Wissenschaft und Praxis – Vorbemerkungen zu einer
Wissenschafts- und Hochschuldidaktik
[028:62] Es steht außerhalb jedes ernsthaften Zweifels, daß an Hochschulen
gelernt wird, ja, daß die Hochschulen solcher
Lernprozesse wegen ins Leben gerufen wurden und sich am Leben erhalten. Der
Wissenschaftsrat und der
Verband Deutscher
Studentenschaften, die Kultusministerien und die Westdeutsche Rektorenkonferenz und wer immer
sonst noch bestrebt ist, sich an der Bestimmung, Bewahrung oder Veränderung
der deutschen Hochschulen zu beteiligen, sie alle scheinen darin einer
Meinung zu sein. Allein: Wie und was wird eigentlich gelernt und sollte
gelernt werden? Unter welchen Bedingungen stehen die Lernprozesse? Wie sind
sie organisiert und wie wären sie zu organisieren? Welche Gestalt hat
eigentlich die in den Ordinarien sich gleichsam personifizierende
akademische Lehre? Und trifft die Frage, die sich vor dem Hintergrund
ökonomischer Interessen immer nachdrücklicher als die eigentlich moderne
Frage der Hochschulreform auszuweisen sucht, die Frage nämlich nach der
Optimierung der Lernprozesse, überhaupt das Problem, das sich für die
Hochschule in der Demokratie stellt?
[028:63] Verwendet man eine solche Formel –
»Hochschule in
der Demokratie«
–, dann ist damit zugleich behauptet, daß die Probleme der Hochschule
sinnvoll nur in dem gesellschaftspolitischen Zusammenhang zu behandeln sind,
in dem die Hochschule fungiert. Das bedeutet für die akademischen
Lernprozesse wie für die Form der akademischen Lehre, daß sie unter
mindestens zwei für sie konstituierenden Gesichtspunkten zu betrachten sind:
Es handelt sich |A B 37|in der Universität um ein Lernen
durch Wissenschaft, und es handelt sich auch bei der Wissenschaft um eine
Tätigkeit, deren Realität im Zusammenhang derjenigen Funktionen zu
beschreiben und zu kritisieren ist, die sie in der Gesellschaft ausübt oder
auszuüben sucht. Das Problem akademischen Lehrens und Lernens schließt
mithin die Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Praxis ein. Das
Thema ließe sich unter Berücksichtigung solcher Bedingungen auch so
formulieren: Was ergibt sich hochschuldidaktisch aus der Tatsache, daß die
akademische Bildung ein durch Wissenschaft vermittelter Lernvorgang ist?
Wissenschaft und gesellschaftliches Handeln
[028:64] Das Bewußtsein von diesem Zusammenhang zwischen Bildung,
Wissenschaft und gesellschaftlicher Praxis ist nicht erst neuerdings
entstanden. Es kommt schon in den Gründungstexten der deutschen Universität
deutl|a 64|ich zum Vorschein. Unbeschadet der
verworrenen irrationalistischen Geschichte, die der Ausdruck
»Bildung«
im deutschen Sprachraum durchlaufen hat, läßt
sich für jene klassische Epoche feststellen, daß mit diesem Ausdruck
nachdrücklich auf den kritischen Sinn der akademischen Tätigkeiten
hingewiesen werden sollte. Dieser kritische Sinn, oder besser: die kritische
Funktion der Wissenschaft ergebe sich, so sagt Schelling, daraus, daß die
bürgerliche Gesellschaft
»eine entschiedene Disharmonie der Idee und der
Wirklichkeit«
zeige.
[028:65]
»Die bürgerliche Gesellschaft, solange sie noch
empirische Zwecke zum Nachteil der absoluten verfolgen muß, kann nur
eine scheinbare und gezwungene, keine wahrhafte Identität
herstellen. Akademien können nur einen absoluten Zweck
haben.«
1
|AB 172||a 75|1F. W. J. Schelling: Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums. In: Die Idee der deutschen Universität. Darmstadt 1959, S. 22.
[028:66] Der Sinn des akademischen Lernens soll nicht sein, erworbene Kenntnisse und Fertigkeiten um so effektiver in
den Dienst aktueller Zwecke der Gesellschaft und des Staa|A B 38|tes zu stellen, sondern sollte sein, solche Zwecke selbst
reflektieren zu können.
[028:67]
»Man studiert ja nicht, um lebenslänglich und stets
dem Examen bereit das Erlernte in Worten wieder von sich zu geben,
sondern um dasselbe auf die vorkommenden Fälle des Lebens
anzuwenden, und so es in Werke zu
verwandeln; es nicht bloß zu wiederholen, sondern etwas anderes
daraus und damit zu machen; es ist demnach auch hier letzter Zweck
keineswegs das Wissen, sondern vielmehr die Kunst, das Wissen zu
gebrauchen.«
2
|AB 172||a 75|2J. G. Fichte: Deduzierter Plan einer zu Berlin zu errichtenden höheren
Lehranstalt, die in gehöriger Verbindung mit einer Akademie der
Wissenschaften stehe, § 5.
[028:68] Diese praktische Funktion der Wissenschaft, die ihr innewohnende
Möglichkeit, die gesellschaftliche Praxis in Richtung auf ein Verschwinden
jener von Schelling
konstatierten Disharmonie von Idee und Wirklichkeit zu verändern, kann nur
wahrgenommen werden, wenn die Universität frei bleibt von den Zwängen und
Autoritäten der bürgerlichen Gesellschaft und des Staates.
[028:69]
»Auch die mindeste Spur von Zwang, jede noch so
leise bewußte Einwirkung einer äußeren Autorität ist
verderblich;«
»es könnte sonst dazu führen, daß man vergißt, daß
das Lernen an und für sich, wie es auch sei, nicht der Zweck der
Universität ist, sondern das Erkennen.«
3
|AB 172||a 75|3F. D. Schleiermacher: Gelegentliche Gedanken über Universitäten im deutschen Sinn. In: Die Idee ..., S. 161 und 160.
[028:70] Die Distanz von der gesellschaftlichen Praxis, die damit gesetzt
werden sollte, konstituiert gerade die kritische Funktion der Wissenschaft,
die darin sich erweist, daß sie gesellschaftliche Praxis zu ändern vermag.
Die institutionelle Trennung von Wissenschaft und Praxis sollte die
Bedingung dafür sein, daß sich im geschichtlichen Prozeß beide einander
näherten, und zwar durch das gesellschaftliche Handeln der so akademisch
Gebildeten.
