit durchsetzen, taktisches Verhalten gegenüber Autoritäten, Rangordnungen ausfechten.
[132:207] Den Lebensplan dieser Jugendlichen könnte man mit Sätzen beschreiben wie
man muß sich durch’s Leben schlagen
oder
man muß sich immer irgendwie durchboxen
. Sie streben nach Lebenssituationen, in denen man möglichst unabhängig von anderen und ihren lästigen Interaktionserwartungen ist. Wenn man schon in sozialen Beziehungen immer wieder betrogen oder benachteiligt wird, dann möchte man im Äquivalententausch zu seinem Vorteil kommen. Geld (und der Besitz eines Autos) scheint in der Phantasie dieser Jugendlichen mehreres zu bündeln: Unabhängigkeit von lästigen Erwartungen und Verstrickungen, Stärke, Macht und Anerkennung sowie Erkaufen von
Freundschaften
. Wünsche dieser Art sind typisch:
[132:208]
Reichtum natürlich, eigene Firma – Ferrari, Lamborghini, Corvette – und ’ne Menge Frauen ...
(22/17/m), oder
auszusehen wie Arnold Schwarzenegger, ’ne Menge Kohle in der Tasche, ich will immer mit meiner Freundin zusammenbleiben
(14/17/m), ein anderer wünscht sich:
Ja, im Lotto gewinnen, über 10 Millionen würden mir reichen! ... daß ich bald meinen Führerschein mache, irgendwie bestehe. Ja – ’n Lamborghini ... hier noch ’n Spielcasino. Das wär’s natürlich.
(3/18/m)
[132:209] Allerdings sind sie gelegentlich durchaus in der Lage, ihr Begehren, welches sich in derartigen Phantasien ausdrückt, in etwas pragmatischere Lebensziele zu transformieren, z. B.:
  • I:
    [132:210] Und was stellst du dir so für die Zukunft vor?
  • J:
    [132:211] Also, so viel Gedanken hab ich da eigentlich auch nicht. Ja, daß ich eine Lehr stelle kriege. ... Ja, vernünftigen Job später kriege, auf eigenen Füßen stehen kann, ohne daß da irgend jemand anders mir was erzählt oder was. (12/18/m)
[132:212] Den Wunsch nach einer Familie rücken sie meist in eine ferne unbestimmte Zukunft.
|A 68|

Das konforme Selbst

[132:213] Im Vergleich zur ersten Gruppe beschreiben Jugendliche, die dieses Muster bevorzugen, sich wesentlich kritischer. In den Äußerungen wechseln sie häufig die Perspektiven, mal reden sie von sich in der ersten Person und beschreiben in den sozialen Lebenskontexten ihre Erwartungen und Absichten, mal werden die eigenen Motive gleichsam in einer Wir-Form verlängert, um dann aus der Perspektive eines Außenstehenden beurteilt zu werden:
  • J:
    [132:214] Wenn man was nicht verstanden hat oder so, wenn man sich da gemeldet hat und so, daß die Lehrer dann zu einem nicht hinkamen, da war ich überhaupt nicht mit einverstanden. Da hatten wir auch damals ziemlich oft Krach gemacht, na, der hauptsächliche Anstifter war ich!
  • I:
    [132:215] Mhm, und was habt ihr da so gemacht?
  • J:
    [132:216] Och, Kleber auf die Stühle gepappt und Reißzwecken ... Türklinken mit Zahnpasta vollgeschmiert, das waren damals unsere Streiche. ... Mache ich auch heute noch gern. (2/16/m)
[132:217] Beschreibt sich der vorangegangene Selbstdeutungstyp häufig als Einzelgänger, so sind diese Jugendlichen bemüht, gleichsam die Einsamkeit der (erzählerischen)
Ich-Form
durch die Herstellung von Gruppenkonformität stellenweise aufzuheben. Die eigene Person wird innerhalb der Selbstdeutungen stärker in soziale Beziehungskontexte eingebunden. Die
man
- und Wir-Form wird vergleichsweise häufig verwendet, z. B. in Zusammenhang mit der Beschreibung von Tätigkeiten in Gleichaltrigengruppen oder gemeinsamen Erlebnissen mit Erziehern, aber auch im Hinblick auf familiären Konsens:
[132:218]
Der (Vater) hat meine Schwester auch beleidigt und so, und da wollt’ ich zuerst nichts mehr mit ihm zu tun haben, also fahren wir da auch nicht mehr hin und rufen auch meistens nicht mehr an.
(5/16/m)
[132:219] Sie können sich in bezug auf ihre körperlichen und handwerklichen Kompetenzen und Schwächen relativ gut beschreiben, aber auch hinsichtlich ihrer Interaktionserwartungen und Antriebe. Im Unterschied zu der ersten Gruppe, bei der das Selbst seine Kontur durch das Spannungsverhältnis zwischen eigenen Antrieben und Konventionen bzw. Verboten gewinnt, erhält das Selbstbild dieser Jugendlichen seine Umrisse durch das Finden von Gemeinsamkeiten und Orientierung an Konventionen oder Vorbildern.
[132:220] In den institutionellen Lebenszusammenhängen neigen diese Jugendlichen dazu, sich als
willens- oder antriebsschwach
zu deuten; um nicht in Trägheit oder den verlockenden Versuchungen von außen zu verfallen, wünschen sie sich die Unterstützung von starken Erziehern:
[132:221]
... also ich brauch’ ’n Abschluß, sonst krieg’ ich schlechte Berufe. Da brauch' ich den Abschluß, und die Erzieher, die helfen mir dabei. Die wollen auch immer, ich |A 69|will zwar nicht, da hab ich keine Lust, deswegen, dann ... das fängt jetzt so an wie früher. Darum helfen die mir auch dabei und geben mir Druck meist, daß ich das machen muß. Also die sagen zwar: du mußt es nicht, aber die sagen’s dann: mach’, das ist besser für dich! Und dann mach’ ich das auch.
(5/16/m)
[132:222] Die Kontrolle der eigenen Antriebe und vitalen Bedürfnisse wird, besonders wenn sie mit sozialen Rollen im Widerspruch stehen, zu einem wichtigen Thema. Dennoch gelingt die Affektbeherrschung nicht immer, aber im Unterschied zur ersten Gruppe zeigen sie mehr Schuldgefühle:
[132:223]
Weil, was ich nicht wollte, daß ich ihm dann irgendwie zwischen die Beine getreten hab, was ich absolut nicht wollte, wo ich mich dann auch entschuldigt für hab, und dafür hab ich auch tierisch eine geknallt gekriegt ... aber ich hab mich danach entschuldigt.
(8/15/w)
[132:224] Die Jugendlichen bemühen sich offensichtlich, die Erwartungen, die andere, insbesondere ihre Erzieher, an sie richten, zu erfüllen. Sie sind zwar in der Lage, verschiedene Interessen aufeinander abzustimmen, aber mit dem gemeinsamen Aushandeln von verbindlichen Regeln scheinen sie überfordert zu sein. Für sie sind Regeln mehr noch von außen gesetzte Gebote, die autoritär aufrechterhalten werden müssen. Gemeinschaft ensteht bei ihnen dort, wo sich die Beteiligten an die Regeln halten. Sie beurteilen soziale Unstimmigkeiten aus der Position der Autoritäten:
[132:225]
Und das war echt ’ne ideale Gruppe. Da haben alle Kinder gehört, ne. Und jetzt ist das so, daß die Kleinen große Schnauze haben gegenüber den Erziehern, daß sie se mit Wörtern beschimpfen. ... Und das ist im Moment, was mich aufregt an den Kids.
(8/15/w)
[132:226]
Also, die (Erzieher) müssen auch mal streng sein. Weil meist hören wir auch nicht, gar nix! Das ist hier wirklich, also da machen die Erzieher schon Ausnahmen, und die wollen immer noch nicht.
(5/16/m)
[132:227] Das Leistungsmotiv der Jugendlichen könnte man mit der von ihnen häufig selbst verwendeten Formel bezeichnen:
ich will mich bessern
. Demgemäß schildern sie ihre Biographie als eine kontinuierliche Bewegung, in der es mal bergab, mal bergauf geht, die aber in ihrer Tendenz steigend ist:
[132:228]
... ich laß’ mich gern ablenken, hab auch gern Knepe (Streiche) gemacht, aber ich hab immer mitgemacht. Also in der Grundschule ging’s total gut und so, als ich denn hierher gekommen bin, da ging’s abwärts. ... Und da bin ich jetzt in der 8. Klasse und sollte jetzt eigentlich abgehen, weil ich hab ziemlich viel Knepe gebaut gehabt, und das hat sich jetzt ja geändert, also daß ich besser geworden bin und so, und daß se mich dann doch noch länger nehmen in der Schule ... also ich mach’ die 9. und dann geh’ ich ab.
(8/15/w)
[132:229] Die Koordinaten im eigenen Lebenslauf sind einerseits die alten, abweichenden Verhaltensweisen, von denen man sich wegbewegen will, und konventionelle Verhaltensnormen und normative Leistungsstandards, |A 70|die man erreichen will. Irgendwo dazwischen befindet man sich, der eigene Standpunkt berechnet sich nach dem Maßstab, dem Grad der Anpassung an Verhaltenserwartungen und dem Erfolg hinsichtlich der
institutionellen Karriere
. Das Selbstwertgefühl hängt damit zusammen, inwieweit es gemessen am Ziel Fortschritte oder Rückschritte gegeben hat.
[132:230] In ihren persönlichen Zukunftsvorstellungen orientieren sich diese Jugendlichen an konkreten Normalitätsentwürfen, in der die Familie oder feste, verläßliche Partnerschaften, traditionelle Berufe und materielle Sicherheit den größten Stellenwert einnehmen. Hier ein paar Beispiele:
[132:231]
Ich möchte auf jeden Fall nicht so enden wie meine Mutter. Das hab ich mir vorgenommen. So, daß, jeden Tag ’n andern Freund. Ich meine, man kommt jetzt in das Alter, wo man ’ne feste Beziehung haben will. Und nicht daß man jeden Tag ’n andern Freund hat und so. Sondern – das, was ich da so mitgekriegt habe von meiner Mutter, ... so will ich auf jeden Fall nicht enden. Ich will ganz normal leben, ’ne vernünftige Arbeit haben, und irgendwann dann später auch mal zwei Kinder.
(8/15/w)
[132:232] Ein anderer Jugendlicher möchte
’ne Lehre machen ... und nach ein bis zwei Jahren wieder nach Hause zurück, ... daß ich ’ne Arbeitsstelle krieg’, ’ne Wohnung ... daß ich ’n Auto krieg’ und daß ich heirate.
(5/16/m)
[132:233] Ein Mädchen wünscht sich für ihre Zukunft,
... daß ich zu meinem Freund darf, daß ich ihn heiraten darf. ... Ich will Kindergärtnerin werden, weil ich mit kleinen Kindern gut auskomme.
(53/16/w)
[132:234] Ein Sechzehnjähriger will
hauptsächlich nach Hause ..., meine Arbeit machen, also meine Lehre, bei meiner Mutter ’n bißchen anpacken
und später
Koch werden, eine liebe Frau heiraten, Kinder haben und keine Scheiße mehr machen.
(2/16/m)
[132:235] Ein anderer Heranwachsender erhofft sich für später
... eine Wohnung, ein Auto und Geld. ... In fünf bis sechs Jahren eine eigene Familie haben mit Kindern, ... eine eigene Wohnung, Bett, Sessel, ’ne Anlage ... auf’m Dorf, wenn’s geht.
(18/17/m)

Das unsichere Selbst

[132:236] Im Vergleich zu den ersten beiden Mustern ist bei diesem das Selbstreflexionsvermögen stärker ausgeprägt. Die Jugendlichen können sich differenzierter beschreiben, vor allem im Hinblick auf Stimmungen, Gefühle und innere Spannungen. Auch das Sprachvermögen ist vergleichsweise gut ausgebildet. Man ist sich seiner Interaktionserwartungen stärker bewußt. Das klingt jedoch weniger problematisch, als es ist. Zwar können sie sich in ihren Selbstbeschreibungen gelegentlich von konkreten zwischenmenschlichen Situationen lösen und verallgemeinernde Selbstaussagen treffen; zwar sind sie bisweilen in der Lage, sich in Le|A 71|benssituationen von anderen wiederzufinden oder sich von ihnen abzuheben. Ihre Deutungen aber sind immer noch von einer vorwiegend
ichbezogenen
Sichtweise geprägt. Einer siebzehnjährigen Heranwachsenden z. B. fällt es schwer, ein von ihrer Situation abstrahiertes Freundschaftskonzept zu entwerfen, es gelingt ihr aber, ihre persönlichen Erfahrungen und Erwartungen an vertraute zwischenmenschliche Beziehungen stärker zu verallgemeinern:
  • I:
    [132:237] Wie stellst du dir ... einen idealen Freund vor?
  • J:
    [132:238] ... Naja, so wie ich ihn jetzt habe.
  • I:
    [132:239] Und wie ist der jetzt?
  • J:
    [132:240] Also sieht gut aus, hat einen guten Charakter. Weiß ich nicht, aber ich bin immer zu anhänglich. Bei den Heimkindern ist das, also, die sind anhänglicher als andere.
  • I:
    [132:241] Was meinst du mit
    anhänglich
    ?
  • J:
    [132:242] Ja, weiß ich nicht, wenn man gern viel in den Arm genommen werden muß. (17/17/w)
[132:243] Im konformen Muster waren die Selbstentwürfe durch konventionelle Orientierungen geprägt. Diese Jugendlichen hingegen setzen sich zwar mit den sozialen Erwartungen, die man ihnen entgegenbringt, auseinander, sie können sich aber mit ihnen nur teilweise identifizieren oder lehnen sie sogar ab, wie das folgende Beispiel zeigt. Es handelt sich um eine Sechzehnjährige, die mit ihrer Mutter erhebliche Schwierigkeiten hat:
  • J:
    [132:244] ... das hat dann überhaupt nicht mehr funktioniert. Weil, die hat mich immer verglichen mit meiner Schwester. Hat immer, guck’ dir mal an, wie die in der Schule ist und so. Guck’ dich an, du bist nur unterwegs und so. Guck’ mal. Das hat mich tierisch aufgeregt. Und dann hab ich überhaupt nichts mehr gemacht.
  • I:
    [132:245] War das denn berechtigt, daß deine Mutter das gesagt hat?
  • J:
    [132:246] Nee, ich find’, das war überhaupt nicht berechtigt. Weil, jeder ist doch irgendwie anders. Jeder kann doch nicht so schlau sein wie meine Schwester. Ich mein’, wenn ich das Zeug nicht habe, so weit zu gehen, dann ist es doch o.k. (16/15/w)
[132:247] Andererseits fällt es diesem Mädchen schwer, den Zumutungen der Mutter etwas entgegenzusetzen, sie übernimmt die Vorstellung der Mutter und wünscht sich,
daß ich das packe mit meinem Abi und daß es meiner Mutter gut geht, also der ganzen Familie
. Das in dem Zitat angedeutete
Anderssein
kann sie, bezogen auf sich selbst, nicht näher bestimmen. Auch im Hinblick auf außerfamiliäre Zusammenhänge ist dieses Mädchen nicht in der Lage, ein konsistentes Bild von sich, in dem sowohl die sozialen Erwartungen als auch ihre eigenen Motive aufgehoben sind, zu entwerfen und mit anderen abzustimmen.
[132:248] Das allgemeine Problem innerhalb dieses Musters scheint die Divergenz von subjektiver Selbstauffassung und sozialem Konzept zu sein: sie scheinen sich in dem Entwurf, den andere sich von ihnen machen und mit dem sie konfrontiert werden, nicht wiederfinden zu können; so wie diese Jugendlichen von anderen gesehen zu werden glauben, wollen sie |A 72|nicht sein, aber ein anderer Selbstentwurf, ein persönliches Konzept, das sich von den sozialen Verhaltenszumutungen absetzt, gelingt ihnen kaum. Man könnte dies als typische Identitätsprobleme deuten, wie sie für dieses Lebensalter üblich sind. Dieser Jugendhilfeklientel allerdings fällt es besonders schwer, diese Aufgabe zu lösen. Weil sie die soziale Ablehnung ihrer Familien erfahren haben und in ihrer Bildungsbewegung, in der Entfaltung ihrer eigentümlichen Kompetenzen und Neigungen zu wenig unterstützt wurden, ist ihr Selbstbild stärker mit Selbstzweifeln und Gewissenskonflikten behaftet. Sie neigen stärker zu selbstdestruktiven Verhaltensweisen. In ihrer Vorstellung divergieren die eigenen Antriebe und Interessen zwar teilweise von den an sie gestellten Erwartungen, aber im Unterschied zum ersten Selbstdeutungstyp sind heftige Schuldvorwürfe und Selbstunzufriedenheit, die wie beim folgenden Fallbeispiel sogar zu Verzweiflungstaten führen können, ein weiteres Merkmal ihrer Selbstbeschreibung:
[132:249]
Das war der Grund, ... warum ich Selbstmordversuch gemacht habe. Weil ich halt erstens sauer auf mich selber war, daß ich das, was ich mir geschworen habe, gebrochen habe und dann doch wieder angefangen hab zu klauen. Weil, ich war selber enttäuscht von mir, ... ich wollte mich praktisch selber nicht mehr sehen. ... Ich konnte mich halt selbst nicht mehr ertragen. Ich kam mir selber schmutzig vor, verdreckt ... es klappte nicht mehr.
(49/23/m)
[132:250] Die Jugendlichen, die sich dieser Gruppe zuordnen lassen, fühlen sich von mindestens einem Eltetnteil oder anderen ihnen nahestehenden Personen abgelehnt und sehen sich von ihrer näheren sozialen Umgebung negativ etikettiert:
[132:251]
Meine Mutter schämt sich mit mir. ... Dann sagt sie, ich lauf’ schlampig rum und so.
(17/17/w)
[132:252]
Das hat mir dann völlig gereicht. Weil meine Mutter immer zu mir sagte
Straßennutte
und so, obwohl ich gar nicht mit wem geschlafen hab.
(16/15/w)
[132:253]
Er hat mir gesagt, wo ich zehn oder elf war, ... ich wär’ schuld, daß meine Mutter gestorben ist. Und das wär’ ich gar nicht wert, daß so 'ne tolle Frau für mich gestorben ist. Und deswegen – dann hat er gesagt, ich wär’ nicht seine Tochter, vor anderen Leuten.
(27/19/w)
[132:254] Sie stehen vor folgendem Dilemma: einerseits wünschen sie sich soziale Anerkennung durch Eltern, Lehrer und Erzieher, andererseits fühlen sie sich von deren Verhaltens- und Leistungsanforderungen beengt und haben Angst, daß sich die anderen enttäuscht von ihnen abwenden. Weil diese Jugendlichen noch nicht oder nur ansatzweise in der Lage sind, eigene Normen und
Ich-Projekte
zu entwickeln und gegenüber ihren Erziehern oder Eltern zu behaupten, gelingt ihnen selten ein befriedigender Selbstentwurf. Einige übernehmen sogar die Perspektive ihrer Bezugspersonen, beurteilen sich als Versager und geben sich in sozialen Konflikten die Hauptschuld:
|A 73|
  • I:
    [132:255] Jetzt so im nachhinein: haben sich dein Onkel und deine Tante (Ersatzeltern) richtig verhalten oder hätten die was anderes machen sollen?
  • J:
    [132:256] Ich hab mich falsch verhalten, nicht die! (27/19/w)
[132:257] Das Deutungsmuster
ich werde von anderen nicht angenommen
hat sich bei einigen derart verfestigt, daß sie sich selbst als Außenseiter sehen oder in ihren sozialen Kontakten mit einer ständigen Unsicherheit zu kämpfen haben, wie der folgende Fall:
  • I:
    [132:258] Gibt’s denn irgendwas, was dir an deiner jetzigen Situation nicht so gut gefällt?
  • J:
    [132:259] Jaa – ich weiß nicht, vielleicht, daß mich manche immer noch nicht so akzeptieren, wie ich eigentlich bin oder so. Weil nämlich damals in der Schule, da waren auch ewig irgendwelche Jungs da, die mich ewig geärgert haben, ewig immerzu, ... hab mich auch schon mal da mit jemandem prügeln müssen und sowas alles. Immer nur ich krieg’ das alles ab, ey. Irgendwie muß ich irgendwas an mir haben, irgendwas. Ich weiß selbst nicht, was das ist. (56/22/w)
[132:260] Andere wiederum versuchen, ihren Außenseiterhabitus zu kultivieren:
  • J:
    [132:261] Ich bin dann auf die Realschule gekommen, denn hab ich angefangen, Schwarz zu tragen, war dadurch schon immer ein, irgendwo ’n Außenseiter.
  • I:
    [132:262] Wieso haste Schwarz getragen?
  • J:
    [132:263] Weiß ich nicht, einfach weil ich Lust drauf hatte, anders zu sein als die andern. Warum so aussehen wie alle. ... Schwarz trägt im Prinzip auch keiner. (27/19/w)
[132:264] Im Unterschied zu den Jugendlichen, die sich als konform oder antriebsgeleitet beschreiben, sind bei diesen die Ansprüche und Vorstellungen von gegenseitigem Verstehen und Empathie in zwischenmenschlichen Beziehungen wesentlich stärker ausgeprägt. Dennoch besteht eine ihrer Hauptschwierigkeiten darin, sich mit anderen über die wechselseitigen Erwartungen zu verständigen. Sie fühlen sich häufig von Erwachsenen und Gleichaltrigen übergangen und nicht ernst genommen. Institutionell geprägte Umgangsformen können sie am wenigsten akzeptieren:
[132:265]
Ich hab mir vorgestellt, die (Erzieher) reden mit einem, wenn du irgendwelche Probleme hast und so. Ich habe irgendwie das Gefühl gehabt, die haben nur ihren Dienst gemacht. ... Ich konnte nicht mit denen sprechen, wenn ich irgendwie nicht mehr klargekommen bin. Ging’s dann auch nur so, ja. Dienst, Feierabend, Schluß, jetzt geh’ ich.
(16/15/w)
[132:266] Fast alle Jugendlichen dieser Teilgruppe fühlen sich in ihren sozialen Beziehungen enttäuscht, weil ihre Eltern, Erzieher und Freunde kein Verständnis für ihre Schwächen und persönlichen Neigungen zeigen. Ihr größter Wunsch ist es, von ihnen vorbehaltlos angenommen zu werden. Sie wünschen sich Partner, die unabhängig von Verhaltens- und Leistungserwartungen zu ihnen stehen können und sie unterstützen:
[132:267]
’Ne beste Freundin soll für mich so aussehen, daß ich mit ihr über alles reden kann, daß sie mir auch mal Bescheid sagt, aber nicht so doll runtermacht und mich auch nicht verändern will. ’Ne beste Freundin soll so aussehen, daß sie mich akzeptiert, so wie ich bin.
(56/22/w)
|A 74|
[132:268] Weil sie die Bestätigung und Motivation durch andere vermissen, so läßt sich vermuten, fehlt ihnen in Unterricht und Ausbildung die Zuversicht und der nötige Ehrgeiz. Selbstunsicherheit und Selbstunterschätzung scheinen das Hauptproblem dieser Teilgruppe in den Bildungseinrichtungen zu sein. Wie das folgende Beispiel zeigt, neigen sie dazu, frühzeitig aufzugeben, und schwanken zwischen Selbstvorwürfen und Kritik am Lehrerverhalten:
[132:269]
Und das hat dann eben mit der Prüfung hinterher nicht hingehauen, ... da könnt’ ich auch nicht, da könnt’ ich mich auch nicht so ganz aufraffen, dann irgendwie nach dem Motto: ich schaff’s eh nicht. ... Ich hab mich auch nicht getraut, da irgendwie auch noch Klassenkameraden oder sonst wen anzusprechen: könnt ihr mir mal helfen. ... Ich bin da auch mit den Ausarbeitungen, alles nicht hingekommen, auch mit Mathematik, das konnt’ ich überhaupt nicht, das war viel zu schwer. Weil sie davon ausgegangen ist, du mußt alles können, nach dem Motto, du mußt alles draufhaben. Na, ach schön, toll!
(seufzt). (56/22/w)
[132:270] Im Vergleich mit anderen schätzen und stufen sie sich in ihrer Leistungsfähigkeit als deutlich schwächer ein und meinen, den Erwartungen im Beruf nicht standhalten zu können:
[132:271]
Ich war irgendwie viel zu langsam, ich war viel zu lahma-, langatmig, ... mit dem Auszeichner (im Supermarkt) da auch nicht zurechtgekommen. Aber da war eine Frau irgendwie, der hat das absolut nicht gefallen, wie ich das alles da gemacht habe. Und die hat dann erstmal ... Bescheid gesagt, also dann hab ich erstmal voll geweint, ich konnte echt nicht mehr. Ich war so fertig.
(56/22/w)
[132:272] In ihren Augen scheitern sie in Ausbildung und Beruf, weil man ihnen nicht genug Verständnis entgegenbringt und persönliche und vertraute zwischenmenschliche Kontakte aufgrund der in Institutionen üblichen
Förmlichkeit
kaum möglich sind; auch verfügen sie kaum über Interessen oder Tätigkeiten, für die es lohnt, sich einzusetzen und durch die sie sich soziale Anerkennung verschaffen könnten:
Jetzt bin ich voll langweilig geworden, also hänge voll oft hier rum
, resümiert eine Siebzehnjährige (17/17/w).
[132:273] Die Lebenspläne der Jungen und Mädchen sind unkonturiert und z. T. in sich widersprüchlich. Die Labilität scheint daher zu rühren, daß sie beides miteinander vereinen wollen, nämlich die Erwartungen ihrer Eltern oder Erzieher und die Verwirklichung ihrer eigenen Wünsche. Letztendlich können sie aber den Mut nicht aufbringen, Interessen zu entwickeln und in konkretere Pläne umzusetzen. Die Resignation in sozialen Beziehungen scheint sich auch in ihren Zukunftserwartungen niederzuschlagen; ihrer Zukunft sehen sie eher mit gemischten Gefühlen entgegen: hoffnungsvolle Wunschbilder und Selbstdesillusionierung stehen dicht nebeneinander:
[132:274]
Also irgendwo Pläne hab ich absolut nicht. O.k., ich will zwar, wenn ich meinen Führerschein wiederhab’, will ich meinetwegen da zum Reitlehrer wegen Reiten. Ich will jetzt wohl anfangen zu arbeiten, ne. ... Ich hätte gern sowas vielleicht, so Sozi|A 75|alarbeiter oder irgendwie sowas. ... Ich mein', was bleibt einem außer Büro noch großartig übrig? ... Weiß nicht, ich hab irgendwo – wie’s weitergehen soll, da arbeiten, bis ich 65 bin, da hab ich eh kein’ Bock drauf. Am besten nie arbeiten gehen und immer Geld haben.
(27/19/w)
[132:275] Oder:
Ah, ich kann mir noch gar nichts vorstellen eigentlich. Also Hauptsache, ich möcht’ erstmal den Realabschluß haben. Was ich dann lernen will, weiß ich noch gar nicht. ... Vielleicht in der Landwirtschaft oder so. ... Aber ich hab mir gedacht, in Äthiopien da irgendwas zu machen, wenn ich dann nach Afrika gehe. ... Ja, ich hab ihm (ihrem Freund) so gesagt: ich nehm’ dich mit nach Äthiopien. Meint er so: Jo, ich weiß nicht, vielleicht sind das jetzt alles nur Träume. Vielleicht bleiben wir ja gar nicht zusammen.
(16/15/w)

