Streifzug durch fremdes Terrain: Interpretation eines Bildes aus dem Quattrocento in bildungstheoretischer Absicht [Textkritische interaktive Ansicht mit a als Leittext]
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Streifzug durch fremdes Terrain: Interpretation eines Bildes aus dem Quattrocento in bildungstheoretischer Absicht

Vorbemerkung

[080:1] Die Interpretation eines Bildes bereitet uns andersartige Schwierigkeiten als die Interpretation eines sprachlichen Textes. Diese Unterschiede sind trivial, aber mir scheint es dennoch nützlich, an sie zu erinnern: das Bild präsentiert, gleichsam in einem Augenblick, was der sprachliche Text nur zeitlich gestreckt mitteilen kann; der Text verwendet – jedenfalls in unserer Schrift – keine analogen Zeichen; das Lesen von Texten ist deshalb eine fortwährende
Übung
, Grapheme und Bedeutungen zuzuordnen, und wir können uns dabei auf ebenso fortwährende ähnliche Alltagsübungen stützen (
Was hast Du gerade gemeint, als Du X sagtest?
) Über Bilder aber kommunizieren wir nicht mit dieser Regelmäßigkeit; zwar haben sowohl Bilder als auch sprachliche Texte eine
Syntax
, am geschriebenen (gesprochenen) Satz aber können wir unmittelbar Subjekt und Prädikat, Tempi, Attribute usw. identifizieren; bei Bildern indessen scheinen wir diese Fähigkeit nicht mit gleicher Zuverlässigkeit zu haben; gleiches gilt für die Semantik, insofern mindestens, als wir bei den
Wörtern
– auch wenn sie im Frühneuhochdeutsch des 15. Jahrhunderts geschrieben sind – noch einen beträchtlichen Teil ihrer Bedeutung verstehen, bei Bildern aus jener Zeit aber schon wesentlich weniger, weil uns die Bedeutung der semantischen Trägerelemente (ein Hund, eine Blume, ein kabbalistisches Zeichen, eine Kopfbedeckung, eine Körpergeste usw.) nicht mehr vertraut ist. Bei einem älteren sprachlichen Text brauchen wir in der Regel einige Zeit, um darauf aufmerksam zu werden, daß wir ihn in wichtigen Hinsichten nicht verstehen; bei einem Bild stellt sich dieses Nichtverstehen früher ein. Das |A 39||b 406|alles ist vielleicht ein Artefakt der Tatsache, daß wir – immer noch – in einer literarischen, nahezu vollständig alphabetisierten Kultur leben. Bilder sind deshalb für den Alltag unseres Lebens keine unverzichtbaren Träger von Lebenssinndeutungen mehr; und infolgedessen schrumpft unsere Fähigkeit |B 41|zur Decodierung von Bildern auf die Wahrnehmung von deren Signalfunktionen. Ich denke deshalb, daß das Bildverstehen – besonders das Verstehen von Kunstwerken – in zweierlei Hinsicht für Pädagogen eine wichtige Aufgabe ist: zum Verstehen der Lebensformen vergangener Epochen, der Kultur, die in der Erziehung vermittelt wurde – und zur Einübung in eine praktische Aufgabe, die wir den Kindern heute schulden.
[080:2] Im folgenden versuche ich die Interpretation eines Bildes, das auf den ersten, wohl auch noch auf den zweiten Blick mit Erziehung und Bildung scheinbar nichts zu tun hat. Die
bildungstheoretische Absicht
dieses Essays soll durch einige Hinweise erläutert werden.
Bildungstheoretisch
nenne ich solche Problemstellungen, die die Auseinandersetzung der Person mit der kulturellen Überlieferung zum Gegenstand habenABb und das, was in dieser Auseinandersetzung mit der Person geschieht. Die Teilprobleme, die unter einer derart globalen thematischen Richtungsangabe auftauchen, sind – wie jeder weiß – so vielfältig wie die je historisch besonderen Vorstellungen von der Sache oder die Vielfalt der dazu gegenwärtig vertretenen Positionen. Besonders in diesen letzten Streit will ich |a 174|mich hier nicht einmischen, sondern lediglich die Sichtweisen dieses Essays skizzieren: 1. Die Formierung von Bildungsprozessen folgt je historisch bestimmten Regeln. 2. Sie geschieht nicht nur in Schulen, sondern in allen sozialen Feldern. 3. Regeln sind nicht nur in den gesellschaftlichen Einrichtungen repräsentiert, die die Bildung der nachwachsenden Generation ausdrücklich zum Thema haben, sondern in allen Produkten einer Lebensform. 4. Alle Produkte, die eine Lebensform enthält oder hervorbringt, sind also, der Möglichkeit nach, bildungsrelevant, wie auch alles, was in der Bildung der Person geschieht, für die Lebensform relevant ist. 5. Eine Analyse der für eine Lebensform repräsentativen Produkte (also von Schulen, Lebensläufen, Bildern, Haushaltsbudgets, Formen des ökonomischen Verkehrs, Geselligkeiten, Romanen, Siedlungsformen usw.) ist also zugleich auch, wenn sie als Äußerung der Lebensform im Hinblick auf Grundstrukturen vorgenommen wird, eine Analyse von Bildungsstrukturen.
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[080:3] Mir scheint, daß die eigentümliche Anziehungskraft, die beispielsweise die Arbeiten von Adorno, Aries, Benjamin, Elias, von Hentig, Bourdieu, Foucault u. ä. für Pädagogen haben, auch darin liegt, daß an ihnen der unauflösliche Zusammenhang zwischen Bildungsproblemen und den kulturellen Produkten hervortritt ( häufig nur andeutungsweise; die (wissenschaftliche) Auseinandersetzung mit den Produkten der Kultur, und zwar auf der ganzen Skala und auch in den Heterogenitäten ihrer Ausprägung, ist deshalb ein Teil bildungstheoretischer Arbeit.
[080:4] Mein Interpretationsweg ist eine Art Umweg. Dieser Umweg ist indessen schon ein pädagogischer Weg: er führt an einen sehr anspruchsvollen Gegenstand heran; er erfordert deshalb Mühe, Geduld und
Begeisterung
; er führt |B 42|zur Auseinandersetzung mit dem Ganzen wie mit den Details; und er führt – wenn es gut geht – zum Verstehen einer
Weitsicht
als Grundlage dessen, was – zur Zeit dieser Anschauung – Erziehung und Bildung war. Da ich mir aber keine verantwortliche Pädagogik ohne begründete und überlieferungswürdige Welt- und Selbst-Anschauung denken kann, ist auch die Auseinandersetzung mit dem geschichtlich Anderen, mit dem, was dort der Erziehung und Bildung zugrunde lag, eine notwendige pädagogische Übung. Daß innerhalb unserer gesellschaftlich institutionalisierten Bildungsprozesse die Auseinandersetzung mit der bildenden Kunst (im Unterschied etwa zum sprachlichen Kunstwerk) so stark an den Rand gedrängt wurde, halte ich für eine problematische Sache. Die Erziehungswissenschaft wiederholt diese Attitüde: in Darstellungen zur Geschichte der Pädagogik tauchen Bilder nur als Illustration sprachlicher Dokumente auf. Damit verbindet sich eine eigentümliche Zurückhaltung Kunstprodukten gegenüber, so als seien diese für die Erschließung von historischen Realitäten weniger relevant. Wieso eigentlich? Für die Oberfläche gesellschaftlicher Erscheinungen könnte ich das noch akzeptieren, interessiert man sich aber für Tiefenstrukturen, wird diese Meinung obsolet. Sowohl der
bildungsbürgerliche
, affirmative Kunstbetrieb, wie auch die
Basis-Überbau
-Theoreme haben uns diese Verzerrung der Perspektive eingetragen (vgl. dazu Sahlins 1981). Angesichts der Probleme, die uns Bilder von Piero della Francesca, Jan van Eyck, Vermeer van Delft, Goya, van Gogh, Max Ernst usw. aufgeben, sind der ästhetisierende Konsum wie die sozial-
realistische
Attitüde ridicule, aber |A 41||b 408|zueinander passende Komponenten eines im Grunde kulturfeindlichen Habitus. Demgegenüber möchte ich geltend machen, daß Kunst auch (oder besonders) für Pädagogen ein Erkenntnismedium ist, nicht riskanter als eine empirische Untersuchung. Vor allem aber nötigt die Auseinandersetzung mit Kunst den |a 175|Erziehungswissenschaftler zur Beantwortung der Frage nach dem, was überlieferungsbedürftig ist. Ich ordne mein Nachdenken in die folgenden Schritte:
  1. 1.
    [080:5] Oberflächlicher Hinweis auf den Gegenstand der Interpretation,
  2. 2.
    [080:6] Beschreibung und Deutung einiger formaler Charakteristika,
  3. 3.
    [080:7] Ikonographie der Bildelemente,
  4. 4.
    [080:8] Versuch einer Bestimmung der grundlegenden Sinnstruktur des Bildes.
[080:9] Allerdings möchte ich, um das folgende als erziehungswissenschaftlich gemeinte Diskussionsbemerkung deutlich zu machen, den hypothetischen Rahmen skizzieren, innerhalb dessen sie mir wichtig ist. Die Bildungsgeschichte der Neuzeit lese ich nicht als allmählichen Fortschritt zu pädagogisch immer besser ausformulierten Positionen und Praktiken, aber auch nicht als dessen Gegenbild. Sie scheint mir vielleicht – um hier einmal auf der Ebene einfacher (vielleicht allzu einfacher!) Formeln zu bleiben – u. a. an einer
Schwie|B 43|rigkeit
zu laborieren, die – mal stärker, mal schwächer hervortretend – sich umschreiben läßt als Versuch der Bestimmung dessen, was pädagogisch relevante
Erfahrung
ist. Die szientistische Antwort darauf dominierte in der Regel, vor allem dort, wo Erziehung in den Einflußbereich gesellschaftlicher Planung geriet (ein fast analytisches Urteil). Dieses Problem ist historisch nicht
erledigt
, weder praktisch noch theoretisch. Die Diskussion um die
Dialektik der Aufklärung
, um
System
und
Lebenswelt
, die
Alltagswende
, die
Antipädagogik
, die Flut düster abrechnender Autobiographien, Wachstumsraten versus ökologische Orientierung, neue Mystik, auch Problemstellungen in der bildenden Kunst usw. sind meiner Vermutung nach Anzeichen dafür. Das alles ist nicht völlig neu. Meine Hypothese: Es handelt sich um eine Problemstellung, die im Hinblick auf den Bildungsprozeß des Menschen seit der Frührenaissance immer wieder aufgegriffen wurde, in der Auseinandersetzung mit den dominanten ökonomischen und kulturellen Entwicklungen aber immer wieder unterlag; eine kla|A 42||b 409|re Formulierung der gegenwärtigen Form des Problems würde durch historische Rekonstruktionen gewinnen; da es dabei um bildungstheoretische, also um Fragen der Lebensform geht und damit von
Weltsichten
, dürfen die Rekonstruktionen sich nicht auf
Pädagogisches
im engeren Sinne des Wortes beschränken.
[080:10] Im Rahmen eines derartigen Programms ist dieser Essay vielleicht ein Mosaikstein. Weitere Steine würde ich suchen bei Erasmus und Rabelais und Paracelsus, bei Comenius, den Autobiographien des 18. Jahrhunderts, in der Romantik, bei Dada und Surrealismus, usw. Dabei habe ich noch ein weiteres Interesse angedeutet: nämlich das pädagogische Denken wieder stärker zu verknüpfen mit der Entwicklung anderer kultureller Produktionen, und zwar in Auseinandersetzung mit dem einzelnen Produkt.