[028:71] In dieser Meinung, so wissen wir heute, steckt ein soziologischer
Optimismus; sie rechnet nämlich damit, daß schon der Entschluß zu einer
freien Republik der Gelehrten als einer gesellschaftlichen Enklave und die
Reinheit des theoretischen Verhaltens die Verwirklichung des postulierten
Zweckes garantieren könne. Die Verwirklichung dieses Zweckes |a 65|aber ist von der praktischen Funktion, die Wissen|A B 39|schaft im gesellschaftlichen Leben hat, ebenso
abhängig, wie von der inneren Organisation dessen, was sich Universität nenntAB√4
|AB 172||a 75|4Vgl. dazu auch die Übersicht
über die Forschungslage zur Soziologie der deutschen Hochschule: W. Nitsch. Hochschule. Soziologische Materialien. Heidelberg 1967
. Die Frage nach den akademischen Lernprozessen und deren Bedingungen
wird damit zu einer Frage nach der didaktischen Organisation von
Wissenschaft und ihrer Vermittlung, wie auch zu einer Frage nach der
Funktion der Wissenschaft in den Zusammenhängen gesellschaftlicher
Praxis.
[028:72] Diese Frage wird nur selten gestelltAB√5
|AB 172||a 76|5Obwohl diese Frage durchaus
nicht zum Bestand der Erkenntnisinteressen deutscher Wissenschaften
gehört, ist sie doch in letzter Zeit an verschiedenen Stellen deutlich
zur Sprache gekommen. Ich nenne hier diejenigen Texte, die für meinen
Gedankengang wichtig geworden sind: die Veröffentlichungen des Verbandes Deutscher
Studentenschaften; J. Habermas: Vom sozialen Wandel akademischer Bildung. In: Merkur, Jg. 1963, wiederabgedruckt in: St. Leibfried (Hrsg.): Wider die Untertanenfabrik. Handbuch zur Demokratisierung der
Hochschule, Köln 1967; E. Baumgarten: Zustand und Zukunft der deutschen Universität. Tübingen 1963; W. Nitsch / U. Gerhardt / C. Offe / K. Preuß: Hochschule in der Demokratie, Neuwied 1966; H. v. Hentig: Das Lehren der Wissenschaft . In: Frankfurter Hefte, Jg. 1966, S. 162 ff.
. Die in den
»Gründungstheorien«
der deutschen
Universität behauptete praktische Funktion der Wissenschaft, praktisch im
Sinn der moralisch-politischen Bedeutung der Erkenntnis, ist zu einer Art
Beiwerk geworden. Der Begriff der wissenschaftlichen Tätigkeit, so scheint
es, schließt den der Bildung nicht mehr ein. Neben der wissenschaftlichen
Ausbildung wird den Hochschulen ein Erziehungsauftrag zugesprochen. So heißt
es in der Denkschrift zur Gründung einer Universität in Bremen:
[028:73]
»In der Forderung nach Anerkennung der
außerwissenschaftlichen, das heißt allgemeinen und
staatsbürgerlichen Erziehung und Bildung, die unabdingbar die Pflege
der Leibesübungen und des Musischen einschließt, als das neben
Forschung und Lehre dritte Wesensmerkmal der Hochschule, liegt die
entscheidende neue Aufgabe der Universität.«
6
|AB 173||a 76|6H. W. Rothe: Über die Gründung einer Universität zu Bremen, Bremen
1961.
[028:74] Das ist eine recht fragwürdige Bereicherung der akademischen
Aufgaben; fragwürdig deshalb, weil der Begriff wissenschaftlicher Ausbildung
sie nicht verlangt. Verständlich wird jedoch solcherart wohlmeinendes Bemühen, wenn man es als Niederschlag eines
schlechten Gewissens interpretiert. Allem Anschein nach hat sich nämlich die
wissenschaftliche Ausbildung zu einer Form entwickelt, in der die bildende
Wirkung gemeinschaftlicher wissenschaftlicher Anstrengung nicht mehr zum
Zuge kommt. Mit Hilfe jenes in der Bremer Denkschrift behaupteten
»dritten Wesensmerkmals«
der Hochschulen wird versucht,
das Defizit wieder auszugleichen, und zwar nicht dadurch, daß man sich auf
die Bildungsfunktionen des Erkennens zurückbesinnt und |A B 40|in eine wissenschaftsdidaktische Diskussion eintritt, sondern
dadurch, daß man versucht, der Hochschule einige pädagogische Institutionen
einzufügen: ein Musterbeispiel für Kurpfuscherei.
[028:75] Die Veränderung der wissenschaftlichen Ausbildung, die zu dieser
Bereicherung der Hochschulen Anlaß gibt, ist für viele Disziplinen durch
eine Zweckverschiebung charakterisiert, auf die die zitierte Mahnung Schleiermachers paßt:
[028:76]
»Allein man vergißt, daß das Lernen an und für sich,
wie es auch sei, nicht der Zweck der Universität ist, sondern das
Erkennen.«
[028:77] Dieser Verschiebung des Ausbildungszweckes vom Erkennen auf das
Lernen, von der Ausbildung zum Wissenschaftler, dazu, die Studenten
»auf wissenschaftlicher Grundlage mit den für ihren
Beruf nötigen Kenntnissen zu versehen«
7
|AB 173||a 76|7
Wissenschaftsrat, Empfehlungen zur
Neuordnung des Studiums an den wissenschaftlichen Hochschulen. Bonn 1966, S.
13.
Zur Kritik des dort, und zwar weniger in den Prinzipien des Teils
A als vielmehr in den Ausführungen des Teils B, behaupteten
Zusammenhangs von Wissenschaft und Berufspraxis, vgl. F. Nyssen: Die gesellschaftspolitischen Implikationen der geplanten
»Neuordnung des Studiums«
. In: St. Leibfried (Hrsg.), a. a. O., S. 97 ff.
, entspricht es,
wenn nun der wissenschaft|a 66|lichen Ausbildung selbst
nicht mehr jene bildende Wirkung zugetraut wird, die für Schelling, Fichte, Schleiermacher und Humboldt noch selbstverständlich war.
Orientierung im Bereich wissenschaftlicher Tätigkeit und Orientierung im
Bereich gesellschaftlich relevanten Handelns haben nichts mehr miteinander
zu tun. Das eine – so meint man – werde von der wissenschaftlichen
Ausbildung besorgt, das andere sei von einer wie immer gearteten
pädagogischen Zusatzveranstaltung zu erhoffen.