Das eigenständige Selbst

[132:276] Das Niveau dieses Musters der Selbstbeschreibung ist vergleichsweise sehr hoch. Die Jugendlichen scheinen sich in bezug auf ihre Eigenschaften, Verhaltensweisen und Emotionen gut zu kennen, die Selbstbeschreibungen sind aufgrund des sehr guten und metaphernreichen Sprachvermögens nuancenreich. Für ihr Handeln können sie deutlicher als andere Prinzipien und Normen geltend machen. Sie geben sich so, als wüßten sie ungefähr, zumindest für die nahe Zukunft, was sie erreichen und wie sie leben möchten. In dem dargestellten Selbstbild versuchen sie neben der Beschreibung allgemeiner Charakterzüge sich in ihrer Einzigartigkeit herauszustellen. Sie sehen sich selbst aufgrund ihres eigenen Lebensstils, ihrer Zukunftsvorstellungen und persönlichen Werte in Distanz zu konventionellen gesellschaftlichen Erwartungen.
[132:277] Sie beschreiben sich als Personen, die lebenswichtige Entscheidungen nach gründlichem inneren Abwägen selbst treffen und vor anderen auch begründen können. Sie sehen sich selbst als eigenständig handelnde Subjekte. Dennoch gibt es häufig Momente, wo Anspruch auf Selbständigkeit und Wirklichkeit auseinanderklaffen. Wie der folgende Fall zeigt, haben sie aufgrund ihrer hohen Selbsterwartungen oft Schwierigkeiten, sich Unterstützung und Lebenshilfen von ihren Betreuern zu holen:
  • I:
    [132:278] Und wie sieht der Kontakt zu hier (ambulante Jugendhilfestelle) aus, kommst du hier regelmäßig her, läßt du dich beraten oder unterstützen?
  • J:
    [132:279] Mmm – das kann ich hier, glaub’ ich, nicht geboten kriegen. Weil die Hilfe, die ich brauche, die kann ich mir nur selber geben, das weiß A. (Betreuer), deswegen hab ich trotzdem regelmäßig Kontakt mit ihm gehabt, weil ich auch im Projekt mitgearbeitet hab, 7 Monate, und allein zwangsläufig dadurch schon ... Aber ich komm' hier nicht hin, um irgendwie Hilfe zu holen, also ich weiß selber, was ich machen muß, wie ich drauf bin, wie ich denke, und ich erkenne auch mein Problem. Und A. kann mir da nicht weiterhelfen, (ironisch:) großartig, da ist eben gerade noch, bevor ihr kamt, ’n Gespräch gewesen. (28/19/m)
|A 76|
[132:280] Gegenseitiges Verständnis, Toleranz und das Aushandeln von Umgangsregeln sind u. a. wichtige Prinzipien, die innerhalb dieses Musters im Hinblick auf ihre sozialen Kontakte geltend gemacht werden. Mit Freunden teilt man nicht mehr nur gemeinsame Interessen, sondern auch weltanschauliche Werte; das Austauschen von Argumenten ist ein wichtiger Bestandteil von sozialen Beziehungen. Die Jugendlichen grenzen sich von anderen ab, die ihre moralisch-weltanschaulichen Auffassungen nicht teilen. Dennoch fällt ihnen die Gewichtung und das Ausbalancieren von individuellen Erwartungen oder Bedürfnissen und Wertvorstellungen in sozialen Beziehungen nicht immer leicht; der allgemeine Anspruch auf gegenseitige Toleranz und die ichbezogenen Strebungen in den zwischenmenschlichen Kontakten müssen immer wieder in ein akzeptables Verhältnis gebracht werden, die sozialen Beziehungen immer wieder neu geklärt und bestimmt werden:
[132:281]
Also, ich war eine Zeitlang mit einem schwulen Kerl befreundet irgendwie. Und der wollte dann auch was von mir. Dann habe ich ihm klargemacht, daß ich nicht so bin wie er. Daß das mit mir einfach nicht geht. Ich habe ihm gesagt, wenn es für ihn o.k. ist, ist es o.k., für mich ist es halt nicht o.k. Jetzt bin ich mit dem befreundet, daß wir uns ganz selten sehen. Und wenn wir uns sehen, dann reden wir halt viel zusammen irgendwie. Und er akzeptiert halt, daß ich hetero bin, und ich akzeptier' halt, daß er so ist. Unternehmen vielleicht auch mal was, wenn sein Freund irgendwie dabei ist. Mich stört das dann halt nicht. Weil es für mich in die Sparte Rassismus fällt, was gegen Schwule zu haben.
(21/18/m)
[132:282] Das Selbstbild erhält seine Umrisse durch die Bildung von
Ich-Projekten
, in der die Antriebe des
Ich
und idealistische Weltvorstellungen gleichermaßen aufgehoben sind und die mit den konventionellen Auffassungen bzw. Erwartungen oft kontrastiert werden. Diese Vermischung von eigenen narzißtischen Dispositionen, idealistischen Vorstellungen und Selbstzuschreibungen kann sich z. B. so äußern:
[132:283]
Es ist so, wenn man im Heim ist, verliert man den Außenkontakt, weil hier viele Leute sind, viele kleine Leute, ... denen will ich wirklich wieder zeigen, was wirklich draußen so los ist. So mit Sprüchen, mit Mimik und Gestik und Tanzen. ... Und ich tanz’ nun mal gern. Und habe denen gezeigt, daß die das frei äußern können. ... Also J. ist ziemlich klein, wird von den anderen immer doof angemacht, weil sie nicht richtig sprechen kann. ... Und da meinte ich zu ihr: Eigentlich darfst du ’s nicht, aber hau’ doch einfach mal kräftig zurück. Und dann kam dieses andere Mädchen an, kommt vor ihr, und J. holt voll aus und klatscht ihr eine. ... Und dann hab ich auch Ärger bekommen. Ich mein’, o.k., das war falsch, ... aber ich wollte ihr zeigen, daß, o.k., nicht gerade schlagen, aber daß sie auch was kann. ... Weil hier in der Gruppe bin ich sozusagen der Mittelpunkt, weil ich äußere Sachen ... und motiviere die. Und andererseits, wenn irgendwelche Argumente oder so von mir kommen gegen die Erzieher und ich hab die Kleineren auf meiner Seite, heißt es wieder, ich habe die aufgehetzt, ... du hast die nicht zu bevormunden.
(20/16/w)
[132:284] Oder:
Und da bin ich als Sänger eingesprungen. Da hab ich einen Song gesungen, der heißt: Hate Yourself. Hab ich auch relativ verständlich noch gesungen. ... Und da haben wir Songs über diese Deutschen gesungen, daß sie sich erstmal selber has|A 77|sen sollen, bevor sie mit den Ausländern anfangen. ... Und daß sie auch von denen eigentlich jede Menge lernen könnten, im Umgang von Menschen. Weil die Deutschen noch relativ abgestumpft sind. ... Ich hab halt versucht, den Messias für die Kurzhaarigen zu spielen.
(21/18/m)
[132:285] Häufig stehen sich individuelle Lebensziele und die gesellschaftliche Wirklichkeit – ein diffuses, z. T. nicht näher bestimmbarer Moloch
Gesellschaft
– als unversöhnliche Gegensätze gegenüber. Die Frage nach einer möglichen Lösung dieser Spannung bleibt unbeantwortet oder wird nur scheinbar gelöst, weil das Denken dieser Jugendlichen noch deutlich in egozentrischen Perspektiven befangen bleibt:
  • I:
    [132:286] Wenn du sagst, du kennst deine Probleme – kannst du sagen, was anders werden soll?
  • J:
    [132:287] ... Ja, also, ich muß nicht anders werden! Ich meine, also wenn ich mich verändern kann, so daß mir das gesellschaftliche Dasein Spaß macht, dann mein’ ich auch, daß ich die Gesellschaft so ändern kann, daß das halt umgekehrt ist. Wieso soll ich mich ändern, soll sie sich doch (lacht) – weil, ich bin gerne so, wie ich bin. Das Problem ist wahrscheinlich die Zeit, in der ich lebe, ich hab kein Bock in dieser Arbeitswelt so, das ist ’n Problem für mich, ... außer daß sich die Gesellschaft ändern kann, außer es geht wirklich jeder wieder selbst, ökomäßig, seinen Bauernhof und baut sich da selbst sein Getreide an . ... Und das ganze Menschliche sollte sich ändern, weil dadurch würde das erkannt werden, und früher oder später würden viele so wie ich denken. (28/19/m)
[132:288] Im Unterschied zu den anderen drei Selbstdeutungstypen geben sich diese Jugendlichen in ihrer Selbstbewertung und in ihrer Leistungsorientierung relativ unabhängig von den institutionellen und konventionellen gesellschaftlichen Leistungserwartungen. Ihr Selbstwertgefühl und ihr Ehrgeiz hängen stärker von der Verwirklichung ihrer
Ich-Projekte
und der Anerkennung ihrer individuellen Eigenschaften und Kompetenzen ab.
[132:289] Die Lebenskonzepte und Zukunftsvorstellungen haben eine größere Eigenständigkeit, d. h. sie sind im Vergleich mit denen des konformen Selbstdeutungstyps keine einfachen Übernahmen von gängigen Mustern. Das heißt nicht, daß nicht auch diese Jugendlichen sich von kulturellen Vorbildern und Klischees leiten lassen. Aber die Pläne haben für den einzelnen einen größeren Bezug zur eigenen Lebensgeschichte. In den Lebensplänen dieser Jungen und Mädchen sind stärker, als es bei anderen der Fall ist, diejenigen biographischen Erfahrungen mit aufgenommen, welche sie nicht als selbstverständlich hinnehmen können und die mit Vorstellungen verbunden sind, wie es besser oder anders sein könnte. Diese sich verdichtenden Lebensthematiken gilt es nun zu lösen, und zwar durch die Verwirklichung von mehr oder weniger anspruchsvollen Vorhaben.
  • J:
    [132:290] Und der Vater (Pflegefamilie) hat dann irgendwann ... die Einstellung gekriegt, ... du schaffst das (Hauptschulabschluß) nicht. Du warst schon immer so, du wirst auch immer so bleiben. Und da hab ich mir gesagt: ich werde euch das zei|A 78|gen, daß ich das schaffe. ... Ich hab jetzt angefangen mit Abitur. ... Dann wollte ich eigentlich studieren. Und was? Sozialpädagoge. Ich weiß nicht, ob ich das schaffe. ... Ich möchte es halt machen, irgendwie will ich mir das selber beweisen, daß ich das auch noch schaffe.
  • I:
    [132:291] Und warum möchtest du gerne Sozialpädagogik studieren?
  • J:
    [132:292] Hier im Haus (Heim), da lernt man das irgendwie alles so, mit den Leuten umzugehen und überhaupt. Aber man kann es nicht so frei auswirken, wie man es gerne möchte. ... Und ich möchte selber so mit Kindern was machen, wo mich keiner unter Druck stellt. Ich möchte den Kindern zeigen, die aus Familien kommen, wo’s nicht gut war, wo die Schläge bekommen haben und so, den Kindern will ich zeigen, daß es auch anders geht. Denen will ich zeigen, daß das Leben total bunt und lustig, auch seine negativen Seiten hat. Und daß man nicht mit Schlagen alles beseitigen kann, sondern auch mit anderen Sachen. (20/16/w)
[132:293] Die Verwirklichung von Wertvorstellungen im Alltag und der Widerstand, der dabei in den Lebensfeldern erlebt wird, scheint das Hauptthema zu sein. Ein Heranwachsender interpretiert in diesem Zusammenhang eine seiner vielen Tätowierungen am Körper folgendermaßen:
[132:294]
Das ist so ein Typ, der hält so’ne Welt in der Hand und drückt so'ne Bombe drauf. Das soll dafür symbolisch stehen, daß wir unsere eigene Welt selber kaputtmachen. Selbst ich mach’ mit, selbst noch als Umweltschützer. Abfall produziere ich immer. Und so sehr sich aufs Leben einstellen, ohne irgendwas kaputtzumachen, das geht, glaub’ ich, gar nicht. Ich versuch’ mich schon wahnsinnig einzuschränken. Ich fahr’ kein Auto oder sonstwas. Ich fahr’ nur mit der Straßenbahn und mit dem Skateboard.
(21/18/m)
[132:295] Die z. T. idealistischen Lebensprojekte sind ganz unterschiedlich: z. B. Taxifahrer und Leader einer Polithardrockband, aktive Fünfkämpferin, Tierpfleger im Zoo, Sozialpädagogin, Polizistin, Bewußtseinserweiterung durch Yogaübungen und Drogen, Gerichtsprozeß gegen den eigenen Vater führen, eine eigene Wohnung haben. Die Verwirklichung derart anspruchsvoller Lebenspläne und Wertvorstellungen bereitet ihnen große Schwierigkeiten; teilweise sind sie illusorisch, teilweise geraten sie notwendig in Konflikt mit konventionellen Karrieremustern.
|A 79|

5. Normative Orientierungen

[132:296] Angesichts der dichten Diskussion, die nun schon länger als ein Jahrzehnt zu der entwicklungstheoretischen Frage moralischer Urteilsbildung bei Kindern und Jugendlichen geführt wird, besonders angesichts der zahlreichen empirischen Studien und der daran angeschlossenen teils schwierigen Kontroversen verbietet es sich eigentlich, diese Frage hier gleichsam nebenbei in einem kleinen Kapitel zu behandeln. Auch ein methodisches Argument könnte geltend gemacht werden: den inzwischen entwickelten Standards von Versuchsanordnungen, Befragungsprozeduren und Stichprobenauswahl genügen die Gesprächsmaterialien, die hier interpretiert werden, in gar keiner Hinsicht. Schon aus diesem Grund verbietet es sich, das Folgende etwa an die theoretischen Konstrukte Kohlbergs und an solche aus dem engeren Kreis der Folge-Diskussionen anzuschließen (vgl. z. B. Kohlberg 1981, Schreiner 1983, Selman 1980 und 1990, Turiel 1983). Warum also nehmen wir dennoch diese Kategorie in unsere Auswertungen auf? Es gibt dafür die folgenden Gründe:
[132:297] Die sozialpädagogische Praxis – jedenfalls in denjenigen Bereichen der Jugendhilfe, die es mit Jugendlichen zu tun hat, die wegen besonders belastender Formen von Verhaltensschwierigkeiten besondere Unterstützung benötigen – hat es mit einer Art von Dilemma zu tun: Einerseits mögen die professionellen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den entsprechenden Einrichtungen sich die Vorstellung einer allmählich zu immer höheren Stufen des Urteils voranschreitenden Moralentwicklung zu eigen gemacht haben, und zwar so, daß sie selbst, die nur konventionelle moralische Stufe hinter sich lassend, in ihrem Urteilsvermögen inzwischen auf der Stufe einer postkonventionellen, also das eigene Urteil nach verallgemeinerungsfähigen Begründungen einrichtenden Urteilsform sich zu befinden meinen. Diesen Anspruch an sich selbst stellend, sind sie nun aber beständig Jugendlichen konfrontiert, deren moralisches Urteilen häufig ganz undurchsichtig, deren moralisches Handeln zumeist schwer zu billigen ist. Die Verhaltens- und Entwicklungsprobleme, die sich bei diesen Jugendlichen zeigen – wenigstens bei solchen, die in ihrer Art unserer Stichprobe ähnlich sind –, haben zwar immer auch eine moralische Tönung, die nach Maßgabe der Stufen kognitiver Moralentwicklung beschrieben werden könnte; sie werden aber zumeist überlagert von Schwierigkeiten, die ein ziemlich elementares Auskom|A 80|men mit verschiedenen sozialen Beziehungskonstellationen betreffen. Die Konflikte, und damit verbunden auch die Formen von Devianz, entzünden sich im allernächsten Feld: im Kontakt mit Eltern, Lehrern und Erziehern; in den Gleichaltrigengruppen und deren interner Machtverteilung; im (illegitimen) Beschaffen begehrter Güter; im möglichst raschen Befriedigen auftauchender Impulse und Bedürfnisse; in (auch unproduktiven oder gar selbstdestruktiven) Auswegen aus nicht mehr balancierbaren Situationen. All dies hat Hintergründe, Ursachen, Bedingungen, die zumeist weit in die Lebensgeschichte zurückreichen, und es findet aktuelle Darstellungsformen, auf die Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen praktisch unmittelbar reagieren müssen.
[132:298] Sicherlich wäre es nützlich, wenn man auch in der Jugendhilfe zuverlässig über den Diskussionsstand zur moralischen Urteilsentwicklung verfügen würde. Manche übertriebenen Erwartungen an die Lernmöglichkeiten eines 15jährigen, der sich, moral-entwicklungsgeschichtlich, vielleicht noch auf einer viel früheren Stufe befindet, als für den Regelfall anzunehmen, könnten so zurückgestellt werden. Im Vordergrund der Praxis scheinen indessen andere Fragen zu stehen, z. B.: Was erscheint den Jugendlichen als wertvoll, als ein sittliches Gut, das es zu bewahren oder zu verteidigen gilt? Unter welchen Umständen billigen sie den Drogengebrauch und in welcher Hinsicht mißbilligen sie ihn? Was halten sie vom Einsatz körperlicher Gewalt? Wann sollte man seine eigenen Impulse disziplinieren oder zurücknehmen, wann darf man ihnen freien Lauf lassen? Welche Werte der Sozietät kann man akzeptieren, welche nicht? Bin ich imstande, mich so zu verhalten, wie ich es für richtig halte (egal auf welcher Stufe der Moralentwicklung)? Will ich überhaupt in Gemeinschaften leben oder sind mir die anderen gleichgültig? Die Liste der Fragen ließe sich verlängern. Ihnen ist gemeinsam, daß sie kein Entwicklungsproblem in den Vordergrund rücken (obwohl ein solches ihnen zugrunde liegen mag), sondern ein aktuelles Problem der Lebensführung. Die Jugendlichen formulieren, nicht nur in den Gesprächen mit uns, sondern auch in ihrem Handeln, eine Not, die zwar (auch) eine moralische Entwicklungsqualität hat, durch eine entwicklungslogische Einordnung aber hintergangen würde. Im Vordergrund steht statt dessen die Frage, was lebenswert sei oder wie man sich verhalten solle, um das Lebenswerte zur Geltung zu bringen. Diese Frage hat auf allen Stufen moralischer Reflexions-Kompetenz ihren Sinn; in ihr ist immer auch gefragt (der Sache nach, nicht nach Maßgabe der entwicklungslogisch erwartbaren Interaktionskompetenz), wie nicht nur ich, sondern auch die anderen, und diese im Verhältnis zu mir und ich zu ihnen, sich verhalten könnten. Früher fragte man, ob es ein
sittliches Gut
gäbe, dem Geltung zu verschaffen sei. Heute wird zumeist ein eher soziologisches Vokabular bevorzugt; man spricht von
Werten
und
Normen
. Wir fragen also, welchem
Gut
die Jugendlichen in ihren Gesprächsäußerungen je den Vorzug geben.
|A 81|
[132:299] Auch dies variiert, wie wir aus der Forschung zur moralischen Urteilsbildung wissen, entwicklungsgemäß. Man kann also, wenn man an derartiger Theorie interessiert ist, unsere Befunde vielleicht auch entwicklungslogisch einordnen. Allein: darauf kommt es uns hier nicht vornehmlich an, und zwar aus einem sozialpädagogisch-diagnostischen Grund: Die diagnostische Frage
Wer hat welche Probleme
müsse immer auch der anderen Frage konfrontiert werden:
Was ist das Problem
(Müller 1993). Die zweite Frage ist aus der Perspektive des Beobachters gestellt, die erste aus der Perspektive der Beteiligten; diese suchen wir in unseren diagnostischen Deutungen zur Sprache zu bringen, und sie sind (zunächst!) relativ unabhängig von den entwicklungstheoretischen Beobachterfragen,
was das Problem
sei. Wir sehen, daß die Jugendlichen Probleme mit ihrer moralischen Orientierung haben, und das heißt, mit ihrer Orientierung an einem erstrebten, erhaltenswerten und forderungsbedürftigen Gut. Dieses Gut oder auch dieser
Wert
, den sie anstreben, verhält sich zur moralischen Konvention unserer Gesellschaft verschieden, mal konform, mal different; und mal wird dieses Gut (wie sie meinen) vorwiegend von anderen, häufig den Eltern oder überhaupt den Erwachsenen beschädigt; mal auch räumen sie ein, daß sie selbst es sind, die diese Güter-Geltung außer Kraft setzen, manchmal selbstkritisch gesagt, manchmal ohne jede Selbstzweifel.
[132:300] Aus diesen Fragen haben wir eine Auswertungsprozedur gefolgert, die, wie wir hoffen, dicht am Alltag der sozialpädagogischen Praxis liegt, aber dennoch zugänglich ist für erweiternde entwicklungslogische Fragen nach der Stufenfolge moralischer Urteilsbildung. Diese Erweiterung ist auch deshalb sinnvoll, weil sich gezeigt hat, daß die Entwicklungs-Niveaus des Urteils und das tatsächliche moralische Verhalten nicht so weit voneinander entfernt sind, wie gelegentlich vermutet wurde (Turiel 1983). Hier jedenfalls beschränken wir uns auf die Frage, welchem
Gut
, welchen moralisch relevanten Normen des Verhaltens und den sie rechtfertigenden
Werten
die Jugendlichen eigentlich nachstreben, in ihren Äußerungen.
[132:301] Nach Durchsicht der Interview-Materialien haben wir die folgenden Orientierungsmuster gefunden, und zwar in Abwägung zu dem, was in den Theorien zur moralischen Urteilsentwicklung behauptet wird. In lockerer Anlehnung an die Entwicklungslogik, zwischen einer egozentrischen und einer dezentrierten, an der Abwägung verschiedener Interessen orientierten Auffassung von
Moral
oder der Bestimmung erhaltenswerter sittlicher Güter, unterscheiden wir, mit Bezug auf unser Material und ohne Universalisierungsabsicht, diese Präferenz-Konstellationen:
  1. 1.
    [132:302] Eine Teilgruppe der Stichprobe bevorzugt ein
    fremdbestimmtes
    Deutungsmuster, ohne daran zu leiden. Diese Jugendlichen wollen versorgt sein. Sie sind gleichsam der passive Fall der von Gilligan (1982) er|A 82|mittelten
    Care
    -Attitüde weiblicher Moralität. Wenn sich dennoch Leiden einstellt, ist es das von den zur Fürsorge verpflichteten Personen verursachte oder in Kauf genommene Leiden. Die
    Wohlfahrt
    in dem auch staatsfürsorgerisch verwendeten Sinne dieses Wortes ist ihnen das höchste Gut.
  2. 2.
    [132:303] Dazu gibt es einen pointierten Gegentypus: allen konventionellen und fürsorgenden Attitüden und Institutionen wird das Ego der eigenen Durchsetzungsfahigkeit entgegengesetzt; Normen des Sozialverhaltens erscheinen tendenziell als irrelevant; die Befriedigungsstrebungen des einzelnen Individuums nur können das erreichen, was als das höchste Gut im Auge ist.
  3. 3.
    [132:304] Ein drittes Deutungsmuster zieht einen Ausgleich in Erwägung, allerdings so, daß das Ich zurücktritt zugunsten der gesellschaftlich eingespielten Standarderwartungen. Hier gilt weder die
    Wohlfahrts
    -Erwartung (passiv konstituiert) noch die Ego-Projektion (aktiv konstituiert), sondern ein konventionell mittleres Gut, die Leistung. Diese ist im gesellschaftlichen System gut lokalisiert, scheint also als Orientierung auch gerechtfertigt zu sein.
  4. 4.
    [132:305] Eine letzte Teilgruppe unserer Stichprobe gibt sich mit derartigen Orientierungsmustern nicht zufrieden. Diese Jugendlichen denken, sie dürften nicht einer Versorgungsmentalität verfallen, dürften nicht nur auf dem eigenen Ich und seinen Durchsetzungstendenzen bestehen, sollten die sozial-adaptive
    Leistungs
    -Orientierung in Frage stellen. Sie neigen zu experimentellen Lebenseinstellungen und wünschen sich, moralisch, solche Situationen, in denen das jeweils
    Gute
    unter Gleichberechtigten ausgehandelt werden kann.
[132:306] Alle vier Orientierungsmuster sind Versuche der Jugendlichen, die soziale Realität in dieser oder jener Richtung zu vereindeutigen. Aber gerade deshalb geraten sie mit dieser in Konflikt, das zeigen die Biographien dieser Jugendlichen. Jedes Muster, selbst noch das vierte, hat sein eigenes Risiko. Diese Risiken sollen im folgenden dargestellt werden (quantitative Verteilungen vgl. Anhang).

Passiv konstituierte Fürsorgeerwartung

[132:307] Bei einer Teilgruppe der befragten Jugendlichen steht in der Wertehierarchie das individuelle Wohlergehen an oberster Stelle, und zwar als Folge zuverlässigen Versorgtwerdens. Die Befriedigung der leiblichen und psychosozialen Bedürfnisse und die Verläßlichkeit traditionell verankerter sozialer Rollen stehen bei ihnen im Vordergrund. Ihrem moralischen und sozialen Habitus scheint eine traditionelle Familienauffas|A 83|sung zugrunde zu liegen, die auf andere Institutionen wie Kindergarten, Schule und Heim übertragen wird und in der das Verhältnis zwischen den Generationen durch die Fürsorge für die jeweils schwächere bestimmt wird. Sie selbst sehen sich als
schwach
, in vielen Bereichen noch unselbständig und in direkter Abhängigkeit von Autoritäten. Sie beschreiben sich infolgedessen als eher passiv. Dieses inaktive, an die Abhängigkeit von anderen gebundene Lebensgefühl bringen sie in ihren Beschreibungen besonders auch durch eine grammatikalisch passive Ausdrucksweise zur Geltung:
[132:308]
... dann wurde ich abgeschoben zu meiner Tante ..., vom vierten Lebensjahr wurd’ ich dann wieder geschickt zu meiner Oma ..., vom sechsten Lebensjahr bis zum siebten Lebensjahr kam ich dann wieder weg zu ’ner Pflegefamilie und ... bis zum dreizehnten Lebensjahr kam ich dann in ein Heim für schwer erziehbare Kinder
(9/17/m).
Ich war ... mit fünf von meinen Eltern weggekommen, seitdem zieh’ ich immer hin und her
(37/15/m).
Ja, es kam eigentlich nur von meiner Mutter dem Freund, daß ich wegkam, weil er mich nicht haben wollte
(30/16/w).
... mich hat man alleine gelassen nachts, und denn bin ich aus dem Fenster gesprungen
(9/17/m). (Der Jugendliche hat sich nicht mit den Pflegeeltern verstanden):
von Anfang an nicht, die ganzen sieben Jahre, die ham uns geschlagen, die ham uns geprügelt und so
(37/15/m). (Über die letzten zwei Jahre in der Pflegefamilie):
... wurd’ ich praktisch nicht mehr gut behandelt, also ich hab kein gutes Essen mehr gekriegt. Ich hab praktisch nur die Reste gekriegt
(30/16/w).
[132:309] Diese passivische Form der Selbstbeschreibung verträgt sich gelegentlich mit einer aktiven Tönung in der Urteilsbildung, und zwar dann, wenn von anderen die Rede ist:
[132:310] (Über die kranke Mutter):
Da wünsch’ ich mir doch lieber für meine Mutter mehr als für mich
(65/21/m).
Und was ich auch hasse, das sind die Tierversuche, das find’ ich das Ekelhafteste, was es gibt, oder so Pelzmäntel
(30/16/w). (Der Jugendliche hätte gern ein Haustier im Heim):
... aber wenn ich jetzt z. B. in den Ferien weg bin, wer kümmert sich dann drum? Das geht nicht
(37/15/m).
[132:311] Derartige Äußerungen sind in der Perspektive dessen gesprochen, der unter einem Versorgungsmangel leidet. Die biographischen Mitteilungen dieser Jugendlichen lesen sich wie Leidensgeschichten, für deren Verlauf nur diejenigen verantwortlich sind, die ihrer Fürsorgepflicht nicht nachkommen. Gelegentlich deutet sich allerdings auch die Perspektive des für die Versorgung aktiv Verantwortlichen an, sei es als Beschreibung der wenigen befriedigenden Lebensmomente, sei es als Selbstzurechnung:
[132:312] (Über den leiblichen Vater):
Dem kann man auch praktisch alles erzählen, der hört einem zu ... Mein Vater war praktisch der einzige, der mal angerufen hat
(30/16/w). (Überfreundliche, verständnisvolle Autoritäten):
... manche ham halt mir dann später mal öfters geholfen, weil ich dann angefangen habe mit Schuleschwänzen ... Dann war ich auch beim Jugendamt und alles, war ich bei Frau G., die ich sehr nett fand, die auch sehr gut geholfen hat
(65/21/m).
Also ich würd’ schon mal nicht so anfangen wie meine Mutter, (das Kind) im ersten Lebensjahr gleich |A 84|wieder abschieben
(9/17/m).
Erst ins Frauenhaus, dann bin ich da nie zur Schule gegangen. Dann bin ich auf die Hauptschule gekommen, und da bin ich auch nie zur Schule gegangen, hab nur Scheiße gebaut – äh, früher hab ich noch getrunken, bißchen Alkohol. Das kam dadurch, daß unsere Familie zerrüttelt wurde. Na ja, und dann bin ich ins Heim gekommen
(42/18/w ).
... Schule geschwänzt, weil ich hatte keinen mehr praktisch, der mir geholfen hat
(30/16/w).
[132:313] Wird
Wohlfahrt
, das Versorgen und vor allem Versorgtwerden durchgehalten und hartnäckig als der moralisch entscheidende Bezugspunkt geltend gemacht, dann lassen sich die Schwierigkeiten, in die diese Orientierung gerät, leicht denken. Sie entstehen in den näheren Verhältnissen zu den zur Fürsorge verpflichteten Personen und konturieren sich individuell um die eigenen Bedürfnisse und deren Befriedigung herum. Ein Ausgleich zwischen den persönlichen Bedürfnissen und denen anderer wird nicht diskutiert. Bleiben die eigenen Bedürfnisse dieser Jugendlichen unerfüllt, da ihre nähere Umwelt sie nicht erkennt oder kein Interesse an deren Verwirklichung hat, besteht die Reaktion zumeist in Frustration und auffälligem Verhalten.
[132:314]
Oder wenn ich gleich wieder hier (im Heim) ankomme, dann sagen sie gleich: du mußt da hin ..., dann gehn se mir so lange auf den Geist, bis ich das dann mache. Und das stört mich so ein bißchen
(9/17/m).
Ja, da (im Heim) hab ich unheimlich viel Stunk gemacht ..., ich wollt’ unbedingt wieder nach Hause
(37/15/m). (Über die Zeit während der Angehörigkeit einer rechtsradikalen Gruppierung):
Ich habe viele Freunde dadurch verloren, die ich hätte eigentlich gar nicht verlieren können dürfen ... Weil ... die kannt’ ich schon von klein auf und so. Die waren eigentlich nicht damit so angetan, daß ich da jetzt rumlaufe ... Aber ich hab mir gedacht, die müssen mich dann halt so nehmen ...
(65/21/m). (Die Jugendliche konnte die Streitereien ihrer Eltern nicht ertragen):
Ich bin nach der Schule fast nie nach Hause gegangen, hab ich auch richtig Ärger gekriegt bei meiner Mutter damals, aber das war mir egal, ich hab’s immer wieder gemacht
(30/16/w).
Mit meiner Mutter hab ich mich ab und zu mal gut verstanden. Aber jetzt nicht mehr. ... Weil die doof ist. Nie richtig um mich gekümmert
(22/17/m). Ein anderes Mädchen beschreibt ihr Verhältnis zur Mutter so:
Ich mag meine Mutter nicht. Ich weiß nicht. Es gab auch mal Zeiten, da hab ich meine Mutter gehaßt, weil se eben sich nicht mehr um mich gekümmert hat
(30/16/w).
... mich hat man alleine gelassen nachts, und denn bin ich aus dem Fenster gesprungen
(9/17/m).
[132:315] Die Beweggründe für das Verhalten anderer werden kaum beachtet; werden sie als konkurrierend mit den eigenen Befriedigungswünschen vermutet, dann erscheinen sie gar als Bedrohung:
[132:316]
Weil hier sind viel zu viel Arbeitslose, und Asylanten kommen, oder Ausländer nehmen einem vielleicht noch ’n Arbeitsplatz weg, die Wohnung. Die ganzen Wohnungen werden praktisch nur noch für Asylanten gemietet von der Stadt oder so, und das find’ ich irgendwie, find’ ich das ungerecht
(30/16/w). (Über die Mutter):
War ziemlich viel Ärger, hat mir ziemlich viel Schulden aufgesetzt, hat immer Streit angefangen, wollte immer alles besser wissen, wollte mir beweisen, wie stark sie ist. Und Geldprobleme hat sie auch noch, und das geht mir so’n bißchen gegen den Strich
(9/17/m)
|A 85|
[132:317] Sozial werden die Konflikte kaum auf Interaktionen mit Gleichaltrigen bezogen. Fast immer erscheinen die erwachsenen Bezugspersonen als Urheber; das wird sowohl für die Kindheit als auch für das Jugendalter geltend gemacht. Chaotische Familienverhältnisse werden beklagt, häufige Trennungen und Partnerwechsel der Erziehenden, Alkoholabhängigkeit der Eltern, Egoismus, Gleichgültigkeit. Selten versuchen sie das Verhalten ihrer Eltern durch soziale Umstände (Arbeitslosigkeit, Überlastung des Alleinerziehenden etc.) zu entschuldigen. Sie akzeptieren nur solche Autoritäten, die sich für ihre Sicherheit und ihr Wohlergehen einsetzen, die Sorgepflichten gegenüber ihren Kindern nicht vernachlässigen. Das individuelle Glück der Sorgeberechtigten scheint sich dem der Familie unterordnen zu müssen. Ehescheidungen werden überwiegend abgelehnt. In diesem Zusammenhang ist auch die Art der Beurteilung ihres devianten Verhaltens auffallend. Sie entschuldigen ihr Verhalten und sogar ihre eigenen Verstöße gegen ihre moralischen Auffassungen damit, daß die Familienmitglieder die Konvention selbst nicht einhalten oder ihnen keine Orientierung geben konnten.
[132:318] So wird sowohl ihre an Befürsorgung orientierte moralische Option als auch ihre eigene Devianz gerechtfertigt als gleichsam notwendige, mindestens aber plausible Folge jenes Mangels. Die Erwartungen, die diese Jugendlichen an die
Starken
in ihrer näheren sozialen Umgebung gestellt haben, sind nicht erfüllt worden; dies führte, nach ihren eigenen Angaben, zu ihrem persönlichen Versagen, zur moralischen Desorientierung, zu Devianz und zu Konflikten im zwischenmenschlichen Bereich und zu Problemen mit Institutionen.
[132:319] (Über den Grund für die Schulschwierigkeiten):
Weil ich hatte keinen mehr praktisch, der mir geholfen hat
(30/16/w). (Über den Grund für seine Rechtsradikalenkarriere):
... Freundin Schluß gemacht nach anderthalb Jahren und alles, und irgendwie war mir alles scheißegal zu der Zeit, dann bin ich halt mit ’ner Glatze rum gelaufen
(65/21/m). (Über den Grund für sein deviantes Verhalten nach dem mehrfachen Wechsel der Bezugspersonen):
Ja, und denn fing es dann an mit Mist bauen, Scheiben eingeschmissen und all so’n Mist
(9/17/m).
Wo ich sechs war, ist meine Mutter immer nur trinken gegangen, da war ich auf mich allein gestellt. Und wenn se dann nach Hause kam:
Ich will Essen haben, sofort.
Und da hab ich gesagt:
Mach’ dir dein Kram selber, denn schließlich bist du unsere Mutter und ich nicht deine.
Dann ... wollt’ mir das Rauchen verbieten und wollte dann wieder Mutter spielen, sag’ ich zu ihr:
Komm, du hast dich jetzt die ganze Zeit nicht um mich gekümmert, jetzt brauchste’s auch nicht.
(53/16/w)
Dann wollte meine Mutter ihn (den Vater) alleine sprechen, dann fing der auf einmal an, irgendwie Streit zu suchen, so: laß’ deine Mutter mal in Ruhe, und so, ne. Da hab ich zu ihm gesagt: Das geht dich eigentlich ’n Dreck an, wie ich mit meiner Mutter umspring’ ! Du warst damals nicht da für uns, also brauchste heute auch nicht da zu sein für mich! Ja, dann bin ich eigentlich wieder abgehauen
(22/17/m).
Wenn man was nicht verstanden hat oder so, wenn man sich da gemeldet hat und so, daß die Lehrer dann zu einem nicht hinkamen, da war ich überhaupt nicht mit einverstanden.
(2/16/m)
|A 86|
[132:320] Der Erfahrungsinhalt aller dieser Äußerungen, auch und besonders vor dem Hintergrund offenbar belastender Lebenssituationen im Kindes- und Jugendalter, ist durchaus nachvollziehbar. Häufig werden sogar eben jene Erklärungen – hier als Selbsterklärungen – vorgetragen, die auch in sozialwissenschaftlichen Theorien geltend gemacht werden. Bemerkenswert indessen ist die moralische Perspektive oder Attitüde, die damit verbunden wird: An allem Unglück – negativ und etwas sentimental formuliert – sind die zur Fürsorge verpflichteten Personen schuld. Eigene Verantwortung und damit eine moralisch-aktive Komponente der Selbstdeutung scheint jenseits dessen zu liegen, was bei der Beurteilung sittlicher Verhältnisse ins Spiel gebracht werden kann. Als passiver Empfänger der Fürsorge fühlt man sich im Recht, eben weil dieser Wert über alles geht. Dies ist verbunden, fast begriffsnotwendig, mit strikten Rollenzuweisungen zwischen den Generationen, allerdings so, daß Leistungserwartungen (z. B. in der Schule) und Empathie-Erwartungen gegeneinander ausgespielt werden: Wer (unter den Erwachsenen) Empathie zeigt, kommt als mögliche positive Autorität in Frage; wer Leistungserwartungen zum Thema macht, verletzt die Fürsorge-Moral.
[132:321] Es ist deshalb nicht überraschend, wenn
Empathie
– um diesen relativ unklaren Terminus hier hilfsweise zu verwenden – nur von anderen, nicht aber von sich selbst erwartet wird; dies entspricht der
passiven
Disposition dieses Deutungsmusters: Das höchste Gut, nämlich Nutznießer oder Empfänger von Fürsorgeleistungen zu sein, gerät in Konflikt mit sozialen Erwartungen der – nach Meinung der Jugendlichen – fürsorgeunwilligen Institutionen (Eltern, Lehrer, Erzieher, Ausbilder), und zwar deshalb, weil die Erwachsenen der zur Empathie verpflichtenden Sorge für die Schwächeren nicht nachkommen. In diesem Problemfeld ist kein Platz vorgesehen für moralische Orientierungen, die sich in dichteren Interaktionsverhältnissen bilden könnten. Es fällt auf, daß kaum über Freundschaften und Kontakte zu Gleichaltigen außerhalb von Familie und Institutionen gesprochen wird. Freundschaftsideale und die Erörterung von Verhaltensnormen unter Gleichaltrigen, die man bei Jugendlichen dieser Altersstufe erwartet, fehlen nahezu völlig. Befriedigende soziale Beziehungen, so scheint es, suchen diese Jugendlichen fast nur in familiären und familienähnlichen Kontexten. Daß Jugendliche, die dieses Deutungsmuster bevorzugen, mit dem Konzept von
Freundschaft
gar nichts anzufangen wissen bzw. daß sie derartige sozial-interaktive Kontexte nicht zur Sprache bringen, ist ein ziemlich bedeutsamer Befund. Nach geltendem allgemein-kulturellem Muster sind
Freundschaften
nämlich solche sozialen Figurationen, in denen die Beziehung in nur einer Zuordnung – vom Hilfeempfänger zum Helfenden – reziprok wird; vom
Freund
wird nicht nur Hilfe erwartet, sie wird ihm auch gegeben. Aus dieser (anfänglichen) Reziprozität folgen Erweiterungen, die für die Bildung moralischer Optionen höchst folgenreich sind (vgl. |A 87|Selman 1980). Aber all dies fehlt bei den Jugendlichen, die dem hier beschriebenen moralischen Deutungsmuster folgen.
[132:322] Ihrer passiven Disposition scheint sich dort, wo sie sich über Lebensziele oder zukunftsrelevante Werte äußern, eine aktive Komponente beizumischen. Zukunftsrelevante Werte gehen bei diesen Jugendlichen über den sonst auf die eigenen Bedürfnisse begrenzten Horizont hinaus. Themenkreise wie Umweltverschmutzung und der allgemeine Weltfrieden sind neben ihren Wünschen nach Regelmäßigkeit, Gesundheit und bescheidener Lebensqualität in ihren Zukunftswünschen mit eingeschlossen. Diese beziehen sie nicht nur auf sich selbst, sondern auch auf andere schwache gegenwärtige wie zukünftige Bezugspersonen. Allen Wünschen bzw. Werten gemeinsam ist indessen das Bedürfnis nach materieller und emotionaler Sicherheit, nach einem rundum gewährleisteten
Behütetsein
.
[132:323] (Über das Thema Umweltverschmutzung):
Ja, daß das so irgendwie nicht mehr weitergehen kann. Daß man Sachen abschaffen könnte, die man überhaupt nicht gebrauchen kann
(30/16/w).
Ja, ich würd’ mir als erstes wünschen, daß meine Mutter gesund wird, Daß ich und meine Mutter endlich ein geregeltes Leben leben würden. Daß die Welt ein bißchen friedlicher wird mit allem Drum und Dran
(65/21/m). (Wenn er ein eigenes Kind hätte):
Das würd’ ich meinem Kind nicht zutrauen, also nicht durchmachen lassen. Zumindest nicht schlagen. Also, ich würd’ ihr auch nicht viel erklären, wie das Klauen geht, würd’ ich ihr auch abgewöhnen, falls se’s machen sollte – oder er. Oder daß se viele Freunde kriegt und Hobbys. Und keine Frechheiten, Dummheiten macht, und daß se denn, richtig mit ihr leben, richtig anfangen
(9/17/m).
Wo wir dann aus dem Frauenhaus kamen, da hab ich immer auf alles verzichtet, damit ja meine Schwester was hatte. Für meine Schwester würd’ ich alles tun
.
Wenn das (Ausbildung) erstmal alles fertig ist, dann kann man ja weitersehen, ob man nun heiratet oder nicht – so viel liegt mir auch nicht dran, aber es wär’ schön, wenn man ’ne Familie hat. Wenn man jemanden hat, um den man sich sorgen kann.
(31/15/w)
[132:324] Was sich in diesen Äußerungen andeutet oder gar zeigt, entspricht dem, was eingangs behauptet wurde. Als das höchste Gut erscheint die zuverlässige Fürsorge, die Leistungen der Wohlfahrt, allerdings weniger auf die Leistungsverpflichtungen des Sozialstaates bezogen als auf diejenigen der nächsten Sozialbeziehungen. Die Verantwortlichkeit wird deshalb den Erwachsenen persönlich zugerechnet und nicht durch Bedingungen entlastet, unter denen sie leben müssen. Damit verbindet sich die Erwartung an zuverlässige Rollenverhältnisse auf der Ebene primärer oder elementarer Sozialbeziehungen. Wenn die Inhaber von
Geber
-Positionen die an sie zu richtenden Rollenerwartungen (Fürsorgepflicht) erfüllen, dann wird es auch denen in der (legitimen)
Nehmer
-Position so gut gehen, daß sie eines Tages imstande sein werden, ihrerseits die Erwartungen an Fürsorglichkeit für andere zu erfüllen.
|A 88|