1. Hinweis auf den Gegenstand

[080:11] Das Bild, über das ich nachdenke, ist ein Werk der FrührenaissanceAB. Ein Maler, von dessen persönlichem, alltäglichem Leben man fast nichts weiß, wenn man schon seine Bilder und Schriften nicht zum
Alltag
eines solchen Menschen rechnen will, hat es im Herbst des Jahres 1459 zu malen begonnen und Anfang 1460 vollendet1
|A 66||B 64||b 433|1Die Datierung des Bildes ist umstritten. Ich folge hier dem Datierungsvorschlag Ginzburgs (1981, S. 176f.), der zwar nicht zwingend ist, mir aber als der plausibelste erscheint.
. Der Maler heißt |a 176|
Hier ist eine farbige Abbildung des Gemäldes „Flagellazione di Cristo“ (1460) von Pierro della Francesca zu sehen.
|a 177|Piero della Francesca, sein Bild heißt La Flagellazione (die Geißelung)2
|A 66||B 64||b 433|2Lebensdaten Piero della Francescas: geb. 1417 oder etwas früher in Borgo San Sepolcro; Sohn eines Gerbers und Kaufmanns; 1439 Mitarbeiter von Veneziano bei der Herstellung von Fresken in einer Florentiner Kirche; 1449/50 Fresko-Auftrag in Ferrara; Mitte der 50er bis Anfang der 60er Jahre Fresken in S. Francesco in Arezzo (häufig als
Hauptwerk
bezeichnet); 1459 Aufenthalt in Rom, Kontakte zu Humanisten (L. B. Alberti); 1460–1470 häufi|A 67||b 434|ge Aufenthalte beim Herzog von Urbino, Federico da Montefeltro, und vermutlich als Architekt beim Bau des Palazzo ducale beteiligt; teils in dieser Zeit, teils später (in den 80er Jahren) drei theoretische Schriften (über Perspektive, Mathematik und Geometrie); im Alter vermutlich erblindet; gest. 1492 in Borgo.
. Piero war – wie man schon aus der Produktionszeit für dieses Bild vermuten kann, aber auch von anderen Werken weiß – ein langsamer Maler (mindestens bei den Bildern, die er bis 1460 malte). Für dieses Bild hat er sich Zeit genommen, nicht nur für die Konstruktion der
erzählten
Geschichte, das Ausmalen der Flächen, die Charakteristik der Figuren, sondern offenbar besonders auch für die Pro|B 44|portionen, die formalen Beziehungen zwischen den Bildelementen. Die Reproduktion gibt einen ungefähren Eindruck von dem Gegenstand meines Interesses. (Es ist ein Tafelbild und mißt 58 x 81 cm.) Mit dem ersten und noch flüchtigen Blick erkennt man, daß es sich um die Geißelung Jesu handelt. Wer die überlieferten Geschichten kennt, entdeckt wohl auch Pilatus, vermißt vielleicht das Volk und die Spötter, findet die Szene ein wenig befremdlich. Die Architektur – das kennt man vielleicht von anderen Bildern mit dieser oder einer ähnli|A 43||b 410|chen Szene – ist wohl aus Verschiedenem gemischt, erweckt im ganzen aber den Eindruck eines durchgehenden
Stils
.
[080:12] Aber irgend etwas geschieht im Auge, mit meiner Tätigkeit des Sehens. Ich habe den Eindruck – und ich denke: jeder andere Betrachter hat ihn bei längerem Hinsehen auch –ABb daß der Blick gleichsam hin-und-her-schwankt zwischen der Geißelungsszene und den drei Männern im Vordergrund rechts. Diese Dreier-Gruppe scheint überhaupt ein Bild für sich zu sein; jedenfalls ist ein Bezug zur Geißelungsszene nicht erkennbar (vorerst), außer eben jener eigentümlichen Suggestion, die Einstellung des Blicks zwischen rechts und links, vorn und hinten dauernd zu wechseln.
[080:13] Darüber hinaus stellen sich vor allem ikonographische Fragen ein:
  • [080:14] Wer sind die drei so verschiedenartigen Männer auf der vorderen Bildebene?
  • [080:15] Haben sie im Hinblick auf die Geißelungsszene irgendeine bestimmbare Bedeutung?
  • [080:16] Wer ist der Mann im Turban, der uns den Rücken zukehrt?
  • [080:17] Was für eine merkwürdige Kopfbedeckung hat Pilatus?
  • [080:18] Ist die Wahl der Architektur zeitgenössische oder kunsthistorische Konvention oder Träger von besonderer Bedeutung?
[080:19] Ich lehne mich hier an die methodologischen Vorschläge Panofskys an (1978, S. 36ff.), der drei Schritte oder Ebenen der Deutung unterscheidet: die Erfassung des
natürlichen
Sujets (
vorikonographische Beschreibung
), des „konventionellen Sujets (
ikonographische Analyse
) und der
eigentlichen Bedeutung
oder des
Gehalts
(
ikonographische Interpretation
). Panofsky bestimmt noch (der zitierte Aufsatz wurde erstmals 1939 veröffentlicht) die erste Ebene als
pseudoformal
und ordnet sie eher den gleichsam naiven Akten der Alltags-Deutungen zu. Die begrifflichen Mittel der neueren hermeneutischen, besonders der zeichentheoretischen Diskussion (vgl. dazu beispielsweise M. Frank 1980) geben indessen Anlaß, diese Ebene des Verstehens nicht nur als Vorstufe (
vorikonographisch
) zu fassen. Vielmehr stellt sich bereits hier – und zwar vor und relativ unabhängig von der ikonographischen Analyse – eine eigentümliche hermeneutische Aufgabe, die nicht nur
pseudo-formal
ist, sondern die Formprobleme durchaus schon in ihrer Substanz betrifft – |a 178|eine Ansicht, die schon in Schleiermachers Begriff der
grammatischen
Interpretation enthalten ist und wohl auch noch bei R. Barthes in seiner Unterscheidung von
Form
,
Sinn
und
Begriff
sich ausdrückt (vgl. R. Barthes 1964, S. 88ff.). Das gilt für das Verstehen von |A 44||b 411|
Texten
(sprachlichen |B 45|und nicht sprachlichen) überhaupt. In der neueren Kunstentwicklung wurde gar die erste Verstehensebene gelegentlich zum Programm gemacht: die
konstruktivistische
Malerei konzentriert sich puristisch auf die ästhethisch-formalen Konfigurationen (auf
Form
oder
Syntax
also) und zwingt den Betrachter zu vorikonographischem, formalem Verstehen. Angesichts derartiger Bilder kehrt sich Panofskys Hierarchie der Ebenen um: der spontane ikonographische Zugang wird hier gerade verwehrt, erweist sich als Alltags-Attitüde: Verstehen wird überhaupt erst möglich, wenn auch der Interpret des Bildes sein Erkenntnisvermögen auf Proportionen und Regeln konzentriert. Insofern erfüllt diese Richtung moderner Kunst ein altes, aus der Romantik stammendes, aber von Piero della Francesca schon – wenn man so spekulativ reden darf – vorformuliertes hermeneutisches Programm. (In diesem Zusammenhang mag es interessant sein, daß einer der großen
abstrakten
Maler – A. Calderara – sich ausdrücklich auf Piero bezieht; vgl. Jochims 1972).
[080:20] Ein Bild – besonders eines wie dieses von Piero – ist auch in formaler Hinsicht komponiert. Die ikonographischen Fragen sind nur historisch zu beantworten; für formalästhetische Fragen genügt zunächst ein wenig geübte Aufmerksamkeit. Ich beginne deshalb mit diesen.

2. Beschreibung und Deutung einiger formaler Charakteristika

[080:21] Daß das Bild mit großer Sorgfalt perspektivisch, und zwar zentralperspektivisch konstruiert ist, ist unmittelbar augenfällig. Wo also liegt der Fluchtpunkt3
|A 67||B 64||b 434| 3Ob es komparative Untersuchungen zur Lage von Fluchtpunkten gibt, weiß ich nicht. Meine eigenen, freilich sporadischen, Beobachtungen lassen mich vermuten, daß die Lage von Fluchtpunkten nicht nur formal-immanente (syntaktische), sondern auch
ikonologische
Bedeutung hat, also einen kulturellen Habitus indiziert.
? Man kann es leicht nachmessen: er liegt ein wenig links von der hintersten der vier Säulen, die das Bild teilen, und zwar schon im dunklen Feld der Wand. So hat das Bild gleichsam zwei
Mitten
, die allerdings außerordentlich nah beieinanderliegen: die perspektivische Mitte, durch den Fluchtpunkt bestimmt, und die planimetrische Mitte (die genaue Hälfte des Bildes in der Ebene der hinteren Wand), durch die rechte Begrenzung des dunklen Teiles der Wand bestimmt. Nimmt man diese senkrechte Linie als Orientierung, entsteht in der Tat der Eindruck von zwei gleich großen, nur auf einer Tafel verbundenen Bildern. Dieser Eindruck wird aber sogleich unsicher; und das hat drei Gründe: der Blick wird auch auf den Fluchtpunkt links neben der planimetrischen Mittellinie gelenkt; der Arm des rechten Geißlers ragt über Fluchtpunkt und planimetrische Mittellinie hinaus; die Senkrechte, die das Bild planimetrisch teilt, teilt es |A 45||b 412|in zwei Hälften nur in der hinteren Bildebene – in der vorderen ist das rechte
Bild
kleiner, erscheint aber andererseits größer weil näher, aber auch wieder – der Fläche nach – und selbst, wenn |B 46|man die exakte Bildmitte in der Senkrechten als Orientierung wählt – kleiner, des sich nach hinten erweiternden Raumes wegen. Die unruhige Bewegung4
|A 67||B 64||b 434| 4Vgl. dazu die Beschreibung der Wirkung ästhetischer Gegenstände, die Schiller gab:
Erhabene
ästhetische Gegenstände
setzen das Gemüt in eine unruhige Bewegung und spannen es an. Ein gewisser Ernst, der bis zur Feierlichkeit steigen kann, bemächtigt sich unserer Seele, und indem sich in den sinnlichen Organen deutliche Spuren von Beängstigung zeigen, sinkt der nachdenkende Geist in sich selbst zurück und scheint sich auf ein erhöhtes Bewußtsein seiner selbständigen Kraft und Würde zu stützen
(Friedrich Schiller 1793)
.
, in die, wie eingangs bemerkt, unser Blick versetzt wird |a 179|– und dies trotz der Ruhe, die das Bild im ganzen präsentiert – findet damit vielleicht und vorerst eine plausible Erklärung.
