[028:52] Der Pädagogik sind
solche Vorstellungen nicht fremd. Auch bei ihr handelt es sich in
der Regel um eine Verfahrens|A B 29|weise, |29| die zunächst einen sozial-normativen Bezugsrahmen
voraussetzt, um dann, in einem zweiten Schritt, die funktionalen
Elemente und Prozesse hervorzuheben. In dem zitierten
geisteswissenschaftlichen Typus pädagogischer Forschung wird gar der
Versuch unternommen, einen solchen Bezugsrahmen eigenständig im
Sinne eines autonomen und in sich harmonischen gesellschaftlichen Teilsystems zu konstruieren. In anderen Fällen spielen die abendländische
Erziehungstradition, die Erziehungsgemeinschaft, die Gruppe, die Schule eine solche Rolle. Immer handelt es
sich dabei um Modell-Vorstellungen, denen zweierlei gemeinsam ist:
die Meinung, daß |b 407|Gesellschaften durch
Übereinstimmung der Werte zusammengehalten werden, und die Meinung,
daß Konflikte als disfunktional, als Störungen des Gleichgewichts zu
betrachten seien. Die Analyse von Konflikten bekommt damit die
Funktion eines wissenschaftlichen Hinweises auf Sachverhalte, die es
abzuschaffen oder einzudämmmen gilt. Solche Charakterisierung trifft
nicht nur das geisteswissenschaftlich-hermeneutische, sondern es
kann ebenso das neuerdings immer mehr an Bedeutung gewinnende
empirisch-analytische Verfahren treffen. Forschungspraktisch folgt
daraus, daß die nach Maßgabe des Bezugsrahmens als funktional
erscheinenden Gegenstände vornehmlich zum Gegenstand der Forschung
werden. Disfunktionale Phänomene werden nicht ausdrücklich oder nur
unter dem Gesichtspunkt ihres Störcharakters thematisiert. Indessen
hat es den Anschein, als könne die Pädagogik, wenn sie sich als
Erfahrungswissenschaft und nicht als normative Disziplin versteht,
gar nicht anders als den geschilderten Gesichtspunkt wählen. Es
scheint, als seien – der Absicht der autonomen Pädagogik entgegen –
alle Erziehungsprozesse bezogen auf den im gegebenen sozialen System
definierten Status des Erwachsenen. Die Leistungsfähigkeit der
Schule wird gemessen an ihrer Fähigkeit, den gesellschaftlich
notwendigen Nachwuchsbedarf zu produzieren, die
Bildungsanstrengungen des Gymnasiums daran, wieweit die Abiturienten
für ein wissenschaftliches Studium vorbereitet werden, die einzelnen
Schüler daran, wieweit sie den der |A B 30||30| Schule immanenten Ansprüchen genügen. Die funktionale
Verschränkung geht bis in die Begriffe: Leistung, Reife,
Verantwortlichkeit ebenso wie Gemeinschaft, Gruppe, Schulklasse,
Beruf sind Markierungen, die auf die funktionale Verknüpfung des
Erziehungssystems mit dem übergeordneten System hinweisen. Eine
Erziehungswissenschaft, die sich in dieser Weise orientiert und ihr
Forschungsinteresse entsprechend zur
Geltung bringt, dient ohne Zweifel dem gegebenen sozialen
Funktionszusammenhang.
[028:53] Das pädagogische Denken aber hat genau
diesen Sachverhalt seit Rousseau mit Recht als unbefriedigend empfunden, ohne
jedoch das Problem als ein wissenschaftliches befriedigend zu lösen.
Dabei hätte die Bestimmung der pädagogischen Autonomie, wäre der
›disfunktionale‹
Charakter dieser Bestimmung nur
hinreichend reflektiert worden, durchaus einen Ansatz zur Lösung
abgeben können. Denn der bei Rousseau, |b 408|Condorcet und Schleiermacher formulierte und von
der deutschen Pädagogik nach dem Ersten Weltkrieg wiederaufgenommene
Grundtatbestand ist der gleiche, der auch von den modernen
sozialwissenschaftlichen Kritikern gegen die strukturell-funktionale
Theorie ins Feld geführt wird: Prozesse des gesellschaftlichen
Wandels in einem sich demokratisch interpretierenden
Gemeinwesen.