Das egoistische Orientierungsmuster

[132:325] Kognitiv ähnlich undifferenziert wie die Orientierungen an dem Wert der Fürsorge und der Versorgung, passiv entworfen, ist auch das Orientierungsmuster, das hier als
egoistisch
-konventionell beschrieben werden soll. Beide gehören einem relativ frühen Stadium der Moralentwicklung, dem konventionellen nämlich, an und scheinen an diesem festzuhalten. Die Attitüde der
Wohlfahrtsempfänger
wird hier indessen umgekehrt; der höchste Wert ist nicht, sich versorgen zu lassen, sondern das Gegenteil: sich selbst das zu verschaffen, was man glaubt nötig zu haben. Beide Muster haben Ähnlichkeit nicht nur mit entwicklungslogischen Stufen, sondern auch mit gesellschaftlich herrschenden Formen
moralischen
Verhaltens: die Moral der
Wohlfahrtsempfänger
einerseits und die der
Ellbogengesellschaft
andererseits. Dies sollte man sich klarmachen, um vorschnelle Disqualifizierungen – angesichts des moralischen Zustandes unserer Gesellschaft – zu vermeiden. Unter diesem Vorbehalt soll beschrieben werden, was wir in den Äußerungen der Jugendlichen gefunden haben.
[132:326] Den Äußerungen dieser Gruppe von Jugendlichen sind keine eindeutigen Optionen zu entnehmen. Das unterscheidet sie deutlich vom
Wohlfahrtsmuster
, aber auch von den später folgenden. Den Beschreibungen moralisch relevanter Situationen der Jugendlichen, die in dieser Typenbeschreibung dargestellt werden, ist aus verschiedenen Gründen schwer eine moralische Maxime zu entnehmen. Sie leben – viel mehr als die anderen – in Extremen. Die damit verbundenen Werte bilden kein einheitliches Wertekonzept mit den entsprechenden Normvorstellungen. Durch solche Inkonsistenz vermitteln sie eine vergleichsweise große Orientierungsunsicherheit, die ihre Moralauffassung widersprüchlich erscheinen läßt. Oft findet man in ihren Äußerungen zum selben Thema ambivalente Bewertungen:
[132:327] (Eigentlich fühlt er sich im Heim wohl):
... ich hab hier meine Freunde und meine Freundin
(Aber):
Schon hier im Heim zu sitzen ist schon ’ne Strafe
(55/14/m).
Ins Heim will ich auch nicht, weil ich das Scheiße finde, mit so vielen Leuten da abhängen. Aber irgendwo ist es auch gut, aber du mußt auch voll die Rücksicht nehmen auf’n anderen
(62/13/w).
... ich ärger' Leute, geh’ mit paar Leuten rum, hol’ mir ’n paar kleine Kinder, dann werden die erstmal gehauen ..., aber größere kommen dann also – also ich kenn’ z. B. fast jeden hier, also von den Kleineren, und ’n paar Große kenn’ ich zwar auch, und die helfen mir dann auch, wenn ich von je mand anders Ärger kriege. Deswegen kann ich mir das ruhig manchmal erlauben. Zwar nicht immer, aber manchmal. Obwohl, irgendwie ist es selber Scheiße, weil ich hab auch schon öfters Haue gekriegt, und ist natürlich ’n Scheiß-Gefühl, wenn vor dir einer steht, der einen haut, ist ziemlich mies
(33/15/m).
[132:328] Wie beim vorhergehenden Muster drückt sich auch hier die Besonderheit in den sprachlichen Formen aus. Die grammatikalische Tiefenstruk|A 89|tur ist aktivisch (
ich habe
,
ich will
,
du mußt
,
ich kann
usw.) und nicht, wie im zuvor beschriebenen Muster, passivisch; es herrscht der indikative Aktiv vor, der die eigene Wollensrichtung hervorhebt. Den Beschreibungen moralisch relevanter Situationen ist oftmals schwer eine eindeutig
billigende
oder
mißbilligende
Wertung zu entnehmen. Das scheint damit zusammenzuhängen, daß das Ziel des Wollens so dargestellt wird, als bedürfe es keiner Rechtfertigung. Darin deutet sich ein unkritischer Umgang mit dem eigenen Selbst an, aber vielleicht auch ein Ausdruck allgemeiner Lebensunsicherheit, die eine klar differenzierte Bewertung moralisch relevanter Zusammenhänge erschwert. Oft erscheinen die in den Erzählungen beschriebenen Handlungen als Normalität, moralisch irrelevant, nur durch den eigenen Willen gerechtfertigt.
[132:329]
Ich hab mich dauernd geprügelt, oder ich hab die andern verprügelt so. Oder nach der Schule, da war immer dieser B., so’n Streber, so ganz blonde Haare und Brille und dann – der war immer so, äh! ekelhaft. Und den hab ich mir immer nach der Schule geschnappt, hab ich ’n auch verprügelt
(40/15/m).
Ah, bewaffneter Raubüberall. Das war nicht mein Fach ... Passanten. Da ham se uns beim zweitenmal gekriegt
(3/18/m).
Ja, vorher bin ich immer abgehauen ..., als ich die erste Zeit hier war. Bin ich andauernd abgehauen, hab auch woanders geschlafen ..., da war ich fast nie hier
(62/13/w).
[132:330] Wenn diese Jugendlichen auch kein konsistentes moralisches Bewußtsein mit verbindlichen Werten und daraus abgeleiteten Normen erkennen lassen, so formulieren sie doch auffallend oft Werte, die den Idealen einer absoluten Freiheit, Ungebundenheit und Unabhängigkeit entsprechen. Diese Ideale sind mit den Wünschen verbunden, möglichst viel Spaß zu haben, etwas zu erleben und Handlungen und auch Bewertungen durch das Prinzip der Lust und nicht der Pflicht oder der Verantwortung leiten zu lassen. Sie geben in ihren Beschreibungen moralisch relevanter Situationen immer wieder zu verstehen, daß sie sich keinen Vorschriften, Regeln und anderen Konventionen unterordnen wollen. Sie möchten frei und ungebunden sein und keine Verpflichtungen eingehen:
[132:331] (Er ist einmal eine Woche lang aus dem Heim abgehauen):
Keine Lust mehr gehabt. Weil ... Ostfriesland. Muß man Kilometer laufen, damit man hier ins erste Dorf reinkommt, ey!
(40/15/m).
... den (Erzieher) kann ich nicht ab ..., der gibt immer Taschengeld aus oder so. Z. B. ich hab die Haare bis hierhin gehabt, ne. Und die hatt’ ich immer nach hinten, ne. Und der hat gesagt, wenn ich die nicht abschneiden lasse, dann krieg’ ich kein Taschengeld! ... das mit den Haaren find’ ich nicht in Ordnung. Normal dürfte man se sich ja so wachsen lassen, wie man’s will. Ob se in die Augen stechen onder sonstwo
(38/13/m). (Über die Beziehung zu Frauen):
Na, das klappt bei mir irgendwie nicht länger.
Voraussetzungen, damit es klappen könnte:
... nicht so anhänglich. Ich mein’, wo man auch mal ’n Monat nicht hingehen kann, ne! Wo man überhaupt nix, überhaupt nicht Bescheid sagen muß ... Aber das ist nicht aufm Land, das ist echt schlimm, da in S., die rufen jeden Tag an, ey! Bestimmt drei- oder viermal am Tag. Kommen vorbei, auch wenn man sich’s anders überlegt hat – das ist schlimm
(3/18/m).
Ich weiß nicht, ich |A 90|mag solche Klamotten. Ich find’ alles schön, was ’n bißchen nuttig aussieht, ’n bißchen ausgefallen. Und nicht so blöd wie alle anderen rumrennen, das find’ ich Scheiße
(62/13/w). (Thema Schuleschwänzen):
Ich weiß nicht, erst bin ich immer hingegangen, hat mir eigentlich Spaß gemacht, aber jetzt macht’s mir eben keinen Spaß mehr
(62/13/w). (Er wollte lieber bei seiner Mutter leben als bei seinem Vater):
Bei meiner Mutter ist das anders, da durft’ ich viel mehr machen ... Ich durfte bißchen länger mal raus, hab mehr Taschengeld gekriegt, was ich damals nicht gekriegt hab. Und durfte länger aufbleiben und alles
(55/14/m).
[132:332] Eine Abwägung von moralischen Gütern, und sei es nur des materiellen Nutzens oder Schadens für andere, taucht in den spontanen sprachlichen Darstellungen nirgends auf. Gesellschaftlichkeit oder Gemeinschaftlichkeit scheint entworfen als ein Nebeneinanderher von individuell bestimmten Willensrichtungen oder Bedürfnisbefriedigungsintentionen, die sich fast regellos, fast zufällig als sozial verträglich erweisen oder nicht. Natürlich geraten derartige Orientierungsmuster dann auch häufig in Konflikt mit der näheren sozialen Umgebung und sind mithin Sanktionen durch die Umwelt ausgesetzt. Die Jugendlichen beschreiben, wie sie diesen Sanktionen immer wieder zu entkommen suchen, und sie dokumentieren dadurch, im Erfolgsfall, ihre Unabhängigkeit den konventionellen Regeln gegenüber:
[132:333]
Meist ham wir uns Zigaretten gekauft, obwohl uns das 5 DM kostet, 5 DM in die Krebskasse, wenn man beim Rauchen erwischt wurde, und das konnten wir damals nicht ab ..., ham uns die ganze Gruppenkasse geklaut
(33/15/m).
... und da hab ich Freunde aus’m Heim ... und die gefielen meinen Eltern überhaupt nicht! Da gab’s immer Ärger ..., treff’ ich mich mal mit denen, dann gibt’s Stubenarrest ... bin ich aus dem Fenster geklettert ... Taschengeld gestrichen, ja und da fing ich an, hab ich mir das selber genommen
(3/18/m).
... der (Vater) hat mir immer alles verboten und so, ich durfte nie raus, mit meinem Freund spielen ..., entweder hab ich die Scheiben eingeschlagen oder ich bin durchs Fenster gesprungen
(62/13/w).
[132:334] Diese Art von Situationsbeschreibungen vermitteln dem Beobachter auf den ersten Blick, daß diese Jugendlichen, frei von Autoritäten und konventionellen Regeln, ihren eigenen Wertvorstellungen und Normen folgen und auch stark genug sind, danach zu leben. Dieser Eindruck einer mutmaßlichen Ich-Stärke und Unabhängigkeit bleibt aber angesichts der Kontexte nicht bestehen. Denn gerade diese extremen Ideale bzw. der Wunsch nach grenzenloser Freiheit, Ungebundenheit und Stärke macht es den Jugendlichen sehr schwer, innerhalb der Realität ein irgendwie konturiertes moralisches Bewußtsein zu entwickeln. Die Maxime
gut ist, was mir Nutzen bringt
gilt jedoch nicht ungebrochen. Das zeigt sich in ihrem Verhältnis zu Autoritäten. Die eigene Stärke beugt sich solchen Autoritäten, die ebenfalls stark und durchsetzungsfähig sind:
[132:335]
Dann ist mein Papa ab und zu für ’ne Woche wieder zu uns gekommen, hat bei uns mit geschlafen, damit mein Papa mich richtig erzieht, weil meine Mutter konnte das wahrscheinlich nicht ..., mein Papa, der war dann richtig, war schön streng, das |A 91|hat mir dann gefallen irgendwo, seine Strenge
(33/15/m).
Meine Erdkundemappe sollt’ ich da fertig machen. Hab ich gesagt: nee, mach’ ich nicht! ... Is’se abends noch bei mir reingekommen: mach’ das doch mal eben ... Ja, dann saß se in der Stube, da hatten wir uns noch gestritten ..., dann stell’ ich mich vor meine Mutter und zerreiß’ den Duden so richtig ..., dann kam abends mein Vater: mach’ das jetzt! Wie schnell ich am Schreibtisch war und hab das gemacht!
(40/15/m).
Also ich laß’ mich nicht gerne herumkommandieren und so, und ich find’ das schöner, wenn ich sagen kann: ihr macht jetzt das und das, und dann mach’ ich es ... Ja, wenn jetzt, was weiß ich, Erzieher oder irgendso, find’ ich das eigentlich schön, wenn die mir was sagen und muß das dann auch machen
(62/13/w).
[132:336] Die Akzeptanz durchsetzungsstarker Autoritäten verliert an Bedeutung, wenn sie mit der Gleichaltrigengruppe in Konflikt geraten. Dann nämlich ist der Moralkodex der Gruppe der höchste Wert, demgegenüber die individuelle Stärke in den Hintergrund tritt. Nun ist es die Gruppe, die Stärke zeigt, nach innen und außen. Für das Kollektiv gilt indessen wieder die gleiche Form: nicht an Gerechtigkeit für den einzelnen ist den Jugendlichen gelegen, sondern an der Einhaltung einer Gruppennorm, die die Voraussetzung für die Darstellung von Stärke nach außen ist. Innerhalb dieses Deutungsmusters wimmelt es naturgemäß von Konfliktsituationen, an denen indessen zweierlei auffällt: Die moralischen Konflikte bleiben zumeist unreflektiert, und es spielt in ihnen Gewalttätigkeit eine fast durchgehende Rolle. Die daraus folgenden Schwierigkeiten werden, so scheint es, billigend in Kauf genommen. Die eigenen Bedürfnisse werden vielfach kompromißlos durchgesetzt, und in der gleichen Härte, wie die am eigenen Leibe erlebten Sanktionen in Kauf genommen werden, werden die Bedürfnisse anderer nicht beachtet. Ein Ausgleich zwischen Eigen- und Fremdinteressen wird kaum erwogen oder gar angestrebt. Auch in den Fällen, wo eine Vermeidung von Konfliktsituationen signalisiert wird, steht nicht der Ausgleich von Eigen- und Fremdinteressen im Vordergrund, sondern eher der Versuch, das eigene extreme Verhalten zu reduzieren, um so Sanktionen, denen sie sich nicht entziehen könnten, zu entgehen:
[132:337]
Aber jetzt ist das eigentlich nicht mehr so mit J., so der tu’ ich eigentlich nichts mehr. Und die hat am Schluß nur noch geheult, die hat voll die Angst gehabt ... jetzt laß’ ich die eigentlich in Ruh, weil ich sonst hier von der Gruppe fliegen würde. Aber vorher war das total, da hab ich J. zusammengekloppt, jeden Tag, ne
(62/13/w).
Dann bin ich langsam wieder zur Vernunft gekommen ..., also da kam Frau X, das war die Strengste ..., da hab ich immer ganz schön den Arsch voll gekriegt. Wenn man die angelogen hat ..., da hab ich gleich zwei Ohrfeigen gekriegt. Und dann saß ich erstmal. Und dann hab ich ’ne Zeitlang mitgemacht, ’ne Zeitlang Arsch voll gekriegt, und nach ’ner Zeit hab ich gesagt: so nicht mehr! Und dann hab ich das sein gelassen
(33/15/m).
Nee, nach Hause will ich nicht, das wär’ wieder so’n Scheiß. Da würd’ ich wieder mit den ganzen Leuten, mit denen wir was weiß ich nicht geklaut haben, würd’ ich zusammenkommen, das wär’ nicht gut
(40/15/m).
Na, hier im Heim geht es nicht ohne Gewalt! ... Da wird man provoziert, und dann, dann schlägt man irgendwann mal zu
(55/14/m). (Sie wurde viel von ihrem Vater geschlagen):
Bis ich zehn war, hab ich mir das noch immer gefallen lassen |A 92|und so. Und dann irgendwann hab ich mir gedacht, ja, da war mir das total egal, dann hab ich ja total zurückgeschlagen, dann sind wir ja schon soweit gekommen, daß wir mit’m Messer aufeinander losgestochen haben und so
(62/13/w). (Er ist ins Heim gekommen),
weil ich da in B. wieder von der Schule geflogen bin, ja, und da gab ’s schon wieder Ärger mit meinem Vater, und der konnte auch mit mir nichts mehr machen. Und da hab ich, wieder zurück und hab ... seinen Autoreifen kaputtgestochen!
(3/18/m).
Hier gibt’s, kann man auch Judo machen, Selbstverteidigung, falls die Großen dich knechten ..., daß du dich wehren kannst
(38/13/m).
Und dann auf der Gruppe ... wurd’ ich dann von einem mal geknechtet ... Seine Schuhe holen ... sein Amt machen ..., und irgendwann hab ich gesagt: du kannst mich mal! Hab ihm einen auf die Nase gehauen
(33/15/m).
... ich ärger’ Leute, geh’ mit paar Leuten rum, hol’ mir ’n paar kleine Kinder, dann werden die erstmal gehauen ... aber Größere kommen dann also – also ich kenn’ z. B. fast jeden hier, also von den Kleineren, und ’n paar Große kenn’ ich zwar auch, und die helfen mir dann auch, wenn ich von jemand anders Ärger kriege. Deswegen kann ich mir das ruhig manchmal erlauben. Zwar nicht immer, aber manchmal. Obwohl, irgendwie ist es selber Scheiße, weil ich hab auch schon öfter Haue gekriegt, und ist natürlich ’n Scheiß-Gefühl, wenn vor dir einer steht, der einen haut, ist ziemlich mies
(33/15/ m).
Meine Lehrerin, die hab ich mal gehauen gehabt. Weil, die hat mich aufgeregt gehabt ... – wie das so ist, dann streitet man sich da mit dem Lehrer
(40/15/m). (Er versteht sich nicht mit seinem Bruder):
Und dann ist er so, äh – so (mit einer Piepsstimme): Das gehört mir, das faßte nicht an! Der sagt sogar schon Heimkind zu mir. Das regt mich immer auf, ey! ... da hab ich da mit ihm Streit gehabt, hab ich ihm ein’ in’ Arsch getreten
(40/15/m).
[132:338] Gesellschaft und Gemeinschaft erscheinen diesen Jugendlichen vielleicht nicht gerade wie ein
Kampf aller gegen alle
; immerhin wird dieser Kampf, in ihren Augen, ja letzten Endes durch Autoritäten gebunden; aber daß es Werte geben könne, die Bemühungen um Interaktionen, um Austausch und Ausgleich lohnen, kommt kaum in den Blick. Soziale Kommunikation erscheint innerhalb dieses Musters eher wie ein mechanischer Austausch von Energien, die freilich irgendwann, das dämmert einigen Jugendlichen, verbraucht sein können oder durch gewaltförmiges Bremsen – durch die größere Kraft anderer oder durch autoritär eingeführte Grenzen – auf ein sozial verträgliches Maß reduziert werden. Daß dies indessen vielleicht nicht das letzte Wort ist, scheint in vielen Äußerungen und zumeist
zwischen den Zeilen
durch, als nur angedeutete Hoffnung auf Sicherheit und Gleichmaß, um dem Streß der Maschinerie, die sie als ihr Lebensmilieu stilisieren, zu entkommen. Das deutet sich auch in ihren Zukunftsvorstellungen an:
[132:339] (Über sein momentan wichtigstes Thema):
Nichts! Doch, daß ich die Schule schaffe ... Ich will bei uns in ... ins VW-Werk
(55/14/m). (Wenn sie sich ihren Lebensort aussuchen könnte):
... in ’ne andere Familie auf keinen Fall, das wär’ das Letzte! Ins Heim will ich auch nicht, weil ich das Scheiße finde, mit so vielen Leuten da abhängen. Aber irgendwo ist es auch gut, aber du mußt auch voll die Rücksicht nehmen auf’n anderen
(62/13/w).
... und dann würd’ ich mir wünschen, daß ich mit Hühnern mich unterhalten könnte ... hier (Heim) mein ein und alles mit den Hühnern
(40/15/m). (Wenn er sechs Richtige im Lotto hätte):
... würd’ ich als |A 93|nächstes meiner Mama sagen: paß auf, holst mich hier raus, alles klar, kriegst Geld und so. Na, würd’ sie so und so kriegen. Aber dann würd’ es familiengerecht aufgeteilt, ich natürlich den größeren Teil
(33/15/m). (Er möchte
im Moment nicht
zu seiner Mutter zurück),
weil ... durch meinen Bruder hab ich in den Ferien z. B. richtig Probleme gekriegt. Hab ich meinen Bruder geschlagen, weil der mich vollgesponnen hat ..., da sind drei, vier Türken hochgekommen ..., auch ’n Arsch voll gekriegt
(33/15/m). (Auf die Frage, ob er sich dafür schämt, daß er im Heim sei):
Ph – andere Leute denken so, andere Leute denken so. Laß sie doch denken
(38/13/m). (Wie eine zukünftige Beziehung aussehen sollte):
... nicht so anhänglich. Ich mein’, wo man auch mal ’n Monat nicht hingehen kann, ne! Wo man überhaupt nix, überhaupt nicht Bescheid sagen muß
(3/18/m).
Was ich gut kann ... Alles was ich nicht dürfte, das kann ich gut ... Autos aufbrechen, sowas – das soll ich nicht wieder tun, aber das kann ich gut. Und das, was ich können sollte, kann ich eben nicht!
(3/18/m).
[132:340] Man sieht: Hoffnungen auf moralisch andersartige Milieus deuten sich nur schwach an; dominant bleiben auch bei den Zukunftsvorstellungen jene mechanisch-moralischen Deutungsmuster, nach denen Wertorientierungen kommunikativ kaum zugänglich sind. So selbstsicher sich dieser
Typus
in vielen Äußerungen gibt, so gehört ihm doch auch, wenngleich möglichst verborgen gehalten, eine erkennbare Lebensunsicherheit und Zukunftsängstlichkeit zu. Die Fassade hat kleine Risse, durch die ein Leiden an der amoralischen Selbststilisierung sichtbar wird. Daß in den Beschreibungen dieses Musters – wie übrigens auch in den zuvor dargestellten Fällen der
Wohlfahrtsmoral
– individuelle Freundschaften fast keinen Platz haben, ist ein wichtiger Befund. Die Jugendlichen scheinen zu ahnen, was ihnen fehlt. Nur haben sie (noch) kein Bewußtsein davon.