[080:22] Aber mit dem Verhältnis des Fluchtpunktes zu den anderen im Bild konstruierten Proportionen hängt noch ein weiteres formales Merkmal zusammen: Der Fluchtpunkt liegt, für Pieros Bilder überhaupt charakteristisch, erstaunlich tief, und er befindet sich an einer ikonographisch gleichsam leeren Stelle des Bildes. Das war nicht durchaus üblich: sowohl beispielsweise Massaccio, ein von der Florentiner Kunstkritik außerordentlich geschätzter Zeitgenosse Pieros als auch (beispielsweise) Leonardo, eine Generation jünger, legten in der Regel den Fluchtpunkt wesentlich höher in die Bildebene und zugleich auf ein ikonographisch wesentliches Bildelement (z. B. das Haupt Jesu, eine bedeutungsvolle Geste, den planimetrischen Mittelpunkt einer Handlung, einen Punkt über dem Handlungszentrum u. ä.). Piero tut das nichtABb und zwar hartnäckig. Der Effekt ist, daß – ich riskiere jetzt eine durch Daten vorerst nicht zu sichernde Deutung – ein Kontrast, eine Opposition erzeugt wird zwischen perspektivischer Bewegung und planimetrischer Ruhe,
Tiefe
und
Oberfläche
oder Handlung und Kontemplation. Diese Opposition ist allerdings derart, daß ihre beiden Komponenten gleichzeitig im Recht bleiben.
[080:23] Schon bis hierher zeigt sich – vorsichtig gesprochen –, daß bereits die nur formalästhetischen Charakteristika inhaltliche Hinweise enthalten. In linguistischer Metapher gesprochen: Die Bild-Syntax zeigt schon der Bildsemantik eine Richtung. Die Hypothese soll noch durch einige weitere Beobachtungen bekräftigt werden (ich folge dabei der Interpretation M. Imdahls): der Abstand zwischen der vorderen Säule und dem Kopf des mittleren, jungen Mannes vorn und der Abstand des Kopfes Jesu von derselben Säule ist gleich; beide haben überdies die fast gleiche Beinstellung. Der linke Deckenbalken zeigt, planimetrisch verlängert, genau auf den Kopf Jesu und in weiterer Verlängerung auf den Fuß des Bärtigen vorn; die |A 46||b 413|rechte planimetrisch schräge Dachkante zeigt genau auf den Kopf des jungen Mannes und in weiterer Verlängerung auf den Fuß des rechten Geißlers. Was oben
Opposition
genannt wurde, kann also durchaus im strukturalistischen Sinne dieses Ausdrucks verstanden werden: Perspektive und Planimetrie sind in diesem Bild nicht nur zwei mögliche
Lesarten
des Betrachters, sondern komponierte Dimensionen der Sache (des Bildes und seiner Botschaft) selbst: innerhalb der perspektivischen Lesart trennt der linke Deckenbalken die Bildteile, innerhalb der planimetrischen verbindet er sie; er repräsentiert also, als Element des ganzen Bildes, eine Opposition. Die Geißelungsszene besteht aus drei Personen und einem mit dem Rücken uns zugekehrten Zuschauer; auch die drei Män|B 47|ner vorn rechts haben einen Zuschauer: er befindet sich, komplementär im Hinblick auf die Geißelungsgruppe komponiert, rechts außerhalb des Bildes (das ergibt sich zwingend aus der Blickrichtung des Bärtigen; inwiefern das
zwingend
ist und wer der Zuschauer ist, wird sich noch herausstellen). Die Säule, an der Jesus steht, bezeichnet genau den Goldenen Schnitt der Strecke zwischen den beiden vorderen Säulen.
[080:24] Die Reihe derartiger Beobachtungen ließe sich noch verlängern (beispielsweise ist Jesus im Original des Bildes 17,8 cm groß; das ist genau 1/10 der Größe, die in zeitgenössischen Legenden als die Körpergröße Jesu angegeben wurde). Man muß nicht soweit gehen wie ein englischer Kunsthistoriker, der hier von
Maß- und Zahlenmystik
sprach. Es genügt, |a 180|sich klarzumachen, daß allein die formal-ästhetischen Verhältnisse des Bildes weder zufällig noch beliebig-willkürlich sein können, sondern ein außerordentlich dicht konstruiertes Netz von
Informationskanälen
, ein Kursbuch gleichsam sind, die festlegen, was an inhaltlicher Bedeutung nun noch möglich ist und was nicht.
[080:25] Zu dieser Behauptung berechtigt noch ein anderer, historischer Umstand. Piero schrieb, allerdings vermutlich erst im Alter von ungefähr 60 Jahren, ein Buch über die Perspektive in der Malerei (De prospectiva pingendi). Nach dem Urteil E. Panofskys war es das damals fortgeschrittenste Werk über diesen Gegenstand, nachdem schon L. B. Alberti um 1435 das Problem in einem langen Traktat behandelt, vor allem aber ein wenig früher F. Brunelleschi (1377–1446, Architekt des Florentiner Doms und des Palazzo Pitti) das Prinzip der architektonischen perspektivischen Zeichnung
erfunden
hatte. |A 47||b 414|Auch die mittelalterlichen Dombaumeister beispielsweise konnten schon perspektivisch zeichnen; aber erst in der Frührenaissance konnte diese Darstellungspraxis theoretisch-geometrisch begründet werden. Erst jetzt nämlich gelang es – interessanterweise den
Künstlern
und nicht den
Wissenschaftlern
AB die freilich längst bekannte euklidische Geometrie, durch das Verständnis ihrer Prinzipien, auf beliebige Bereiche menschlich-technischen Könnens anzuwenden:
Theorie
also, als Einsicht in die Gesetze dieses oder jenes Machens, soll nun dieses Machen leiten.
[080:26] Wie wichtig den Renaissance-Malern diese Einstellungsänderung war, illustriert die folgende Geschichte: Dürer, als er 1506 in Venedig war, wanderte von dort ca. 100 km nach Bologna
um der Kunst in heimlicher Perspektive willen, die Einer mich lehren will
(zit. nach Panofsky 1977)
; freilich beherrschte er zu dieser Zeit, wie übrigens auch längst schon die flämischen Maler (z. B. Jan van Eyck), die Praxis perspektivischer Zeichnung und Malerei; die Meisterschaft darin ist in seinen Bildern mühelos zu erkennen. Aber die
Kunst
, d. h. nun: die Kenntnis der Prinzipien solcher Mal-Praxis, hatten erst wenige, und diese hatten ihre Kenntnisse nicht zum Druck gegeben. Deswegen wanderte Dürer nach Bologna zu einem Lehrer, von dem er wußte, daß |B 48|er über diese Kunst verfügte. Man weiß nicht, wer dieser
Eine
war, vielleicht der Mathematiker Luca Pacioli, irgendein Professor der Universität von Bologna, oder gar der Architekt Bramante. Dafür, daß Bramante es war, spricht einiges: Der einzige Text, in dem Probleme so behandelt wurden, wie Dürer es erwartete, war Piero della Francescas Text
De prospective pindendi
; Bramante war in Urbino, noch zu Pieros Lebzeiten, gewesen und hat ihn getroffen; daß er dessen theoretische Arbeit über die Perspektive nicht gelesen haben sollte, ist unwahrscheinlich. Andererseits, da Pieros Traktat damals nicht im Druck erschien (es wurde erst 1899 gedruckt), gehörte Bramante vermutlich zu den ganz wenigen Zeitgenossen, die das Werk lesen konnten. Da schließlich Bramante nicht nur Architekt, sondern auch Maler war, ist es wahrscheinlich, daß Dürer ihn und nicht einen Gelehrten der Universität aufsuchte. Das alles sind hypothetische Konjekturen, keine historischen Tatsachen. Ziemlich sicher jedoch ist, daß der, den Dürer in Bologna aufsuchte, um die theoretischen Prinzipien dessen, was er praktisch schon konnte, zu erlernen, jenes Werk von Piero |A 48||b 415|kannte. – Die Handhabung der Perspektive also war für Maler jener Zeit wesentlich mehr als nur eine neue Technik, die das Repertoire ihrer Fertigkeiten erweiterte. Es war eine neue, prinzipiell theoretisch begründbare Weise der Weltdarstellung.
|a 181|
[080:27] Der Dachbalken in Pieros Bild, der von links oben durch das Haupt Jesu, durch die Bildmitte (den Fluchtpunkt) auf die Füße des Bärtigen weist, ist nun vielleicht in seiner Bedeutung besser verständlich: er unterstreicht, als kräftigstes Formelement, die perspektivische Lesart; perspektivisch perfekter kann ein Bild kaum sein. Zugleich setzte er ihr die planimetrische Lesart des Bildes unübersehbar entgegen, zunächst deutlich in der Dreier-Gruppe rechts (pointiert ausgedrückt in der Fußstellung des Mannes im Brokatmantel und dessen Profil), eher indirekt und erst bei längerer Betrachtung erkennbar in den schon erwähnten planimetrischen Verhältnissen zwischen der perspektivisch durchkomponierten Geißelungsgruppe und jenen drei Männern. Zwischen diesen beiden Bildebenen besteht offenbar eine Beziehung der Gleichheit (insofern sie in ein und demselben Bild enthalten sind) und eine Beziehung der Verschiedenheit (sofern das eine Geschehen perspektivisch entrückt, das andere eher flächig-planimetrisch dicht vor unsere Augen geführt wird): zwei
Realitätsebenen
.
[080:28] Das alles mag überflüssig scheinen bei einer Bildinterpretation in bildungstheoretischer Absicht. Ich kann die Notwendigkeit eines solchen ersten Deutungszuganges hier nicht beweisen. Ich kann nur darauf hinweisen, daß die formalen Verhältnisse des Bildes eine Art Struktur enthalten, die schon vor jeder ikonographischen Bestimmung Bedeutung nahelegt:
  • [080:29] die Irritation zwischen Fluchtpunkt und Bildmitte und damit eine Bewegung des Auges des Betrachters,
  • |B 49|
  • [080:30] die Konfrontation von Perspektive und Planimetrie und damit die Konstruktion von zwei Realitätsebenen,
  • [080:31] die perspektivische Trennung und planimetrische Verbindung der beiden Szenen und damit die Verknüpfung der zunächst getrennten Realitätsebenen.
[080:32] Die raffinierteste Konstruktion des Bildes scheint mir jedoch die Konstruktion des Betrachters oder Zuschauers (also meiner selbst als Betrachter des Bildes) zu sein:
[080:33] Im Bild gibt es bereits einen Zuschauer, der uns, die Betrachter des Bildes, simuliert: den uns mit dem Rücken zugekehrten Zuschauer der Geißelung. Sofern wir auf diesen Bildausschnitt |A 49||b 416|schauen, sind wir nicht nur Zuschauer der Geißelung, sondern auch Zuschauer des Zuschauers der Geißelung. Sofern wir auf den rechten Teil des Bildes schauen, sind wir Zuschauer eines Gesprächs. Überdies hat die Dreier-Gruppe einen imaginären Zuschauer/Zuhörer – die Blick- und Rederichtung des Bärtigen zeigt es. Sofern wir aber das ganze Bild mit dem Blick zu erfassen versuchen, sind wir Zuschauer eines Gesprächs angesichts eines Zuschauers der Geißelung. In modernistischer Terminologie (und an dieser Stelle vielleicht noch wenig überzeugend ausgedrückt) könnte man sagen: Das Bild verunsichert unsere Identität als Zuschauer – wovon?