[028:78]
»Im Namen einer Bewahrung der Idee unserer
Universität wird also deren wichtigste Maxime: Bildung durch
Wissenschaft, preisgegeben.«
8
|AB 173||a 76|8J. Habermas, a. a. O., S.
15.
[028:79] Dafür, daß die mögliche pragmatische Dimension der Wissenschaft
aus dem Blick geriet, der Zusammenhang von Wissenschaft und Praxis aus der
Diskussion verschwand und also auch die im Hinblick auf die
gesellschaftliche Praxis bildende Wirkung der wissenschaftlichen Ausbildung
verkümmerte, lassen sich unter anderem zwei Gründe nennen.
|A B 41|
[028:80] Der eine Grund liegt in der Entwicklung der Wissenschaft und ist
von Habermas skizziert worden
als die Verkürzung der Wissenschaften um ihre praktisch-philosophische
Dimension im Zuge der Entwicklung zu empirischen Einzelwissenschaften:
[028:81]
»Die Erfahrungswissenschaften im strikten Sinne
können zu technischen Fertigkeiten verhelfen, nicht aber zu
praktischen Fähigkeiten bilden.«
9
|AB 173||a 76|9J. Habermas, a. a. O., S.
14.
[028:82] Was in der
»Gründungstheorie«
der deutschen
Universität Wissenschaft hieß, entspricht nicht mehr dem, was heute unter
diesem Namen betrieben wird.
[028:83] Der andere Grund liegt im Verhältnis der Wissenschaft zu den
Berufen. Es war gewiß nicht die Absicht der Universität Humboldts, durch wissenschaftliche Ausbildung
berufsnotwendige Kenntnisse zu vermitteln. Ihr praktischer Bezug betraf
vielmehr die begründend-argumentierende Orientierung im Handeln, die – über
die Teilnahme an der wissenschaftlichen Tätigkeit – zum Bestandteil des
Subjekts nicht nur als erkennendes, sondern auch als handelndes wird.
[028:84]
»Was wir mit dem Bewußtsein, daß wir es tätig erlernen, und mit dem Bewußtsein der Regeln dieser erlernenden Tätigkeit,
auffassen, das wird zufolge dieser eigenen Tätigkeit und dem
Bewußtsein ihrer Regeln ein eigentümlicher Bestandteil unserer
Persönlichkeit und unseres, frei und beliebig zu entwickelnden,
Lebens.«
10
|AB 173||a 76|10J. G. Fichte: Deduzierter Plan ..., § 5.
[028:85]
»Denn nur die Wissenschaft, die aus dem Innern
stammt und ins Innere gepflanzt werden kann, bildet auch den
Charakter aus, und dem Staat ist es ebenso wenig als der Menschheit
um Wissen und Reden, sondern um Charakter und Handeln zu
tun.«
11
|AB 173||a 76|11W. v. Humboldt: Über die innere und äußere Organisation der höheren
wissenschaftlichen Anstalten in BerlinIn:: Die Idee ..., S. 379.
[028:86] Die Berufsbezogenheit fehlte indessen nicht völlig, wie sich in
dieser Formulierung Humboldts
andeutet, nur daß sie sich nicht an einzelnen Berufsrollen konkretisierte,
sondern in der gleichsam kollektiv-ständischen Rolle der bürgerlichen
Beamtenoberschicht Preußens. Beides, Wissen|a 67|schaft |A B 42|und Beruf, war jedoch nicht durch die Sätze der Wissenschaft miteinander verbunden,
sondern durch die in der auf Erkenntnis zielenden Reflexion gewonnene
philosophische Fähigkeit. Gerade aber damit verhält es sich heute anders. Der zunehmende wissenschaftliche
Charakter der Berufstätigkeiten, im Sinne einer Verwendung
wissenschaftlicher Resultate, hat in der wissenschaftlichen Ausbildung durch
die Hochschule seine Entsprechung in der Aufmerksamkeit für ebensolche
verwert- und verwendbaren Resultate der
»Forschung«
einerseits und der Forschungsmethoden andererseits. Die Bedeutung der
wissenschaftlichen Ausbildung für das gesellschaftliche Handeln ist
konzentriert auf die technologische Dimension der Berufstätigkeit:
einzelwissenschaftliche Kenntnisse und forschungstechnische
Verfahrensweisen. Solche Konzentration ist teils gerechtfertigt durch den
wissenschaftlichen Charakter der modernen Berufswelt selbst; wenn
Wissenschaft bereits ein konstitutives Element der Praxis ist, gehört die
wissenschaftliche Ausbildung im genannten Sinn zu den notwendigen und unerläßlichen Bedingungen
für die Bewältigung der Praxis.
[028:87] Diese Rechtfertigung aber stellt sich als bedenkliche Verkürzung
heraus, wenn der soziale Handlungszusammenhang, in dem berufliche Tätigkeit
bestimmt und bewertet wird, in dem damit auch die Wissenschaft ihre
tatsächlich praktischen Funktionen bekommt, nicht mehr zum Gegenstand der
Reflexion in der wissenschaftlichen Ausbildung gemacht wird. Die
wissenschaftliche Kritik leistet nicht mehr eo ipso die Kritik der
vorwissenschaftlichen Praxis. Es liegt dann nahe, daß man auf den Gedanken
verfällt, durch jene pädagogischen Zusatzveranstaltungen den Mangel
auszugleichen. Ein solcher Ausgleich aber schwächt dadurch, daß er auf
Reflexion verzichtet, die praktische Funktion der wissenschaftlichen
Ausbildung, die sich nun erst recht den Studierenden gegenüber als
kognitives Leistungstraining darstellen kann: Lernen statt Erkennen.
|A B 43|
Das wissenschaftliche Verfahren
[028:88] Was ergibt sich aus solchen Überlegungen für die
Wissenschaftsdidaktik? Die folgende Frage ist zu beantworten: Enthält die
wissenschaftliche Tätigkeit nicht doch und immer noch – trotz jener
skizzierten Funktionsveränderung im Verhältnis von Wissenschaft und Praxis –
die auch für die Lösung praktischer Fragen der Handlungsorientierung
entscheidenden Elemente?