Orientierung an den konventionellen Werten der Leistung

[132:341] Wer sich an
Leistung
orientiert, wem also weder am passiven Versorgtwerden noch an der spontanen Darstellung aktueller Impulse und egoistisch bestimmter Interessen vorwiegend gelegen ist, der bedient sich eines Musters, einer sozial-normativen Option, die als anerkannt gelten darf und häufig, besonders in politischen Kontexten, als Normalform den Bürgern empfohlen wird. Wer für
Leistung
optiert, der versucht etwas zu realisieren, das eine Balance zwischen kollektiv-gesellschaftlichen Erwartungen und individuellen Befriedigungswünschen darstellt; er verhält sich in einem ausgezeichneten Sinne
angepaßt
. Angesichts der schwierigen Lebensumstände, in die die Jugendlichen unserer Stichprobe geraten sind, ergeben sich Zweifel, ob eine solche Orientierung den Lebenserfolg bringt, den sie (oberflächlich gesehen) zu versprechen |A 94|scheint. Die Schwierigkeiten, die mit einer solchen Option verbunden sind, sind zwar andere als bei den zuvor beschriebenen Mustern; sie sind aber deshalb nicht weniger bedeutsam.
[132:342] Auch bei diesen Jugendlichen sind die moralisch relevanten Situationsbeschreibungen durch Enttäuschung, Entbehrung und teilweise von Mißhandlungen geprägt. Sie versuchen aber zwischen Eigen- und Fremdversagen zu unterscheiden und sind mit Schuldvorwürfen gegenüber anderen weitaus vorsichtiger. Es zeigt sich, daß sie für ihr eigenes Handeln stärker Verantwortung übernehmen. Die vordergründigen und zum Teil einseitigen, an institutionelle Fürsorge geknüpften Erwartungen sind hier zugunsten eigener Selbständigkeit (in naher Zukunft) und der Erwartung, den gesellschaftlichen Leistungsanfoderungen zu entsprechen, abgeschwächt. Man paßt sich stärker an die in den Institutionen üblichen Belohnungssysteme oder -muster an. Man weiß, daß man einerseits Unterstützung, andererseits auch individuelle Kraft benötigt:
[132:343] (Über den Grund für die Heimeinweisung):
... weil ich, sagen wir mal so, ich hatte einen falschen Weg und habe ziemlich viel Scheiße gebaut
(19/17/m). (Über die Beziehung zu seiner Mutter):
... eigentlich schlecht verstanden! Da hab ich ihr meine Sachen an’n Kopf geworfen, wenn ich sauer war, die waren nicht ganz so fein! ... und hab mir auch selten was von ihr sagen lassen. O.k., ... nachdem ich dann ins Heim gekommen bin – mehr gegangen bin, eher gesagt – nachdem hat sich das eigentlich zwischen uns aufgelöst. Da konnten wir uns erst wieder richtig unterhalten
(71/19/m).
Ich bin hierher gekommen nach X. (Heim), um, also vor einem dreiviertel Jahr war mein Zimmer noch immer unordentlich und so. Und jetzt mach’ ich ja meine Schule. Nach den Sommerferien mach’ ich mein BGJ. Und ich hab mit den Erziehern geredet jetzt, also jetzt von meiner eigenen Seite aus, daß die mich ständig unter Kontrolle halten sollen, daß ich keine Scheiße baue. Daß ich zur Schule gehe und daß mein Zimmer sauber bleibt. Weil ich Selbstverpflegung machen will. Also anstatt, daß man das in einer Gemeinschaft macht, will ich das selber für mich tun, damit ich langsam das lerne
(19/17/m).
Ja sagen wir mal so, war der Lehrer locker drauf, dann hab ich das ausgenutzt. War er streng drauf, also mir immer zeigen, wo der Weg lang geht, dann mußte ich mich schon richtig verhalten. (I: Hast du das auch akzeptiert dann?) Früher nicht. Aber heute ja
(19/17/m). (Über den sexuellen Mißbrauch durch ihren Vater):
... also ich hatte schon immer Angst vor meinem Vater ... Ja, ich wurde auch von meinem Vater sexuell mißhandelt, und aus dem Grund, also ich mach’ jetzt auch ’ne Anzeige gegen den ... Ja, ich hatte zu dem früheren Zeitpunkt, da hatte ich immer Angst, das zu sagen
(31/15/w). (Er braucht Unterstützung im Umgang mit den Ämtern):
Ich brauch’ die Unterstützung nicht in diesem Punkt, von wegen, daß er (Erzieher) mir hilft beim Reden oder so, sondern ich brauch’ die Unterstützung, daß er mich zurückhält, ne, weil ich sonst ziemlich schnell an die Decke gehen kann, und das will ich irgendwie nicht. Vor allen Dingen, ich darf mir jetzt überhaupt nichts mehr erlauben; wenn ich jemand nur mal antippe und der mich anzeigt wegen Körperverletzung, bin ich weg
(71/19/m). (Sie hat sich beim Schuldirektor über den Notensturz von einer Eins auf eine Vier in Bio beschwert):
Ich hab erreicht, daß er von Eins bis Drei mit Erklärung runtergeht
(50/19/w). (Über die Gehorsamspflicht gegenüber den Eltern):
(Auf die Schule) hatte ich überhaupt keine Lust, aber ich bin trotzdem hingegan|A 95|gen. Weil sonst, ne, meine Eltern, Und darauf hatte ich keine Lust, bin immer zur Schule gegangen, um Streit zu vermeiden
(19/17/m).
[132:344] All diesen Äußerungen ist mehreres gemeinsam, so verschieden die je angedeuteten Lebensereignisse auch sind:
  • [132:345] Eigene und fremde Handlungen und Handlungsimpulse werden, wenn auch nur in schwachen Andeutungen, zur Sprache gebracht und kontextuell erläutert; die an den Konflikten beteiligten Personen beginnen – auch dies nur andeutungsweise – sich zu konturieren im Sinne interaktiver Verbundenheit;
  • [132:346] in den Äußerungen ist eine Tendenz enthalten, letzten Endes doch als
    braves Mädchen
    oder
    guter Junge
    zu erscheinen, auch wenn dies immer wieder zu mißlingen droht. Sich selbst in einen konventionellen Lebenszusammenhang einzufügen und dort akzeptiert zu werden, scheint ein ganz nachdrückliches Interesse zu sein;
  • [132:347] das wird bekräftigt durch die mitgeteilte Absicht, sich ändern oder gar sich
    bessern
    zu wollen. Innerhalb dieses Deutungsmusters gibt es demnach eine deutliche Zeitachse, auf der das jeweils Spätere irgendwie gelungener sein sollte als das Frühere.
[132:348] Gerade diese letzte Charakteristik tritt in den Interviews immer wieder hervor:
[132:349] (Über die Schul- bzw. Leistungspflicht):
Ich habe, solange ich zur Schule gehe, noch nicht einmal geschwänzt!
(31/15/w). (Über die Freundin, die sich mutmaßlich prostituiert):
Und vor allem, wohin die abhaut. In ihrem Alter ... Das stört mich, daß sie überhaupt abhaut. Und der Ort, wohin sie abhaut, der gefällt mir absolut nicht ... Das hab ich ja beim erstenmal, als sie abgehauen ist, gar nicht gewußt, daß sie immer da ist. Und dann spricht sich das herum
(23/15/m). (Ob er die Hausarbeit gerne macht):
Nö, eigentlich nicht. Aber muß man ja, muß ich ja
(19/17/m).
Früher war ich so’ne Zeitlang bei den Teds, ja. Aber seitdem es da ziemlich derbe mit Hauereien rumging, fand ich das irgendwann nicht mehr lustig, immer mit ’ner dicken Lippe nach Hause zu fahren. Von daher hab ich mich dann irgendwie neutralisiert davon
(71/19/m).
Und ich habe mit den Erziehern geredet jetzt, also jetzt von meiner eigenen Seite aus, daß die mich ständig unter Kontrolle halten sollen. ... Weil ich Selbstverpfleger machen will ... Also anstatt, daß man das in einer Gemeinschaft macht, will ich das selber für mich tun, damit ich das langsam lerne
(19/17/m).
Dann bin ich halt erstmal ins Heim, war für mich nur als Übergang, ehrlich gesagt. Weil ich sowieso nach einer Einrichtung gesucht hatte, in der ich außerhalb betreut werde, wo ich meine eigene Wohnung habe. Weil ich selbständig werden wollte
(71/19/m).
[132:350] Daß zwischen dem Wunsch nach Veränderung, Verbesserung, der individuellen Leistungsaspiration und dem tatsächlichen Erfolg vieles liegt, vor allem größere Zeitspannen, ist den Jugendlichen dunkel bewußt. Um den selbstgestellten (wirklich selbstgestellt?) Anforderungen nach Veränderung und der Übernahme der konventionellen Normen gerecht werden zu können, sucht diese Gruppe von Jugendlichen deshalb Re|A 96|geln, Hilfe und Orientierung bei Autoritäten, die für sie anerkannte Unterstützungsqualitäten haben. Sie sollen freundlich, offen, verständnisvoll, einfühlsam, vertrauensvoll, hilfsbereit und zuverlässig sein. Im Gegenzug sehen sich die Jugendlichen dann dazu verpflichtet, an die von diesen Autoritäten erstellten Regeln sich zu halten. Es sollen Autoritäten sein, die ihnen zeigen,
wo der Weg lang geht
, die an dem sozialen Fortkommen ihrer
Zöglinge
interessiert sind, ohne deren Eigenimpulse überfürsorglich zu negieren. Die meisten Jugendlichen, die zu dieser Gruppe gehören, machen zwischen Lehrern bzw. Ausbildern einerseits und Betreuern oder Erziehern andererseits einen Unterschied. Von Lehrern wird Strenge erwartet, aber auch Fairneß und Nachsicht. Bei den letzteren suchen sie mehr Zuspruch und Ermunterung oder Hilfen und Ausgleich im Alltag:
[132:351] (Über einen Lieblingserzieher):
Und der ist ziemlich locker drauf. Er ist der einzige, der mit uns vielleicht mal Risiko spielt oder so ... Über Probleme kann man mit dem über alles mögliche quatschen
. (19/17/m). (Über den ehemaligen Schwimmlehrer):
Also er hatte mit uns, wo wir am ersten Tag da waren, hat er mit uns abgemacht, daß er mit uns einen Tag in der Woche keinen Schwimmunterricht macht, sondern so die großen, dicken Treckerreifen rausholt. Und daß wir dann den ganzen Tag spielen können. Und die anderen Tage in der Woche sind wir dann geschwommen
(23/15/m).
Und den ich jetzt als Klassenlehrer hab, ... der hat mir auch geholfen,... daß ich von zu Hause wegkam, also der hat das dann mitgekriegt (mit dem sexuellen Mißbrauch), und dann hat er sich ans Jugendamt gewendet
(31/15/w). (Positive Eigenschaften eines Erziehers):
Sondern er ist ganz locker zu den Leuten hingegangen, hat denen gesagt: jetzt paßt mal auf, das und das liegt an, was ist los? Hast du Lust, hast du keine Lust? Hast du keine Lust, machst du’s morgen – bumm ... Dann hat er jemand anders hergesucht oder hat’s selber gemacht
(71/19/m). (Der Staat ist verpflichtet, Kindern und Jugendlichen in Notsituationen zu helfen. Als der Lehrer dieser Jugendlichen von dem sexuellen Mißbrauch erfuhr):
Dann ... hat er sich ans Jugendamt gewendet, und die ham dann immer nichts gemacht, und dann hat er sich so oft daran gewendet, bis sie endlich was gemacht haben
(31/15/w). (Umgang mit den Ämtern):
... ich brauch’ die Unterstützung nicht in dem Punkt, von wegen, daß er mir hilft beim Reden oder so, sondern ... daß er mich zurückhält, ne, weil ich sonst ziemlich schnell an die Decke gehen kann, und das will ich irgendwie nicht. Vor allen Dingen, ich darf mir jetzt überhaupt nichts mehr erlauben; wenn ich jemand nur mal antippe und der mich anzeigt wegen Körperverletzung, bin ich weg
(71/19/m).
[132:352] Im letzten Zitat wird ein durchgehender Zug deutlich: Um die angestrebte
Leistung
erbringen zu können, ist die Unterstützung erwachsener Bezugspersonen und Autoritäten nötig; die Gleichaltrigengruppe ist dafür weniger relevant. Überdies mischt sich eine Schwierigkeit mit Frustrationstoleranzen (Gewalt) hinein und droht, das angestrebte Ziel wieder aus dem Blick oder der Handlung zu verlieren. Dieses oft nicht leicht aufrechtzuerhaltende Gleichgewicht zwischen postuliertem Wert und den Mitteln, ihn zu realisieren, macht die Jugendlichen, die diesem Muster folgen, für Interaktionscharakteristiken sensibler als die beiden zuvor beschriebenen Teilgruppen.
|A 97|
[132:353] (Über das Einleben in der Gruppe im Heim):
Dann nach dem dritten Monat hatte ich meine erste Schlägerei, weil der Typ nicht aufgehört hat. Und dann ging’s einigermaßen. ... Das kann man auch anders klären, muß man nicht unbedingt gleich ’ne Schlägerei haben
(19/17/m).
Also letzte Zeit, also hab ich oft Probleme damit gehabt, körperlich auseinanderzusetzen als geistig. Na, jetzt versuch’ ich das mal auf der geistigen Ebene, mich unterhalten. Nur wenn das immer noch nicht klappt, mich einer anfällt, dann geht’s nicht anders
(71/19/m).
Ärger kann man kriegen, immer. Man braucht nur einen kleinen Streit anzufangen, das reicht schon
(23/15/m).
[132:354] Allerdings wird diese Sensibilität sprachlich wenig entfaltet. Man spürt in den Äußerungen aber, daß ihnen ein Bewußtsein derartiger
Interaktionsleistungen
zugrunde liegt. Hier nun spielt die Gleichaltrigengruppe und spielen Freundschaften eine offenbar bedeutende Rolle:
[132:355]
Wir rauchen zusammen, tun unser Geld zusammen, wenn wir irgendwas machen wollen. Und manchmal können wir uns auch schon einiges leisten, zwar nicht viel, aber es reicht ... Schwimmen tu ich auch mit ihm, Fußball spielen ... Küchendienst mach’ ich mit ihm zusammen. Ich hab volles Vertrauen zu ihm. Und vor allen Dingen, als ich gehört hab, daß er der Schnellste hier in ganz X. ist im Laufen, hab ich das auch nicht geglaubt ... Er ist nur einen Tick schneller, hat aber gute Ausdauer, der Junge
(19/17/m).
Also wenn ich Probleme habe oder so, gehe ich meistens zu meiner Freundin oder so. Ich bin nie mit meinen Problemen zu meinen Geschwistern gegangen und auch selten zu meinen Eltern
(32/17/w).
[132:356] Die von Erwachsenen erwartete Unterstützung befördert die Leistungsorientierung; die Förderung, die von der Freundschaftsgruppe ausgeht, ist demgegenüber elementarer und betrifft grundlegende Fähigkeiten für flexible Interaktionen. Es scheinen vor allem drei Komponenten von Interaktion zu sein, die diesen Jugendlichen wichtig sind: das gemeinsame Teilen von Interessen oder materiellen Gütern und das notwendige Vertrauen, beim Tauschen nicht der Betrogene zu sein; eine Vorstellung von gegenseitiger Hilfe; und schließlich eine Form der Rivalität, die nach Regeln gegenseitiger Fairneß ausgetragen wird, in der Ehrlichkeit und Loyalität gilt.
[132:357] Die Beschreibung dieser Jugendlichen über zukünftige normative Richtlinien, über die Prioritäten in ihrer kommenden Lebensgestaltung sind stark in konventionelle Denkmuster eingebunden. Einen Ausbildungsabschluß zu erlangen, den richtigen Beruf und den richtigen Lebenspartner zu finden, zu heiraten, eine Familie zu gründen und ein eigenes Haus zu besitzen sind ihre wichtigen kommenden Ziele. Sie skizzieren dabei ein Leben ohne Experimentier- und Risikobereitschaft, ein Leben in geordneten und geregelten Bahnen, welches durch Selbständigkeit und Leistungsfähigkeit geprägt sein soll.
[132:358] (Der Jugendliche ist schon Vater):
Also zu der Zeit war das Ding, wo ich auch schon gerne ’ne eigene Familie hätte, wo ich zumindest was zu tun hätte, wo ich wüßt’, für die lebe ich! ... aber – das ist noch nicht alles irgendwie! Da fehlt noch was, die Arbeit. ... (Und ein) eigenes Haus mit Garten, wo die Kinder drin spielen |A 98|können und so
(71/19/m). (Zuerst wollte er Betriebsschlosser werden):
Aber jetzt Ende des Jahres bin ich zum anderen Entschluß gekommen. Und zwar hab ich mich jetzt bei der Tischlerei angemeldet
(19/17/m).
Und ich hab mit den Erziehern geredet jetzt, also jetzt von meiner eigenen Seite aus, daß die mich ständig unter Kontrolle halten sollen ... Weil ich Selbstverpfleger machen will ... Also anstatt daß man das in einer Gemeinschaft macht, will ich das selber für mich tun
(19/17/m). (Beziehungspartner sollten
normal
und zuverlässig sein):
Auf Hafen (Gruppenname), da kenn’ ich auch ein Mädchen, mit der war ich viermal zusammen. Das erstemal, da wußt’ ich ja nicht, daß die immer abhaut. ... Und vor allem, wohin die immer abhaut (Hamburg Reeperbahn). In ihrem Alter ... Das stört mich, daß sie überhaupt abhaut. ... Beim viertenmal genau das gleiche ... Die ist ja mittlerweile wieder da. Ich verzichte, nie wieder
(23/15/m).
... das (Kind) wird dann voraussichtlich für ’ne Zeit bei Pflegeeltern sein ..., weil ich will selbst erstmal versuchen, das ganze bißchen so aufzubauen, daß ich, wenn ich dann hier entlassen werde, daß ich dann wirklich ’ne gesicherte Umgebung habe für den Kleinen, wo ich dann auch wirklich mehrere Jahre bleiben kann
(50/19/w).

Suche nach gemeinschaftlich akzeptierten normativen Orientierungen

[132:359]
Ich hatte mit 13 einen Fernseher, Video, alles. Das fanden viele toll, aber ich finde es besser, wenn man sich versteht. Dieser Reichtum und das, ist gar nicht so; dieses Materielle wirkt auch schon was, aber nicht so. Das bezweckt nicht das, was man eigentlich braucht fürs Leben. Ich glaube eher, man braucht den Kontakt zur Familie und zu anderen Leuten viel mehr als ein Fernsehgerät.
(20/16/w)
[132:360] Diese Äußerung eines 16jährigen Mädchens enthält mehrere derjenigen Merkmale, die für die jetzt zu beschreibende moralische Option wesentlich sind. Eine tiefenhermeneutische Analyse dieser Satzfolge könnte leicht mehr als 20 Seiten beanspruchen. Wir beschränken uns indessen auf wenige Hinweise:
  • [132:361] Die Form der grammatisch-syntaktischen Organisation der Sätze ist durchaus anders als in denjenigen Fällen, die wir beim
    passiv konstituierten
    Fürsorge-Muster oder beim eher
    aktiv konstituierten
    individualistischer Durchsetzung eigener Interessen beobachten konnten. Der sprachliche Gestus bringt hier nicht nur das
    Gewordensein
    oder das ego-orientierte Wollen zur Darstellung, sondern ein kompliziertes Verhältnis zwischen
    Ich
    , den
    vielen
    , dem
    man
    , zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Erfahren-Haben, Wissen und Vermuten, und zwar schon in den formalen, tiefengrammatischen Merkmalen der Rede.
  • [132:362]
    Ich finde es besser, wenn man sich versteht
    . Dies sagt das Mädchen in Opposition zu
    Fernseher, Video, alles
    , in Opposition zu
    Reichtum
    . Es konstruiert also ein Dreiecks-Verhältnis zwischen Ich, Du |A 99|(anderen) und einer (begehrenswerten) Sache, die zwischen Ich und Du zur Disposition steht und die gar das Verhältnis zwischen Ich und anderen bedrohen oder liquidieren könnte. In diesem Dreiecks-Verhältnis, so gibt sie zu bedenken, ist zwar auch das Dritte,
    dieses Materielle
    , wichtig, aber nicht eigentlich entscheidend. Der Zweck (
    ... das bezweckt nicht das, was man eigentlich braucht fürs Leben
    ) liegt anderswo.
  • [132:363] Der Zweck, das Ziel, das moralische Gut wird von dem
    Materiellen
    zwar tangiert, kann wohl auch modifizierend ins Spiel kommen, es darf aber nicht zum Fluchtpunkt moralischer Optionen werden. Der Fluchtpunkt,
    das, was man eigentlich braucht fürs Leben
    , liegt nicht bei diesen, sondern bei anderen Gütern. Es ist, für dieses Mädchen, die Frage, was denn eigentlich
    bezweckt
    wird von dem, was vorkommt, und das heißt, vor welchen Zwecken, Zielen oder Fluchtpunkten letzten Endes ein Lebensereignis gerechtfertigt werden könnte. Sie hat dazu eine eindeutige Meinung:
    Man braucht den Kontakt zur eigenen Familie und zu anderen Leuten
    . Man
    braucht
    dies, aber wozu? Der Zweck bleibt unbestimmt. Die Eindeutigkeit der Meinung betrifft das Verfahren, nicht den (letztendlichen) Zweck. Das Verfahren der Suche nach rechtfertigungsfähigen Zwecken ist ihr das höchste Gut.
[132:364] Dies ist freilich
interpretiert
und damit auch pointierter gesagt, als das Mädchen selbst es formulierte. Die Facetten, in denen diese moralische Option sich bricht, ergeben indessen ein stimmiges Bild, auch wenn sich in den Äußerungen anderer immer nur Teile davon wiederfinden. Daß Jugendliche, die dieser Orientierung folgen, für ungerechtfertigt erscheinende Autoritätsanspruche sehr empfindlich sind, läßt sich leicht denken. Aber oft mischt sich, auch bei herber Kritik, ein Element von Verstehen hinein:
[132:365]
Also ich versteh’ mich nicht so mit meiner Mutter. Also ich hab Schläge gekriegt früher sehr viel ... Sie flippt schnell aus, ... wenn sie schlechte Laune hatte, hat sie immer an uns ausgelassen. Wenn das Zimmer nicht aufgeräumt war. Ja, die war auch immer voll gestreßt und so. Kann ich ja verstehen. Aber nicht, daß sie das an uns ausläßt. Sie hätte mit uns reden müssen und nicht gleich ausflippen.
(17/17/w).
Daß man sich einfach versteht, über jede Probleme reden kann und daß der nicht kommt und mich untern Pantoffel stellt, das kann ich absolut nicht haben. Und darum will ich auch nicht heiraten, das seh’ ich gar nicht ein. Lieber würde ich nach Dänemark gehen und ’ne Frau heiraten
(56/22/w).
... meine Mutter mußte ja arbeiten, ... weil ich bin ja gekommen, da war meine Mutter erst 19. Ja, und dann hat se soviel Zeit auch nicht gehabt, um sich immer so intensiv zu kümmern. Und darum ist wahrscheinlich auch klar gewesen, daß die ... dann auch nicht klar gekommen ist
(56/22/w).
Und versteh’ ich nicht, wie man da sagen kann: Ich bin Erzieher, ich will jetzt das da im Fernsehen gucken. Nur weil man meint, daß man die Autorität irgendwo in Person ist, ne, und am längeren Hebel sitzt. Und das fand ich schon immer ätzend, nur irgendwie seine Macht da auszunützen, in so ’ner Art |A 100|und Weise. Ich finde immer, die Erzieher sollten mit einem so umgehen, daß man nicht das Gefühl hat irgendwie, man wäre ein Mensch zweiter Klasse
(26/16/m). (Über die Konflikte mit seinem Vater):
... hab ich gesagt, laß ihn ruhig prügeln, das braucht er, dann ist er wieder wenigstens ein Mann. Weißte, du, so um ihn zu provozieren, weil er mich halt geprügelt hat, weil ich konnte das einfach nicht hinnehmen ...
(59/19/m). (Über ältere Erzieher):
Sind die nicht so unbedingt fähig, sich in einen Jugendlichen reinzudenken. Weil die halt völlig andere, oder sagen wir mal, für jemanden in meinem Alter, teilweise wirklich steinzeitliche Ansichten haben
(26/16/m).
Eigentlich wollte er (der Vater) nie so aggressiv sein. Aber er ist halt so, er wollte die richtige Erziehung machen, ... seine Mutter ist, glaub’ ich, bei seiner Geburt gestorben und der Vater drei Jahre später, und er ist halt bei seinem Onkel und bei seiner Tante aufgewachsen, und die haben ihm nie die richtige Erziehung gegeben
(59/19/m).
[132:366] Die wenn auch je nur angedeutete Frage nach den Ursachen nicht akzeptablen autoritären Verhaltens unterscheidet Jugendliche, die diesem Muster folgen, besonders von allen anderen. Derartige Ursachen werden nicht nur in gleichsam äußeren Bedingungen von Institutionen und Rollen vermutet, sondern auch in (damit verbundenen) psychischen Vorgängen. Innerhalb dieses Musters gibt es also deutliche Anzeichen für
Perspektivenübernahme
in dem sozialpsychologischen Sinn dieses Terminus. Weil etwa – auch dies mit besonderer Eindeutigkeit – Gewalt als Mittel bei Auseinandersetzungen entschieden verworfen wird, sucht man nach Gründen, wie es dazu kommen kann, und zwar sowohl bei anderen wie bei sich selbst:
[132:367] (Im Gegensatz zu seiner Familie hat er die mitteleuropäische Denkweise übernommen):
Und das ist dann halt so gewesen, daß mein Vater wollte, daß ich nicht so denke, weil wir ham ’ne ganz andere Religion, andere Einstellungen als die Deutschen, sagt er ... Mein Vater hat mich dann auch – weil ich hab mich widersetzt und so – hat er mich ab und zu verprügelt ... Also bestimmt 90% der islamischen Jugendlichen werden von ihren Eltern geschlagen, um diesen Charakter anzunehmen. Die Leute schlagen ihre Frau, prügeln ihre Kinder, nur damit sie gehorsam sind. Nur um den Gehorsam zu respektieren. Und das ist bei jedem so. Und du bist dann total mit Aggressivität geladen, ... du bist den ganzen Tag mit diesem Streß geladen, mit dieser Wut im Bauch bist du geladen. Da kommt irgendeiner und macht dich an, und dadurch kommt die ganze Gewalt, so mit Jugendlichen, also untereinander ... Ich hab viel über diese Schläge nachgedacht. Als kleines Kind hab ich gesagt: das verzeih’ ich ihm nie, wenn ich erwachsen bin, den tret’ ich auch mal so. Aber jetzt bin ich irgendwie so, er kann auch nichts dafür.
(59/19/m)
[132:368] Gewalt zerstört das Bemühen um Verständigung, um
kommunikative Diskurse
, wie man sagt, jedenfalls nach Meinung derjenigen Jugendlichen, die der hier erörterten Klasse moralischer Optionen zugehören. Eben deshalb hängt, wie sie zu bedenken geben, vieles davon ab, sich die Gründe für ein derart sozialschädliches Verhalten klarzumachen. Der gerade zitierte junge Türke, der zugab, in derart schwierigen Lagen auch selbst schon aggressiv gewesen zu sein (
... du bist den ganzen Tag mit diesem Streß geladen ...
und
dann kommt irgendeiner und macht dich |A 101|an
), entfaltet in wenigen Worten eine Art Theorie abgestufter gestörter Kommunikation: Die Klüfte oder Differenzen zwischen Kulturen/Nationen und dem damit verbundenen Beharren auf kollektiven Mustern des Verhaltens; die Folgen in der Kleingruppe (Familie), in der sich derart kulturell-kollektives Beharren in den Umgang der Generationen miteinander transformiert; schließlich das eigene Verhalten, am schwachen Ende dieser Kette, das in Gewalttätigkeiten endet, so als würde er die Frustrations-Aggressions-Hypothese kennen. Dieser junge Türke nimmt einen Standpunkt ein, der über dem Wunsch nach Versorgtwerden, über dem Vertrauen auf die eigene egoistische Durchsetzungskraft, ja selbst noch über der Option für angepaßte Leistungserwartungen steht. Daß er
über
diesen steht, soll heißen, daß er dies in sein Nachdenken relativierend einbezieht und einen Weg moralischer Rechtfertigung sucht, der noch jenseits jener Optionen liegen könnte. Eine derartige Bewegung des Denkens, besonders wenn sie das eigene Verhalten einbezieht, nennen wir gewöhnlich
reflektierend
. Diese Weise der Weltzuwendung aber kann, in Hinsicht auf moralische Sachverhalte, nicht anders als kommunikativ, als auf Wegen der Verständigung gedacht werden.
[132:369] Die Option für eine solche Moralvorstellung wird zwar gut konturiert und von den Jugendlichen auch mit vielen plausiblen Beispielen belegt. Ob es aber mehr ist als ein phantasiertes Gegenbild zu erlittenen unerfreulichen Erfahrungen, ist schwer zu entscheiden. Die Zukunftsvorstellungen, überhaupt die gleichsam nach vorne weisenden normativen Entwürfe bleiben merkwürdig blaß, auch mit Bezug auf die erwünschten sozial-interaktiven Kontexte:
[132:370]
Da bin ich in die Spießerrolle mit reingekommen. Das waren nur Reichere. Und die haben halt über das untere Niveau nur gelästert. Wenn da jemand langgefahren ist:
äh, guck dir mal diesen asozialen Proll an
, so in dieser Richtung. Und dann hab ich gesagt, ist doch egal und so, weil, ich war selber in diese Rolle. Und zu mir war nie jemand so. Weil es bei uns im Viertel das nicht gab, ... da waren alle so auf einer Stufe
(20/16/w).
Und du sollst nicht dein Geld scheffeln, sondern du sollst dich gut fühlen
(56/22/w). (Über seine eigene Wohnung und die Einzelbetreuung):
Perfekt, für einen in meinem Alter ist das prächtig
(26/16/m). (Über die Erfahrungen in der Außenwohngruppe):
Da hab ich natürlich auch keinen Bock gehabt, weil das mir einfach viel zu druckmäßig war.
(Thema Heiraten bzw. Partnerschaft):
Daß man sich einfach irgendwo versteht, über jede Probleme reden kann, und daß der nicht kommt und mich untern Pantoffel stellt, das kann ich absolut nicht haben. Und darum will ich auch nicht heiraten, das seh’ ich gar nicht ein
(56/22/w).
Erstmal würde ich mir Frieden für alle wünschen. Dann würde ich mir wünschen, daß es allen gut geht, daß alle auf einer sozialen Stufe sind, nicht: Ich bin reich, du bist arm, sondern alle gleich, daß es keine Unterschiede gibt
(20/16/w).
[132:371] Solche Äußerungen – und von dieser Art sind alle, die der hier erläuterten moralischen Orientierung zugehören – geben zu denken, weil sie die Option für Gleichberechtigung, Verständigung, kommunikative Ver|A 102|hältnisse weniger überzeugend erscheinen lassen, als wir das zunächst aus dem ersten Zitat gefolgert hatten: Entweder sind es (zumeist) abstrakte Beteuerungen, oder die kommunikativ scheinende Moralvorstellung gerät in den allzu engen Paß der eigenen Durchsetzungs- oder Befriedigungsinteressen hinein (
sich gut fühlen
, Einzelbetreuung
perfekt
, Wohngruppe
zu druckmäßig
etc.). Ist die moralische Option für
Verständigung
, für die Orientierung an sittlichen Gütern in gemeinschaftlichen Verhältnissen vielleicht nur eine Fassade, aus den eigenen leidvollen Erfahrungen als Gegenentwurf konzipiert, aber abstrakt? Und wenn es darum geht, die Kritik und die Option in konkrete Verhältnisse positiv zu überführen, und sei es in Gedanken, kommt dann nicht doch eine Orientierung zum Vorschein, die eigentlich einem anderen moralischen Muster zugehört? Vielleicht ist das der Grund, warum auch Jugendliche von dieser Art sich in unserer Stichprobe finden.
|A 103|

