b√Funktionsbestimmung der Sozialpädagogik
I. Zur Funktionsbestimmung der Sozialpädagogik*
II. Zur Bedeutung des Ausdrucks
„Sozialpädagogik“
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–[061:5] Einrichtungen der Elementarerziehung (Säuglingsheime, Kindergärten, Vorschuleinrichtungen usw.)
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–[061:6] Einrichtungen zur Ausgleichung von Erziehungs- bzw. Lerndefiziten (ambulante Beratung, Therapie, stationäre Formen der Hilfe wie z. B. Teile der Heimerziehung usw.)
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–[061:7] Institutionelle Maßnahmen mit Strafcharakter (Teile der Heimerziehung, Jugendstrafvollzug, Bewährungshilfe usw.)
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–[061:8] Einrichtungen der Freizeiterziehung und der politischen Bildung (Jugendverbände, Jugendbildungsstätten, Häuser der offenen Tür usw.)
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–[061:9] Komplexere regional begrenzte Verbundsysteme verschiedener Typen sozialpädagogischen und gesellschaftspolitischen Handelns zur Erhaltung oder Verbesserung von Lernmilieus (Gemeinwesenarbeit, Stadtteilarbeit usw.)
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–[061:10] Einrichtungen zur Administration, Planung und regional begrenzten Lösung von Jugendhilfeproblemen verschiedener Art (Jugendamt).
III. Zum Begriff
„Funktion“
IV. Hypothesen zur Funktion der Sozialpädagogik
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–[061:17] eine zentralistische Verwaltung,
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–[061:18] das allgemeinbildende Schulwesen und die Alphabetisierung,
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–[061:19] die große Industrie in ihrer kapitalistischen Variante,
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–[061:20] Berufslenkungsmaßnahmen des Staates und die entsprechenden Bildungseinrichtungen,
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–[061:21] Einrichtungen der die Familie ergänzenden Ersatzerziehung,
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–[061:22] die Umstellung der Disziplinierung der Bürger von Formen der körperlichen Peinigung auf Formen der symbolischen Gewalt.
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1.[061:24] Die Qualifizierung des Nachwuchses für jene Positionen im System gesellschaftlicher Arbeitsteilung, die innerhalb des Berufs- und Beschäftigungssystems als„Bedarf“auftreten.
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2.[061:25] Die Auslese (Selektion) des Nachwuchses nach Kriterien der„Leistung“, mit der zugleich über sozialen Erfolg oder Mißerfolg, über sozialen Status entschieden und die Reproduktion des bestehenden Status-(Klassen-)Systems gesichert oder doch wenigstens wahrscheinlich gemacht wird.
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3.[061:26] Die Legitimation der herrschenden Werte und Normen, und zwar durch die Vermittlung der Standards sozialen und rollengemäßen Verhaltens, sowie durch die Versuche, das bestehende System von Qualifizierungen und Selektionen als gerecht (etwa durch den Begriff der Leistung) plausibel zu machen.
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4.[061:27] Kontrolle der geltenden Standards für„Normalität“durch die öffentliche Bezeichnung derer, die„abweichen“und durch die solche Unterscheidung bekräftigenden Behandlungsprozeduren.
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5.[061:28] Kompensation von Mängeln oder Disfunktionen in den primären Lebensfeldern wie auch innerhalb des öffentlichen Erziehungswesens durch ergänzende, ausgleichende, nachholende, therapeutische, rehabilitierende Maßnahmen und Einrichtungen.
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–[061:31] Die Legitimationsfunktion – so scheint mir – ist am ausgeprägtesten in den Maßnahmen zur Unterstützung der Familie, in Familienbildung und Familientherapie sowie auch den rechtlichen Institutionen zur Sicherung der familialen Leistungsfähigkeit, aber auch in Einrichtungen der Freizeiterziehung und der politischen Bildung; am wenigsten ausgeprägt scheint mir diese Funktion überall dort zu sein, wo eine Maßnahme mehr oder weniger verhüllt den Charakter von Strafe hat, am deutlichsten wohl im Bereich des Jugendstrafvollzuges.