3. Zur Ikonographie

[080:34] Der bärtige Mann in der Dreiergruppe vorn rechts markiert in der Komposition eine Sonderstellung: er
stört
die perspektivischen Fluchtlinien durch die plane Gestaltung seiner Füße und dadurch, daß er teils die Säule verdeckt. Er ist der einzige Bärtige (mit Ausnahme des Pilatus), was deshalb bemerkenswert ist, weil Bärte damals unter Italienern noch durchaus unüblich waren; sein Kopf hat, im Vergleich zu seinen beiden |a 182|Partnern
rilievo
(ein die Qualität eines Bildes bezeichnender Terminus der Florentiner Kunstkritik), d. h. ist mit Licht und Schatten komponiert; er wirkt, ebenfalls im Vergleich zu den beiden anderen, fremdartig. Offenbar spricht er, denn sein Mund ist leicht geöffnet; daß er spricht, wird durch die Geste seiner linken Hand zur Gewißheit: diese Geste bedeutet (bedeutete damals!), daß eine Behauptung, eine Meinung, eine Vorhaltung, ein Hinweis mit Nachdruck ausgesprochen wird. Wer ist dieser Mann, was sagt er und was verbindet ihn mit den anderen Personen und Bildelementen? (Für das folgende vgl. Ginzburg 1981ABb)
[080:35] Diese Fragen sind nur zu beantworten, wenn zuvor Gewißheit entsteht im Hinblick auf einige andere Personen des Bildes. Z. B.: Wer ist der Mann, der |B 50|der Geißelung zuschaut und uns den Rücken zukehrt? Das ist leicht zu sagen: an der Kleidung erkennen wir den Türken! Was hat es mit der Kopfbedeckung des Pilatus auf sich? Es ist die charakteristische Kopfbedeckung des Kaisers von Byzanz! Und nun noch einmal der Bärtige: er ist – es ergibt sich aus Kleidung und Bart – ein Grieche. Es hat den Anschein, als spräche er zu dem Manne rechts im Brokatmantel. Aber das stimmt nicht – wie wir wis|A 50||b 417|sen; sein Blick führt nach rechts vorn vor das Bild. Der Mann im Brokatmantel indessen hört ihm aufmerksam zu. Wer ist es?
[080:36] Es ist Giovanni Bacci, Sohn eines außerordentlich reichen Gewürzhändlers aus Arezzo. G. Bacci taucht in mehreren Bildern Pieros auf; er war nämlich einer seiner wichtigsten (einträglichsten) Auftraggeber. Er war aber für Piero nicht nur einträglich. Den Maler und seinen Mäzen verbanden Interessen oder Neigungen, wie sie damals unter den Humanisten der Toskana verbreitet waren. (Beide kannten z. B. L. B. Alberti, dessen Architektur-Konzept Piero besonders ansprach: die Geißelungshalle auf dem Bild, ist für Albertis Architektur-Entwürfe ziemlich charakteristisch.)
[080:37] Über Giovanni Bacci also war Piero mit den Kreisen humanistischer, wohlhabender Intellektueller aus Arezzo und Florenz verbunden, die das Geschäft der Väter nicht fortführen mochten, über neue Lebensperspektiven nachdachten, Dialoge und Abhandlungen über Probleme der Philosophie, der Rhetorik, der Kunstkritik, der Philologie (zumal mit Bezug auf die griechische Sprache), der frühbürgerlichen Lebensführung schrieben und dabei die christliche Überlieferung im Kontext einer neu
entdeckten
historischen Kontinuität zwischen Antike und Gegenwart auslegten (vgl. dazu z. B. Burckhardt 1925, Garin 1966, Müller 1969, Panofsky 1980). Die Verbindung zwischen Piero und diesen Humanisten ist (mindestens – und über den Kontakt zu L. B. Alberti hinaus) durch drei Daten nahegelegt: Einer der bedeutendsten Humanisten damals, Leonardo Bruni Aretino, hatte mit G. Bacci engen Kontakt. Das zweite Datum: 1439 fand das Konzil zu Florenz statt; als der Kaiser von Byzanz, Johannes VIII. Palaiologus, seinen Einzug in Florenz hielt, war auch Piero in Florenz und malte, zusammen mit dem etwas älteren Domenico di Bartolomeo (genannt Veneziano) Fresken für die Kirche S. Egidio; er begann damit nicht nur seine Malerlaufbahn, sah vermutlich nicht nur den Umzug und den byzantinischen Kaiser (zwanzig Jahre später porträtierte er ihn in einem Fresko der Kirche S. Francesco in Arezzo, mit dem charakteristischen Hut des Kaisers, dem gleichen, den auf der
Geißelung
Pilatus trägt. Auftraggeber nicht nur der
Geißelung
, sondern auch des Aretiner Freskos war Giovanni Bacci); er bekam vermutlich auch Zugang zu den aus Anlaß des Konzils reichlich versammelten Humanisten. Das dritte Datum ist das Bild selbst: Es ist eine Art humanistisches Lehrstück und spielt in Form und Inhalt auf die Themen an, die jene Intellektuellen beschäftigten.
[080:38] Ohne detaillierter auf den Entstehungskontext des Bildes einzugehen und ohne für die einzelnen Bildelemente jeweils hier |A 51||b 418|einen Beweis zu geben (vgl. dazu vor allem Ginzburg 1981, S. 133ff.), berichte ich, was man sieht und |B 51|was der Empfänger des Bildes – es ist vermutlich Federico da Montefeltro, Herzog von Urbino – sehr wohl verstanden hat:
|a 183|
[080:39] Er ist es, der von dem Bärtigen angesprochen wird. Dieser Grieche wiederum ist ein
Emigrant
, humanistischer Geistlicher und Freund Federicos: Bischof Bessarion (Vergleiche mit anderen zeitgenössischen Porträts Bessarions belegen das). Das Bild enthält also eine Botschaft Giovanni Baccis, des Auftraggebers, durch den gemalten Mittelsmann Bessarion an Federico. Was ist Inhalt der Botschaft?
[080:40] Inhalt der Rede Bessarions ist die Geißelung Jesu, aber in eigentümlicher Verfremdung. Daß die Geißelungsszene eine zweite Wirklichkeitsebene darstellt, im Vergleich zu der Dreier-Gruppe, ergibt sich aus der Syntax des Bildes; neben den schon im 2. Abschnitt hervorgehobenen Merkmalen füge ich hier noch die Lichtverhältnisse hinzu: Auf die Dreier-Gruppe fällt das Licht von links, auf die Geißelung von rechts. Der Ort ist sowohl erfunden als auch ein wirklicher Ort: Es ist der Nordeingang des Laterans in Rom (da das Licht auf die Dreier-Gruppe von links, also aus dem Osten kommt, ist dies die erste,
alltägliche
Realität). Erfunden ist die Kombination und Zusammenrückung der architektonischen Elemente: die Treppe hinten links ist die Heilige Stiege (Scala Pilatii), über die Jesus während des Prozesses dreimal gegangen sein soll und die Helena, die Mutter Kaiser Konstantins, von Jerusalem nach Rom bringen ließ (ca. 315), und auch die Türen hinten sollen dem Pilatus-Palast entstammen.
[080:41] Konstantin war für die Humanisten eine wichtige Traditionsfigur: Er stellte die Christenverfolgung ein und war
kulturpolitisch
eine Art Mittler zwischen antiker Tradition und neuerer christlicher Entwicklung; z. B. förderte er die architektonische Entwicklung der christlichen Basilika, u. a. den Lateran in Rom. Daß Ginzburg auch diese Spur im Bild verfolgt, ist deshalb verständlich: Er meint, in der Figur auf der Geißelungssäule Konstantin zu erkennen, und zwar der Ähnlichkeit mit einer gefundenen Skulptur wegen, die tatsächlich vor dem Lateran gestanden habe. Die Beweise scheinen mir in diesem Fall aber zu unbestimmt zu sein. Trotzdem ist es eine schöne Interpretationsidee! – Helena ließ aber, nach der Überlieferung, noch drei Türen aus dem Pilatus-Palast nach Rom bringen, wo sie in den Lateran eingebaut wurden. Zwei |A 52||b 419|davon sind die beiden von Piero gemalten in der hinteren Bildebene. Die Behauptung ist nicht unstrittig. Ginzburg (1981, S. 153 f.) trägt sie zwar plausibel vor, erwähnt aber nicht die ebenso plausible These Salmis (1979, S. 188f.), nach der die Türen jenen gleichen, die sich in einem von Piero gebauten (entworfenen) Haus in Borgo, seinem Wohnort, befinden. Außerdem sind die Türen in einem Stil gemalt, der der Architektur Michelozzos (13961472) sehr ähnlich ist, einem Florentiner Architekten, von dessen Stil auch Alberti viel übernommen hat und von dessen Bauten (u. a. der Medici-|B 52|Palast) im Florenz der 50er Jahre schon mehrere zu sehen waren. Auch im Palazzo ducale in Urbino gibt es mehrere solcher Türen, die allerdings erst nach der
Flagellazione
entstanden. Die Türen auf dem Bild könnten also eine viel schlichtere Erklärung finden als Ginzburgs Vorschlag: die Form der Türen fügt sich besser als andere in Pieros Stil kühler Intellektualität ein. Und die Säulenhalle, in der sich die Geißelung abspielt, gab es 1359 an der Nordseite des Laterans wirklich (man sieht es an zwei zeitgenössischen Bildern von anderen Malern), wenngleich nur mit drei und nicht mit vier Säulen und nicht in der von Piero gemalten Klassizität. Auch der Glockenturm stand im Lateran – allerdings hätte Piero ihn,
wirklichkeitsgetreu
, auf die linke Seite des Bildes setzen müssen. Das triviale Bürgerhaus hinter G. Bacci ist reine Erfindung. Alles andere ist zwar nicht naturalistisch, aber doch realistisch in dem Sinne, in dem ein dichtes Netz von symbolischen Verweisen |a 184|Wirklichkeit zur Anschauung bringt, die Struktur
hinter
der Erscheinung also keine
Fiktion
ist, sondern sich auf konkrete Erfahrung bezieht.
[080:42] Ferner: Pilatus trägt die Kleidung des byzantinischen Kaisers. Das ist offenbar eine doppelte Information, Pilatus und Nicht-Pilatus, Kaiser und Nicht-Kaiser – doppelt wie die Reliquien: Die Heilige Stiege ist auch trivialer Hintergrund, die Pilatus-Türen sind auch dekorative Auflockerung der Wand, die Körperlänge Jesu ist auch (nur) Element formaler Bild-Metrik. Ähnlich steht es mit dem Zuschauer in der Türkentracht: Das wäre, nach Maßgabe historischer Genauigkeit, nicht möglich. Auch hier wird, wie in einer Collage, verschiedene Bedeutung gemischt, aber nicht willkürlich.
[080:43] Das Bild ist die visuelle rhetorische Figur einer Ermahnung, die Federico da Montefeltros humanistische Freunde ihm vorhalten, und zwar aus Anlaß und im Anschluß an einen |A 53||b 420|Karfreitagsgottesdienst in der Lateranskirche in Rom, am frühen Vormittag (das Licht kommt von Osten) des Jahres 1459, denn dies ist das einzige Datum von dem wir annehmen können, daß Bessarion, Bacci und Piero zugleich in Rom waren. Piero war, eines kirchlichen Malauftrags wegen, in Rom; die beiden anderen standen – mehr oder weniger – in päpstlichem Dienst. Während Piero Zeit hatte, sein Bild zu skizzieren, das zu malen Bacci ihm vielleicht an diesem Karfreitag aufgetragen hatte, reisten Bessarion und Bacci ab; Bessarion wegen des Kongresses in Mantua, auf dem die Möglichkeiten eines neuen Kreuzzuges gegen die Türken erwogen werden sollten. Federico da Montefeltro aber, der Freund jener drei, hielt nichts von Kreuzzügen, hielt sich vielmehr in allen kriegerischen Angelegenheiten zurück, mochte sich in solchen Dingen in keiner Weise beteiligen5
|A 67||B 64||b 434|5Das war besonders für Bessarion schmerzlich: 1453 wurde Konstantinopel von den Türken/Osmanen erobert; Bessarion war Emigrant, ohne aktuelle Rückkehrmöglichkeit; er war nicht nur Christ, er war Grieche; die Türken waren inzwischen weit über Konstantinopel hinaus vorgedrungen und bedrohten jetzt gerade (1459) den Peloponnes. Wer von den dreien (Bessarion, Bacci, Piero) die Idee gehabt hat, wissen wir freilich nicht. Aber sie haben wohl, da Piero dabei war, die Vorstellung entwickelt, er könne ein Bild malen (und Bacci könne es bezahlen), in dem Federico eindringlich vor Augen gestellt würde, worin in diesem historischen Moment seine humanistische Aufgabe liege: zu helfen, die Türken aus Griechenland (Ostrom, christlichem Gelände) zu vertreiben, die Kontinuität zwischen Antike und Gegenwart wiederherzustellen, die Zukunft eines christlich-humanistischen Abendlandes zu sichern.