6. Devianz

[132:372] Ähnlich wie im Hinblick auf moralische Orientierungen haben wir es auch im Falle abweichenden Verhaltens mit einem Thema zu tun, das in einer nur schwer übersehbaren Fülle von methodischen Zugängen, empirischen Befunden und klassifizierenden bzw. deutenden Theorien zum Gegenstand der Forschung wurde. Es wäre ganz unangebracht, derartiges hier noch einmal zu wiederholen, zumal nicht über ein Devianz-Forschungsprojekt berichtet wird. Es ist demgemäß und in dieser Hinsicht nichts Neues zu erwarten. Daß dennoch
Devianz
als Kategorie für die Auswertungen der Gesprächsmaterialien ins Spiel gebracht wird, hat den folgenden Grund: Mit abweichendem Verhalten, seinen Motiven und seinen Folgen sind die Jugendlichen unserer Stichprobe entschieden deutlicher konfrontiert als andere, die nicht in das Betreuungs- oder Behandlungsfeld von Jugendhilfe-Einrichtungen, gelegentlich auch der Strafjustiz, hineingerieten. Es war deshalb anzunehmen, daß sie in ihren Erzählungen auch von Ereignissen berichten würden, die mit normativen Erwartungen in Konflikt gerieten, von Handlungen also, die auf die Mißbilligung anderer, aber vielleicht auch ihrer selbst in der Rückschau stießen, ohne daß danach ausdrücklich gefragt wurde. Eine solche gleichsam spontane Äußerung könnte ein Anzeichen dafür sein, daß derjenige Typus von sozialen Konflikten, der
Devianz
genannt wird, von den Jugendlichen als Teil ihrer Weitsicht, ihrer Selbstdeutung, ihrer Lokalisierung in den sozialen Lebenskontexten für bedeutsam gehalten wird; andernfalls gäbe es kaum einen Grund, davon zu sprechen. Insofern also gehören Äußerungen über das eigene
abweichende Verhalten
durchaus in den Umkreis dessen, was wir
Deutungsmuster
nennen.
[132:373] Um die Sicht auf diese Klasse von Äußerungen zu erläutern, ist es indessen nützlich, auf wenigstens einige Befunde der Devianzforschung und unstrittige theoretische Annahmen und praktische Verhältnisse hinzuweisen, die für den Hintergrund unserer Interpretationen wichtig sind:
  • [132:374]
    Devianz
    ist ein normales Vorkommnis im Prozeß des Heranwachsens. Da wir mit den uns je historisch auferlegten Regeln des Zusammenlebens nicht auf die Welt kommen, müssen sie erworben werden. Das geschieht über Lernen, d. h. in diesem Fall über praktisches Verhalten und dessen Korrekturen durch die Mitwelt.
  • |A 104|
  • [132:375] Von diesem normalen Fall des Ausbalancierens von Verhaltensimpulsen und sanktionierten Regelverletzungen ist zu unterscheiden, was
    primäre Devianz
    genannt wird: eine zumeist schon in der Kindheit auftauchende Schwierigkeit, die darin besteht, eine Regel-Angemessenheit des Verhaltens und Handelns nicht zuverlässig ausbilden zu können. Die Gründe dafür sind vielfältig; inkompetente primäre Sozialisationsmilieus können dafür ebenso als Bedingung angenommen werden wie somatische Beeinträchtigungen.
  • [132:376]
    Primäre Devianz
    kann nun entweder verborgen bleiben oder gleichsam zwanglos bereinigt werden; sie kann aber auch in die Zonen öffentlicher Aufmerksamkeit hineingeraten. Damit beginnt der zahllos beschriebene Vorgang der
    Etikettierung
    durch die Institutionen der öffentlichen Sozialkontrolle: Kinder und Jugendliche, die Schwierigkeiten mit dem Regelwerk der Sozietät haben, geraten nun in Gefahr, mit einem Makel ausgestattet zu werden. Dieser (zugeschriebene) Makel tritt zumeist in zwei Varianten auf: als Unterbringung in oder Betreuung durch Sozialformen, die nicht dem Regelfall entsprechen (Pflegefamilien, psychodiagnostische Beratungsstellen, Heime, psychiatrische Versorgung, ambulante Therapie, Jugendgerichtsverfahren etc.) und als Vokabularium, mit dem die Lokalisierung von Verhaltensmerkmalen im Spektrum der überhaupt vorhandenen Verhaltensmöglichkeiten vorgenommen und (leider) häufig festgeschrieben wird (verhaltensauffällig, verhaltensschwierig, schwer erziehbar, therapiebedürftig, abweichend, delinquent, aggressiv, kriminell etc.). Damit entsteht das Problem der
    sekundären
    Devianz, der Nötigung nämlich, mit diesen zugewiesenen oder zugeschriebenen Merkmalen sich auseinanderzusetzen.
  • [132:377] Professionelle Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen kennen diese Befunde und wissen, daß die etikettierenden Zuschreibungen und institutionellen Zuordnungen in unterschiedlicher Weise mehr oder weniger begründungsfähig sind (der Ausdruck
    therapiebedürftig
    z. B. ist nicht nur ein soziales Etikett; er ist auch das Resultat einer verantwortungsvollen diagnostischen Prozedur, gerade auch in Rücksicht auf jene Zuschreibungen). Deshalb kreist seit ca. 25 Jahren die Erörterung von Möglichkeiten der Jugendhilfe-Reform um diese Fragen. Die entsprechenden Einrichtungen versuchen seitdem, die unerwünschten Effekte der
    sekundären Devianz
    zu vermeiden und sich (einerseits) auf die Genese von auffälligem Verhalten und die Möglichkeiten nachholender Erziehung zu konzentrieren und (andererseits) die Lebensbedingungen dieser Einrichtungen so zu gestalten, daß sie dem gleichsam normalen Lebensalltag möglichst nahe kommen.
[132:378] Mit diesen Annahmen und Befunden ausgestattet soll nun zur Sprache gebracht werden, wie
Devianz
in den Äußerungen der davon betroffenen Jugendlichen vorkommt. Da unsere Studie nicht an Dunkelfeld-Forschung interessiert ist, auch nicht an Klassifikationen von devianten Verhaltensweisen, etwa dem Schweregrad nach oder gar nach den Regeln der Polizei-Kriminalitätsstatistik, ist ein anderer Gesichtspunkt nötig. Wir können nicht hoffen, angesichts von nur 70 Fällen und unter Berücksichtigung der nur qualitativen Informationen, deviante
Karrieren
zu rekonstruieren, die verallgemeinerungsfähig sind. Ebenso können wir nicht die tatsächlichen und irgendwie sanktionierten Devianz-Handlungen auszählen und klassifizieren, etwa nach Maßgabe der im übrigen |A 105|sehr überzeugenden Devianz-Klassifikation von Peters in Tauschnormen, Reproduktionsnormen und Herrschaftsnormen mit den je zugehörigen Motivationen und Verhaltensarten (Peters 1989); das Zählergebnis würde Objektivität nur vortäuschen, da es ja ganz im Belieben der Jugendlichen lag, so etwas wie Devianz-Ereignisse aus ihrem Leben auch nur zu erwähnen. Wir können deshalb nur ermitteln, ob die Jugendlichen Mitteilungen über irgendwelche Formen abweichenden Verhaltens überhaupt für relevante Aussagen über ihr Leben halten. Aber nicht einmal dies ist zuverlässig möglich, denn aus dem Fehlen der Mitteilung läßt sich nicht auf
Irrelevanz
schließen, weil es ja durchaus Lebensereignisse gibt, die mir zwar höchst wichtig sind, die ich aber, aus welchen Gründen auch immer, preiszugeben nicht bereit bin.
[132:379] Die Devianz-Mitteilungen der Jugendlichen sollen deshalb nur als tentative Kontrolle ins Spiel gebracht werden: Es könnte ja sein, daß einzelne der oben dargestellten Deutungsmuster im Hinblick auf Zeit, den Körper, das Selbst und die Moral bereits verbunden sind mit dem, was sich in den Gesprächen als Devianz-Erfahrung zeigt. Was durch solche Kontrolle ermittelt wird, ist also kein zuverlässiger Befund, sondern hat höchstens den Status von relativ riskanten Hypothesen. Zu diesem Zweck wurden alle Äußerungen berücksichtigt, die zu erkennen geben, daß der Jugendliche sein Verhalten von der Grenze zwischen Billigung und Mißbilligung her beschreibt, also z. B.: Ausreißen und Schuleschwänzen, Leistungsverweigerung, jede Art von Drogengebrauch, aggressives Verhalten, Eigentumsverletzungen, selbstdestruktive Tendenzen. In derart zusammengetragenen Mitteilungen lassen sich vier Devianz-Deutungsmuster unterscheiden, d. h. Äußerungskonstellationen, die es erlauben, den lebensweltlichen Schwerpunkt zu beschreiben, an dem sich die bildungsgenetische Frage nach der Grenze zwischen
Normalität
und
Abweichung
den Jugendlichen unserer Stichprobe vordringlich stellt, nämlich:
  1. 1.
    [132:380] Ein
    autoaggressives
    Deutungs-Syndrom. Schwierigkeiten mit den Normalitätserwartungen der verschiedenen sozialen Mitwelten werden hier nicht nach außen hin konfrontiert, sondern führen eher zur
    Devianz
    sich selbst gegenüber, als Selbstzuschreibung. Nach außen hin aber fühlt man sich, teils dramatisch, als Abweichler(in), eine Konstellation, die bis zu suizidalen Tendenzen führen kann.
  2. 2.
    [132:381] Eine
    subkulturelle
    Orientierung. Hier steht nicht die Binnensicht im Zentrum der Aufmerksamkeit der Jugendlichen, sondern soziale Zugehörigkeit. Die Gleichaltrigengruppe oder das subkulturelle Milieu stehen den Standarderwartungen an
    Normalität
    gegenüber. Was für diese Zeichen für Abweichung sind, das bedeutet gruppenintern Stärke, findet Billigung.
  3. 3.
    [132:382] Davon unterschieden ist ein Deutungsmuster, das auch von gruppeninterner Regelhaftigkeit, Solidarität gar nur wenig wissen will, jeden|A 106|falls insoweit nicht, als die
    Gruppe
    nicht ohnehin schon sich nach einem aggressiven Muster organisiert hat. Wir nennen es deshalb abgekürzt
    aggressiv
    . Diese Jugendlichen riskieren nicht nur Regelverletzungen; sie führen sie absichtsvoll herbei und sind in der Tendenz wenig empfindlich für soziale Normalitätserwartungen; sie sehen auch keinen Grund, ihre devianten Handlungen zu rechtfertigen, schon gar nicht, sie in selbstkritische Erwägungen einzubeziehen.
  4. 4.
    [132:383] Schließlich gibt es eine Selbstdeutungs-Mentalität im Hinblick auf Devianz, in der diese eher als Bagatelle erscheint. In den Mustern 1 – 3 deutete sich, mal stärker, mal schwächer, noch an, daß das Problem der Normabweichung eine dramatische Lebensregion betrifft. Hier aber ist Devianz ein
    gelegentliches
    Ereignis; die Grenze zwischen
    normal
    und
    abweichend
    verschwimmt tendenziell. Es konturiert sich weder ein deutlicher Begriff von sozial rechtfertigungsfähigen Standarderwartungen, noch wird (folgerichtig) das eigene abweichende Verhalten, wie etwa im
    aggressiven
    Muster, als gewichtige Selbstartikulation beschrieben.
[132:384] Diese vier Muster sollen nun zur Darstellung kommen. Sie alle bringen, auch ohne daß die Jugendlichen das wollen, je charakteristische pädagogische Aufgabenstellungen zur Sprache. Davon wird die Rede sein müssen. Das aber wird begründet erst dann möglich sein, wenn wir wissen, in welcher Beziehung die Devianz-Deutungen der Jugendlichen zu den Mustern innerhalb der anderen Kategorien stehen. Man darf z. B. gespannt sein darauf, wie die immerhin 19 Jugendlichen (von 70), die ihre Devianz als
gelegentliches
Ereignis definieren, z. B. ihre Zeit- oder Körper-Orientierungen artikulieren (vgl. das folgende Kapitel). Hier soll vorerst nur mitgeteilt werden, wie die vier Devianz-Deutungsmuster sich über die Stichprobe verteilen, und zwar differenziert nur nach Muster und Geschlecht (Tabelle 6).
[132:385]

Tab. 6: Devianz-Muster, differenziert nach Geschlecht

Devianz-Muster
autoaggressiv subkulturell aggressiv gelegentlich Gesamt
Gesamt 11 5 20 19 55
davon männl. 3 2 18 14 37
weibl. 8 3 2 5 18
Anmerkung: Die Differenz zwischen den 55 in der Tabelle dokumentierten Fällen und der Gesamtzahl von 70 ergibt sich daraus, daß in 15 Gesprächen keine Devianz-Mitteilungen gemacht wurden.
|A 107|
[132:386] Zweierlei an dieser Verteilung gibt gleichsam schon auf Anhieb zu denken, auch wenn es manch einen nicht überraschen mag. Der relativ hohe Anteil der
autoaggressiven
Selbstdeutungen ist vielleicht am ehesten ein Hinweis darauf, daß die sozialen Kontexte, in denen diese Jugendlichen heranwuchsen, ihnen unerträglich erscheinen; die
Aggressiven
und die
Gelegentlichen
fühlen sich, mit einigen Einschränkungen, relativ gut; jene aber kehren das
Leiden an der Gesellschaft
gegen sich selbst. Und unter diesen, das ist die zweite Auffälligkeit, überwiegen entschieden die Mädchen. Derart kleine Fallzahlen erlauben zwar nicht im mindesten irgendeine Verallgemeinerung. Sie deuten aber eine Fragerichtung an, der man folgen sollte, zumal zu dieser Gruppe die knappe Hälfte aller auswertbaren weiblichen Selbstberichte gehört (bei den Jungen sind es weniger als 10%). Hilfreich für begründete Entscheidungen in dieser Art Hinsichten, in Rücksicht auf die inhaltliche Richtung der verschiedenen Deutungsmuster und ihrer Relation zu den mitgeteilten tatsächlichen Handlungen im Devianz-Bereich, ist indessen auch die Auszählung von Arten abweichenden Verhaltens, bezogen auf die Deutungsmuster (Tabelle 7). Aus solchen Häufigkeitsverteilungen verschiedener
devianter
Handlungen, von den Jugendlichen mitgeteilt, ergibt sich eine Bekräftigung der Muster-Konstruktion: Nicht nur in den Formen der Mitteilung (was im folgenden im Vordergrund stehen wird), sondern schon in der einfachen Auszählung der berichteten Normverletzungen deuten sich die verschiedenen Profile an. Das tritt noch deutlicher hervor, wenn man sich die jeweiligen Rangreihen vor Augen führt

Tab. 7: Devianzprofil

Mitgeteilte Form von
Devianz
autoaggressiv (n = 11) subkulturell (n = 5) aggressiv (n = 20) gelegentlich (n = 19) Summe
Diebstahl in der Familie 2 8 2 12
Ladendiebstahl 4 1 6 13 24
Einbruch 1 7 8
Autodiebstahl/-aufbruch 1 1 6 3 11
Raub 1 8 1 10
Zigarettenkonsum 2 2 4 1 9
Alkoholkonsum 4 2 11 5 22
Tablettenkonsum 3 3
Weiche Drogen 4 4 4 6 18
Harte Drogen 1 1 1 3
Entweichen (incl.
Zu-spät-Kommen
)
9 4 14 14 41
Gewalt gegen Sachen 3 2 8 11 24
körperliche Gewalt
– gegen andere Personen 4 5 19 10 38
– gegen sich selbst 91
1davon 8 Fälle mit Suizidversuchen
- 1 - 10
|A 108|(Tabelle 7). Hier zeigen sich deutliche Hinweise auf verschiedenartige Devianzprofile, die nun geschildert werden sollen.

Das autoaggressive Devianzmuster

[132:387] Innerhalb der Tabelle treten bei dieser Gruppe Formen der
Gewalt gegen sich selbst
und
Entweichen
zahlenmäßig besonders hervor. Neun von elf Jugendlichen taten sich selbst Gewalt an, z. B. verübten acht einen oder sogar mehrere Selbstmordversuche. Andere fügten sich Verletzungen zu. Neun von elf hatten oder haben soziale Schwierigkeiten aufgrund von Entweichen. Häufig in dieser Gruppe ist auch der Gebrauch von Drogen und Alkohol (insgesamt 8 Fälle). Tablettenmißbrauch taucht im Unterschied zu den anderen Teilgruppen nur hier auf. Vorsätzliche Gewalthandlungen scheinen diese Jugendlichen zu vermeiden. In körperliche Auseinandersetzungen mit anderen geraten sie höchstens im Affekt. Auffällig ist der hohe Anteil der Mädchen (insgesamt acht).
[132:388] Anhand der Interviews läßt sich diese erste Profilskizze noch genauer beschreiben: Deviante Verhaltensweisen werden in den Äußerungen dieser Jugendlichen nicht als episodisches Fehlverhalten oder als gelegentliche
Ausrutscher
gedeutet. Vielmehr werden sie in den sprachlichen Selbstdarstellungen in den biographischen Leidensweg eingeflochten. Devianz als eine Folge oder Ausdruck von sozialen Schwierigkeiten scheint ein durchgängiges Deutungsmuster dieser Heranwachsenden zu sein. Ein weiteres Merkmal besteht darin, daß die beschriebene Kombination von devianten Verhaltensweisen in ein Zeitmuster eingefädelt wird, das wir weiter oben
Beziehungszeit
genannt haben. Dies belegen die folgenden Textstellen:
[132:389]
Mein Vater und meine Mutter haben zusammengelebt. ... Dann haben sie sich getrennt. Und dann hat mein Vater mich und noch den Sohn gehabt. Hat uns versucht großzuziehen irgendwie. ... Also immer wechselnde Bezugspartner hatte ich. Also anstatt Mutter, immer irgendwie ’ne Freundin von ihm, Bettgenossen, oder was weiß ich. ... Und dann, als ich zwölf war, hat ihn seine Freundin verlassen. Und dann hat er richtig angefangen zu saufen. ... Da hing ich auf’m Spielplatz rum und hab da mit irgendwelchen Idioten Bier getrunken. ... Ja die Mutter, ... sie hat immer ein bißchen Geld geschickt, um Gewissen zu beruhigen, daß sie nicht mehr da ist. Also im nachhinein fällt mir auf, daß ich eigentlich die mütterliche Geborgenheit hätte gehabt haben müssen. ... Dann als ich 14 geworden bin, hat sich mein Vater umgebracht. Und da ist für mich die Welt erstmal zusammmengestürzt. ... Also selbst so schon die Vorphase vom Alkoholiker gehabt. ... Schnauze voll von allem gehabt, und Selbstmordgedanken, Tabletten geschluckt und sonstwas.
(21/18/m)
[132:390]
Hat uns halt immer was gegeben, aber sie (Mutter) hat uns nie gezeigt, daß sie uns gern hatte oder so. ... Da kam ich dann mit 10 Jahren kam ich dann in das erste |A 109|Heim. ... Ja, ich wollte auch rein, weil meine Mutter mich immer so abgenervt hatte. Weil mit acht Jahren ... hab ich mit Kiffen angefangen, und ... daß ich nachts nicht nach Hause gekommen bin.
(1/16/w)
[132:391]
Ich hab immer so das Gefühl gehabt, daß ich von meinen Eltern nicht geliebt wurde. ... Es waren zwei-, dreimal, wo ich dann losgezogen bin wegen Zigaretten klauen und so. Ich glaube, das war nur so’ne Reaktion halt auf mein Elternhaus und so. ... Es war halt nur so mehr der Wunsch nach Wärme und Liebe und Geborgenheit in meinem Elternhaus. Und die habe ich halt nie gehabt. ... Und hab deshalb mich zu früh in die Ehe gestürzt, ... und dann kamen ja auch die Kinder, und vielleicht, daß das alles so schnell gekommen ist. ... Und hab ich Selbstmordversuche, wo ich das erfahren habe, daß ich schwanger war. ... Und dann auch noch die ganzen Probleme, und der Vater hat gesagt, ich würde rumspinnen, also jetzt von dem Kind. ... Zuletzt war’s so, daß ich Tabletten nehmen mußte zur Nervenberuhigung.
(51/23/w)
[132:392] Ihre Biographie stellen diese Jungen und Mädchen überwiegend als einen Weg andauernder Belastungen durch andere dar; den Beweggrund ihrer abweichenden und z. T. sanktionierten Verhaltensweisen sehen sie vor allem in den für sie unbefriedigenden familiären Kontexten, z. B. dem Fehlen oder der Überlastung eines Elternteils. Einige fühlen sich von einem Elternteil oder sogar von beiden vernachlässigt oder abgelehnt. Andere erfahren nach der Scheidung der Eltern und nach der Neuorganisation der Familie plötzlich nicht nur von dem Stiefvater oder der Stiefmutter, sondern oft auch von dem leiblichen Elternteil Zurückweisung oder sehen sich gegenüber den Stiefgeschwistern als benachteiligt an. Im allgemeinen werden im Elternhaus oder in der Pflegefamilie emotional aufrichtige Beziehungen vermißt; Erwartungen nach Gesten der Zuneigung wurden nicht erfüllt. Devianz ist bei ihnen Ausdruck für hoffnungslose, verzweifelte Lebenssituationen.
[132:393] Wieder andere Jugendliche berichten von einem rigiden,
kalten
Erziehungsstil der Eltern und sehen sich mit hohen Leistungsforderungen und moralischen Erwartungen konfrontiert, die sie nicht erfüllen können. Fast alle Jugendlichen dieser Teilgruppe beurteilen ihre Beziehungen zu ihren Eltern oder zu einem Elternteil als eingefahren, ohne Hoffnung auf Lösungsmöglichkeiten.
[132:394] Es scheint für die Jugendlichen nur zwei mögliche Wege zu geben, um mit ihrer Notlage
fertig zu werden
. Aus-dem-Feld-Gehen, Entweichen, Ladendiebstähle scheint eine der beiden
Scheinlösungen
zu sein, wie der folgende Fall dokumentiert:
[132:395]
Ja, das (Klauen) kam daher, ich hab immer bei den anderen Kindern gesehen, daß sie schöne Sachen haben, und die meisten hatten auch noch Eltern, die sie besuchen kamen. Und ich hatte das nicht. Und ich denke: das, was die haben, das kannst du auch haben. ... Ich bin halt manchmal nur rumgestreunt. ... Ich hab immer wieder versucht, ziemlich weit weg, nur weg von dem Heim. ... Die Erzieher waren eigentlich nur dafür da, um das Geld auszuteilen.
(49/23/m)
|A 110|
[132:396] Das häufige
Schuleschwänzen
begründet derselbe Jungendliche so:
Erstmal hatt’ ich Angst vor den anderen Kindern, ... also die aus elterlichem Hause kamen, die also noch Eltern hatten ... die in normalen Verhältnissen aufgewachsen, vor denen hatt’ ich Angst. Daß die anfangen zu erzählen: ööh, olles Heimkind, und ihr könnt ja eh nichts! Da hab ich mich immer wieder vor gesperrt, dann da reinzugehen, wenn ich Kinder auf’m Schulhof gesehen hab.
(49/23/m)
[132:397] Ein anderer Teil, vorwiegend die Älteren, suchen einen anderen Ausweg, und zwar in dem Gebrauch von Drogen. Sie dienen weniger der Selbststimulierung, sondern stärker zur kurzzeitigen Entledigung von seelischen Spannungen. So begründet ein Mädchen den Gebrauch von Psychopharmaka, die sie sich im Drogenmilieu besorgt, folgendermaßen:
[132:398]
Meine Mutter hat mir versprochen, daß in den Sommerferien, daß ich zu ihr kommen kann und so. Da war ich schon am Bahnhof. Ruf ich an, daß ich komme. Sie so, nee, du brauchst nicht zu kommen. Da war ich voll sauer und so. So, jetzt muß ich mich irgendwie zudröhnen und so. Na, da hab ich mir die geholt. Und das wurde dann immer öfters
. Sie beschreibt die Wirkung von Drogen folgendermaßen:
Ich mein’, wenn ich jetzt Tabletten nehme, also, ich vergesse dann alles. Ich meine, man vergißt, dann ist also Bandriß bei mir. Am nächsten Tag weiß ich überhaupt nicht, was ich gemacht hab. Oder ich nehm’ die ganz oft, wenn ich Streß hab, mit meinem Freund oder so. Für mich hilft das ja in der Sache dann. Weil ich das dann einfach vergesse, weil ich dann zugedröhnt bin. Oder wenn ich kiffe.
(16/15/w)
[132:399] Bei den Mädchen kommt es häufiger zu Tablettenmißbrauch, demgegenüber ist bei den Jungen der Alkoholgebrauch stärker ausgeprägt.
[132:400] Im Unterschied zu den anderen Jugendlichen haben diese Hemmungen, ihre Interessen gegenüber anderen durchzusetzen und ihren Ärger und ihre Enttäuschung auszudrücken. Gewaltsame körperliche Auseinandersetzungen bilden eher eine Ausnahme, körperliche Gewalt wird vermieden. Wenn es denn sein muß, dann werden Aggressionen in verbaler Form ausgedrückt oder an Einrichtungsgegenständen ausgelassen. In den sozialen Beziehungen erleben sie sich als die Schwächeren, sie schildern sich eher als ängstlich:
[132:401]
Da hatt’ ich auch Ärger mit meinem Stiefvater, ... da bin ich auch abgehauen, da hatt’ ich halt Angst vor dem, und da bin ich abgehauen. (Wie alt warst du da?) Zehn oder zwölf. ... Es hing alles an einem Silvesterabend, ich habe schon früh Tabletten geschluckt, nicht etwa, um mich umzubringen, einfach so, damit ich schlafen kann, ... damit die Kopfschmerzen weggehen. Und da hab ich mich mit meinem Stiefvater tierisch gestritten, ... nur angeschrien, und dann war ich hinterher doch wieder so aufgekratzt und konnt’ nicht schlafen. Und da hab ich mir ’n paar Schlaftabletten reingepfiffen. Ja, ich war tierisch durchgedreht an dem Abend ... Das heißt heute noch, daß ich mich umbringen wollte. ... Da hat meine Mutter gesagt, ich wollte abhauen, sie hat mir eine geknallt, ich hätte ihr eine geknallt – was ich mir überhaupt nicht vorstellen konnte, da hatt’ ich viel zu viel Respekt
. (54/15/w)
[132:402] Das Vermeiden von körperlicher Gewalt hängt sicherlich nicht nur mit dem Respekt gegenüber Autoritäten zusammen, sondern auch mit Kör|A 111|perbild und Selbstentwurf. Das autoaggressive Devianzmuster korrespondiert, wie sich im letzten Fallbeispiel zeigt, mit einer hohen
Körpersensibilität
. Sieben der elf Fälle, die diesem Devianzmuster folgen, ließen sich den
Körperselbstempfindlichen
zuordnen, die, wie weiter oben schon gezeigt wurde, eher zu selbstdestruktiven Bewegungen als zu aggressiven Gesten neigen. Fünf Fälle haben ein unsicheres Selbstbild, vier entwerfen von sich ein Bild, das wir weiter oben als
eigenständig
bezeichnet haben. Die signifikante Überschneidung zwischen dem ersten Devianzdeutungsmuster und den
Körperselbstempfindlichen
ist sicherlich damit zu erklären, daß Jugendliche, die ihre körperlich-seelische Befindlichkeit und die von anderen sehr sensibel wahrnehmen, Gewaltanwendungen gegenüber anderen vermeiden, weil sie wissen und nachempfinden können, was sie mit ihrem Verhalten bei ihrem Gegenüber bewirken können. Sie neigen daher eher zu autoaggressivem Verhalten oder aber zu Kompensation und symbolischer Konfliktverarbeitung. Jugendliche, deren Beziehungen also nach ihrer Sicht von beiderseitig enttäuschten Interaktionserwartungen geprägt sind und die Schwierigkeiten haben, diese Erfahrungen, aber auch ihre Erwartungen auszudrücken und zu verarbeiten, neigen eher zu Gewalthandlungen gegen sich selbst, zu Kompensation durch Drogen, psychosomatischen Symptomen und Entweichen.
[132:403] Welche besonderen Schwierigkeiten hat diese Fallgruppe in den Jugendhilfeeinrichtungen? Ihren Deutungen zufolge machen diese Jungen und Mädchen in den Heimen z. T. ähnliche Erfahrungen wie in den Familien: In dem routinierten Gruppenalltag ist oft nur wenig Raum für individuelle Zuwendung. Sie sehen sich mit z. T. hohen Ausbildungs- und Leistungserwartungen konfrontiert oder mit Erziehern, die stark an Regelvorstellungen und einen nach Dienstplänen organisierten Tagesablauf gebunden sind. Entweichen, Tabletten- und Drogenmißbrauch, Schulverweigerung scheinen nach den Aussagen ihrer Erzieher hier die Hauptprobleme zu sein. Die Gespräche bzw. Interviews mit den Erziehern belegen zudem, daß diese sich oft von den Erwartungen der Jugendlichen überfordert fühlen und aufgrund der Gruppensituation nicht in der Lage sind, den Jugendlichen das gewünschte Maß an Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. In den Konflikten mit den Erziehern geht es meist um die Einhaltung der institutionellen Regeln, selten um die eigentlichen Erwartungen, die die Jugendlichen verdecken oder überspielen.
[132:404] Die Schwierigkeiten und Interaktionsprobleme, vor denen diese Jugendlichen stehen und die sie kaum lösen können, bestehen also nicht nur in der Familie, sondern ziehen sich wie ein roter Faden durch die Biographie. Der Selbstmordversuch ist nach Aussage einiger Jugendlicher ein Versuch, eine Wendung in ihrer ausweglosen Situation herbeizuführen, Aufmerksamkeit und Zuwendung zu bekommen. Es war, wie einige Jugendliche berichten,
nur Mittel zum Zweck
.
|A 112|
[132:405] Unter den Fällen, die sich diesem Muster zuordnen lassen, überwiegt deutlich der Anteil der Mädchen. Befragt nach Sanktionserfahrungen, überwiegen bei den Mädchen weiche Sanktionen oder Sanktionsdrohungen gegenüber strafrechtlichen Verfolgungen bei den Jungen. Es wurden aber fast nur leichte Strafen verhängt. Das Gefühl, abgeschoben und nicht anerkannt zu werden, empfinden die meisten als größte Strafe.