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–[061:32] Die Kontrollfunktion wiederum wird am nachdrücklichsten in den hochinstitutionalisierten Einrichtungen der Gefängnis- und Heimerziehung erfüllt, auch in der Überwachungstätigkeit von Jugendamt und Polizei, am wenigsten indessen in solchen Einrichtungen, die einen schwachen Professionalisiergungsgrad haben, in denen der Anteil der Eigeninitiative der Betroffenenen hoch ist, die also den Charakter von Selbsthilfeeinrichtungen haben.
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–[061:33] Die Kompensationsfunktion scheint mir am nachdrücklichsten im Bereich der Unterstützung und Förderung der Familie und im Bereich der Elementardidaktik ausgeprägt zu sein; je stärker indessen das Kontrollinteresse ist, je mehr eine Einrichtung eher aufbewahrende Aufgaben übernimmt (Teile der Heimerziehung), je stärker zugleich die Diskriminierung der„Klienten“ist, umso weniger ausgeprägt wird vermutlich auch die Kompensationsfunktion sein, umso weniger wahrscheinlich nämlich wird es sein, daß es der Einrichtung auch gelingt, die Beschädigungen zu heilen, die den Klienten zugefügt wurden.
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1.[061:35] Der Zeit-Code: Wir rhythmisieren nicht nur unseren Tageslauf, sondern vor allem auch die Arbeit, auch die Erziehungsarbeit, nach einem mechanischen Zeitschema. Nach diesem Schema gliedern wir Biographien und Entwicklungsverläufe; wir planen auch entsprechend in |a 56|die Zukunft, die wir durch Prognosen berechenbar zu machen versuchen; die Zeitstruktur eines Bildungsganges folgt den Zeitrhythmen, die im Bildungssystem vorgegeben sind; wir berechnen Lernerfolge in Schuljahrs- oder Halbjahrsabständen; wir gliedern den Tag in die Dichotomie von Arbeit und Freizeit auf usw..
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2.[061:36] Der Raum-Code: Wir bevorzugen den kontrollierten Raum (Stadtplanung); wir teilen den Raum in Sektionen auf, für die Zwecke des Schlafens, des Konsumierens, des Arbeitens, des Vergnügens; wir bevorzugen sortierte und sortierende Rechtecke, sowohl in unseren Privatwohnungen wie in Schule, Gefängnis, Krankenhaus; aber wir bevorzugen auch die perspektivische Sicht, in deren Fluchtpunkt der Betrachter steht; wir lieben die rationale Ordnung eines Raumes, die Abgrenzung, die„Funktionsgerechtigkeit“.
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3.[061:37] Der soziale Klassifikations-Code: Wir unterscheiden zwischen |b 128|„normal“und„anormal“; die Bevölkerung gruppieren wir nach Altersklassen; die Kinder sortieren wir in Jahresabständen oder nach unterschiedlichen Leistungsniveaus; wir unterscheiden Status-Gruppen, Erfolgreiche und Nichterfolgreiche, Nützliche und Unnütze, sozial Starke und sozial Schwache usw.b√
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4.[061:38] Der Beziehungs-Code: Wir denken in Schemata des„Rollen“-Verhaltens und handeln danach; wir bestimmen unsere pädagogischen Beziehungen nach Maßgabe von Arbeits-Quanten; wir definieren sie im Hinblick auf eine zu erbringende Berufsleistung, relativ abgehoben von der alltäglichen Lebensrealität der Kinder und Jugendlichen außerhalb des pädagogischen Feldes; unsere Beziehungen lassen nicht mehr erkennen, daß sie letzten Endes verbunden sind mit denjenigen Handlungsformen, mit denen wir als Gattung uns mit der Natur auseinanderzusetzen haben; sie sind in diesem Sinne„entgegenständlicht“; wir bevorzugen in der Gestaltung der Beziehungen die verbalen Kommunikationsmedien; Beziehungsprobleme versuchen wir gleichsam instinktiv nach dem Schema des -Dreiecks (Vater-Mutter-Kind) zu deuten usw..
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5.[061:39] Der Tausch-Code: Wir tauschen Lernzeit gegen Bildungsniveau, Bildungsniveau gegen Status, Status gegen Geld; wir halten Verbrechen für eintauschbar gegen Resozialisierungszeit, Erziehungsleistungen für tauschbar gegen Arbeitszeit; Erziehungsarbeit ist ausdrückbar in Dienstplänen, therapeutische Maßnahmen erscheinen als Gehaltsansprüche von Therapeuten, als Prozentangaben in Sozialhaushalten usw..