.
[080:44] Nun ist das Bild Pieros ikonographisch lesbar: Giovanni Bacci vor dem toskanischen Bürgerhaus als Zuhörer, Bessarion in griechischer Kleidung als Mitteiler der Botschaft, und zwar – bildsyntaktisch – an der Grenze der beiden Bildebenen/Wirklichkeitsebenen. Seine Mitteilung: Der Heide/Türke beobach|B 53|tet nicht nur, sondern läßt abermals die Geißelung Jesu (der Christenheit) vollstrecken; der Kaiser von Byzanz ist hilfloser (gleichgültiger?) Zuschauer, des historischen Geschehens; dies alles angesichts einer Kultur, die gerade gegenwärtig (1459) sich anschickt, heidnische (antike) und christliche Elemente (wie gut 1000 Jahre früher Konstantin) in eine Kontinutität zu bringen; kannst Du, Federico da Montefeltro, Zuschauer oder zögernd bleiben wie der Kaiser von Byzanz (Johannes VIII,) oder gar in der uneindeutigen Rolle des Türken als Aufseher oder zynischer Beobachter; kannst Du die Vernichtung Griechenlands dulden?
[080:45] Aber das Bild hat nicht nur das politische Thema griechisch-nationaler Identität, nicht nur das religiöse Thema christlicher und nicht nur das kulturelle Thema humanistischer |a 185|Identität – es hat auch ein ästhetisches Thema: Es eröffnet einen ästhetischen Diskurs, der anders ist, es plädiert nicht für nationale Interessen – dazu sind die griechischen Attribute viel zu verhalten dargestellt; es plädiert nicht für Kreuzzüge – die Geißelungsszene erscheint wie ein erstarrtes BallettABb und keine Person ist so dargestellt, daß sie Aggression auf sich lenken könnte; es plädiert aber auch nicht für die Durchsetzung eines kulturpolitischen Programms – die Verschachtelung von histo|A 54||b 421|rischen, räumlichen und dialogischen Verhältnissen ist dafür viel zu komplex. Es plädiert – denke ich – für Nachdenklichkeit und Proportion und enthält insofern eine eigentümliche ästhetische Botschaft für den Herzog von Urbino, die historisch beträchtlich über das hinausgeht, was vielleicht Bessarion und Bacci dem Maler angeraten haben: Selbstreflexion.
[080:46] Dies scheint mir gerade für eine Interpretation in bildungstheoretischer Absicht wesentlich, und zwar weniger der Thematik der
zur Sprache
gebrachten Selbstreflexion, als der Art wegen, in der das Thema präsentiert wird; es wird nicht gepredigt – eine
Predigt
hält allein Bessarion, nicht der Maler – sondern gleichsam in actu vorgeführt. Selbstreflexion (und die dadurch in Gang kommende Identitätsproblematik) kann ja gar kein Inhalt, keine Eigenschaft, kein substantiell Zeigbares sein, sondern es ist sinnvoll (entgegen manchem gegenwärtigen Gebrauch des Wortes
Identität
, nach dem man sie etwa
haben
könne!) nur als Verhältnis (
Proportion
) denkbar. Das kann deshalb auch nicht als Inhalt eines Textes erscheinen, sondern nur als seine Form (vgl. dazu beispielsweise W. Benjamin, 1973, S. 67ff.) und als die Beziehung, die der Text (hier das Bild) zwischen sich und dem Rezipienten stiftet. In der Form also wird die Tiefenstruktur erkennbar, das im Bild enthaltene Bildungsprinzip; in Panofskys Terminologie: seine ikonologischeStruktur. (Eben diese methodologische Annahme hat Bourdieu offenbar bewogen, seine bildungstheoretischen Hypothesen zum
Habitus
an Panofskys Kunsttheorie anzuschließen – vgl. P. Bourdieu 1970, S. 120ff., und ders. 1979, S. 139ff.) Aber diese Struktur der Form als Struktur des ästhetischen Objekts für sich ist nur die eine Hälfte der ikonologischen/bildungstheoretischen Wahrheit; die andere Hälfte ist die pragmatische Struktur der Beziehung zwischen Gegenstand und Rezipient. Die Form des Gegenstandes enthält diese Beziehung nur als Möglichkeit; diese kann freilich verfehlt werden; es bleibt dann nur bei
Halbbildung
(Adorno), an der allerdings nicht das Produkt (wenn es nicht Konfektion ist) die Schuld trägt, sondern der Rezipient bzw. der Rezeptionsbetrieb. Die Pädagogik hat sich mit diesem Anspruch von Kunst schon immer schwer getan und die Auseinandersetzung mit ihr in die entsprechenden Unterrichtsfächer eingesperrt, statt sie als integrales Medium der Bildung zu begreifen.
[080:47] Die Frage, worüber im Vordergrund rechts gesprochen wird, will ich deshalb noch einmal stellen. Gewiß ist das Thema – |A 55||b 422|die Bildkomposition beweist es – politische Geschichte und Religionsgeschichte, Antike und Gegenwart, historische Kontinuität und Diskontinuität, das Florentiner Konzil 1439 und der bevorstehende Kongreß in Mantua. Aber dies alles kann auch nur Hintergrund sein, so wie man, wenn man über sich selbst zu sprechen versucht, Hintergründe ausmalt oder erläutert (Historisches, Kulturelles, Regionales, Soziales), um das Thema hervortreten zu lassen, an dem
eigentlich
gelegen ist. Genau dies tut Piero in diesem unvergleichlichen Bild. Was läßt er hervortreten?
[080:48] Der – ikonographisch gesehen – historische
Schlüssel
des Bildes ist der Auftraggeber Giovanni Bacci und/oder die Figur des Bischofs Bessarion. Der ästhetische Schlüssel |a 186|dagegen, oder die eigentümlich-eigenwillige Pointe, die der Maler setzt, liegt in dem bisher noch nicht erwähnten jungen Mann, der mittleren Person in der Dreiergruppe rechts. Diese Gestalt scheint mir sowohl ikonographisch als auch formalästhetisch, sowohl semantisch als auch syntaktisch, ein Kommentar dessen zu sein, was Piero im Auftrage Baccis in seinem Bild kommentieren sollte. Wer ist es?
[080:49]
Seine Anwesenheit ist in keiner der unzähligen Interpretationen, die nach und nach vorgeschlagen worden sind, in annehmbarer Weise erklärt worden. Sein Gewand, sein Angesicht, seine Haltung scheinen nicht übereinzustimmen mit dem, was ihn umgibt. Er ist barfüßig, mit einer einfachen Tunika bekleidet und steht zwischen zwei Männern in Schuhen, die moderne, fein geschneiderte Gewänder tragen. Weder spricht er (wie der Mann zu seiner Rechten), noch hört er zu (wie der Mann zu seiner Linken). Der feierliche Ernst des ersteren, die Aufmerksamkeit des letzteren berühren ihn nicht. Keine erkennbare Emotion und kein erkennbares Gefühl werfen Falten auf seinem außerordentlich schönen Gesicht. Seine Augen starren auf etwas, das wir nicht sehen. Der junge Mann ist tot
(Ginzburg 1981, S. 171)
.
[080:50] Ginzburg schlägt vor,
den jungen Mann mit Buonconte da Montefeltro, dem unehelichen Sohn Federicos, zu identifizieren
(ebd.)
. Für diese Hypothese spricht folgendes: Ein Jahr ehe Piero mit der Arbeit an dem Bild be|B 55|gann, starb Buonconte im Alter von 17 Jahren an der Pest. Die humanistische Bildung des Jungen erstaunte alle, mit denen er in Berührung kam. Er schrieb nicht nur ein sehr gutes Italienisch – für die Humanisten seit Dante, Petrarca und Bocaccio eine wesentliche Erwartung an den Gebildeten –ABb sondern führte sei|A 55||b 423|ne Briefwechsel auch in Latein und Griechisch. Bessarion – Freund der Familie des Herzogs – nahm sich des Jungen besonders an, unterstützte ihn in seinen Studien und wünschte, ihn zu firmen. Zumal daß Buonconte die griechische Sprache beherrschte, muß Bessarion beeindruckt haben. Auch Federico hing sehr an ihm und wünschte, daß er sein Erbe werden sollte. In dem Jungen also symbolisierten sich die Zukunftshoffnungen dieses humanistischen Kreises. Es ist deshalb mindestens plausibel, daß er in der Dreiergruppe des Bildes steht, besonders dann, wenn die Botschaft des Bildes an Federico gerichtet ist.
[080:51] Da von Buonconte kein Bildnis existiert, bleibt es bei Vermutungen. Daß es sich indessen um eine starke Hypothese handelt, wird auch von den Bild-Proportionen bekräftigt, von denen im zweiten Abschnitt die Rede war: Buonconte und Jesus sind je Mittelpunkt einer der beiden Szenen, beide sind tot, ihre Körpergesten sind analog, sie sind beide gleich weit (planimetrisch) von jener Bildlinie entfernt, die die beiden Realitätsebenen voneinander trennt, beide signalisieren Hoffnung auf eine zwar riskante, aber – wenn Federico der Angesprochene ist – durch Tätigkeit zu bewältigende Zukunft.
[080:52] Neben dem religionsgeschichtlichen, dem politischen und dem kulturellen also auch ein
privater
, bildungsgeschichtlicher Diskurs, und zwar nun nicht mehr nur in der Weise des Hinzeigens, sondern so, daß noch einmal das ganze Bild in eine reflexive Bewegung hineingenommen wird.

4. Sinnstruktur und Habitus

[080:53] Es bedarf keiner besonderen Erläuterung, daß dieses Bild kein Kunstwerk für das
Volk
war. Es war für eine intellektuelle und ökonomische Elite gemalt, nur diese war überhaupt in der Lage, es zu verstehen (die italienischen Bauern bespielsweise hatten derzeit andere |a 187|Probleme). Eine sozialgeschichtlich-ideologiekritische Interpretation des Bildes als – vielleicht ungewollte – Affirmation der damals herrschenden Verteilung von Gütern, Macht und Bildung wäre gewiß nicht abwegig, aber doch trivial: Sie würde dieses Dokument in die Unzahl kultureller Produkte einreihen, die eine gleiche Funktion hatten (und haben). Ich versuche deshalb, in diesem letzten Interpretationsabschnitt, den kritischen Bildungssinn des Werkes |A 57||b 424|anzudeuten. Daß die
Geißelung
Pieros
gesellschaftlich
ist und affirmative Momente enthält, hat die ikonographische Interpretation deutlich gezeigt;
kritisch
kann sie nur sein, wenn |B 56|ihre Botschaft das kunstsoziologisch den gesellschaftlichen Verhältnissen als Determinanten zurechenbare semantische Material übersteigt. Das geschieht auf zweierlei Weise: durch Arrangement, Collage,
Bricolage
(Levi-Strauss) des historisch zuhandenen Zeichenvorrats und durch Konstruktion der Bildverhältnisse (sowohl innerhalb des Bildes als auch zwischen Bild und Betrachter). Die bildende Wirkung der Kunst (ihre pädagogische Funktion also) beruht auf eben diesem Sachverhalt.