[028:89] Die Verabschiedung der philosophisch-praktischen Überhöhung der
Wissenschaft durch die Reformer von 1807 und der Verzicht auf ihre Absicht,
durch wissenschaftliche Ausbildung unmittelbar auf das Wollen der
Studierenden zu wirken, kann nämlich auch als erfreuliches Resultat der
weiteren Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte verstanden werden. Die
Genauigkeit der Einsicht in die besonderen Bedingungen, unter denen
wissenschaftliche Sätze zustandekommen, die Einsicht zugleich in |a 68|die Grenzen wissenschaftlicher Aussagen darf als ein Vorzug der neueren Wissenschaftslogik angesehen werden. Wird dieser Vorzug, wie viele zu meinen scheinen12
|AB 173||a 76|12Diese Befürchtung, die im Streit
zwischen empirisch-analytischer und kritisch-didaktischer Konzeption der
Sozialwissenschaft auf wissenschaftstheoretischem Niveau formuliert wird
(vgl. dazu vor allem J. Habermas: Theorie und Praxis, Neuwied 1964), findet ihren hochschulpraktischen Niederschlag in
einer bisweilen allzu kurzschlüssig erscheinenden Adaption jener
»kritischen Theorie«
, in der der Begriff
»Kritik«
sich schon in einer Ablehnung des
Bestehenden zu erfüllen scheint. Beispiele für solchen
»unkritischen«
Gebrauch des Ausdrucks
»Kritik«
finden sich u. a. in St. Leibfried (Hrsg.): Wider die Untertanenfabrik. Köln 1967.
, notwendig erkauft um den Preis der
gesellschaftspolitischen Relevanz der wissenschaftlichen Tätigkeit, ihrer
praktischen, das heißt die gesellschaftlichen Zwecksetzungen betreffenden
Potenz? Folgen wir den Merkmalen, die Patzig für die wissenschaftliche
Ausbildung fordert, dann scheint das nicht der Fall zu sein:
[028:90]
»Hand in Hand mit dem Erwerb von Kenntnissen und
Fertigkeiten muß die Bemühung gehen, sich von allen vorgefaßten
Meinungen freizuhalten, die Voraussetzungen, von denen man ausgeht,
stets bewußt zu machen, bei jeder Hypothese nach Gegeninstanzen
Ausschau zu halten. Wissenschaftliche Verfahrensweise schließt die
Bereitschaft ein, das Gewicht jeder Behauptung der Kraft der zur
Verfügung stehenden Argumente feinstens anzupassen, und die
Fähigkeit, sich in die Sache selbst bis zur Selbstvergessenheit zu
versenken. ... In dem Maße, in dem diese Tugenden eines methodischen
Denkens, in einer Fachdisziplin eingeübt, im Umgang mit schon in
diesem Sinne disziplinierten Wissenschaftlern (anders sind sie wohl
nicht zu erwerben), auch auf Probleme außerhalb des Fachs, z. B. in
der poli|A B 44|tischen Urteilsbildung und in
persönlichen Entscheidungen angewandt werden, hat jede
wissenschaftliche Ausbildung der Potenz nach auch eine
Erziehungsfunktion.«
13
|AB 173||a 76|13G. Patzig: Was heißt
»wissenschaftliche
Ausbildung«
?. In: Georgia Augusta, Jg. 1967, Heft 8, S.
33.
[028:91] Die bildende Wirkung der wissenschaftlichen Ausbildung – so ist
hier die Meinung – liegt einzig in den Regeln, die das wissenschaftliche
Verfahren definieren. Praktisch relevant wird solche Ausbildung durch die
immer allgemeiner werdende Geltung dieser Regeln, dadurch nämlich, daß sie
nicht nur Regeln wissenschaftlicher Erkenntnis sind, sondern des rationalen
Verkehrs überhaupt. Auch Baumgarten ist dieser Meinung, noch pointiert
durch die behauptete Parallelität von wissenschaftlichem und
demokratisch-praktischem Regelsystem, die er in drei Momenten zusammenfaßt:
1. die Disziplin des hypothetischen Denkens, das heißt das Mißtrauen den
eigenen Sätzen gegenüber, aus dem erst die Offenheit der Kommunikation
folgt; 2. die Abneigung gegen dogmatische Systeme; 3. die Bereitschaft, auch
bei nicht bestehender Einigkeit, in den Regeln rationaler Kommunikation verbunden zu bleibenAB√14
|AB 173||a 76|14E. Baumgarten: Zustand und Zukunft der deutschen Universität. Tübingen 1963, S.
40
.
[028:92] Danach hat es also den Anschein, als lägen die Prinzipien der
Wissenschaftsdidaktik in den Regeln des wissenschaftlichen Verfahrens fest,
als sei durch diese Regeln auch die praktische Relevanz der Wissenschaft
(jenseits ihrer technisch verwertbaren Ergebnisse) gesichert und als bestehe
die didaktische Aufgabe der Hochschule in nichts als einer wirkungsvollen
Vermittlung dieser Regeln.
[028:93] Sind solche Überlegungen hinreichend oder sind sie, im Hinblick
auf die konkreten gesellschaftlichen Funktionen, nicht doch zu abstrakt?
Kommen wir auf diese Weise tatsächlich schon zu einem befriedigenden Begriff
des hochschuldidaktischen Problems? Gehören nicht vielmehr auch die
empirischen Bedingungen, unter denen Wissenschaft betrieben, verwertet und
gelehrt wird, zu diesem Begriff? Die Sätze Patzigs und |a 69|Baumgartens sind Forderungen: sie enthalten
kaum Hinweise darauf, wie sie realisiert werden und welche Widerstände – die
Trägheit und Uneinsichtig|A B 45|keit der beteiligten
Personen ausgenommen – einer Verwirklichung im Wege sein könntenAB√15
|AB 173||a 76|15Baumgarten allerdings formuliert seine Postulate durchaus im
Zusammenhang einer empirischen Analyse einzelner Aspekte der
Hochschulen, die nicht mehr in der Lage seien, ihre Aufgaben zu
erfüllen; er tut das insbesondere im Hinblick auf die Einstellungen der
Hochschullehrer und im Anschluß an die große Untersuchung von Anger(H. Anger:|AB 174|Probleme der deutschen Universität, Tübingen 1960),
allerdings ohne das prinzipielle Problem der Verflechtung von
Wissenschaft und dem die Wissenschaft ermöglichenden
Kommunikationssystem theoretisch aufzunehmen.