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6.[061:40] Der Werkzeug-Code: Auch in der Erziehung folgen wir dem Prinzip der Arbeitsteilung; wir zerlegen den Lernvorgang in einzelne Schritte und Komponenten, die jeweils mit besonderem Werkzeug bearbeitbar gemacht werden: Der Pädagoge und der Therapeut, die Vielzahl von therapeutischen Techniken, die lerntheoretisch entwickelten Bearbeitungsmethoden von Kindern, die curricularen Techniken zur Anreicherung von Vorstellungswelten; wir zerlegen den Erziehungsvorgang in eine Reihe spezieller Institutionen, für„Begabte“und„weniger Begabte“, für Haupt-, Real-, Gymnasial- und Sonderschüler, für Verhaltensgestörte verschiedenerlei Art, für Behinderte diesen oder jenen Typs; dabei sind unsere„Werkzeuge“mittelbar,„abgeleitet“aus der entsprechenden„Werkzeug-Wissenschaft“, der Psychologie; wir unterscheiden zwischen diagnostischem und therapeutischem Werkzeug usw. .
V. Einige praktische Probleme
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–[061:43] Das Unbehagen vieler Sozialpädagogen an ihrer gegenwärtigen Berufspraxis, das Gefühl, gesellschaftliches Leiden nur versorgen und verwalten, nicht aber es aufheben zu können, bewirkt verschiedenartige Reaktionen, der bedrückenden Lage zu entgehen: Die romantische Flucht, das resignierte Sich-abfinden, die übereilte Polemik gegen die„kapitalistischen Verhältnisse“. Eine genauere Beschreibung der sozialpädagogischen Probleme mit Hilfe jener Funktionen und Codes erlaubt vielleicht eine produktivere Form der sozialpädagogischen Selbstreflexion.
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–[061:44] Der Sozialpädagoge, der sich anschickt, sein pädagogisches Tätigkeitsfeld zu strukturieren, beteiligt sich dadurch allemal, wenn nicht an der Herstellung, so doch entweder an der Befestigung oder einer, wenn auch zunächst vielleicht nur tastenden, Veränderung jener Codes; er wird also, wenn er sich zu handeln anschickt, sich zu entscheiden haben, ob er sich naiv jenen Codes überlassen will, oder ob er einen Beitrag wenigstens versuchen will dazu, allmählich Veränderungen in unseren pädagogischen Handlungs-Codes hervorzubringen.
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–[061:45] Das Erziehungssystem wird immer, gleichviel in welcher Gesellschaft, eine Legitimationsfunktion erfüllen. Es bleibt indessen immer die Frage, was legitimiert werden soll.
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–[061:46] Auch auf die Kontrollfunktionen wird wohl kaum ein modernes Erziehungswesen vollends verzichten können. Allein es stellt sich die Frage, auf welche Weise jene Kontrolle ausgeübt wird und welche Rolle die Selbstbilder der„Kontrollierten“spielen. Kontrolle kann in unterschiedlichen Graden von Repression ausgeübt werden. Wird es uns also gelingen, Kontrolle von„abweichendem“Verhalten derart auszuüben, daß die Identität der„Klienten“dabei gewahrt wird?
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–[061:47] Auch die Kompensationsfunktion scheint mir nicht schlechterdings entbehrlich zu sein. Charakteristisch jedoch für die innerhalb unseres Jugendhilfesystems herrschende Praxis von kompensatorischer Erziehung ist, daß die Kritierien der Leistung, des am sozialen Status orientierten gesellschaftlichen„Erfolges“die orientierenden Normen darstellen. Wie die Kontrolle, so trifft auch die Kompensation in ihrer diskriminierenden Wirkung vorwiegend immer wieder diejenigen Bevölkerungsgruppen, die wir als„sozial Schwache“, als Unterschicht, als Arbeiterklasse klassifizieren.
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–[061:48] Eine Selbstanalyse der Sozialpädagogik, vornehmlich des tätigen Sozialpädagogen, nach Maßgabe jener Funktionen und Codes könnte eine Sensibilisierung für pädagogische Alternativen zur Folge haben, die nicht nur„produktiver“, sondern auch„menschlicher“sind.