[080:54] Den bildungstheoretischen Gestus des Bildes möchte ich in drei Formeln zusammenfassen (Perspektive und Fläche, imaginierte Identität,
perspektivische
Brechung) und diese abschließend auf die Dimensionen der Bildungswelt (Raum, Beziehung, Zeit) beziehen.
[080:55] (1) Perspektive und Fläche. Die Zentralperspektive ist – wie gesagt – nicht nur eine neue Fertigkeit des Renaissancemalers, sondern zeigt die Entdeckung (Erfindung) eines theoretischen Prinzips für die Malweise an. Ihre Bedeutung geht aber noch darüber hinaus, denn sie dokumentiert eine Weltsicht.
[080:56]
Der Vorgang der Projektion eines Gegenstandes auf eine Fläche in solcher Weise, daß das sich ergebende Bild durch die Distanz und den Ort eines
Gesichts-Punkts
determiniert ist, versinnbildlicht gleichsam die Weltanschauung einer Periode, die eine historische Distanz – ganz vergleichbar der perspektivischen Distanz – zwischen sich und der klassischen Vergangenheit eingeschaltet und dem Geist des Menschen einen Platz
im Mittelpunkt des Universums
zugewiesen hatte, genauso wie die Perspektive seinem Auge einen Platz im Mittelpunkt ihrer graphischen Darstellung zuwies
(Panofsky 1977, S. 346)
.
[080:57] Die Perspektive verändert nicht nur das Bild, sondern auch den Betrachter. Das Subjekt ist
der Bezugspunkt des Erkennens
, mithin ist die Zentralperspektive
eine
symbolische Form
dieser anthropozentrischen Einstellung
(Imdahl 1979, S. 192)
.
[080:58] Piero spielt in seinem Bild besonders souverän mit diesem Anthropozentrismus; das Bild repräsentiert zugleich einen anderen Modus von Weltsicht in seinen planimetrischen Konstruktionen: in der
Proportionsmystik
, von der im zweiten Abschnitt die Rede war, und in der Konstruktion der mensch|A 58||b 425|lichen Figuren, die der mittelalterlichen Proportionslehre des Villard de Honnecourt zu folgen scheinen (vgl. Panofsky 1978, S. 87ff.). Diese beiden Kompositionsregeln sind gerade nicht anthropozentrisch; sie sind vielmehr Transformationsregeln, nach denen
makrokosmische
Proportionen auf
mikrokosmische
Erscheinungen bezogen werden. Piero konstruiert also eine Opposition zwischen dem anthropozentrischen
Macher
-Schema und dem Schema kosmosorientierter
Mimesis
oder
Imitatio
und schließt sie beide, in seinem Bild, zur Figur eines Habitus zusammen, eines problematischen freilich.
|B 57|
[080:59] (2) Imaginierte Identität. Das Bild ist – wie mir scheint – ein höchst subtiler Diskurs über das Problem der Identität. Der Schlüssel, die Form, die Piero dem Problem gibt, liegt in |a 188|der Art, in der er den Betrachter/Zuschauer konstruiert. Wie wir wissen, gibt es vier betrachtende Positionen: Pilatus, den Türken, Federico da Montefeltro und uns. Der Türke betrachtet (oder dirigiert gar) den Vorgang der Geißelung, aber er ist ein Betrachter ohne reflektierendes Ich, nur ethnisches Exemplar, er ist sich selbst kein Problem. Federico, dem direkt Angesprochenen, wird ein Dilemma vorgehalten, und Bessarion erläutert ihm, dem auf Tätigkeit erpichten
uomo universale
der Frührenaissance, was er tun müsse, um der sein zu können, der er als Entwurf schon ist; Federico – er steht ja (imaginativ) rechts vom Bild –
sieht
nicht das historische Geschehen der Geißelung, sondern nur Bessarions Kommentar dieser Geißelung; dieser Kommentar wird (visuell eindeutig und buchstäblich)
durchkreuzt
von dem Blick seines Sohnes Buonconte; wie soll Federico sich nun entscheiden? Es scheint, als hätte er zwischen zwei Gütern, zwei Positionen zu wählen: Wie der Türke oder Pilatus zu sein oder Kreuzfahrer/Antitürke; der durchkreuzende Blick Buoncontes aber bremst die Naivität dieser Alternative: vor allem für uns; wir sehen ja das Ganze und die Teile; keine der in der Erzählstruktur des Bildes mitgeteilten Alternativen könnte uns befriedigen, schon längst nicht mehr: Sind wir doch inzwischen von Piero hervorgebracht nicht nur als Betrachter eines politisch/religionsgeschichtlich/kulturellen Vorgangs, sondern – und dies vor allem durch die formalen Konstruktionsprinzipien des Bildes, seine
konstruktivistische
Grundstruktur (vgl. Jochims 1972) – als eine Art von Betrachter, der seines eigenen Betrachtens inne wird. Das aber bedeutet doch wohl, daß wir, |A 59||b 426|als Zuschauer historischer Szenen, angesichts dieses Bildes, im Fluchtpunkt (
deshalb
ist dieser Punkt im Bild eine semantisch leere Stelle) von (scheinbar eindeutigen) Handlungen, Kommentaren solcher Handlungen und dadurch hervorgerufener Kontemplation, auf das Problem unserer selbst gelenkt werden. Fichte meinte (in der
Wissenschaftslehre
von 1798), daß Selbstreflexion das Auge sei, das sich selber sieht (vgl. Pothast 1971); eine starke Metapher, von der Piero 350 Jahre früher etwas hat ahnen lassen: Denn wir, die Betrachter, werden von Piero konstruiert einerseits als diejenigen, die die Vorgänge und Vorhaltungen
sehen
, andererseits aber auch als solche, die dieses Sehen sehen könnten. Fichte meinte, daß dieser Gedanke erst zu seiner Zeit möglich geworden sei. Er hatte vielleicht recht im Hinblick auf die Literatur. Im Hinblick darauf, was Malern zu zeigen möglich war, hatte er unrecht. Piero zeigt:
Identität
ist keine Eigenschaft, sondern ein Problem, das sich allen Eigenschaften stellt.
[080:60] (3) Symbolische Brechungen. Die dritte Komponente der ikonologischen Sinnstruktur ist in der Verschränkung der verschiedenen Ebenen von
Wirk|B 58|lichkeit
enthalten. Das Bild ist eine
Collage
, deren Teile einander in Frage stellen. Jede Teilmenge von Bildelementen repräsentiert eine mögliche Lesart, die indessen von einer anderen Teilmenge relativiert wird: Die planimetrische Lesart relativiert die perspektivische, die aktuell-alltägliche (die Dreiergruppe) relativiert die historische (Geißelung). Pilatus wird durch seine Kopfbedeckung zu einem anderen, die Türke ist historisch unpassend, der Blick des Buonconte läßt daran zweifeln, ob die Rede des Bessarion die Wahrheit trifft, die sakralen Elemente der Architektur (Treppe, Türen, Geißelungssäule) werden zu Versatzstücken einer säkularen, der Dialog drängt die Historie in den Hintergrund (man beachte auch das Fußbodenmuster), das Hintergrundgeschehen qualifiziert den Dialog als bloßes Kommentieren, wer ist die Hauptperson: Christus oder Buonconte? Obwohl perspektivisch so vollkommen, verwirrt dieses Bild jene Durchblicke, die Gewißheit verschaffen.
|a 189|
[080:61] Es teilt keine einzelne Weltanschauung mit, sondern bietet deren mehrere an. Es ist zuverlässig in den historischen Fakten, aber sät Mißtrauen im Hinblick auf ihre Deutungen. Es verlegt Gewißheit einzig in die Nachdenklichkeit des Betrachters (und in die formale Proportioniertheit des Kosmos).
Ceci n’est pas une pipe
heißt die Unterschrift eines Bildes von René Magritte, auf dem eine Pfeife gemalt ist.Pieros Bild
La Flagellazione
könnte heißen:
Dies ist keine
Geißelung
.
[080:62] (4) Obwohl offensichtlich für private Verwendung gemalt, ist der dargestellte Raum durchaus öffentlich. L. B. Alberti verglich (1435) Gemälde mit einer
finestra aperta
, einem offenen Fenster,
durch das wir hinausblicken in einen Ausschnitt der sichtbaren Welt
(zit. nach Panofsky 1977, S. 329)
. Pieros Bild ist eine solche finestra aperta, die sich öffnet. Daß sich darin ein besonderes Raumkonzept zeigt, wird andeutungsweise plausibel (mehr vermag ich hier nicht auszuführen), wenn man sich etwa die niederländischen Gemälde in Erinnerung bringt, die, 200 Jahre später, ebenfalls von Kaufleuten in Auftrag gegeben worden sind: Die Interieurs von Jan Vermeer oder Pieter de Hooch beispielsweise sind Innenräume mit einer finestra aperta, einem offenen Fenster nämlich, das einen kleinen Ausblick in die öffentlichen Räume freigibt, ein Stück Öffentlichkeit in den privaten Binnenraum hineinholt (vgl. Möller 1981, S. 15ff.). Aber Pieros Bild ist nicht nur, sondern enthält auch eine finestra aperta: Die Geißelungsszene wird durch das
Fenster
der vorderen Begrenzung der Säulenhalle freigegeben, eine Art Fenster im Fenster, das nun allerdings den Blick nicht nach außen, sondern nach innen lenkt – in die Halle und die Erinnerung hinein. Es sind mithin zwei Räume konstruiert, von denen der eine – durch die rot-braune Fußbodenfläche markiert |B 59|– die durchlässige
Privatheit
der humanistischen Bildungskonzeption, der andere – durch die schwarz-weiße, wie eine Etüde in perspektivischer Zeichnung anmutende Fläche markiert – die im Raum gegenwärtige Vergangenheit (Treppe, Türen, Säulen,
Konstantin
) darstellt. Dabei ist
Raum
hier keinesfalls die metaphorische Erschleichung eines Argumentes, sondern durchaus im physikalischen Sinne zu verstehen: Architektur-Zeichnungen des Quattrocento und die
Struktur
italienischer Plätze dieser Zeit repräsentieren das gleiche Raum-Schema: öffentliche Räume, die einerseits früh-bürgerliches Innenleben nur andeuten, als nebensächlich zurücktreten lassen (allenfalls, wie in Pieros Bild, nur durch Alltagsgerätschaften wie den Waren-Aufzugsbalken an der Fassade rechts), andererseits Geschichte sichtbar und eine auf öffentliche Probleme konzentrierte Kommunikation möglich machen (vgl. dazu auch die gleichzeitigen
Schul
-Bauten: Universitäten und Kollegien).
|A 61| |b 428|
[080:63] (5) Der Öffentlichkeit des Raumes entspricht das im Bild vorgeschlagene Schema der Beziehungen zwischen Menschen. Das Auffallendste in dieser Hinsicht ist vielleicht die fast rituelle Pose der Figuren; sie haben Ähnlichkeit mit Tanzfiguren, jedenfalls mit derjenigen Art von Tänzen, die damals gerade in Mode kam: im
stile nuovo
der Tanzkompositionen nach 1450 schritten Damen und Herren nicht mehr in langen parallelen Linien durch den Saal, sondern formierten sich in kleinen Gruppen; durch die Einfügung von kurzen Szenen wurden typische Beziehungsfigurationen (Werbung, Unsicherheit, Abweisen usw.) angedeutet; die Personen kehrten sich symmetrisch gegeneinander und wiederholten – gleichsam in Zeitsymmetrie – die Gesten des Partners (vgl. Brainard 1956).