. Es könnte z. B. sein, daß jenes an die Regel des wissenschaftlichen
Verfahrens streng sich bindende Verhalten nur noch von kleinen Gruppen
innerhalb der Hochschulen geübt und weitergegeben wird. Es könnte weiterhin
sein, daß der Leistungsdruck der Gesellschaft auf die akademischen
Ausbildungswege und vermittelt auch auf das Bewußtsein der Studenten eine
Verkürzung gerade jenes eigentümlich wissenschaftlichen Verhaltens
befördert. Und es könnte schließlich sein, daß die von Baumgarten behauptete Entsprechung von
demokratisch-politischem und wissenschaftlichem Regelsystem gar nicht
existiert, es sei denn als Vorstellung, und also die Ausbreitung rationaler
Formen der Kommunikation eher erschwert als begünstigt wird.
Wissenschaft als Kommunikation
[028:94] Das Reden von Wissenschaft schließt ein, daß das Befolgen der
wissenschaftlichen Verfahrensweisen – der Begrenztheit individueller
Erkenntnismöglichkeiten wegen – nur im sozialen Zusammenhang mit anderen um
Erkenntnis bemühten Individuen geschieht. Eine einsame Einsicht ist noch
keine Wissenschaft. Sie wird zur Wissenschaft erst dadurch, daß sie
diskutiert wird. Es könne, schrieb Schleiermacher,
[028:95]
»nur ein leerer Schein sein, als ob irgendein
wissenschaftlicher Mensch abgeschlossen für sich in einsamen
Arbeiten und Unternehmungen lebe. Vielmehr ist das erste Gesetz
jedes auf Erkenntnis gerichteten Bestrebens: Mitteilung.«
16
|AB 174||a 76|16F. D. Schleiermacher: Gelegentliche Gedanken ..., a. a. O., S.
225.
[028:96] In dieser Tradition benennt auch Hartmut von Hentig das didaktische
Prinzip aller Wissenschaft:
»die notwendige Verbindung von Erkenntnis und
Kommunikation«
AB√17
|AB 174||a 76|17
H. v. Hentig, a. a.
O.
. Dieses Prinzip zeige sich darin, daß Wissenschaft angewiesen ist auf
[028:97] Alle Bestimmungen zeigen, daß der Zusammenhang von Erkenntnis und
Kommunikation notwendig ist, wenn überhaupt von Wissenschaft gesprochen
werden soll. Hochschuldidaktik wäre demnach die Theorie und Praxis
derjenigen Konsequenzen für akademisches Lehren, die im Zusammenhang mit
jenem der Wissenschaft selbst innewohnenden didaktischen Prinzip stehen. Mit
dem Prinzip ist gesagt, daß Erkenntnis nur insofern zur Wissenschaft wird,
als sie in einen Kontext von Kommunikationen des Sich-Verständigens gebracht
wird.
[028:98] Dieser Kontext von Kommunikation aber folgt, worauf wir schon
hingewiesen haben, bestimmten Regeln. Es sind, allgemein gesprochen, die
Regeln des rationalen Argumentierens. Zu diesen für die Wissenschaft
konstitutiven Regeln des rationalen Argumentierens gehört es nun, daß die
Rationalität eines Arguments in dem Maße steigt, in dem die
Prüfmöglichkeiten erhöht werden. Je genauer die Bedingungen anzuge|a 70|ben sind, unter denen das Resultat eines
Erkenntnisprozesses zustandekommt, um so rationaler wird das, was von Hentig
»Kommunikation«
nennt. Nicht im
»Wissen«
der Wissenschaft liegt ihre Rationalität, sondern in ihrem
Verfahren. Das bedeutet aber auch, daß die Mitteilung sogenannter
»Ergebnisse der Wissenschaft«
, ihr angesammelter
Datenschatz, am wenigsten geeignet ist, jene Rationalität zu vermitteln.
Eine didaktische Praxis, die im Ausbildungsgang der Universität die
Vermittlung von Kenntnissen trennen will von den Verfahren der
Erkenntnisgewinnung, eine Praxis, die sich damit zufrieden gibt, daß solche
Kenntnisse ja schließlich
»auf wissenschaftlicher
Grundlage«
von der Forschung bereitgestellt seien, befördert die
Irrationalität akademischer Bildung.
[028:99] Damit wäre dem bisher Erörterten nichts Neues hinzugefügt, wenn
nicht durch den Hinweis darauf, daß die Rationalität der akademischen
Bildung eine Funktion des Kommunikationszusammenhangs von Wissenschaft sei,
nun auch ihre sozialen Bedingungen angesprochen wären. Je mehr die
wissenschaftlichen Veranstaltungen sich ausbilden, so meint Schleiermacher,
|A B 47|
[028:100]
»um desto mehr erfordern sie Hilfsmittel, Werkzeuge
mancher Art, Befugnis der Verbundenen, auch als solche mit andern
auf eine rechtsbeständige Art zu verkehren.«
18
|AB 174||a 76|18F. D. Schleiermacher, a. a. O., S. 225.
[028:101] Andererseits gilt, was Schelling sagt:
[028:102]
»Es soll auf Akademien
nichts gelten als die Wissenschaft und kein anderer Unterschied
sein, als welchen das Talent und die Bildung macht.«
19
|AB 174||a 77|19F. W. J. Schelling, a. a. O., S.
22.
[028:103] Dem Geltungsanspruch steht die empirische Verflochtenheit der
Wissenschaft mit der Gesellschaft gegenüber, welche sich daraus notwendig
ergibt, daß die Wissenschaft als Kommunikationszusammenhang ein Teil
gesellschaftlicher Praxis ist. Das trifft insbesondere dann zu, wenn
Wissenschaft gelehrt werden soll, wenn es also darum geht, Studierende mit
den Regeln dieses Kommunikationszusammenhangs vertraut zu machen. Das kann –
wenn sich die Aufgabe der akademischen Ausbildung nicht in der technischen
Verfügung über die einschlägigen Forschungsmethoden und der Aneignung von Ergebnissen der
Forschungspraxis erschöpfen soll – nur dadurch geschehen, daß die
Studierenden am Erkenntnisprozeß beteiligt werden. Das in den Hochschulen
gegebene didaktische Problem ließe sich also als die Frage nach der Natur
von Erkenntnis- und Beteiligungsprozessen bestimmen. In beiden Hinsichten
nun machen sich soziale Bedingungen bemerkbar, deren Aufklärung eine Sache
der Wissenschaften selbst wäre, soll die Rationalität der Kommunikation
nicht nur in einem technischen Sinne gewahrt sein.