Die subkulturelle Orientierung

[132:406] Die abweichenden Verhaltensweisen sind bei dieser Gruppe auf den ersten Blick unspezifisch (vgl. Tabelle 7): Entweichen ist sehr häufig, in körperlichen Auseinandersetzungen waren fast alle mal verstrickt, mit weichen Drogen hat ein Großteil Schwierigkeiten. Dieses Devianz-Selbstdeutungsprofil hat gewisse Ähnlichkeiten mit dem ersten, auch diese Jugendlichen scheinen häufig zu entweichen und nehmen Drogen, allerdings fehlen in dieser Gruppe die selbstdestruktiven Tendenzen. Sie interessieren sich nicht für Tabletten und vermeiden auch Gewalt gegen sich selbst. Als besonders charakteristisch für dieses Muster fällt die grundsätzliche Schwierigkeit auf, mit konventionellen, institutionellen Kontexten wie Schule, Berufsausbildung, Heim und den durch sie vermittelten gesellschaftlich allgemeingültigen Normen- und Wertvorstellungen ins reine zu kommen. Die Jugendlichen fallen weniger deshalb auf, weil sie den Unterricht offen boykottieren oder sich mit Erziehern oder Lehrern streiten, sondern eher dadurch, daß sie sich institutionellen Arrangements und z. T. Hilfeangeboten grundsätzlich entziehen wollen. Auch diese Fälle orientieren sich in ihren Lebensbeschreibungen überwiegend an dem Muster
Beziehungszeit
. Auch sie sind in mangelhaften familiären Verhältnissen aufgewachsen. Im Unterschied zum ersten Devianztyp scheinen sie indessen mit den Enttäuschungen und familiären Notsituationen anders umzugehen. Hier zwei Fallbeispiele:
  • I:
    [132:407] Und wie war das bei euch zu Hause, wie bist du mit deinen Eltern zurechtgekommen?
  • J:
    [132:408] Überhaupt nicht. Deswegen bin ich auch abgehauen. ... Da hab ich ’s mit’m Gürtel gekriegt. ... Und dann mit 14 wurd’s dann ... ganz schlimm, da bin ich dann abgehauen, weil ich das nicht mehr ausgehalten hab mit denen. ... Und da kam ich in so’ne Gang rein, und da bin ich auch noch tätowiert worden. Und da ham wir Raubüberfälle gemacht, gehascht gekokst. Was ham wir noch gemacht? Leute zusammengeschlagen, das Geld abgenommen. Schlimm war das! ... Das war ’ne eigenständige Gang, die hießen Perls ... Ja, ich hab mit zu den Jungs gehört, weil ich das erste Mädchen bei den Jungs war. Also ich war von den Mädchen der Chef. (68/14/w)
[132:409]
Ja, zu Hause ..., da hab ich mich mit meiner Mutter kaum verstanden. Dann hatte meine Mutter viele Männerbekanntschaften, und meinen Vater, den hab ich die |A 113|ganze Zeit nicht gesehen. ... Na, und dann ... ist sie immer nur trinken gegangen, da war ich praktisch auf mich selber gestellt. ... Und dann ham wir immer so rumgestreunert. ... Dann war da auch schon’n Freund, der 26 war. ... Na, und dann nach ’ner Zeit, ... da fing er an, meine Mutter zu verkloppen, weil er mich dann auch unten so’n bißchen in schlechte Verhältnisse reingebracht hat, wo Zuhälter und Drogenverkäufer und so waren.
(53/16/w)
[132:410] Das Leiden an den sozialen Verhältnissen wird anders abgefangen als bei der ersten Teilgruppe. Die Betreffenden suchen gleichsam als Ausgleich zu ihren mangelhaften familiären Kontexten befriedigendere soziale Beziehungen in subkulturellen Milieus, die allerdings in ihrem Verhalten den konventionellen Erwartungen nicht entsprechen. Hinsichtlich der von ihnen beschriebenen Konfliktsituationen gibt es dennoch Unterschiede zu dem ersten Devianztyp: sie wurden nicht aus dem Familiengefüge ausgegrenzt oder mit hohen Erwartungen konfrontiert, sondern wuchsen nach ihrer Sicht in häufig sehr chaotischen und desolaten Familienverhältnissen auf, mit widersprüchlichen oder unklaren normativen Orientierungen. Unterstützende und sozialisierende Zusammenhänge fehlten ihnen, nach ihrer Meinung, fast völlig. Derart haltlos finden sie Kontakt zu Gleichaltrigengruppen oder sogenannten
Halbwelten
, die dann für sie eine Art Familienersatz bilden. Die Jugendlichen neigen dazu, diese Kontakte sowie die dort gemachten Erfahrungen zu idealisieren, und zeigen sich gegenüber Jugendhilfeangeboten eher mißtrauisch.
[132:411] Es handelt sich also um Jungen und Mädchen, die sich subkulturellen Gruppen anschließen, wie z. B. Penner-, Stricher-, Prostituierten- oder Bahnhofsmilieus, Drogen-, Hausbesetzer- oder Punkszenen. Teilweise sind sie für die Jugendhilfeverantwortlichen über längere Zeit nicht mehr auffindbar. Früher hätte man sie als
verwahrlost
und
bindungslos
bezeichnet.
[132:412] Kontakte zu Jugendhilfeinstitutionen werden oft nur dann angebahnt, wenn sie Straftaten begangen haben und von der Polizei aufgegriffen worden sind. Zwei von den Befragten lebten unbemerkt über längere Zeit in leerstehenden besetzten Häusern oder Fabriken:
[132:413]
Da hab ich halt ... im besetzten Haus gewohnt so, ... und die ganze Zeit echt vom Schnorren gelebt. Hätt’ ich mich nicht morgens irgendwo hingestellt und geschnorrt, dann hätt’ ich halt Hunger gehabt und Durst. Ja, ... total versiffte Fabrik war das irgendwie, das war, äh, Todesstreifen, so’ne alte Chemiefabrik, ... die war noch total verseucht, da ham wir drin gepennt, ey. ... Also wir, ja ... sind halt mehr links drauf. ... Da wollten auch’n paar Faschos einziehen, waren wir irgendwie da gegen, naja. ... Ich bezeichne mich halt als Punk. Und das bedeutet für mich einfach nur, daß ich mein Leben leben will ohne Streß. Also ich möchte mit allen Leuten irgendwie gut klarkommen so, am besten keine Regeln haben und einfach nur so leben halt, irgendwie.
(66/18/m)
[132:414] Innerhalb dieser Milieus bilden sie einen Lebensstil aus, der mit den gewöhnlichen oft in Widerstreit steht. Ein anderer Heranwachsender, der |A 114|sich als Hippie bezeichnet, beschreibt den Kontakt zur Drogenszene folgendermaßen:
[132:415]
Für mich war’s halt interessanter, in’n Schloßgarten zu gehen und da rumzuhängen. ... Ich hab mir erstmal alles angeguckt, bis ich mitgehen konnte. Bin lange Zeit still gewesen, der Schüchterne ... Schweigen ist ’ne Kunst. Weil wenn ich was gesagt hab, dann war das naiv, weil ich sehr jung war. Und das, was ich wohl unbewußt wollte, war mitgehen mit diesen Leuten. ... Ist insofern weitergegangen, daß ich halt ziemlich auf der Drogenszene war.
(28/19/m)
[132:416] Obwohl sie sich mit dem Lebensstil und dem Habitus ihrer jeweiligen Szene oder peer-group identifizieren und sich dadurch sichtlich von bürgerlichen Standards abheben, bleiben Konflikte und Unzufriedenheit mit der eigenen Lebenssituation nicht aus. Ein 19jähriges Mädchen beschreibt ihre Situation folgendermaßen:
[132:417]
Weiß nicht, ich hab überhaupt irgendwo – wie’s irgendwann mal weitergehen soll, da arbeiten, bis ich 65 bin, da hab ich eh kein Bock drauf. Am besten nie arbeiten gehen und immer Geld haben! Seh’ ich überhaupt keinen Sinn irgendwo drin. Stehst morgens auf, gehst zur Arbeit, kommst abends wieder, legst dich schlafen, und nächsten Tag dasselbe. Ist ja stumpfsinnig, und das machste 40 Jahre lang. Dann biste 65, biste schon scheintot, und denn haste bißchen Rente. Deshalb, ich weiß überhaupt noch nicht, wie das überhaupt weitergeht. Das Ganze mit Arbeiten, das ist, irgendwo ist das alles Blödsinn.
(21/19/w)
[132:418] In den Heimwohngruppen fühlen sie sich unsicher, sie halten es dort nicht lange aus und entweichen in ihre alten, ihnen vertrauten Lebenszusammenhänge und Rückzugsgebiete, in denen sie mit anderen einen gemeinsamen Lebensstil teilen können und von den üblichen Erwartungen unserer
Sozialisationsinstanzen
verschont bleiben. (Übrigens gibt es hinsichtlich ihrer Sanktionserfahrungen Ähnlichkeiten, denn fast alle waren schon einmal in Gerichtsprozesse verwickelt.)
[132:419] Nach den Berichten der Betreuer scheint die Arbeit mit ihnen nicht einfach zu sein, da sie sich häufig den Angeboten entziehen und sehr sensibel darauf reagieren, wenn man ihnen den Umgang mit ihren alten Kontakten verbieten will. Ihr häufiges Entweichen und Festhalten an dem vertrauten Milieu verlangt viel Toleranz. Am ehesten scheinen diese Jugendlichen für die ambulanten Jugendhilfen und die sogenannte
aufsuchende Sozialarbeit
zugänglich zu sein. Im Vergleich mit den anderen ist diese Gruppe die kleinste; bezeichnenderweise wird sie, was für die pädagogische Sensibilität der Jugendhilfe spricht, überwiegend ambulant betreut.
|A 115|

Gewalt gegen andere, aggressives Devianzmuster

[132:420] Bei allen Jugendlichen, die wir dieser Devianz-Selbstdeutung zurechnen, waren die abweichenden Verhaltensweisen mit aggressiven Tendenzen verbunden. Auch sie berichten über Entweichen, wesentlich häufiger indessen über körperliche Gewalt gegen Personen. Sie scheinen weniger Interesse an weichen Drogen, aber dafür um so mehr am Alkoholkonsum zu haben (mehr als die Hälfte der Fälle). Sie fallen aber noch durch ein weiteres Merkmal auf, durch das sie sich von den anderen beiden unterscheiden: Einbruch und Raub wird fast nur von diesen berichtet, nicht ohne einen verschämten Stolz. Diese Jugendlichen scheinen in ihren Handlungen im Unterschied zu den anderen körperliche Gewalt im voraus in Betracht zu ziehen. Es scheint das schwierigste Selbstdeutungsmuster überhaupt zu sein, da es keinerlei selbstreflexive oder selbstkritische Anteile enthält. Abweichende Verhaltensweisen sind bei mehr als der Hälfte der Fälle nicht nur mit einer
antriebsgeleiteten
Selbstdeutung und dem Körperbild
Durchsetzung, Stärke
verwoben, sondern auch mit einer egoistisch-konventionellen Wertorientierung.
[132:421] Die Interviews belegen, daß die Gewaltbereitschaft hier am stärksten ist. Zwischenmenschliche Konflikte werden, nach den Berichten der Jugendlichen, viel häufiger als bei anderen mit Fäusten ausgetragen. Die Jugendlichen erzählen von Auseinandersetzungen sowohl mit Gleichaltrigen als auch mit ihren Eltern und Erziehern. Einige berichten sogar von schweren Einbrüchen, von Raub unter Androhung von körperlicher Gewalt oder von Waffen. Andere haben schon mal gezündelt und dabei einen Brand verursacht; wieder andere haben Autos aufgebrochen und zu Schrott gefahren oder Radios gestohlen. Bei Ladendiebstählen geht es schon mal um
größere Sachen
(Schmuck, Geld aus der Ladenkasse, Elektrogeräte), die z. T. an Hehler verkauft werden. Drogen, meist handelt es sich um leichte Rauschmittel und Alkohol, dienen zur Stimulierung.
[132:422] Auch diese Jugendlichen sehen ihre kriminellen Handlungen vor dem Hintergrund familiärer Entbehrungen:
[132:423]
Habe immer viel Prügel gekriegt, ne. Das hat sich, wo ich älter wurde, gelegt, weil, dann hab ich mich gewehrt, ne. ... Ich hab da mit vier Geschwistern noch zusammengelebt. Wenn da einer Scheiß gebaut hat, ... die schieben das immer auf den anderen zu. Und ich war nun mal der Jüngste in dem Verein, und da hab’s ich immer abgekriegt. Oder wenn mein Vater besoffen war, ... hat er wahllos draufreingeprügelt. ... Mein Alter ist abends nie pünktlich nach Hause gekommen. Ist noch in die Kneipe gegangen. Und meine Schwester am Prügeln gewesen. Und Mutter schlechte Laune, ja. War abends auch nie da. Na ja, dann fing’s auch langsam an, daß ich Scheiße gebaut habe. Ladendiebstahl und so. Weil ich immer benachteiligt worden bin. ... Ich wollte einfach ein bißchen mehr Zuneigung. Und das hab ich eben nicht gekriegt. Da wollte ich mir die irgendwie holen, diese Zuneigung. Auch |A 116|wenn’s auf kriminelle Weise ist. ... Die Prügelquote war ziemlich hoch. Also ich hab mich oft geprügelt (Kindergarten). ... Ich hatte keinen Bock mehr auf die Lehrer. Und hab die Lehrer nur angemacht. Und auch rumgemacht mit Farbdosen. ... Mit meinen Geschwistern hab ich nie gespielt. Mit denen hab ich mich immer nur geprügelt. Weil ich mit meinem Bruder 14 Jahre lang in einem Zimmer gewohnt habe. ... Meine Eltern wollten mich aus dem Haus haben, ... weil fast jede Woche sind die Bullen vor unsere Haustür gefahren, ... wegen unerlaubtem Waffenbesitz. Da bin ich gegangen.
(14/17/m)
[132:424] Sie leiden zwar unter den familiären Verhältnissen, aber sie haben im Unterschied zu anderen gelernt, sich körperlich zu wehren und sich durchzusetzen – und zwar aus Angst, nicht die Unterlegenen zu sein:
[132:425]
Ich weiß nur, daß meine Mutter ... viel Alkohol getrunken hat, und ... hat se angefangen, mich zu, richtig zu schlagen. ... Eigentlich leg’ ich mich ziemlich viel an, wenn irgend jemand dann ankommt und sagt erst ’n Schimpfwort, ich sag’ zurück, und dann auf einmal ankommt und mir eine runterhauen will, dann schlag ich zurück, ne, jetzt hab ich gelernt, wie ich also, mich wehren kann.
(6/15/m)
[132:426] Andere sehen sich als das Opfer negativer Zuschreibung und begründen ihre kriminelle Karriere mit einem Prozeß familiärer Ausgrenzung:
[132:427]
Mein Vater, der hat damals nur gesoffen. ... Ja, und wenn er abends immer kam, hat meine Mutter Dresche gekriegt von ihm. ... Da hab ich meinem Bruder ’n Loch in’ Kopp gehauen. ... Na gut, da waren Gründe vorhanden, ... also mein Vater, der hat sich damals nur Jungs gewünscht. Ja, und da kam mein älterer Bruder, und das war wirklich sein ein und alles! Und dann kam ich, ja, und ich war der Sündenbock. ... Also und dann, mein jüngerer Bruder, von dem wurd’ oft die Spardose knapp, und das war mein älterer Bruder. Na, und ich hab immer die Schläge dafür gekriegt, weil ich damals auch geklaut habe. Hab auch deswegen ’ne Haftstrafe gehabt. ... Ja, mit 12 bin ich ins Heim gekommen. ... Und dann bin ich da mit 16 aus’m Heim gekommen, und da fing das zu Hause alles wieder an. ... Und da hab ich auch nur Scheiße gebaut, da hatt’ ich über 80 Einbrüche. Na, und da kam auch schon der Haftbefehl raus.
(69/18/m)
[132:428] Sie beschreiben sich fast durchweg als soziale Außenseiter; es gibt bis auf gelegentliche und eher lockere Gleichaltrigenkontakte kaum befriedigende soziale Beziehungen, in die sie sich verträglich eingebunden fühlen. Hat man keine verläßlichen Partnerschaften, für die es sich lohnt, sich einzusetzen, dann braucht man auch nur wenig soziale Rücksicht zu nehmen, als
Einsamer
hat man nicht viel zu verlieren. Die meisten von ihnen haben extreme Schulprobleme, weil sie ihre Interessen und Antriebe rücksichtslos durchsetzen. Folgende Interviewpassage verdeutlicht dies beispielhaft:
[132:429]
... also ich mach’ ziemlich viel Scheiße ... ich ärger’ Leute, geh’ mit paar Leuten rum, hol’ mir ’n paar kleine Kinder, dann werden die erstmal gehauen. Habt ihr Feuerzeug oder so, habt ihr was zu rauchen? Hier gibt’s einen auf der Schule, der ist, ich glaube 7 oder 8, der raucht schon wie’n Schlot! Und: haste was zu rauchen? Nee! dann kriegt er einen auf’n Sack, und dann kriegen wir seine Zigaretten oder so. Oder wir sagen: wenn du morgen keine Zigaretten mitbringst, dann kriegste was auf |A 117|die Augen! Und all sowas. Naja, Herr X weiß dann davon immer, Schuldirektor, da kriegen wir immer ziemlich Ärger. Oder wir schnappen uns einfach welche und machen einen auf den ... so drücken und dann so rumziehen, das tut irre weh. Meist hier so am Hals dann so ... weil’s Spaß macht.
(33/15/m)
[132:430] Auch in Heimen setzen sie ihre Interessen ungebunden durch. Viele haben schon mehrere Heimwechsel hinter sich;
ich war für das Heim nicht mehr tragbar
, berichtet ein Jugendlicher treffend. Die Beweggründe, die sie hier für ihr z. T. kriminelles Handeln geltend machen, sind unterschiedlich, z. B. Langeweile:
[132:431]
Ja, viel Langeweile denn gehabt, ... irgendwas muß dann passieren. ... Rauchen, saufen, Action machen
. (12/18/m)
Ja – ich hab Scheiße gebaut und so! Eingebrochen, weil’s langweilig war, ... Kiosk, Laden, Friseur, äh, alles mögliche, ... Geld. Sind wir da mal nach Berlin gefahren.
(6/15/m)
[132:432] Um ihren inneren Erlebnisdrang zu befriedigen, begeben sie sich in riskante Situationen, deren Bemeisterung als lustvoll erlebt wird:
[132:433]
... man steht da, guckt erstmal, und dann kriegt man bißchen Schiß, dann steckt man das ein, dann geht man raus, und dann denkt man: oh, jetzt ist einer hinter dir, der packt dich gleich an den Schultern und sagt: komm mit! Aber es ist irgendwie lustig, das will man dann immer wieder machen, ich find’ das absolut lustig.
(33,15/m) Häufig ist die mangelnde Kontrolle der Antriebe Beweggrund für Gewalttaten:
ich fresse alles in mich rein, und irgendwann platzt die Bombe
. (12/18/m)
[132:434] Das Thema
Schlagen und geschlagen werden
zieht sich wie ein ein roter Faden durch die Biographie. In den Familien werden die Konflikte mit körperlicher Gewalt ausgetragen, die Eltern schlagen sich untereinander und schlagen ihre Kinder und umgekehrt. Die Beziehungsthematik der Betroffenen scheint auf Rivalität angelegt zu sein: Überlegenheit und Unterlegenheit in den Beziehungen und Angst, von anderen erniedrigt zu werden, ist eine Deutungsfolie, die über viele der beschriebenen sozialen Kontexte gelegt wird. Beziehungen von Gleichen zu Gleichen scheinen sie kaum zu kennen. Die Verhältnisse, die sind nicht so, da ist man entweder oben oder unten, da schlägt man oder wird geschlagen, fertig-, kaputtgemacht und drangsaliert, es sei denn, man macht Kampfsport, trainiert den Körper, härtet sich ab.
Zack, bapp, bapp ... dann mach’ mich doch fertig
, Schlägereien werden lebendig und ausführlich geschildert,
in die Fresse gehauen
,
aufs Auge gekriegt
,
’nen Abzug gekriegt
,
kaputtschlagen
sind Redewendungen, die jeweils dramatische Höhepunkte markieren. Erzieher, Lehrer, Heimleiter und Polizisten sind entweder mächtige, unangreifbare Autoritätspersonen, oder aber es gelingt einem der Coup, da schlägt man zurück und ist kurzerhand obenauf, mit Vorliebe bei Autoritäten, die auf der mittleren oder unteren Ebene angesiedelt sind, z. B. Erzieherinnen, die sich nicht durchsetzen können.
[132:435] Die peer-group-Beziehungen haben mehr den Charakter von lockeren und eher punktuellen Kontakten; man verbindet sich, solange man ge|A 118|meinsame Interessen hat, und zumeist gegen Schwächere oder gegen Anonyme:
[132:436]
Wenn wir keine Zigaretten gehabt haben da ham wir immer Zigarettenautomaten aufgebrochen. ... Ich hab kein Geld gehabt. Und irgend etwas muß ich mir dann holen.
(70/19/m)
Es gibt ja richtig teure Schuhe, ne, so. Und dann hingegangen, so gewartet, bis die irgendwo hingehen, und so drei, also paar Mann dann um den Mann rum, dann so davorgestellt und dann so: ey, zieh’ mal deine Schuhe aus! Und wenn der Nein sagte, gleich einen auf die Nase geben, und dann Schuhe ausziehen und weg. Oder Jacke aus oder T-Shirt. Was einem gefallen hat.
(33/15/m)
[132:437] Es geht dabei, wie die letzten Zitate verdeutlichen, nicht nur um die Befriedigung materieller Bedürfnisse, sondern auch um die Chance der Überlegenheit, des Sich-Durchsetzens.
[132:438] Jungen und Mädchen, die ihren Körper vorwiegend und einseitig als Instrument von Kraftausübung oder Stärkebeweisen erleben und nur wenig sensibel sind für eigene Körperempfindungen sowie für die der anderen, neigen scheinbar eher dazu, sich in ihren sozialen Kontexten mit Gewalt durchzusetzen und ihre Interessen und Bedürfnisse aggressiv zu erfüllen, während die Jugendlichen der ersten Devianzgruppe wahrscheinlich ihre Interessen viel subtiler durchsetzen können, weil sie einfach über mehr Interaktionskompetenzen verfügen. Ein Grund für die überwiegend kriminellen Karrieren der Jugendlichen, die sich diesem dritten Selbstdeutungsmuster zuordnen lassen und den Körperhabitus
Stärke, Härte und Überlegenheit
zeigen, scheint darin zu bestehen, daß sie für den Ausdruck ihrer Körperthematik die falschen, jedenfalls innerhalb unserer Kultur sozial weniger verträglichen Ausdrucksmittel wählen.
[132:439] Bei dieser Gruppe gibt es, verständlicherweise, die meisten gerichtlichen Strafen. Stunden ableisten, soziale Trainingskurse und sogar Haftstrafen sind nicht selten. Die Jugendlichen schwanken in ihrer Einstellung zwischen
ich will mich ja bessern
und
die Schuld haben die anderen
. Zahlenmäßig ist dies die größte Gruppe. Sie scheint die schwierigste überhaupt innerhalb der Heimerziehung zu sein. Deutlich überwiegt der Anteil der Jungen.

Gelegentliche, eher leichte Devianz

[132:440] Viele Jugendliche unserer Stichprobe berichten zwar über ihr abweichendes Verhalten, teilen dies aber eigentümlich undramatisch mit, teils als gelegentliche
Pannen
, teils als Datum ihrer Entwicklung: kleine Ladendiebstähle, Randalierereien und Zerstören von Gegenständen (z. B. |A 119|Schulmobiliar), kurze intensive Phasen des Alkoholkonsums, gelegentliche leichte körperliche Auseinandersetzungen, Schuleschwänzen, Trebegänge, kleine
Hehlereien
.
[132:441]
Also geht in so’ne Kneipe und trinkt sich voll und so. Und da hab ich dann gesagt: wo ist meine Muttter, ja wo ist die denn? Da wußte ich noch gar nichts davon, daß die säuft und so. ... Bis ich auch rausgekriegt habe, wo die dann war, daß sie am Saufen war und alles mögliche. Da hatte ich auch die Schnauze voll, hatt’ ich auch geklaut, am nächsten Tag war das Jugendamt gerade vor meiner Nase.
(39/16/w)
[132:442] In einem normalen, stabilen, sie stützenden sozialen Umfeld werden diese Jugendlichen selten auffällig. Sobald ihnen der sichere Kontext fehlt, sind sie gefährdet, z. B. in diffusen Übergangssituationen (Scheidung der Eltern, Wohnortwechsel), bei konflikthaften familiären Ereignissen, Krisen in Schule und Ausbildung, die z. B. durch Leistungserwartungen und Überforderungen ausgelöst werden. Oft geraten sie dann in peer-group-Kontexte mit ähnlichen Problemen, ohne indessen eine dauerhafte Cliquen-Bindung einzugehen.
[132:443]
Na, hab ich ’ne Zeitlang so gelebt, mit meinem Vater alleine und meiner großen Schwester, also hatte nur eine, von meiner richtigen Mutter. Da hat er die andere Alte da kennengelernt, und die hat ihr Kind mit in die Ehe gebracht, und eins ham se selber gemacht. Ja, dann ging es ’ne ganze Zeit ganz gut, aber dann hat sie ihre Kinder halt vorgezogen, bin ich mit der gar nicht mehr klargekommen, bin auch ab und zu abgehauen von zu Hause, nicht gemeldet und all so’n Scheiß. ... Hab dann angefangen zu klauen, ja und dann paarmal erwischt worden und so, aber war ja noch keine 15, nee, noch keine 14, da war das ja dann nicht so schlimm, kannste ja noch nicht drankommen. Ham wir weiter geklaut, ja, und denn ... verkauft die ganzen Sachen, so Süßigkeiten und all so’n Scheiß ham wir dann geklaut, Kugelschreiber, Füller und so ... und dann bin ich ins Heim, hab ich angefangen mit Kiffen. Ja, und ziemlich viel Alkohol getrunken auch die erste Zeit so. Um erstmal abzuschalten. Und – naja, hab da auch weiter geklaut und hatte dann auch paar Gerichtsverhandlungen, mußte dann auch paar Strafen absitzen. ... Ja, dann bin ich nach S. da unten, war so’ne etwas kleinere Einrichtung, nicht ganz so groß. Hatten wir auch so’ne Malerei, Schlosserei, Maurerei, Tischler, Hausmeister, Näherei und große Küche hatten wir. Hab ich da angefangen mit meiner Lehre, bin ich in der Schule halt nicht klargekommen, weil ich halt nix mehr wußte und so, hab ich erstmal ’n Jahr Anlehre gemacht, hab dann gepaukt und so, Nachhilfe und so, wir hatten da Nachhilfelehrer, und ’n bißchen gepaukt und von ganz klein wieder angefangen. Ja, und meine Lehre angefangen, bin jetzt mittlerweile, ja, schon fünf Jahre dabei, mit meiner Malerlehre. ... Man kriegt ’n geregeltes Leben, weil früh, also arbeiten, ne, hast deinen Arbeitstag und so – klar hat sich was geändert. Kriegst halt auch ’n bißchen mehr Plan vom Leben, so ... kriegst dein Gehalt. Ich hab auch dann nicht mehr geklaut und sowas. Hab eigentlich so ganz gut Geld verdient gehabt.
(44/20/m)
[132:444] Die Integration in Heimgruppen gelingt in der Regel nach mehrmaligen Anläufen, dennoch werden die Jugendlichen in Krisensituationen deviant, ihr Gleichgewicht ist sehr labil. Nach Einschätzung ihrer Erzieher sind sie typische Mitläufer, die in Krisen durch kriminelle Milieus leicht |A 120|verführbar sind. Aber auch hier überschreiten sie bestimmte Grenzen der Gewalt und des Ausmaßes an Kriminalität nicht.
[132:445]
Früher war ich so’ne Zeitlang bei den Teds, ja. Aber seitdem es da ziemlich derbe mit Hauereien rumging, fand ich das irgendwann nicht mehr lustig, immer mit ’ner dicken Lippe nach Hause zu fahren. Von daher hab ich mich dann irgendwie neutralisiert davon.
(71/19/m)
[132:446] Da sie sehr sensibel auf ihr Umfeld reagieren, geben sie ihre Kleinkriminalität und ihr z. T. aggressives Ausagieren auf, sobald sich
die Lage wieder stabilisiert hat
. Einige Jugendliche wollen in schwierigen Situationen auf sich aufmerksam machen, sie passen sich rasch wieder an, sobald sich ihre Absichten erfüllt haben:
[132:447]
Es ging bisher erst einmal um Diebstahl, Ladendiebstahl. Das war aber mehr so – da war ich noch in der Pflegefamilie, das war das einzige Mal, daß ich Ladendiebstahl begangen habe – um halt irgendwie Aufmerksamkeit zu erregen, weil irgendwie hat mich keiner beachtet, und das fand ich irgendwie nicht gut. Ich mochte gerne beachtet werden. Naja, dann hab ich irgendwas geklaut, aber völlig schwachsinnig, bin zur Verkäuferin gegangen, die hat mich angeguckt, ich hab ’n Teil genommen, hier, gezeigt, steck’ ein, ne. Und draußen vor der Tür gewartet. (I: lacht) Naja, o.k.! Da hab ich dann halt auch ’ne kleine Strafanzeige gekriegt, wurde dann aber hinterher wieder zurückgenommen.
(71/19/m)
[132:448] Bei anderen, so läßt sich vermuten, stehen hinter den abweichenden Verhaltensweisen Entwicklungsprobleme. Manchen z. B. fällt der Perspektivenwechsel schwer, in dichten Interaktionssituationen mit hohen kommunikativen Anforderungen rasten sie aus; einige haben Schwierigkeiten, befriedigende heterosexuelle Beziehungen einzugehen und aufrechtzuerhalten.
[132:449] Hinsichtlich ihrer Sanktionserfahrungen sind diese Jugendlichen im Vergleich mit den anderen nur wenig belastet, d. h. es gab kaum Strafprozesse und nur leichte Sanktionen. Die Jugendlichen zeigen sich vergleichsweise sehr einsichtig, sie wollen sich
bessern
.
[132:450] Insgesamt ließen sich 19 Fälle diesen Selbstbeschreibungen zuordnen, vierzehn davon sind männlich, fünf weiblich. Mehr als die Hälfte hat das oben beschriebene konforme Selbstbild und orientiert sich an Normalitätsentwürfen und Konventionen. Von allen vier Teilgruppen scheint diese bis auf gelegentliches
Ausflippen
und vorübergehende Krisen relativ gut in Gruppen und Betreuungsformen integriert zu sein. Dennoch blicken die meisten auf mehrere Heimwechsel zurück; die
Normalität
wurde schwer erarbeitet und ist immer noch labil.
|A 121|