Dadurch entstand eine Spannung zwischen einer bestimmten Bewegung und ihrer gleichartigen Wiederholung in dem Spiegelbild, das durch die andere |a 190|Person ausgeführt wurde. Die Bewegung wurde sich selbst entgegengesetzt und mit sich selbst vereinigt und umschloß damit einen Raum, der so zum Ort eines Vorgangs sich selbst darstellender mimetischer Selbstreflexion wurde
(zur Lippe 1974, S. 134)
.
[080:64] Zu derartigen Stilisierungen scheint schlecht zu passen, daß ich – in bezug auf die Dreiergruppe – gelegentlich von
Alltag
sprach. Die
Rhetorik
des Bildes, des Tanzes und übrigens auch der humanistischen Brief-Literatur wirkt auf uns eher unalltäglich, feierlich, artifiziell; unzuverlässige Indikatoren also für das, was tatsächlich die Beziehungen zwischen den Menschen ausmachte. Diese Skepsis wird beispielsweise auch durch die in den Briefen übliche Topik der Anrede unterstützt und durch die Tatsache, daß die Humanisten ihre Briefe häufig nicht nur dem Adressaten zusandten, sondern Abschriften davon auch unter ihren anderen Freunden verteilten oder sie gar schon im Hinblick auf eine Veröffentlichung konzipierten. Indessen läßt sich gegen eine derartige Skepsis einiges Vorbringen (vgl. dazu Batkin 1979, S. 170ff.):
  • [080:65] Nicht nur in den Briefen, auch in den in Dialogform abgefaßten theoretischen Schriften der Humanisten, waren die Dialogpartner bekannte und lebende Personen; die theoretischen Topoi konnten sich deshalb, sollte nicht Lächerlichkeit riskiert werden, nur in Grenzen von den tatsächlichen Beziehungen entfernen.
  • |B 60|
  • [080:66] Stilisiertes und Triviales standen sich nicht wie zwei
    Welten
    gegenüber, sondern waren aufeinander bezogen: Die Stilisierung war eine allseits akzeptierte Deutung alltäglicher Beziehungen, die als Teil des Alltags fungierte.
  • |A 62|
  • |b 429|
  • [080:67] Die Wertungskategorien, nach denen eine gewisse Schlichtheit, persönliche Bestimmtheit, Individuelles, emotionale Tönung usw. notwendig den menschlichen Beziehungen zugehört, entstammen der Gegenwart und waren Pieros Zeitgenossen jedenfalls nicht in gleichem Maße selbstverständlich; das legt die Vermutung nahe, daß für diese Zeitgenossen
    Intimes und Abstraktes in ihrem Bewußtsein nicht getrennt wurde
    (Batkin 1979, S. 201)
    ;
    die Stilisierung des Lebens stimmte mit dem Leben überein
    (a.a.O., S. 204)
    .
    Der berüchtigte Individualismus der Renaissance, der sich in der Tat mit großem Pathos manifestierte, war mit einem Individuum verbunden, das noch recht weit von der atomaren, sich selbst genügenden, eifersüchtig über die Unantastbarkeit des Privatlebens wachenden Persönlichkeit späterer Zeiten entfernt war
    (ebd.)
    .
[080:68] Das Bild Pieros formuliert die Struktur von Beziehungen und Interaktionen homolog zu dem, was im Tanz und Ballett, in den humanistischen Briefen, in den Dialogen sich zeigt.
Hier gibt es keinerlei sozialpsychologische Rätsel zu lösen
(Batkin 1979, S. 206)
; die planimetrische Proportionalität der Figuren, die Einfachheit und Eindeutigkeit der Gesten führt Beziehungsschemata vor Augen, allgemeine Regeln, nicht aber psychologische Stimmungen oder individuelle Motive – eine Darstellung, die dem analytischen Vokabular des symbolischen Interaktionismus verwandter scheint als dem Instrumentarium psychologischer oder gar psychoanalytischer Theorien. Alle Körpergesten auf dem Bild sind soziale Gesten; sie stehen aber nicht nur
in bezug auf ...
, sondern zugleich auch
für sich
(Geißeln, Dirigieren, Zuschauen, Reden, Zuhören usw.), haben eine kosmologische und eine interaktive Komponente (bemerkenswert in diesem Zusammenhang, daß – mit Ausnahme des linken Geißlers – keine Körperberührung zwischen den Personen stattfindet).
[080:69] Dennoch formuliert das Bild ein Beziehungs-Problem. Ich habe es schon angedeutet, als von
imaginierter Identität
die Rede war: Zwar erscheinen die (meisten) Figuren als
Rollen
; aber diese werden, sowohl von der linken wie von der rechten Bildseite her, gleichsam in Diffusion gebracht: Pontius Pilatus wäscht nicht – wie in frühmittelalterlichen Darstellungen üblich –
die Hände in Unschuld
; diese ohnehin historisch zwielichtige Figur wechselt, in der Pose des bloßen Beobachters, die Rolle zwischen dem Präfekten Judäas und dem byzantinischen Kaiser; Giovanni Bacci am rechten Bildrand trägt einerseits die Zeichen ökonomischer (Brokat|A 62||b 430|mantel) und politischer (rote Schärpe über |a 191|der rechten Schulter) Macht, andererseits ist er kontemplativer Zuhörer der Mitteilungen des Bessarion; dieser wiederum, zwar als einziger im Gesicht als Individualität dargestellt, schwankt zwischen Typischem und Individuellem, er spricht zudem in verschiedenen Rollen: griechischer |B 61|Patriot, kirchengeschichtlich engagierter Kleriker, humanistischer Gelehrter, geistlicher Vater des Buonconte und Freund des angesprochenen Federico. Einzig Buonconte ist nicht als
Rolle
zu identifizieren. Er bringt deshalb – wie wir schon gesehen haben – die
Metakommunikation
des Bildes in Gang; sein Blick
durchkreuzt
nicht nur die Interaktion Bessarion/Federico, sondern auch die zwischen Bild und uns, den Betrachtern des Ganzen. In der, angesichts eines solchen Dokuments etwas schalen, modernen Terminologie gesprochen: Soziale Identität wird als Sachverhalt gezeigt, personale Identität wird als Problem metakommuniziert. Die Antithese zum Gesellschaftlich-Faktischen ist (hier) die Vision des Buonconte/des Malers von andersartigen Beziehungstrukturen6
|A 67||B 64||b 434|6Dazu mag noch angemerkt werden – freilich nur assoziativ und nicht beweisführend –ABb daß Piero den jungen Mann, den wir hier als Buonconte vermuten, ein zweites Mal, und zwar auch im Jahre 1459, dargestellt hat: als Propheten in den von der Familie Bacci in Auftrag gegebenen Fresken der Kirche S. Francesco in Arezzo.
.
[080:70] (6) Das hat etwas mit der Zeit-Dimension des Bildes zu tun. Zunächst ist daran zu erinnern – das zeigte sich nicht nur in der ikonographischen, sondern bereits in der formalästhetischen Analyse –, daß die beiden Wirklichkeitsebenen der Komposition Gegenwart und Vergangenheit repräsentieren. Vergangenheit ist nicht nur als entrückte Geschichte dargestellt, sondern als Erinnerung, als vergangene Gegenwart bzw. gegenwärtige Vergangenheit (vgl. dazu Luhmann 1975, auch Bergmann 1981). Diese Ambivalenz wird im Bild unmittelbar sinnfällig: Die historischen Indikatoren der Geißelungshandlung (vergangene Gegenwart) und die aktuellen Überlagerungen bzw. Konnotationen – byzantinischer Kaiser, Türke, zeitgenössisches Architektur-Design –, die die Gegenwärtigkeit des Vergangenen hervorheben. Diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ruft Tradition in Erinnerung, macht sie aber auch zum Problem. Der eindringliche Blick des Bessarion erheischt eine Antwort; Federico aber dürfte sie, angesichts des ganzen Bildes, wenn er es recht gelesen hat, nicht umstandslos möglich gewesen sein, da – wie gesagt – Buoncontes
postkonventioneller
Blick die konventionellen Alternativen in Zweifel zieht.
|A 64| |b 431|
[080:71] In L. B. Albertis Traktat
Della Famiglia
(1434) gibt es zum Zeit-Problem eine interessante Dialog-Passage. Nachdem einer der Dialog-Partner, Gianazzo, angekündigt hatte, daß es
drei Dinge
gebe, die für die Lebensführung des Menschen wesentlich seien, und nachdem er die beiden ersten,
Seele
und
Körper
, genannt und erläutert hatte, entsteht eine Verzögerung:
Lionardo: Und das dritte – was wird das sein?
Gianazzo: Oh, ein höchst wertvolles Ding! Diese meine Hände und Augen sind nicht so sehr mein Eigen...
Lionardo: Wunderbar! Was mag das sein?
Gianazzo: Man kann es keinem hinterlassen, nicht verringern, in keiner Weise kann dies Ding dir nicht gehören, sofern du nur willst, daß es dein ist.
Lionardo: Und wenn es mir beliebt, wird es einem anderen gehören?
Gianazzo: Wenn du willst, wird es nicht dein Eigen sein: die Zeit, mein lieber Lionardo, die Zeit, liebe Kinder!
(Alberti 1962, S. 216f)
ABb
|a 192|
[080:72] Die
Moral
der dann folgenden Erläuterungen besteht darin, daß – im Unterschied zu allen anderen Gütern – die Zeit dem Menschen nur als reine Möglichkeit |B 62|gegeben ist, die nur durch Tätigkeit angeeignet werden kann.
Für Alberti ist die Zeit im Grunde identisch mit Kultur, sie ist nicht bloße Dauer, sondern Tätigsein,
essercizio
, die Daseinsform der Kultur
(Batkin 1979, S. 176)
.
[080:73] Die Erinnerung an Tradition/Vergangenheit kann also in diesem Bild nicht ihre Imitation oder die Vorstellung eines gleichsam zyklischen Verlaufs evozieren. Vielmehr wird die Tätigkeit des Adressaten herausgefordert, und zwar ohne ihr eine normative Vorgabe zu machen. Zyklisch wird nur die Vergangenheit gedacht. Die Zukunft ist vom Zyklus ausgenommen: Der von antiken Schriftstellern übernommenen Vorstellung, der geschichtliche Verlauf folge dem Zyklus von Kindheit, Jugend, Reife und Alter, mochte die Renaissance nicht mehr folgen; Vasari, der in
Le vite de’ più eccellenti pittori, scultori e architetti
auch der erste – wenngleich unzuverlässige – Biograph Piero della Francescas war, läßt, hundert Jahre nach Pieros Bild, den Zyklus mit der Reife enden; für die Zukunft gibt es, als Geschichte, kein biologisches Altern mehr.