Soziale Bedingungen didaktischer Prozesse
[028:104] Der erste Komplex von Bedingungen, die es aufzuklären gilt, sind
die Voraussetzungen derer, die Wissenschaft betreiben. Sozial sind solche
Voraussetzungen insofern zu nennen, als sie nicht nur in den individuellen
|a 71|Verfassungen der einzelnen Wissenschaftler,
sondern in gesellschaftlichen |A B 48|Lagen wurzeln. Die
Wahl der leitenden Begriffe, der Probleme, der Forschungsverfahren ergibt
sich nicht zwingend nur aus einer Art Eigengesetzlichkeit des
Erkenntnisfortschritts, sondern ist gesellschaftlich vermittelt. Für
Wissenschaften, deren
»Gegenstand«
soziales Handeln ist,
wie z. B. die Erziehungswissenschaft, ist solche Aufklärung in besonderer
Weise dringlich. Diese Wissenschaften produzieren unmittelbar
handlungsrelevantes Wissen; andererseits gehört der Erkennende dem
Erkenntnisgegenstand selber an: die Wahl zwischen Alternativen im
Erkenntnisprozeß entspringt der vorgängigen Interpretation des
Handlungsfeldes und damit einer Entscheidung für bestimmte
Interessen-Alternativen. Wird dieser Zusammenhang in der wissenschaftlichen
Ausbildung – etwa durch eine Beschränkung auf die Mitteilung von
Forschungsergebnissen in der Lehrerausbildung – nicht diskutiert, dann
verkümmert sie zu einer Aneignung technisch verwertbaren Wissens auf der
einen Seite und zu einer ideologischen Beeinflussung in Form berufsethischer
Motivierungen auf der anderen Seite.
[028:105] Der zweite Komplex von sozialen Bedingungen umfaßt solche, die
auf den Beteiligungs- bzw. Lehrprozeß unmittelbar wirken:
[028:106] die Struktur der Ausbildungs- und Berufserwartungen der
Studierenden;
[028:107] die dem Studierenden entgegengebrachten Rollenerwartungen
der Hochschule, durch ihre Institutionen wie Institute, Seminare,
Übungen, Vorlesungen und durch die Lehrpersonen selbst;
[028:108] das Selbstverständnis der Lehrenden im Hinblick auf ihre
Lehr- und Forschungsaufgabe;
[028:109] die Hierarchien des Lehr- und Forschungskörpers;
[028:110] die ökonomischen Bedingungen;
[028:111] die soziale Herkunft der Studierenden;
[028:112] die Zahl der Studierenden;
[028:113] die Formen, in denen Entscheidungen über Lehr- und
Forschungsprozesse herbeigeführt werden;
|A B 49|
[028:114] die Kommunikationsstile zwischen Dozenten und Assistenten,
Dozenten und Studenten usw. und ihre Institutionalisierungen.
[028:115] Es ist zu vermuten, daß Variablen dieser Art wirksam werden in Richtung auf die Chancen für eine wissenschaftliche Ausbildung an Hochschulen, die sich als Beteiligung an Erkenntnisprozessen darstellen will.20
|AB 174||a 77|20Die hochschuldidaktische Forschung in den USA hat für einige
dieser Variablen bereits zu interessanten Ergebnissen geführt; vgl. dazu den Sammelbericht von W. J. McKeachie, Research on Teaching at the College and University Level,
in: N. L. Gage (Ed.): Handbook of Research on Teaching, Chicago 1963, S. 118
ff.
Diese Variablen aber sind – wie die letzten Jahre
hochschulpolitischer Diskussion vermuten lassen – selbst nicht unabhängig.
Sie werden ihrerseits beeinflußt von außeruniversitären gesellschaftlichen
Faktoren.
[028:116] Als einen dritten Komplex sozialer Bedingungen für didaktische
Prozesse innerhalb der Hochschulen können wir deshalb solche annehmen, die
die institutionalisierte Wissenschaft und die Organisationsformen der Lehre
an außerwissenschaftliche gesellschaftliche Interessen binden. |a 72|Dazu gehören die ökonomischen Interessen an
»Effektivität«
des Studiums im Hinblick auf die
Verwendbarkeit wissenschaftlich qualifizierter Fachleute. Ein solches
Interesse muß z. B. nicht zusammenfallen mit dem AB√ explizierten Begriff wissenschaftlicher Ausbildung. Die Rationalität
der wissenschaftlichen Kommunikation von Lehrenden und Lernenden ist nur
scheinbar autonom. Das zeigt sich in Sonderheit im Verhältnis der
beruflichen Anforderungen zum wissenschaftlichen Ausbildungsprozeß, ferner
in den Beziehungen zwischen Forschungsschwerpunkten und wirtschaftlichen
Leistungsinteressen, schließlich auch in den Abhängigkeiten zwischen
politischen Interessen und den in den Hochschulen gefundenen
institutionellen Lösungen. Detaillierte Untersuchungen der Zusammenhänge auf
der Ebene der Institute, in denen die Abhängigkeiten zwischen den Variablen
Instituts-Ordnung, Forschungsschwerpunkte und ‑Förderungen,
Entscheidungsprozesse, Lehrpraxis, Berufserwartungen, politische Einflüsse
usw. einer empirischen Kontrolle unterzogen würden, könnten die vermuteten
Zusammenhänge auf ihre Bestätigung bzw. Widerlegung hin prüfen. Daß es sich
dabei nicht um aus der Luft |A B 50|gegriffene, sondern
durchaus sinnvolle Vermutungen handelt, geht nicht nur aus den
hochschulpolitischen Diskussionen, sondern auch aus den wenigen bereits
vorhandenen Arbeiten zu diesem Thema hervorAB√21
|AB 174||a 77|21Vgl. dazu die schon zitierten
Arbeiten von Anger, Baumgarten, McKeachie und Nitsch; ferner H. Krauch (Hrsg.): Beiträge zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik.
Symposion
»Forschung, Staat und Gesellschaft«
. Berlin, 22.–26. Juni 1964, Studiengruppe Systemforschung,
Heidelberg 1966; H. Krauch / W. Kunz / H. Rittel (Hrsg.): Forschungsplanung. Eine Studie über Ziele und Strukturen
amerikanischer Forschungsinstitute. München/Wien 1966.
.