7. Pädagogische Folgerungen

[132:451] Wir haben unterstellt, daß die von uns untersuchten Jugendlichen ihre
Lebenswelt
in den Dimensionen Zeit, Körper, Selbstentwurf und moralische Option artikulieren und daß innerhalb dieser Dimensionen verschiedenartige Deutungsmuster auffindbar seien (
Devianz
war, wie schon erwähnt, nur ein zusätzliches Außenkriterium, für mögliche Vergleiche eingeführt). Damit ist allerdings nur ein Teil dessen zur Sprache gebracht, was die Lebenswelt eines Menschen konstituiert; vor allem ist dies nur ein kleiner Ausschnitt aus dem, was man als das Lebensfeld bezeichnen kann, die äußere soziale Umgebung des Jugendlichen. Der phänomenologische Terminus
Lebenswelt
meint demgegenüber die Weise des Bewußtseins, in der jemand sich zu dem Felde verhält, in dem er lebt. Viele Mitglieder einer Familie, die sich im gleichen Felde bewegen – in dieser einen Familie –, viele Bewohner von Stadtrandsiedlungen, viele Insassen einer Klinik der Kinder- und Jugendpsychiatrie können verschiedene Lebenswelten artikulieren (nach phänomenologischem Sprachgebrauch), obwohl sie unter höchst ähnlichen Milieu-Bedingungen leben. Im Sinne dieser Unterscheidung haben wir nicht versucht, Lebensfelder zu beschreiben, sondern die subjektive Sicht der Jugendlichen auf solche Felder und deren Probleme hin, und zwar nur nach Maßgabe jener vier Dimensionen.
[132:452] Innerhalb dieser Dimensionen zeigten sich nun bemerkenswerte Unterschiede, die wir als verschiedenartige
Muster
beschrieben haben. Jedes dieser Muster enthält Stärken und Schwächen. Die Jugendlichen selbst berichten von den Schwierigkeiten, die sich ergeben, wenn sie versuchen (müssen), ihre Lebenswelt in die sozialen Felder einzufädeln und so auch mit den Lebenswelten anderer abzustimmen. Denen, die subkulturell orientiert sind, gelingt das beispielsweise leichter als manchen anderen: Ihre
Lebenswelt
harmoniert mit den anderen Gruppenmitgliedern, und sie suchen sich
Lebensfelder
, in denen der Konsens überleben kann. Aber selbst dies gelingt nicht konfliktlos, denn wir leben, in der Moderne, mit einer Pluralität von Lebenswelten. Sie sind, wenn nicht durch Zwang oder Tradition, durch Interaktionen aneinander gebunden. Durch Interaktion – mit zu- oder abträglichen Eltern, mit Gleichaltrigen, Kindergärtnerinnen, Lehrern, Erziehern usw. – konturiert sich die Lebenswelt, die dann zu einer
je meinen
wird; und diese mir zugehörige |A 122|Sicht der Welt muß sich wiederum im Medium sozialer Interaktion entweder bewähren oder muß Revisionen unterzogen werden. Wie schwierig es ist, zu revidierten Fassungen der eigenen Lebenswelt zu gelangen, zeigen besonders die Zukunftsvorstellungen, die je am Ende unserer
Muster
-Beschreibungen skizziert wurden, aber auch die teilweise detaillierten Berichte über Konflikte und Frustrationen. Da nun in jeder der vier Dimensionen und in jedem der ermittelten Deutungsmuster Sachverhalte sozialer Interaktion zur Sprache gebracht wurden, und da diese sowohl für die Genese als auch für die Bewältigung von zentraler Bedeutung zu sein scheinen, soll versucht werden, alle vier Dimensionen mit der je inneren Differenzierung nach Deutungsmustern auf eine verallgemeinerte Abfolge von Interaktionsproblemen im Lebenslauf des Jugendlichen zu beziehen.
[132:453] Eine für unsere Zwecke sehr nützliche Vorstellung ist die, die R. L. Selman in einer Reihe von empirischen Studien entwickelt hat, u. a. auch mit einer Teilstichprobe von Jugendlichen, die etwa unserer eigenen entspricht (Selman 1980, Selman/Schultz 1990). Es werden dort fünf Entwicklungsstadien des interpersonellen Verstehens, der allmählichen Herausbildung der Fähigkeit zur Perspektivenübemahme als der wesentlichen Komponente sozialer Interaktion, unterschieden:
  1. 0.
    [132:454] Ausschließliche Orientierung am physischen Selbst (
    I am a good boy
    . Why?
    Because I am big
    , egozentrisch und psychisch undifferenziert.
  2. 1.
    [132:455] Es entsteht eine Ahnung von innerer oder psychischer Realität; man ahnt Motive, die die anderen haben, denkt aber, daß sie alle ihre Motive auch aussprechen und diese kaum verbergen können.
  3. 2.
    [132:456] Zwischen innen und außen wird nun strenger unterschieden; es wird für möglich gehalten, daß die inneren Motive und das tatsächliche Verhalten nicht übereinstimmen. Es beginnt eine Bemühung um Reflexion. Ein Freund ist jemand, der ähnliche
    feelings
    hat wie man selbst, auch wenn man es ihm nicht gleich ansieht.
  4. 3.
    [132:457] Es entsteht ein Konzept von
    stabiler Persönlichkeit
    , die sich auch in verschiedenen Handlungen und Situationen gleich bleibt. In Freundschaften
    entdeckt
    man diese Persönlichkeit und beginnt zu verstehen, daß sie sich entwickeln kann.
  5. 4.
    [132:458] Individuen in Interaktionen können als komplexe Systeme begriffen werden, in die nicht nur Du und Ich mitsamt der jeweiligen
    Persönlichkeit
    und ihrer Entwicklung einbezogen ist, sondern auch deren sozial-situative Bedingungen. Freundschaften sind offen für Veränderungen und haben das Ziel des immer besseren Verstehens.
[132:459] Diese empirisch ermittelte und theoretisch gut begründete Entwicklungsfolge läßt sich als Orientierungsfolie für pädagogische Problemstel|A 123|lungen verwenden. Wenn man unterstellt, daß das Stadium
0
alle Jugendlichen unserer Stichprobe hinter sich gelassen haben, wenngleich nicht in allen Dimensionen, das Stadium
4
aber (wie vielleicht auch die Autoren) noch nicht wirklich erreichen konnten, dann liegen die Bildungsprobleme der Klientel in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe im Regelfall zwischen
1
und
3
, freilich mit starken Abweichungen. Selman hat nun, was hier besonders wichtig ist, solche Abweichungen vom erwartungsgemäßen Normalverlauf bei einer Teilstichprobe verhaltensschwieriger Kinder und Jugendlicher herausgefunden und dies in einem Diagramm dokumentiert (Abbildung 1). Man sieht in diesem Diagramm, wie die als verhaltensschwierig eingestuften Kinder und Jugendlichen (
Individual Disturbed Cases
) um die Normallinie herum (
Normative Sample
) streuen, und zwar zumeist unterhalb des Durchschnitts-Niveaus. Nur ganz wenige der
disturbed cases
überschreiten das Stadium
2
im Alter von 15 Jahren; die meisten streuen zwischen den Stadien
1
und
2
.
Hier ist eine Grafik aus einer Studie von Selman zu sehen.
Abb. 1: Abweichungen vom Normalverlauf von Selman
[132:463] Diesem Befund lassen sich die Äußerungen der Jugendlichen unserer Stichprobe zur Zeit-, Körper-, Selbst- und Moral-Deutung zuordnen. In den Beschreibungen wurde immer wieder darauf hingewiesen, wie dicht die von den Jugendlichen mitgeteilten Erfahrungen mit Interaktionen, mit Selbst- und Fremdverstehen Zusammenhängen. Es mag deshalb hilfreich sein, diesen Bezug systematisch zu verdeutlichen, und sei es nur als |A 124|heuristischer Vorschlag. In der Stadien-Konstruktion Selmans – die sich im übrigen einerseits an die Piaget/Kohlberg-Forschungen, andererseits an G. H. Mead, schließlich auch an tiefenpsychologische Erwägungen anschließt – sind nämlich Entwicklungsaufgaben, ähnlich wie im Identitäts-Entwicklungsmodell Eriksons, mindestens implizit formuliert. Die im Diagramm gezeichnete Linie des
normative sample
ist zwar ein nordamerikanisch-regionaler Durchschnitt; sie repräsentiert aber – bis zum Beweis des Gegenteils – auch unsere Erwartungen an gelingende Bildungsverläufe. Wer dahinter zurückbleibt, ist unterstützungsbedürftig – innerhalb unserer Sozietät. Um solche Unterstützungsinteressen ein wenig zu bekräftigen, sollen nun, im Hinblick auf die Dimensionen Zeit, Körper, Selbst und Moral, die Stärken und Mängel zu den Stadien Selmans in Beziehung gesetzt werden. Daß wir auch von
Mängeln
reden, mag manch einen befremden. Wir denken jedoch, daß jede pädagogische Tätigkeit nicht nur das konkrete unterstützungsbedürftige Subjekt vor Augen hat, sondern auch die Differenz zwischen
schon
und
noch nicht
, zwischen
gelungen
und
mißlungen
, zwischen heute und morgen, Problem und Lösung. Das ist die Bildungsaufgabe für jeden, nicht nur für verhaltensschwierige Jugendliche. Zwischen diesen Alternativen liegt die Herausforderung, die Differenz zu überwinden. Lassen sich derartige Aufgaben mit Hilfe der beschriebenen 15 Selbstdeutungsmuster finden?
[132:464] Versucht man eine Zusammenfassung der einzelnen Befunde (Tabelle 8), dann zeigen sich nicht nur die Stärken und Schwächen innerhalb jeden Musters, sondern es fällt ins Auge, daß die Selbstdeutungen immer auch mit Merkmalen der Interaktions- und Verstehens-Kompetenz verbunden sind. Ferner fällt ins Auge, daß Stärken und Schwächen durchaus ungleich verteilt sind, daß die Jugendlichen also z. B. in ihrem Zeitbewußtsein einen Kompetenz-Mangel, in den normativen Orientierungen dagegen eine gewisse Stärke zeigen. Offenbar folgt der tatsächliche Entwicklungsstand der Jugendlichen nicht in allen Dimensionen strikt der gleichen Regel. Das Interaktions- und Verstehens-Repertoire, über das sie verfügen, befindet sich mal auf dieser, mal auf jener Stufe der Entwicklung.
[132:465] Nun wäre es pädagogisch wenig sinnvoll, für einen bestimmten Jugendlichen Unterstützungspraktiken zu empfehlen, die mal seine Mängel im Zeitbewußtsein, mal im Körperbild, mal in den normativen Orientierungen in den Blick nehmen. Eine solche Zersplitterung oder Elementarisierung widerspräche der Ganzheitlichkeit des Erziehungsvorgangs. Die zum Zwecke der genaueren Kenntnis der Sachverhalte von uns vorgenommene analytische Unterscheidung in die Zeit-, Körper-, Selbst- und Moral-Dimensionen muß nun also wieder in ein in verschieden abgestufte Kompetenzen gegliedertes Gemeinsames überführt werden. Dafür ist die oben skizzierte Stadien-Konstruktion Selmans hilfreich. Ordnen wir nämlich die jeweiligen Stärken (+) und Schwächen (-) den Stadien zu, |A 125|

Tab. 8: Selbstdeutungsmuster

Selbsteutungsmuster Stärken Schwächen
Zeit
1.1 Institutionalisierte Zeit Orientierung an objektiven Sachverhalten Kein Begriff von Entwicklung der Person, erlebnisarm, keine Muße
1.2 Beziehungszeit Erlebnisdicht, aktives Zeitkonzept, Begriff von individueller Entwicklung Neigung zum Egozentrismus, wenig
Realismus
, instabil, keine Planung
1.3 Fragmentierte Zeit Erlebnisdicht Keine Selbstreflexion, reizabhängig, keine Planung
Körper
2.1 Durchsetzung Körperselbstvertrauen Wenig Interaktionssensibilität, wenig Antriebskontrolle
2.2 Wettkampf Gelungene Interaktion, Planungsfähigkeit Kein Transfer auf Alltag, emotionsarm, instrumentelles Körperbild
2.3 Ausgleich Interaktionskompetent, Bewußtsein von Grenzen Ängstlichkeit; Belastungsvermeidung; Körper nicht expressiv
2.4 Körperselbstempfindlich Expressive Funktion des Körpers Psychosomatische Symptome, Labilität, Drogengefährdung, symbiotische Neigungen
Selbst
3.1 Antriebsgeleitet Aktives Ich, Anerkennung in peer-group Kaum Selbstreflexion,
Autonomie
als egoistische Durchsetzung
3.2 Konformität realistische Selbsteinschätzung, interaktionssensibel wenig Selbstreflexion, autoritätsabhängig, wenig eigene Impulse
3.3 Unsicheres Selbst Empathisch, reflexiv, sprachkompetent Selbstzweifel, kaum persönliche Konzepte, resignative Tendenzen
3.4 Eigenständig Sprachkompetent, Handlungsbegründungen, hohe Selbsterwartung Neigung zu egozentrischen Perspektiven, teils illusionäre Erwartungen, instabile soziale Selbstlokalisierung
Normative Orientierungen
4.1 Passive Fürsorge Häuslich-familiäre Orientierung unselbständig, abhängig, keine aktive Verantwortlichkeit, kaum Freundschaften
4.2 Egoistische Durchsetzung aktiv, selbstsicher kognitiv undifferenziert, keine Selbstreflexion; Unterwerfung unter Gruppenautorität; kaum Freundschaften; starr konventionell
4.3 Leistung Verantwortungsbereit, gerechte Schuldzurechnungen, selbstreflexiv, kompromißbereit Keine Risiken und Experiment, ritualisierte Zukunftsplanung, passive Akzeptanz auferlegter Normen
4.4 Verständigung ausgeprägte Reflexion, empathisch, autoritätskritisch, Gewaltablehnung gelegentlich unrealistisch, Zukunftsvorstellungen nur Gegenbilder, Diskrepanz zwischen Wollen und Können
|A 126|dann ergibt sich ein pädagogisches (diagnostisches und hilfeplanungsrelevantes) Aufgabenfeld, mit dem auch Praktiker operieren könnten (Tabelle 9). Nach den Befunden Selmans ist das Stadium 4 kaum vor dem 15. Lebensjahr zu erwarten. Es ist deshalb wenig überraschend, daß die Jugendlichen unserer Stichprobe dieses Niveau nicht erreichen, sind sie doch unter sozialen Bedingungen aufgewachsen, die der Ausbildung einer befriedigenden Interaktionskompetenz wenig förderlich waren. Das Stadium 1 ist (nach Selman) im Normalfall schon bei Grundschülern erreicht. Die für unsere Stichprobe kritischen Zonen sind also die Stadien 2 und 3. Freilich sind die Zuordnungen in der Tabelle grob und vielleicht wenig akzeptable Vereinfachungen. Sie geben aber ein Bild davon, daß Stärken und Schwächen in den Selbstdeutungsmustern auf Stadien der Interaktions- und Verstehensentwicklung beziehbar sind und in diesem Problemfeld pädagogisch hilfreiche Arrangements gefunden werden

Tab. 9: Interaktionskompetenzen

Zeit Körper Selbst Norm
Interaktionskompetenzen, im Normalfall gebildet in: 1. 2. 3. 1. 2. 3. 4. 1. 2. 3. 4. 1. 2. 3. 4.
Stadium 1:
Egozentrische Problemsicht, äußerlich.
Eine Hand wäscht die andere
+ + + + + (+) + + + (+) + + (+)
Stadium 2:
Beginn von Reflexion, Trennung von innen und außen. Freundschafts-Anbahnung
(–) + + + + + + + + +
Stadium 3:
Konzept von
Persönlichkeit
und Entwicklung. Freundschaft = Vertrauen und Verstehen
(–) + + + +
Stadium 4:
Komplexe Systeme, gebildet aus Individuum, Interaktion, Entwicklung
(+) (+)
Anmerkung: Ein Pluszeichen (+) bedeutet, daß innerhalb des jeweiligen Selbstdeutungsmusters die dem Stadium entsprechende Kompetenz enthalten ist. Ein Minuszeichen (–) bedeutet, daß es keine Anhaltspunkte für die Kompetenz gibt. Stehen die Zeichen in Klammem, dann waren nur ganz leichte Tendenzen erkennbar.
|A 127|könnten, die geeignet sind, bisher nicht bewältigte Entwicklungsaufgaben zu lösen.
[132:466] Nach diesem akademischen Umweg nun wieder zur Sache der Praxis: Vergleicht man alle Deutungsmuster der Jugendlichen miteinander (Tabellen 10 und 11), dann zeigen sich eigentümliche Häufungen und Überschneidungen; sie zeigen uns Problemkumulationen an, die sicher besonderer Aufmerksamkeit bedürfen. Vier Kombinationen sollen im folgenden zur Sprache gebracht werden, und zwar mit Bezug auf solcherart Aufgabenstellungen, von denen erwartet werden könnte, daß durch sie der Jugendliche in seiner weiteren Entwicklung unterstützt wird. Vier solcher
Muster
-Kombinationen und damit Problemhäufungen fallen besonders auf:
[132:467]

Tab. 10: Kombinationsübersicht über alle Deutungsmuster, nach Dimensionen (absolute Anzahl der Fälle)

Deutungsmuster
Dimensionen/Deutungsmuster Körper Selbst Norm
1. 2. 3. 4. 1. 2. 3. 4. 1. 2. 3. 4.
1. Zeit
1. Institut. 4 1 8 4 4 10 3 2 6 5 3 4
2. Beziehung 3 4 4 11 5 6 9 7 7 7 8 0
3. Fragment. 8 1 2 2 8 4 0 1 2 4 0 7
2. Körper
1. Durchsetzg. 11 3 3 0 1 1 1 11
2. Wettkampf 1 3 0 2 4 2 0 0
3. Ausgleich 3 8 2 1 3 6 2 2
4. Empfindl. 1 4 7 5 7 2 6 0
3. Selbst
1. Antrieb 3 3 0 9
2. konform 9 6 0 2
3. unsicher 3 2 5 2
4. eigenst. 0 3 7 0
  1. 1.
    [132:468] Ein antriebsorientiertes Selbstkonzept, verbunden mit der Lust an körperlicher Durchsetzung, fragmentiertem Zeitbewußtsein und egoistisch-normativer Orientierung. Die typischen (mitgeteilten)
    Devianz
    -Formen sind: körperliche Gewalt gegen Personen, Diebstahl, Alkoholkonsum.
  2. 2.
    [132:469] Eine Art Gegenbild zu 1, nämlich: eine unsichere Selbstsicht, verbunden mit hoher Körperselbstempfindlichkeit, einem nicht an institutionellen Verläufen, sondern an Beziehungsereignissen orientierten Zeitbewußtsein und eher einer passiven Fürsorgemoral folgend. In ihren Devianz-Mitteilungen berichten Jugendliche, die dieser Kombina|A 128|

    Tab. 11: Devianz in Kombination mit Zeit-, Körper-, Selbst- und Norm-Deutungen (absolute Anzahl der Fälle)

    Mitgeteilte Arten von Devianz
    Deutungsmuster nach Dimension 1. autoagressiv 2. subkulturell 3. aggressiv 4. gelegentl.
    1. Zeit
    1. Institut. 0 0 9 4
    2. Beziehung 8 4 4 6
    3. Fragment 1 1 6 5
    2. Körper
    1. Durchsetzung 1 0 12 2
    2. Wettkampf 0 0 0 3
    3. Ausgleich 0 0 7 6
    4. Empfindl. 7 2 1 2
    3. Selbst
    1. Antrieb 1 1 10 5
    2. konform 0 0 5 11
    3. unsicher 5 2 3 2
    4. eigenständig 4 1 1 1
    4. Norm
    1. passive Fürsorge 4 1 2 4
    2. Leistung 1 0 4 7
    3. Gleichberechtigung 4 3 2 0
    4. egoistisch 0 0 10 3
    tion zugehören, am häufigsten von selbstdestruktiven Tendenzen (bis zu Suizidversuchen), von Depressionen, Entweichen, Tabletten- und Drogengebrauch, begleitet von Schuldgefühlen.
  3. 3.
    [132:470] Eine Kombination aus der passiv konstituierten Erwartung, versorgt zu werden, einer Orientierung an den institutionalisierten Zeitgliederungen, auf Konformität bedacht, ohne stärkere eigene Impulse. Situationen mit anspruchsvollen Erwartungen, vor allem im Leistungsbereich, ist diese Kombination wenig gewachsen. Verliert die Lebenssituation an Übersichtlichkeit, kommt es zu kriminellen Handlungen, auch in peer-group-Kontexten, zu übermäßigem Alkoholkonsum, zu Körperverletzungen. Dennoch wird von nur gelegentlicher Devianz berichtet.
  4. 4.
    [132:471] Dem ähnelt eine letzte hier herauszustellende Kombination insofern, als auch in ihr eine eher konformistische Selbstbeurteilung vorherrscht; dazu scheinbar schlecht passend ist die Orientierung an beziehungsthematischen Formen des Zeitbewußtseins. Das Körperselbstbild ist eher auf Ausgleich bedacht. Auch hier wird von nur gel|A 129|gentlicher Devianz berichtet; im Vordergrund scheinen die intrapsychischen und psychosozialen Schwierigkeiten der Abstimmung dieser verschiedenartigen Probleme aufeinander zu stehen.
[132:472] Diese vier Muster-Kombinationen haben wir hier hervorgehoben, weil sie am ehesten geeignet sind, darüber nachzudenken, welche Entwicklungsaufgaben ihnen je entsprechen könnten. Außerdem sind es diejenigen Kombinationen, die am häufigsten auftauchen. Dennoch soll eine fünfte Gruppe wenigstens erwähnt werden:
  1. 5.
    [132:473] Eine Kombination aus
    eigenständigem
    Selbstbild, an Gleichberechtigung beim Ermitteln moralisch relevanter Normen orientiert, mit hoher Körperselbstempfindlichkeit und einem Zeitbewußtsein, in dem Beziehungsereignisse dominieren. Nur ein Zehntel der Jugendlichen unserer Stichprobe enthalten diese Selbstdeutungsmerkmale; zumeist sind es junge Volljährige, mit subkulturellen Kontakten einerseits und in der Gefahr der Vereinzelung andererseits; die Balance zwischen den Mustern der Selbstdeutung und einem realistischen Weltbezug scheint hier am schwersten zu fallen.
[132:474] Jeder dieser Kombinationen lassen sich, wenn alle Merkmale zutreffen, je 5 – 10 Jugendliche zuordnen. Nun wäre es voreilig, aus solchen Problembeschreibungen schon konkrete Aufgabenstellungen folgern zu wollen, die für die Unterstützung der Weiterentwicklung jeweiliger Interaktions- und Verstehenskompetenz empfohlen werden könnten. Ohne genauen Bezug auf pädagogische Erfahrungen in der Praxis, ohne Evaluationen also ist das nicht sinnvoll; die Vorschläge würden willkürlich und von der (schwachen) Phantasie der Autoren abhängig sein. Darüber wird man durch die zweite große Studie Selmans (Selman/Schultz 1990) belehrt. Von dem oben zitierten Entwicklungsmodell ausgehend, haben die Autoren in jahrelangen klinisch-sozialpädagogischen Praxisversuchen erst allmählich herausgefunden, welche
Settings
, Arrangements, Kooperationsweisen, therapeutische Beteiligungen tatsächlich in der Lage waren, die erhoffte Entwicklungsunterstützung zu geben, den diagnostischen Befund also im Sinne einer Erziehungsplanung produktiv umzusetzen. Wir können deshalb hier nicht mehr tun, als im Hinblick auf die ermittelten Muster-Kombinationen nur sehr allgemeine, je auf die Entwicklungscharakteristik bezogene prognostische Hypothesen zu riskieren. Die Formulierung der je zu bewältigenden Entwicklungsaufgaben bleibt also notwendig abstrakt (die Muster-Kombinationen nennen wir jetzt
Prototypen
):
  1. 1.
    [132:475] (
    Antriebsorientiert ...
    etc.): Ausbildung von Körpersensibilität für sich und andere, des Erkennens der Motive von anderen, der psychischen Differenzierung; Erlernen von Frustrationstoleranzen.
  2. 2.
    [132:476] (
    Unsicheres Selbstbild ...
    etc.): Konfrontation der hochsensiblen, psychisch differenzierten Selbstsicht mit real-alltäglichen Mustern der |A 130|Interaktion; Stärkung der aktiven Anteile des Selbst; Ermöglichung von expressiv bedeutsamen Könnens-Erfahrungen.
  3. 3.
    [132:477] (
    Passiv konstituierte Versorgungs-Erwartung ...
    etc.): Vermittlung von Erfahrungen mit Anteilen von Verantwortlichkeit für andere, mit Notwendigkeiten psychischer Differenzierung; Lernen, eigene Wünsche zurückstellen zu können, aber auch, eigene Interessen geplant zur Geltung zu bringen.
  4. 4.
    [132:478] (
    Konformistische Selbstbeurteilung
    kombiniert mit
    Leistungsorientierung ...
    etc.): Stärkung der aktiven Anteile des Ich, von Risikobereitschaft; Entwicklung der Fähigkeiten psychischer Differenzierung, der Reflexion eigener Antriebe und sozialer Erwartungen; Konturierung von Zukunftsvorstellungen, in denen eigene Projekte Platz haben.
  5. 5.
    [132:479] (
    Eigenständigkeit ...
    etc.): Auch dieser Prototyp, obwohl, wie gesagt, quantitativ weniger auffallend, soll hier zur Sprache kommen: Seine Probleme scheinen weit in die sozialisatorische Vorgeschichte hinabzureichen. Er hat sich ein kulturelles Muster (Eigenständigkeit, Gleichberechtigung, Beziehungsorientierung) zu eigen gemacht, das aber dennoch in schmerzliche Konflikte hineinführt. Die Aufgabe bestünde darin, Lebenssituationen zu ermöglichen, in denen der Egozentrismus zwanglos hintan gestellt werden kann, Eigenständigkeit in längeren Zeitperspektiven sich bewähren könnte und die eigene Person aus der Perspektive der anderen, ohne Frustrationen, zu akzeptieren möglich wäre.
[132:480] Diesen abstrakten Formulierungen von Entwicklungsaufgaben ließen sich nun freilich noch unsere eher konkreten praktischen Einfälle hinzufügen. Man könnte beispielsweise daran denken, welche dieser Aufgaben eher in Gruppen- oder eher in Einzelsituationen Kontur erhalten könnten, für welche eher ein handwerkliches oder ein eher ästhetisch-expressives Setting sinnvoll wäre, welche eher des Gesprächs oder eher einer gegenständlichen Tätigkeit bedürfen, ob solche Unterstützung überhaupt in stationären Einrichtungen sinnvoll ist, welche Art von Spielen oder Produzieren angebracht wäre, in welcher Art von
Haushalten
das wirklich hilfreiche Lebensfeld bereitgestellt werden könnte, welche personalen Interaktionsformen (mit Gleichaltrigen, Verschiedenaltrigen, auch Erwachsenen) hilfreich wären, wann spezielle Therapien ins Auge gefaßt werden müßten usw. Da wir uns, bei der Beantwortung derartiger Fragen, hier noch in Spekulationen verlieren würden, verfolgen wir sie vorerst nicht weiter. Für die Suche nach solchen die Erziehungsplanung konkret betreffenden Antworten ist das Modell der Entwicklungsaufgaben, das Selman/Schultz (1990) als Konsequenz aus ihren klinischen Erfahrungen, als Weiterentwicklung also der oben zitierten Klassifikationen in Stadien, eine vorzügliche Folie (Abb. 2).
|A 131|
Abb. 2: Modell der Entwicklungsaufgaben
Aus: Selman/Schultz 1990, S. 51
[132:501] Damit brechen wir unsere Überlegungen ab. Die dringend notwendigen Konkretisierungen von
Entwicklungsaufgaben
und der sozialpädagogischen Situationen, Maßnahmen und Einrichtungen, die dafür nötig wären, sind ein nächster Schritt der Analyse. Der aber müßte, über die diagnostisch-hermeneutische Beschreibung der Klientel hinaus, sich auf mögliche Erfahrungs- und Lebensfelder der Jugendhilfe beziehen, erforderte also eine ziemlich erweiterte Prozedur von Datenerhebungen. Wir hoffen sehr, daß dies geschieht, und zwar nicht nur als Fallanalyse oder Praxisbericht, sondern in der Art des systematischen Vergleichs.
[132:502] Vorerst mag deshalb genügen, daß wir für praxisrelevante Folgerungen zweierlei zur Diskussion gestellt haben: das – von uns nicht entwickelte, sondern nur in Anspruch genommene – Modell der Entwicklung selbstbezüglicher, interaktiver und systemisch-sozialer Kompetenzen und den |A 132|Bezug dieser zunächst allgemein formulierten Kompetenzen auf die Deutungsdimensionen Zeit, Körper, Selbst und die normative Orientierung. Auch wenn die Unterscheidung in diese vier Dimensionen nicht immer so trennscharf war, wie es theoretisch geboten sein könnte, möchten wir doch an der Behauptung ihrer praktischen Nützlichkeit festhalten. Mit den
Dimensionen
(samt der differenzierenden Deutungsmuster) und den
Entwicklungsaufgaben
im Kopf könnte vielleicht manch eine Erziehungsplanung schon ein wenig besser gelingen. Wissenschaftlich, d. h. theoretisch und methodologisch, mag es im Hinblick auf unser Vorgehen noch manchen Streit geben.
|A 133|

Anhang

[132:503] Dieser Anhang enthält nur die notwendigsten Informationen, solche nämlich, die zur Beurteilung der methodischen Komponenten der Studie uns unerläßlich scheinen. Auf die Wiedergabe eines kompletten Interview-Transkriptes haben wir verzichtet. Derartiges kann man in der Literatur zahlreich finden, und es scheint uns, daß die Menge der Zitate in den Interpretationen und die hier im Anhang aufgeführten Auswertungsbeispiele hinreichend sind.
[132:504] Die dokumentierten Häufigkeitsverteilungen, sowohl im Text als auch im Anhang, haben nicht die Funktion einer theoretischen Kontrolle; dafür hätten wir andere Verfahren wählen müssen. Sie geben nur Rechenschaft darüber, ob überhaupt die von uns geltend gemachten
Muster
-Konstrukte die Realität der Selbstdeutungen der Jugendlichen erreichen, soweit diese an den vorliegenden Transkripten sich zeigen. Eine
kommunikative Validierung
, wie häufig für ähnliche Untersuchungen empfohlen, wurde aus forschungspragmatischen Gründen nicht vorgenommen.
|A 134|