Didaktische Theorie und didaktische Praxis
[028:117] Unser Gedankengang blieb insofern abstrakt, als er sich nur mit
der wissenschaftlichen Ausbildung überhaupt befaßte, ohne Rücksicht auf die
besonderen Fragen, die durch die Eigentümlichkeiten der einzelnen
Fachdisziplinen ins Spiel treten. Aber auch so mag doch einiges deutlich
geworden sein, das als Aspekt theoretischer Reflexion und empirischer
Analyse für jede Wissenschaft von Bedeutung ist:
[028:118] die Eigenart des wissenschaftlichen Verhaltens als einer
Form von rationaler Kommunikation und die Notwendigkeit, diese Form von
Kommunikation zu erlernen durch die Beteiligung am
Erkenntnisprozeß;
[028:119] die Chancen und Formen der hochschulpraktischen
Realisierung des Beteiligungs-Postulates in Forschung und Lehre; die
Analyse der sozialen Bedingungen, denen jene Kommunikations- und
Beteiligungsprozesse unterliegen.
[028:120] Die didaktische Theorie würde demnach in dreierlei Form auftreten
müssen:
[028:121]
1.
Als Explikation des Begriffs
und damit des Anspruchs wissenschaftlicher Ausbildung; der Ort dieses
Verfahrens läge in der Wissenschaftstheorie
(Wissenschaftsdidaktik).
[028:122]
2.
Als Analyse der empirischen
Bedingungen für die Realisierung dieses Begriffs in der Praxis
wissenschaftlicher Lehre (Hochschuldidaktik).
[028:123]
3.
Als Analyse des Verhältnisses
von Wissenschaft und Praxis, der je für |a 73|einzelne
Disziplinen oder Disziplinen-Gruppen, für Forschungseinrichtungen oder
Theorien, für einzelne Wissenschaftler oder begriffliche Ausgangslagen
|A B 51|leitenden Interessen, als Analyse der
Funktionen von Wissenschaften im gesellschaftlich-politischen
System.
[028:124] Das leitende Interesse unserer
Überlegungen war das Interesse an einem Maximum rationaler Kommunikation,
das heißt aber: das der Wissenschaft selbst innewohnende Interesse. Sie wird
an diesem Interesse nur festhalten können, wenn nicht nur die didaktischen Prinzipien immer wieder
herausgestellt, sondern die didaktischen Prozesse einer
erfahrungswissenschaftlichen Kontrolle unterzogen werden. Rational also wird
die hochschuldidaktische Diskussion nur in dem Maße bleiben oder werden, in
dem die Hochschule auch sich selbst als Ort wissenschaftlicher Ausbildung
erforscht. Das bedeutet für die Einzelwissenschaften, daß sie in ihre
Erkenntnisinteressen auch die sozial-wissenschaftliche Frage nach ihrer
eigenen Darstellung und Vermittlung, die Frage nach ihrer Praxisbedeutung
mit aufnehmen müssen.
[028:125] Die Rationalität der Wissenschaft ist gegenüber dem, was sonst in
der Gesellschaft geschieht, nicht prinzipiell neutral. Ihre Entstehung
verdankt sie einem gegen viele Widerstände durchgesetzten Interesse an der Emanzipation von Herrschaftsverhältnissen, das heißt an der prinzipiell gleichen
Beteiligung aller am Prozeß der gesellschaftlichen Veränderungen. Dieses
Interesse ist also nicht nur ein Interesse an der Rationalität wissenschaftlicher
Verfahren; die Verfahrens-Rationalität ist vielmehr nur die zur
wissenschaftlichen Methode geronnene rationale Diskussion der Bürger um die
Gestaltung der gesellschaftlichen Welt, um die Emanzipation von Mächten, die
der Verfügung durch den Menschen noch entzogen sind, und zwar dadurch, daß
sie unaufgeklärt bleiben. Rationalität der Wissenschaft ist mithin ein Element des Vorganges, der sich zutreffend, wenn
auch vielleicht allzu roh, mit Demokratisierung bezeichnen ließe. Die
Beschränkung der Wissenschaft auf ihren vielzitierten
»Elfenbeinernen Turm«
bedeutet nicht nur eine Art Neutralitätsschutz
gegen politische Einflüsse, die ihre Objektivität gefährden, sondern auch
Gleichgültigkeit |A B 52|gegenüber
gesellschaftlich-politischen Praktiken, die ihr eines Tages den Boden
entziehen könnten. Wissenschaft kann die
Rationalität des gesellschaftlichen Daseins erhöhen – sie kann aber auch, wenn sie jenen Zusammenhang nicht reflektiert,
denjenigen Herrschaftstendenzen dienstbar werden, die am Rückgang des
Demokratisierungsprozesses interessiert sind.
[028:126] Konkret wird dieses Problem an dem Verhältnis von
wissenschaftlicher Ausbildung an der Universität zu der vom Studenten zu
erwartenden Berufsrolle. Auf der einen Seite heißt es, jeder
berufspraktische Bezug müsse die Reinheit der wissenschaftlichen Forschung
trüben und sei deshalb konsequent von der Universität fernzuhalten. Auf der
anderen Seite wird die Ausbildungsfunktion der Universität durchaus auf die
Berufsrollen bezogen und als berufs- und damit praxisbezogener Kenntnis- |a 74|und Methodenerwerb verstanden. Beide Meinungen,
soweit sie auch auseinanderliegen mögen, zeichnen sich aber dadurch aus, daß
sie gerade nicht dem Postulat einer Reflexion des Verhältnisses von
Wissenschaft und Praxis folgen. Beide nämlich liefern den auf solche Weise
Ausgebildeten den gerade gegebenen sozialen Bedingungen der Berufe aus, an
denen die wissenschaftliche Bildung sich nun bewähren soll. Demgegenüber
scheint die Aufgabe der wissenschaftlichen Bildung gerade darin zu liegen,
die Funktion von Wissenschaft im sozialen Felde des Berufes theoretisch zu
durchdringen, um den Sinn dieser Bildung nicht gerade dort aufzugeben, wo
sie ihre kritische Funktion gegen das Gegebene zu behaupten, wo sie ihren
emanzipatorischen Zweck zu erfüllen hätte.
[028:127] Als praktische Konsequenzen aus solchen Überlegungen ließen sich
unter anderem die folgenden denken:
[028:128] eine Revision der Vorlesungspraxis in Richtung auf eine
Verringerung ihres Umfangs um all das, was auch in Form von Lehrbüchern
vermittelt werden könnte; sie würde damit vermutlich nicht ihres
eigentlichen Zweckes verlustig gehen, sondern ihn eher zurückgewinnenAB√22
|AB 174||a 77|22
»Da unsere Schüler auch Bücher lesen sollen,
und wir ihnen überhaupt nichts zu sagen gedenken, was eben
so gut im Buch steht, so gehört zu jener enzyklopädischen
Rechenschaft eines Lehrers allerdings auch die Aufgabe,
welche Lektüre er vorschreibe. Diese Lektüre mag für den
Anfang in schon vorhandenen Büchern stehen, und es wird in
diesem Falle genug sein, diese zu zitieren.«
.
(J. G. Fichte: Deduzierter Plan ..., § 62)
:
»Der Lehrer muß alles, was er sagt, vor den
Hörern entstehen lassen; er muß nicht erzählen, was er weiß,
sondern sein eigenes Erkennen, die Tat selbst,
reproduzieren, damit sie beständig nicht etwa nur Kenntnisse
sammeln, sondern die Tätigkeit der Vernunft im Hervorbringen
der Erkenntnis unmittelbar anschauen und anschauend nachbilden.«
(F. D. Schleiermacher, a. a. O., S. 252)
.
;
[028:129] die Wahl von
»Einstiegen«
in eine
Wissenschaft, die an aktuelle Forschungsprobleme anknüpfen und den
Zusam|A B 53|menhang von Wissenschaft und
gesellschaftlicher Praxis von Beginn der Ausbildung an zu reflektieren
erlauben;
[028:130] die Wahl von Seminar-Führungsstilen, die ein Maximum von
Diskussion erlauben;
[028:131] die Anleitung zu kollektiven Prozessen wissenschaftlicher
Arbeit, von der Herstellung von Referaten in kleinen Gruppen bis zur
Beteiligung an Forschungsvorhaben im Zusammenhang der Institute;
[028:132] die Beteiligung der Studenten an der Planung von Lehr- und
Forschungsvorhaben;
[028:133] die Einführung von regelmäßigen Lehrveranstaltungen, deren
ausdrücklicher Gegenstand die Funktion einer Wissenschaft in
gesellschaftlichen Praxisbereichen ist;
[028:134] die Öffentlichkeit aller die Wissenschaft betreffenden
Instituts-Entscheidungen, soweit das irgend zu vertreten ist.
[028:135] Lernen an den Hochschulen ist mehr als das Reproduzieren von
Daten und wissenschaftlichen Verfahren, und es unterliegt Bedingungen, die
sich nicht auf Seminare und Vorlesungen allein beschränken. Die Hochschule
kann erst dann eine politisch bildende Wirksamkeit entfalten, wenn die
Beteiligung am Erkenntnisprozeß durch politische Beteiligung ergänzt wird.
Sie müßte alles tun, um Bedingungen zu schaffen, die solche Beteiligung
ermöglichen. Denn unter anderem darin könnte sich
erweisen, ob die Universität imstande ist, das Problem zu bewältigen, das
mit dem Zusammenhang von Wissenschaft und gesellschaftlicher Praxis heute
sich eingestellt hat. Bildung durch Wissenschaft führt zu einer zeitgemäßen
Form von Halbbildung, wenn nicht mit ihr die Bildung des politi|a 75|schen Bewußtseins einhergeht. Daß die bisherige Form
der wissenschaftlichen Ausbildung in dieser Hinsicht nicht recht
leistungsfähig ist, läßt sich aufgrund der Untersuchungen zum politischen
Bewußtsein der Studenten- und Lehrerschaft wenigstens vermutenAB√23
|AB 174||a 77|23Vgl. dazu die zusammenfassende Darstellung
bei W. Nitsch: Hochschule. Soziologische Materialien. Heidelberg 1967 (Bibl.).
.
[028:136] Ohne daß wir uns schon auf kontrollierte Erfahrungen berufen
könnten, scheint die politische Bildungsfunktion der Hochschule vornehmlich
in Zweierlei bestehen zu können:
|A B 54|
[028:137] darin, daß die Einzelwissenschaften ihre politischen
Implikationen ausdrücklich zum Thema machen – und
[028:138-139] darin, daß den Studenten eine
institutionalisierte verantwortliche Beteiligung an den
Hochschulentscheidungen eingeräumt wird, zumal an solchen, die die
Funktion der Wissenschaft im gesellschaftspolitischen Zusammenhang,
die politische Selbstdarstellung der Hochschule betreffen. Wissenschafts- und Hochschuldidaktik als Theorie hätte demnach mehr zu sein als
die Analyse von Lehrprozessen im engeren Sinne des Wortes. Die Frage
nach den Bedingungen solcher Lehrprozesse setzt
»Wissenschaftsdidaktik«
voraus und macht es erforderlich, das
ganze soziale System
»Hochschule«
miteinzubeziehen, sofern es für die empirische Gestalt jener
Prozesse von Bedeutung ist.
[028:140] Hochschuldidaktik als Praxis des Umgangs
mit Studenten in Forschung und Lehre ist mehr als Optimierung des Leistungszuwachses durch geschickte Anordnung
bestimmter Lehrverfahren; sie umfaßt vielmehr das Ganze der
wissenschaftsrelevanten Kommunikationen. Allerdings: Sichere Prognosen
darüber, zu welchen Ergebnissen solche oder andere Maßnahmen führen werden,
vermögen wir nicht zu stellen. Hochschuldidaktik ist vorerst noch einerseits
ein Feld für Vermutungen, soweit es die Realisierung einer didaktischen
Praxis betrifft; andererseits aber ist sie ein Feld diskutierender
Kommunikation über die Orientierungen, die im Erkenntnis- und
Handlungszusammenhang
»Hochschule«
gelten sollen. Meine
Überlegungen haben deshalb – empirisch gesprochen – die Form einer
Hypothese. Es gilt hier in besonderem Maße, was Popper von der Wissenschaft im ganzen sagt:
»Wir wissen nicht, wir raten!«
AB
Wissenschaft und Praxis – Vorbemerkungen zu einer
Wissenschafts- und Hochschuldidaktik
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–,[Klaus-Peter Horn]
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[028:138] darin, daß den Studenten eine
institutionalisierte verantwortliche Beteiligung an den
Hochschulentscheidungen eingeräumt wird, zumal an solchen, die die
Funktion der Wissenschaft im gesellschaftspolitischen Zusammenhang,
die politische Selbstdarstellung der Hochschule betreffen.
[028:139] Wissenschafts- und Hochschuldidaktik als Theorie hätte demnach mehr zu sein als
die Analyse von Lehrprozessen im engeren Sinne des Wortes. Die Frage
nach den Bedingungen solcher Lehrprozesse setzt
»Wissenschaftsdidaktik«
voraus und macht es erforderlich, das
ganze soziale System
»Hochschule«
miteinzubeziehen, sofern es für die empirische Gestalt jener
Prozesse von Bedeutung ist.