1. Interviewleitfaden

|A 134-136|
[132:505]
Einleitung (
first five minutes
): Vorstellen, Interesse bekunden, Projekt kurz vorstellen (knapp), eventuell Gespräch über Zimmereinrichtung oder persönliche Gegenstände
1. Intervieweröffnung und Beschreibung der gegenwärtigen Lebenssituation
Ist das heute das erste Mal, daß ein Interview mit dir gemacht wird?
Stichwort: Fragebeispiele:
  • Wohn- und Lebenssituation
  • Mit wem wohnst du zusammen?
  • Wer betreut euch/dich
  • Wie sieht bei dir ein ganz normaler Alltag aus, angefangen mit dem Aufstehen bis zum Schlafengehen? Beschreib doch mal deinen Tagesablauf!
  • Was machst du an Wochenenden?
  • Was sind deine Hobbies, was machst du am liebsten?
  • Bist du mit dem, wie du zur Zeit wohnst und dem, was du machst, zufrieden?
Überleitung auf den Lebenslauf: Wir wollen von dir und nicht von anderen wissen, wie dein Leben verlaufen ist. Als erstes würde uns dein Lebensabschnitt von der Geburt bis zur Einschulung interessieren.
2. Beschreibung der Kindheit bis zur Einschulung
– Geburt Wann und wo bist du geboren?
– Geschwisterreihe Hast du Geschiwster, wie alt sind sie?
– Lebensstationen Wo und bei wem hast du bis zur Einschulung gelebt, mußtest du viel umziehen?
– wichtige Erinnerungen Was sind deine ersten Erinnerungen?
Welche weiteren wichtigen Erinnerungen und Erlebnisse weißt du noch aus dieser Zeit?
– häusliche und materielle Verhältnisse Was hat dein Vater beruflich gemacht?
War deine Mutter berufstätig?
Kannst du dich noch an eure Wohnung erinnern?
Beschreib doch mal!
Kannst du doch noch an die Umgebung erinnern?
– wichtige Personen, Beziehungen in und außerhalb der Familie Wer hat sich in dieser Zeit alles um dich gekümmert?
Kannst du dich noch an Spiele/Unternehmungen mit deinem Vater/deiner Mutter erinnern?
Was hast du mit deinen Geschwistern gespielt? Wie habt Ihr euch verstanden? Hattest du Spielkameraden? Womit habt ihr gespielt? Womit hast du allein gespielt?
– Kindergarten Warst du im Kindergarten? Wie hat es dir dort gefallen?
– Krankheiten, Konstitution Hattest du schlimme Krankheiten? Was warst du für ein Kind, was weißt du von anderen über dich (ängstlich, lebhaft, zurückhaltend ...)?
Überleitung: Wir würden als nächstes gern mit dir über deine Grundschulzeit reden, also über den Lebensabschnitt vom 6. bis ungefähr 10. Lebensjahr.
– Schulsituation Wie war das für dich in der Schule? Bist du gern hingegangen?
Wie bist du mit den Lehrern klargekommen?
Wer hat dir bei den Schularbeiten geholfen?
– Veränderungen in der familiären Situation Was hat sich in dieser Zeit bei euch zu Hause verändert? (umgezogen, Vater anderen Beruf, Mutter berufstätig)
Wie hast du dich mit deiner Mutter verstanden? Wie mit deinem Vater? Was hast du mit deinem Vater/deiner Mutter unternommen?
Wie hast du dich mit deinen Geschwistern verstanden?
– Veränderungen, außerfamiliäre Kontakte Hast du neue Freunde kennengelernt? Wer wurde außerhalb deiner Familie sonst noch wichtig für dich?
– Tätigkeiten/Interessen/Spiele Was hast du mit deinen Freunden/Geschwistern gemacht, nach der Schule?
Was waren deine Lieblingsbeschäftigungen/Spiele?
Womit hast du allein gespielt?
Hattest du damals schon einen Wunsch, was du später mal werden wolltest?
Was waren die wichtigsten Erinnerungen aus der Grundschulzeit?
Überleitung: 3. Lebensabschnitt 5. Klasse/10. Lebensjahr bis zur Gegenwart
– wichtige Veränderungen Was hat sich in dieser Zeit alles verändert? Nur das Wichtigste aufzählen!
– Schule Auf welche Schule bist du in der 5. Klasse gekommen?
Wie hat es dir dort gefallen?
Was waren deine Lieblingsfächer?
Welche Fächer mochtest du nicht?
Wie hast du dich mit den Lehrern verstanden?
Wie lief es mit den Mitschülern?
Was habt ihr in den Pausen gemacht?
Warst du in einer Schul-AG?
Hast du die Schule gewechselt, Klasse wiederholt oder abgebrochen?
Hast du einen Schulabschluß?
Hast du eine Lehre angefangen?
– Familie Wie ging es bei dir zu Hause weiter? Seid ihr umgezogen?
Wie hast du dich mit deinem Vater verstanden? Habt ihr zusammen viel unternommen (was)?
Wie war das mit deiner Mutter?
Wie haben sich deine Eltern verstanden?
Hast du mit deinen Geschwistern viel unternommen?
Wie habt ihr euch verstanden?
Hattest du ein eigenes Zimmer?
Was stehst du zur Zeit mit deiner Mutter/deinem Vater/deinen Geschwistern?
– Freundschaften Hast du neue Freunde kennengelernt?
Was habt Ihr zusammen gemacht?
Warst du oder bist du in einer Clique? Bist du der Anführer, welche Rolle spielst du?
Mit wem bist du zur Zeit befreundet? Wie versteht ihr Euch?
Wie stellst du dir einen idealen Freund/Freundin vor?
– Interessen/Tätigkeiten Was waren in dieser Zeit alles deine Lieblingsbeschäftigungen und Hobbies? Zähl sie doch mal auf!
Was sind für dich zur Zeit interessant Tätigkeiten/Aktivitäten, auch solche, die du nicht machen kannst, aber gern machen würdest?
Was machst du gern, was machst du nicht so gern? (möglichst genau aufzählen):
handwerklich-technischer Bereich (Holz/Metall/Elektrotechnik, Motoren ...)
ästhetischer Bereich (Malen, Musik ...)
Selbst/Körper (Sportarten, Tanzen, Schminken, Nähen ...)
Alltag (Kochen, Einkaufen ...)
– Lebenspläne Was hat sich an deinen Berufswünschen seit deinem 10. Lebensjahr verändert? Wie würdest du gern leben (Wohnen, Familie, Arbeiten)? Welche Pläne hast du noch? Was wünscht du dir für die Zukunft?
– Heime/Psychiatrie Wie lange bist du jetzt schon hier? In welchen Heimen warst du vorher? Beschreib mal, wie es dir dort und hier ergangen ist!
Mit welchen Erziehern verstehst du dich gut und warum? Beschreib mal den
idealen Erzieher
!
resümierend: gegenwärtige Lebenssituation und Veränderungswünsche Was gefällt dir an deiner jetzigen Situation gut?
Was gefällt dir an deiner jetzigen Situation nicht so gut?
Was erwarten die Erzieher von dir?
Was kannst du gut, was nicht so gut?
Beschreib doch mal deine Fähigkeiten in der Gruppe/Schule/Ausbildung!
Was soll anders werden?
last five minutes
Was sind für dich zur Zeit die wichtigsten Themen, mit denen du dich beschäftigst und worüber du mit anderen gern reden möchtest?
Was würdest du dir wünschen, wenn du drei Wünsche frei hättest?
|A 137|

2. Erzieherfragebogen

[132:506] Wir möchten Sie bitten, die Jugendliche/den Jugendlichen zusammenfassend zu beurteilen. Zu diesem Zweck haben wir 12 Behauptungen formuliert. Bitte sagen Sie, welche dieser Behauptungen Ihrer Vermutung nach eher zutreffend oder eher unzutreffend sind.
[132:507]
trifft voll und ganz zu trifft teilweise zu kann ich nicht entscheiden trifft eher nicht zu trifft keinesfalls zu
  1. 1.
    .... wird vermutlich große Schwierigkeiten haben, einen Arbeitsplatz zu finden, mit dem er/sie zufrieden ist.
  2. 2.
    ... hat konkrete und realistische Vorstellungen hinsichtlich seiner/ihrer Ausbildungsabschlüsse.
  3. 3.
    .... ist mit sich selbst im großen und ganzen zufrieden.
  4. 4.
    .... ist sich seiner/ihrer Schwächen, aber auch seiner/ihrer starken Seiten bewußt.
  5. 5.
    Mit erwachsenen
    Autoritätspersonen
    wird .... vielleicht noch lange Schwierigkeiten haben.
  6. 6.
    .... hat ziemlich große Schwierigkeiten in sozialen Beziehungen innerhalb von Gruppen.
  7. 7.
    .... hat große Schwierigkeiten mit seelischen Stimmungen, die ihn/sie stark belasten und mit denen er/sie nur schwer fertig wird.
  8. 8.
    .... fällt häufiger aus der Rolle und überschreitet die Grenzen eines sozial annehmbaren Verhaltens.
  9. 9.
    .... zeigt sich in den Beziehungen zum anderen Geschlecht aufgeschlossen.
  10. 10.
    .... ist in seinen/ihren Beziehungen zum anderen Geschlecht fair und zuverlässig.
  11. 11.
    Kriminelle Handlungen sind von .... nicht zu erwarten.
  12. 12.
    .... ist durch gefährdete Milieus leicht verführbar.
|A 138|

3. Auswertungsbeispiele

3.1 Auswertungsbeispiel für die Deutungsdimension
Zeitschemata

|A 138-140|
[132:508]
Fallnummer 18 / 17 Jahre / männlich
Beschreibung des Lebenslaufes Interaktionsbeschreibung Lebensplanung
Geboren bin ich am 11.6.74 in D.
Und kannst du dich noch an eure Wohnung erinnern?
Ja, ein Haus in einem Dorf. Also damals war’s 3 km von da entfernt. Ein ganz kleines Dorf, wo nichts los ist.
Bist du auch im Kindergarten gewesen?
Ja.
Und hast du da noch Erinnerungen dran?
Nein.
Keine einzige, nee.
Kannst du dich noch an eine Einschulung erinnern?
Ja.
Ja? Wie war das?
Na ja, da standen wir vorne auf der Treppe. Und ich ganz hinten. Und dann Foto gemacht, da war ich natürlich nicht drauf. Weil ich der Kleinste war.
In was für ’ne Schule bist du denn nach der Grundschule (gekommen)?
Orientierungsstufe, 5. Klasse war das dann.
5., 6. und dann in die Hauptschule, 7., 8., ja.
Morgens stehe ich auf um 6. Um 7.30 Uhr fährt mein Bus nach S. zur Arbeit. Bis um 10 vor 5. Dann mit dem Bus wieder zurück.
Kommst du gerade von, ne?
Ja. Und dann Abendbrot essen, duschen, und das war’s dann schon wieder.
Machst du nichts mehr?
Arbeiten nichts mehr.
Hast du so ganz frühe Erinnerungen, deine erste Erinnerung?
Wie sie mir meine Spielzeugautos geklaut haben, damals noch. Das weiß ich noch, wie ich ziemlich klein war, so 4, glaub’ ich, 5.
Das wurde mir so erzählt.
Hmm. Sonst weiß ich nichts davon.
Und was haben die davon erzählt?
Daß ich früher am Spielplatz war und daß da so ein paar Große gekommen sind und ich da gespielt habe, und da haben sie mir die Autos geklaut. Und als ich dann nach Hause gekommen bin und Bescheid gesagt habe, und daß ich die dann wiedergekriegt hab.
Weißt du noch, wer sich so alles um dich gekümmert hat in der Zeit, als du noch so kleiner warst, bevor du zur Schule gekommen bist?
Mit meiner Mutter. ... Meine Mutter war sonst immer zu Hause, wenn ich krank war und so.
Hattest du noch Kontakt zu deinen Eltern?
Ja, die ganze Zeit über. Bin ich immer nach Hause gefahren, am Wochenende und so.
Bei uns in D. im Jugendzentrum hab ich die kennengelernt.
Und was habt ihr so zusammen gemacht? Wie alt warst du da?
13, glaub’ ich. Die hab ich kaum gesehen.
Wir haben uns eigentlich nur im Jugendzentrum gesehen. Auch nur Billard gespielt, gekickert.
Tischtennis gespielt
Die 5. Klasse war noch ganz gut. Ich war zwar fast der Schlechteste, aber sonst war ich auch immer da. Und dann mit den Lehrern nicht klargekommen, und ab 6. Klasse des öfteren gefehlt und so.
Und wie war das in der Hauptschule?
Da hab ich ein Tief gehabt. War ich fast nie da. Da hab ich angefangen zu klauen und so, mit den Leuten und so. Das ging bis zur 8. Klasse. Da bin ich rausgekommen ins BVJ.
Mit den Lehrern Kontakt und so.
Mich zur Schule hingebracht. Da war ich auch nur zwei Stunden da, dann war ich wieder weg.
Ja, und dann bin ich ins BVJ gekommen. Das ging die ganze Zeit so, von der 7. bis zur 8.
Da war ich die ersten Wochen da (im BVJ), und dann war ich wieder nicht da. Wochenlang. Haben die meine Eltern angerufen und so. Und die haben wieder nichts zu gesagt, aber nichts gemacht, Stubenarrest und so, haben nichts gemacht. Und ging die ganze Zeit so weiter, bis sich dann das Jugendamt eingeschaltet hat.
Und dann bin ich hierher gekommen.
Bist du hier auch schon mal vom Heim abgehauen, so in der Anfangszeit? Daß du dich nicht wohlgefühlt hast?
Zwei-, dreimal.
Probier’ mal jetzt, das ein bisschen zu erläutern.
Tja, ich durfte damals nur bis 6 raus oder so oder 7. Ich war meistens immer bis um 9 draußen. Mutter hat mich immer gesucht und so. Bloß ich war dann immer woanders, wo sie nicht war.
Das war auch noch, wo du so kleiner warst?
Ja.
So 6 bis 9, oder warst du schon älter?
9.
Und hattest du damals schon irgendeinen Berufswunsch, als du so klein warst, 10 Jahre?
Maurer.
Und heute machst du was?
Schlosser.
Und wieso hattest du den Berufswunsch, weißt du das vielleicht?
Hat mir irgendwie gefallen, ich weiß auch nicht. Ist jahrelang so geblieben.
|A 141|

3.2 Auswertungsbeispiel für die Deutungsdimension
Selbstentwürfe

|A 141-144|
[132:509]
Fallnummer 21/18 Jahre/männlich
I. Beschreibung von Lebenszusammenhängen II. Persönliche Konzepte III. Mitgeteilte soziale Erwartungen
Ich bin ja ziemlich turbulent aufgewachsen
.
Mußte schon mit 11, 12 selbstständig werden. Durft’ ich den ganzen Haushalt machen
.
Er hat bei Freunden gegessen, da es zu Hause nichts gab. Der Vater hatte das
Geld versoffen ... Das ging so zwei Jahre
.
Wenn ich da bleibe, dann lieg’ ich selber irgendwann auf’m Boden, besoffen. Oder ich geh’ ins Heim und mach’ was auf mir
.
In der ersten Klasse war ich der absolute Kasper gewesen. Bin ich auf allen Vieren zur Tafel gekrochen und so’n Scheiß
.
Wurde vor die Entscheidung gestellt, ob ich jetzt ins Heim geh’ oder da bleibe
.
Von der dritten bis zur fünften Klasse ging er in die
Freie Waldorfschule
.
Das sind intelligente Kids, würde ich sagen
.
Zuerst wollte ich ein Hund werden
.
Dann haben sie gesagt, daß es dafür keine Ausbildung gibt
.
Ich hab zweimal Praktikum gemacht im Zoo und da war alles schön und gut ... 15, 16 war ich da
.
Seit er sechs ist, war sein Berufswunsch Tierpfleger.
Er wollte in diesem Beruf die Nähe zu Tieren haben und sich um sie kümmern.
Er macht eine Ausbildung als Tierpfleger.
In der Lehre hab ich gemerkt, daß Tierpfleger die große Scheiße ist
.
Vor allem, man muß halt viel hart arbeiten. Also 50 Kilo-Sachen heben. Dann mußt du Ratten und Mäuse totschlagen können
.
Ich muß was machen, wo ich nicht regelmäßig arbeiten muß, wo ich, wenn ich keinen Bock habe, kurzfristig anrufen kann und sage:
Heute mal nicht
... Taxi fahren oder sowas
.
Oder mich sponsorn lassen ... Man (wird) selber als Publicity-Gegenstand ausgestellt, weil ich halt lange fahre und extreme Sachen mache.
Ich hab schon mal’n Vertrag angeboten bekommen ... Z. B. würde ich wieder als Hardcore-Skater dargestellt
.
Also gammeln will ich nicht
.
Vielleicht, irgendwann werd’ ich Sozi ... Wenn ich mir sag’, ich hab selber lang genug eingezahlt
.
Das ist halt ’ne Einstellung, die viele schockiert
.
Ich (bin) halt echt scharf darauf, auszuziehen
.
Als ich zu Hause gewohnt habe, war ich praktisch Einzelkind. Hab hier drei Jahre gelebt, also nie alleine
ein Zimmer gehabt. Und dann bin ich mit 16 in die WG gegangen. Jetzt habe ich ein Einzelzimmer, seit gut drei Monaten
.
Es ist einfach nur, daß ich mich mit so vielen Leuten nicht mehr wohlfühle. Ich brauch’ echt so Tage, wo ich meine Ruhe habe und sagen kann:
Leckt mich alle am Arsch
.
Das sind halt alles Leute im Gegensatz zu mir: Essen alle Fleisch, trinken alle Alkohol und rauchen alle
.
Aber, wenn ich nach Hause komme, dann sehe ich, wie sie im Wohnzimmer am Saufen sind
.
Dann will ich halt nicht mehr dieses Bild haben, daß, wenn ich nach Hause komme, da ein Besoffener sitzt
.
Mein Zuhaue ist es nicht, ich wohne halt da. Wenn ich sage
Mein Zuhause
, dann will ich ’ne eigene Wohnung
.
Mit 16, da hab ich halt noch richtig getrunken. Selbst schon die Vorphase vom Alkoholiker gehabt
.
Mit 17 hab ich dann aufgehört
, um nicht so zu enden wie sein Vater.
Er fährt seit sieben Jahren Skateboard.
Wir sind dann meist Vorbilder für die (Kids beim Skaten). Muß man sich benehmen, daß die das ja nicht nachmachen
.
In X ist er relativ bekannt, auch durch das Skateboardfahren.
Wenn du es ’ne Zeitlang machst, dann ist es völlig normal für dich
.
Mit seinen rasierten Haaren sieht er selbst manchmal aus wie ein Skinhead. Er hat sich an Demonstrationen gegen Faschismus beteiligt.
Und eh’ ich ein Kind in die Welt setze, das dann später psychisch gestört ist, weil ich’s kaputtgemacht habe, will ich auch nicht. Kann ich mit dem Gewissen nicht vereinbaren ... Vielleicht wär’s ja ganz schön, das aufzubauen, was ich nicht hatte, ’ne richtige Familie
.
Für seine Zukunft wünscht er sich
ein sorgloses Leben ... viel Geld auf keinen Fall. Und Ruhm und so’n Scheiß. Ich will Geld haben, daß es zum Leben reicht. Weil Geld so glücklich nicht macht. Mit dem Geld kommt dann eine gewisse Arroganz ... Hab keinen Bock, daß ich so versnobt werde. Luxus, sowas, fühl’ ich mich nicht wohl drin
.
Ansonsten mach’ ich Musik. Ich mach’ jetzt grad ’ne Band auf. Ich bin Sänger, Hardrock ... ziemlich derbes Gebrüll meistens
.
Oder die ganzen Drogenabhängigen. Das ist halt, was uns nervt ... Wir haben auch Lieder über Faschismus gemacht ... Und das kotzen wir dann ins Mikrofon ein ... Ist aber schön
.
Deswegen haben wir auch schon Ärger bekommen von Skinheads
.
Unter einem Sponsor-Vertrag würde ihm das Skaten nicht so viel Spaß machen.
Er betrank sich mit einem Freund und warf Bierflaschen aus dem Fenster auf die verkehrsreiche Straße.
Haben nicht viel nachgedacht, was wir da machen. Am nächsten Tag haben wir gesagt, wir hören auf damit
.
Dann haben wir drei Stunden Krischna geschändet, d.h. drei Stunden gebetet. Dann haben wir drei Stunden diskutiert und dann haben wir drei Stunden gegessen. Sowas mach’ ich halt gern
.
(In der Schule war) ich ... schweinefaul. Die ersten Hausaufgaben habe ich nicht gemacht
.
Er machte gern Sport und Biologie. Mathe haßte er.
(In der Schule) hab ich Geige spielen gelernt und Flöte
.
Das hat mich angekotzt. Habe dann die Geige irgendwann kaputt gemacht, weil ich nicht mehr wollte
.
Flöte spielen mußten wir im Unterricht
.
Geige spielen gelernt, weil man Vater das wollte
.
Von dem Tag an mußte ich auch nicht mehr Geige spielen
.
Französisch und Englisch, das hat halt Spaß gemacht, aber der Rest war ziemlich blöde
.
|A 145|

3.3 Auswertungsbeispiel für die Deutungsdimension
Devianz

|A 145-147|
[132:510]
Fallnummer 40 / 20 Jahre / männlich
Art des abweichenden Verhaltens Beweggrund Sanktionserfahrungen
Hab dann angefangen zu klauen
(war unter 14 Jahre alt)
so Süßigkeiten und all so’n Scheiß ham wir dann geklaut
Mit Kumpels, allein macht’s ja keinen Spaß. Bringt’s ja nicht
.
und dann verkauft die ganzen Sachen ..., in der Schule, na klar! Da haste das Geld gemacht
.
hab halt ziemlich viel immer auf die Fresse von ihm (Vater) eigentlich so (gekriegt).
Reaktion: hat mich aber eigentlich gar nicht weiter interessiert, weiß auch nicht warum. So, eigentlich war er ’n Pfundskerl, aber die Alte (Stiefmutter), die er da kennengelernt hat, die hat ihn ’n bißchen meschugge gemacht. Weiß nicht, von da an ging es eigentlich bergab, war nicht mehr so prall gewesen
.
Mitbegründung für seine Heimeinweisung.
Na, wir haben geklaut ... Ham wir auch mal so’n Fernseher mitgehen lassen und sowas
.
Berlin ist groß, kann man schon rumziehen ... Kohlen besorgt, daß man ’n bißchen Geld in der Tasche hatte
.
Kohle organisiert, 300 - 400 Mark, dann sind wir losgefahren
.
Einfach Geld klauen ist Scheiße. Da mußte ja irgendwelche große krummen Sachen machen. Ja, is’ nicht so gut
.
ein-, zweimal
erwischt worden.
Vor Gericht hab ich einmal, einmal hab ich vier Tage Dauerarrest gehabt, und dann hatt’ ich einmal viermal Wochenende ... Und einmal hatt’ ich fünf Stunden Arbeitsauflage, im Altersheim
.
Reaktion:
Hat keinen Spaß gemacht
(Altersheim).
Was heißt Knast, da war eigentlich nicht viel los. Konntest Tischtennis spielen am Nachmittag, war also ’n Jugendarrest, aber eigentlich, so schlimm war das gar nicht
.
Nach der Heimeinweisung:
hab da auch weiter geklaut
.
und hatte dann auch ein paar Gerichtsverhandlungen, mußte dann ein paar Strafen absitzen
.
Ja, und dann hieß es nach ’n paar Jahren, nach zwei Jahren da, daß das Heim mich nicht mehr tragen kann, weil ich zu kriminell bin
.
War halt zuviel Alkohol im Spiel, also zuviel Drogen genommen
.
Und dann bin ich ins Heim, hab ich angefangen mit Kiffen. Ja, und ziemlich viel Alkohol getrunken auch die erste Zeit so.
Um erstmal abzuschalten
.
Und ham halt viel gesoffen auch, ne. So einfach in’n Park gesetzt, ’ne Palette Pils und ’ne Flasche Whisky. Hals vollgeschüttet und dann völlig dicht irgendwelche Scheiße gebaut
.
waren einfach so’ne Gruppe, und die sind um die Häuser gezogen
.
Es hat
relativ viel
Konflikte im Heim gegeben.
So mehr mit den Erziehern so, weißte, die wollten dann kein Taschengeld mehr rausrücken. Weil ich geb’ das ja eh nur für Alkohol und Drogen aus
.
Reaktion:
Ja, dann gehste klauen, ist doch klar! Wenn du kein Geld hast, klauste
.
Wir ham auch schon andere Sachen ausprobiert ... ich hab schon mal Koks und Speed ... hab ich mir schon mal reingeschmissen. Ja, und das war’s dann
.
aber halt nur ausprobiert. Wie das halt so ist. Man sagt zwar: mach’ ich nicht! aber irgendwann kommt dann doch mal so das Angebot
.
Ich hab jetzt – wie lange hab ich gekifft, also kann eigentlich so, kann ich sagen, fünf Jahre hab ich gekifft. Und mit den anderen (harten) Drogen, das hab ich ja nicht kontinuierlich gemacht
.
meine Freundin hat dann bißchen was dagegen gehabt

Reaktion:
hab ich gesagt: na klar, hörste auf, fertig! Kein Problem, das mach’ich, ja rauch’ (weiche Drogen) ich seit, ha, seit drei Monaten rauch’ ich schon nicht mehr
.
Aber so – fühl’ mich besser, bist fitter, hast auch mehr Geld ... Kann ich meiner Frau erstmal ’n schicken Ring kaufen! Ja, klar, kannste vorher nicht machen, weil du viel zu viel Geld dafür ausgibst.
Zur Schule bin ich gar nicht gegangen, also von der – die 7. Klasse hab ich noch gemacht, und dann die halbe achte, und dann bin ich nicht mehr hingegangen
.
Auf die Frage des Interviewers, ob die Schule nicht so sein Ding gewesen sei, sagt er:
eigentlich noch nie! Auch heute nicht
.
Normalerweise hätt’ ich Schule gehabt
.
aber hatte keine Lust
;
Berufsschule und so, ähh! Ist ganz schön ätzend ... aber dafür, daß ich nicht zur Schule gegangen bin und so, hab ich es eigentlich ganz gut.
Von zu Hause:
Ja, klar abgehauen ... immer nur so zwei, drei Tage eigentlich so
.
weil zu Hause lief es einfach nicht mehr. Hast keine Freizeit gehabt, mußtest immer schuf-, äh, arbeiten, so allen möglichen Scheiß machen, weißte, die ham nur zu Hause gesessen, Fernsehen geglotzt und Füßte auf’m Tisch gehabt, da hatt’ ich keinen Bock drauf.

Die eigenen Kinder (Stiefmutter)
hat sie vertätschelt und all so’n Scheiß, und ich mußte halt viel, hatte keine Freizeit und so, ne, mußte immer zu Hause anpacken, abwaschen, Kohlen, und Holz hacken
.
|A 148|

4. Verteilung der Fälle und Deutungsmuster

[132:511]

Tab. 12: Verteilung der Fälle und Deutungsmuster in der Dimension
Zeitschemata

Deutungsmuster männlich weiblich gesamt
institutionalisierte Zeit
16 6 22
Beziehungszeit
12 16 28
fragmentierte Zeit
11 3 14
nicht eindeutig auswertbar 3 3 6
Fälle insgesamt 42 28 70
[132:512]

Tab. 13: Verteilung der Fälle und Deutungsmuster in der Dimension
Körpererfahrungen

Deutungsmuster männlich weiblich gesamt
Stärke/Durchsetzung
13 4 17
Wettkampf und Wetteifer
4 2 6
Ausgleich
14 1 15
Körperselbstempfindliche
4 14 18
nicht eindeutig auswertbar 7 7 14
Fälle insgesamt 42 28 70
[132:513]

Tab. 14: Verteilung der Fälle und Deutungsmuster in der Dimension
Selbstentwürfe

Deutungsmuster männlich weiblich gesamt
antriebgeleitetes Selbst
14 4 18
konformes Selbst
14 8 22
unsicheres Selbst
5 10 15
unsicheres Selbst
5 10 25
eigenständiges Selbst 6 5 11
nicht eindeutig auswertbar 3 1 4
Fälle insgesamt 42 28 70
|A 149|
[132:514]

Tab. 15: Verteilung der Fälle und Deutungsmuster in der Dimension
Normative Orientierungen

Deutungsmuster männlich weiblich gesamt
Fürsorge passiv
6 11 17
egoistisch
12 1 13
Leistung
12 4 16
Verständigung
7 5 12
nicht eindeutig auswertbar 5 7 12
Fälle insgesamt 42 28 70
[132:515]

Tab. 16: Verteilung der Fälle und Deutungsmuster in der Dimension
Devianz

Deutungsmuster männlich weiblich gesamt
autoaggressiv
3 8 11
subkulturell
2 3 5
aggressiv
18 2 20
gelegentlich
14 5 19
nicht eindeutig auswertbar 5 10 15
Fälle insgesamt 42 28 70
|A 150|

Literatur

    [132:516] Allert, T.: Autocrashing – eine Form jugendlicher Selbst- und Fremdgefährdung im Großstadtmilieu. In: Neue Praxis 5/93
    [132:517] Bartram, S.: Selbstentwürfe von verhaltensschwierigen Jugendlichen. Versuch einer Typisierung anhand von offenen Interviews. Göttingen 1993 (unveröff. Manuskript)
    [132:518] Birtsch, V./Kluge, C./Trede, W. (Hrsg.): Autocrashing, S-Bahn-Surfen, Drogenkonsum. IGfH-Eigenverlag, Frankfurt/M. 1993
    [132:519] Böhnisch, L.: Sozialpädagogik des Kindes- und Jugendalters. Weinheim/München 1992
    [132:520] Dellner, U.: Typische Formen devianten Verhaltens von Jugendlichen. Göttingen 1993 (unveröff. Manuskript)
    [132:521] Dreitzel, H. P.: Die gesellschaftlichen Leiden und das Leiden an der Gesellschaft – Vorstudien zu einer Pathologie des Rollenverhaltens. Stuttgart 1968
    [132:522] Dux, G.: Die Zeit in der Geschichte. Frankfurt/M. 1989
    [132:523] Edelstein, W./Keller, M. (Hrsg.): Perspektivität und Interpretation. Beiträge zur Entwicklung des sozialen Verstehens. Frankfurt/M. 1982
    [132:524] Engel, U./Hurrelmann, K.: Was Jugendliche wagen: eine Längsschnittstudie über Drogenkonsum, Stressreaktionen und Delinquenz im Jugendalter. München 1993
    [132:525] Erikson, E.: Identität und Lebenszyklus. Frankfurt/M. 1980
    [132:526] Fend, H.: Identitätsentwicklung in der Adoleszenz. Lebensentwürfe, Selbstfindung und Weltaneignung in beruflichen, familiären und politisch-weltanschaulichen Bereichen. Bern, Stuttgart, Toronto 1991
    [132:527] Fend, H.: Vom Kind zum Jugendlichen. Der Übergang und seine Risiken. Bern, Stuttgart, Toronto 1990
    [132:528] Foucault, M.: Überwachen und Strafen. Frankfurt/M. 1976
    [132:529] Freigang, W.: Verlegen und Abschieben. Weinheim/München 1986
    [132:530] Gilligan, C.: Die andere Stimme: Lebenskonflikte und Moral der Frau. München/Zürich 1982
    [132:531] Harighurst, R. J.: Developmental Tasks and Education. New York 1953
    [132:532] Hosemann, D./Hosemann, W.: Trebegänger und Verwahrloste in sozialpädagogischer Betreuung außerhalb von Familie und Heim. Berlin 1984
    [132:533] Hurrelmann, K. u. a.: Lebensphase Jugend: eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Jugendforschung. Weinheim/München 1985
    [132:534] Jordan, E.: Entscheidungsfindung und Hilfeplanung im Kontext des KJHG. In: Institut für soziale Arbeit e. V. (Hrsg.): Hilfeplanung und Betroffenenbeteiligung. Münster 1994
    [132:535] Kasakos, G.: Zeitperspektive, Planungsverhalten und Sozialisation. München 1971
    [132:536] Kegan, R.: Entwicklungsstufen des Selbst. Fortschritte und Krisen im menschlichen Leben. München ²1991
    [132:537] Kieper, M.: Lebenswelten „verwahrloster“ Mädchen: autobiographische Be richte und ihre Interpretation. München 1980
    [132:538] Kohlberg, L.: The Philosophy of Moral Development. Moral Stages and the Idea of Justice. San Francisco 1981
    [132:539] Lenz, K.: Die vielen Gesichter der Jugend. Jugendliche Handlungstypen in biographischen Portraits. Frankfurt/M. 1988
    |A 151|
    [132:540] Mead, G. H.: Geist, Identität, Gesellschaft. Frankfurt/M. 1968
    [132:541] Merchel, J.: Von der psychosozialen Diagnose zur Hilfeplanung – Aspekte eines Perspektivenwechsels in der Erziehungshilfe. In: Institut für soziale Arbeit e. V. (Hrsg.): Hilfeplanung und Betroffenenbeteiligung. Münster 1994
    [132:542] Mollenhauer, K./Uhlendorff, U.: Sozialpädagogische Diagnosen: über Jugendliche in schwierigen Lebenslagen. Weinheim/München 1992
    [132:543] Müller, B./Niemeyer, Ch./Peter, H.: Sozialpädagogische Kasuistik. Bielefeld 1986
    [132:544] Müller, B.: Sozialpädagogisches Können: ein Lehrbuch zur multiperspektivischen Fallarbeit. Freiburg 1993
    [132:545] Münder, J. u. a.: Frankfurter Lehr- und Praxis-Kommentar zum Kinder- und Jugendhilfe-Gesetz. Münster 1993
    [132:546] Niemeyer, Ch.: Markus stört. Sozialpädagogische Kasuistik auf attributionstheoretischer Grundlage. Typoskript, Neubrandenburg 21992
    [132:547] Peters, H.: Devianz und soziale Kontrolle. Eine Einführung in die Soziologie abweichenden Verhaltens. Weinheim/München 19851985
    [132:548] Piaget, J./Inhelder, B.: Die Psychologie des Kindes. Stuttgart 1980
    [132:549] Piaget, J.: Die Bildung des Zeitbegriffs beim Kinde. Zürich 1955
    [132:550] Planungsgruppe Petra: Analyse von Leistungsfeldern der Heimerziehung. Ein empirischer Beitrag zum Problem der Indikation. Frankfurt/M. 1987
    [132:551] Plessner, H.: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Frankfurt/M. 1981
    [132:552] Rauschenbach, Th./Gängler, H.: Soziale Arbeit und Erziehung in der Risikogesellschaft. Berlin 1992
    [132:553] Rorty, R.: Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt/M. 1989
    [132:554] Rosenberg, M.: Conceiving the Self. New York 1979
    [132:555] Rosenberg, M.: Society and the Adolescent Self-Image. New York 1965
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