Damit konnte Vasari die Vorstellung eines kreatürlichen Werdens und Vergehens der Vorstellung eines intellektuellen
Fortschritts
... unterordnen
(Panofsky 1978, S. 231)
.
[080:74] Piero scheint indessen diese Annahme nicht ungebrochen zu teilen. Die Bedeutung des Blicks des Buonconte bleibt ambivalent, wie das ganze Bild. Auch nach der Interpretation bleibt es rätselhaft. Vielleicht dokumentiert es, was Batkin von der |A 65||b 432|ganzen Epoche behauptet: Selten sei
man sich darüber im klaren, daß die Renaissance nahezu die zweideutigste aller großen Kulturepochen ist, ja mehr noch, daß die Ambivalenz in ihr zu einem strukturbildenden Prinzip erhoben wurde
(S. 208)
.

Nachbemerkung

[080:75] Da ich vorgab, eine Interpretation in
bildungstheoretischer Absicht
zu versuchen, und da diese Absicht, der vielen ästhetischen, ikonographischen und historischen Verzweigungen des Argumentationsganges wegen, vielleicht nicht mit der gewünschten Deutlichkeit hervortrat, möchte ich abschließend einigen Mißverständnissen Vorbeugen und auf drei denkbare Einwände eingehen.
[080:76] Der erste Einwand könnte bemängeln, daß doch von
Bildungstheorie
kaum die Rede war. Das ist richtig, jedoch nur dann akzeptabel, wenn Bildungsprobleme lediglich solche Fragen betreffen sollen, die mit pädagogischen Veranstaltungen direkt verknüpft sind oder die sich auf den individuellen Erfahrungs- und Lernvorgang richten. Ich mache demgegenüber geltend, daß, was Bildung genannt werden kann, eine Auslegung je herrschender kultureller Standards ist, und zwar mit diesen Standards strukturgleich. Per|B 63|spektive, Identitätsthematik und gebrochene Symbolik wären demnach Komponenten nicht nur eines kulturellen Habitus, sondern auch das Orientierungsnetz, innerhalb dessen die neuzeitlichen Bildungsaufgaben formuliert werden können.
[080:77] An dieser Stelle liegt ein zweiter Einwand auf der Hand: Bildungstheoretisch plausibel wird diese Hypothese erst, wenn die Befunde der Interpretation eines kulturellen Dokumentes auf die gleichzeitige bildungstheoretische Literatur und auf die Praxis der Bildung in pädagogischen Einrichtungen oder Lebensläufen bezogen wird. Dieser Mangel des Essays ist keinem anderen Umstand geschuldet als nur der Nötigung, meinen Text nicht allzu stark ausufern zu lassen. Mir war an dieser Stelle zunächst nur daran gelegen, Bildmaterialien nicht nur als Illustrationen der Geschichte der Bildung heranzuziehen, |a 193|sondern zur Diskussion zu stellen, ob sie nicht ähnlich als Quellen historischer Erkenntnis genommen und gedeutet werden könnten (und sollten) wie die Texte des Erasmus, Vives, Castiglione, Rabelais, Morus oder Schulordnungen, Kollegienbauten, Familienzyklen usw.
|A 66| |b 433|
[080:78] Eine derartige Bemühung bliebe freilich immer noch ideengeschichtlich und müßte sich den Vorwurf gefallen lassen, von den sozialgeschichtlichen Komponenten der Bildungsgeschichte keine Notiz zu nehmen. Dieser Einwand scheint mir am schwersten zu wiegen. Allein, am Bildungshabitus einer Epoche (auch der unseren) gibt es mindestens zweierlei zu studieren: den dem Habitus innewohnenden, in ihm, seinen Produkten, repräsentierten Bildungssinn und seine gesellschaftliche, beispielsweise herrschaftssichernde oder selektive Funktion. Die Frage nach seiner Güte, seiner Legitimität, seinen Anregungspotentialen im Hinblick auf die Auseinandersetzung des Menschen mit sich und seinesgleichen, ist nicht schon durch den Nachweis dieser oder jener gesellschaftlichen Funktion erledigt. Das gilt besonders für das hier interpretierte Dokument. Mir scheint nämlich – das ist eine freilich noch riskante Hypothese –, daß die im Bild repräsentierten Ambivalenzen mit dem Zeitenbruch, an dem es steht, zusammenhängen, besonders mit zwei möglichen Rationalitätsentwürfen: Was ich am Bilde als Konfrontation von anthropozentrischer und kosmos-orientierter Perspektive zu erläutern versuchte, hängt – so vermute ich – nicht nur mit der damaligen Gleichzeitigkeit
neuplatonischer
und
erfahrungswissenschaftlicher
Orientierungen zusammen, sondern markiert den historischen Beginn eines Bildungsproblems, das immer noch das unsere ist7
|A 67||B 64||b 434|7Vgl. dazu auch K.-O. Apel: Die Situation des Menschen als ethisches Problem, in: Z. f. Päd. 5/1982, S. 677ff. Dort wird m.E. eine parallele These erläutert, und zwar als Unterscheidung zweier ethischer Rationalitätsentwürfe:
der konsensual-kommunikativen und der strategischen Handlungsrationalität
(S. 687)
.
.
[080:79] Ich hatte also in dem vorliegenden Essay nicht die Absicht, derartige Fragen zu verdrängen oder gering zu achten. Ich wollte lediglich an einem (mich besonders beeindruckenden) Beispiel großer Renaissancemalerei ausprobieren, ob es gelingt, die Interpretation solcher Materialien in den
Kanon
bildungstheoretischer Quellen plausibel einzufügen.

Literatur

    [080:80] Adorno, Th. W.: Ästhetische Theorie, Frankfurt 1973
    [080:81] Alberti, L. B.: Über das Hauswesen (Della famiglia), Zürich 1962.
    [080:82] Asemissen, H. U.: Las Meninas von Diego Velasquez, Kassel 1981.
    [080:83] Barthes, R.: Mythen des Alltag, Frankfurt 1964.
    [080:84] Batkin, L.: Die italienische Renaissance, Basel/Frankfurt 1979.
    [080:85] Baxandall, M: Die Wirklichkeit der Bilder. Malerei und Erfahrung im Italien des 15. Jahrhunderts, Frankfurt 1977.
    [080:86] Benjamin, W.: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik. Frankfurt 1973.
    [080:87] Bergmann, W.: Die Zeitstrukturen sozialer Systeme, Berlin 1981.
    [080:88] Bourdieu, P.: Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt 1973.
    [080:89] Bourdieu, P.: Entwurf einer Theorie der Praxis. Frankfurt 1979.
    [080:90] Brainard, O.: Die Choreographie der Hoftänze in Burgund, Frankreich und Italien im 15. Jahrhundert. Diss. Göttingen 1956.
    [080:91] Burckhardt, I.: Die Kultur der Renaissance in Italien, 1925¹⁴.
    |a 194|
    [080:92] Frank, M.: Das Sagbare und das Unsagbare. Frankfurt 1980.
    [080:93] Garin, E.: Geschichte und Dokumente der abendländischen Pädagogik II, Humanismus, Reinbek 1966.
    [080:94] Ginzburg, C.: Erkundungen über Piero, Berlin 1981.
    [080:95] Imdahl, M.: Überlegungen zur Identität des Bildes; in Marquardt, O./Stierle, K. (Hrsg.): Identität, Poetik und Hermeneutik VIII, München 1979.
    [080:96] Jochims, R.: Der Maler Antonio Calderara, Starnberg 1972.
    [080:97] Lang, S. K.: Die geisteswissenschaftliche, ikonographisch-ikonologische und strukturalistische Methode der Bildbetrachtung, Braunschweig 1982
    [080:98] Lippe, R. zur: Naturbeherrschung am Menschen I. Körpererfahrung als Entfaltung von Sinnen und Beziehungen in der Ära des italienischen Kaufmannskapitals, Frankfurt 1974.
    [080:99] Luhmann, N.: Soziologische Aufklärung, Bd. 2, Opladen 1975.
    [080:100] Möller, H. R.: Innenräume/Außenwelten. Studien zur Darstellung bürgerlicher Privatheit in Kunst und Warenwerbung, Gießen 1981.
    [080:101] Müller, G.: Bildung und Erziehung im Humanismus der italienischen Renaissance, Wiesbaden 1969.
    [080:102] Panofsky, E.: Das Leben und die Kunst Albrecht Dürers. München 1977.
    [080:103] Panofsky, E.: Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, Köln 1978.
    [080:104] Panofsky, E.: Studien zur Ikonologie. Humanistische Themen in der Kunst der Renaissance, Köln 1980.
    [080:105] Posthast, U.: Über einige Fragen der Selbstbeziehung, Frankfurt 1971.
    [080:106] Sahlins, K.: Kultur und praktische Vernunft, Frankfurt 1981.
    [080:107] Salmi, M.: La pittura di Piero del la Francesca, Novara 1979.
    [080:108] Schiller, F.: Zerstreute Betrachtungen über verschiedene ästhetische Gegenstände, 1793.
[080:109] Das Bild
La Flagellazione
von Piero della Francesca befindet sich in der Galleria Nazionale delle Marche, Urbino.
ABb
).
ABb
,
B
[080:1-2] Die Interpretation eines Bildes bereitet uns andersartige Schwierigkeiten als die Interpretation eines sprachlichen Textes. Diese Unterschiede sind trivial, aber mir scheint es dennoch nützlich, an sie zu erinnern: das Bild präsentiert, gleichsam in einem Augenblick, was der sprachliche Text nur zeitlich gestreckt mitteilen kann; der Text verwendet – jedenfalls in unserer Schrift – keine analogen Zeichen; das Lesen von Texten ist deshalb eine fortwährende
»Übung«
, Grapheme und Bedeutungen zuzuordnen, und wir können uns dabei auf ebenso fortwährende ähnliche Alltagsübungen stützen (
»Was hast Du gerade gemeint, als Du X sagtest?«
). Über Bilder aber kommunizieren wir nicht mit dieser Regelmäßigkeit; zwar haben sowohl Bilder als auch sprachliche Texte eine
»Syntax«
, am geschriebenen (gesprochenen) Satz aber können wir unmittelbar Subjekt und Prädikat, Tempi, Attribute usw. identifizieren; bei Bildern indessen scheinen wir diese Fähigkeit nicht mit gleicher Zuverlässigkeit zu haben; gleiches gilt für die Semantik, insofern mindestens, als wir bei den
»Wörtern«
– auch wenn sie im Frühneuhochdeutsch des 15. Jahrhunderts geschrieben sind – noch einen beträchtlichen Teil ihrer Bedeutung verstehen, bei Bildern aus jener Zeit aber schon wesentlich weniger, weil uns die Bedeutung der semantischen Trägerelemente (ein Hund, eine Blume, ein kabbalistisches Zeichen, eine Kopfbedeckung, eine Körpergeste usw.) nicht mehr vertraut ist. Bei einem älteren sprachlichen Text brauchen wir in der Regel einige Zeit, um darauf aufmerksam zu werden, daß wir ihn in wichtigen Hinsichten nicht verstehen; bei einem Bild stellt sich dieses Nichtverstehen früher ein. Das |A 39||b 406|alles ist vielleicht ein Artefakt der Tatsache, daß wir – immer noch – in einer literarischen, nahezu vollständig alphabetisierten Kultur leben. Bilder sind deshalb für den Alltag unseres Lebens keine unverzichtbaren Träger von Lebenssinndeutungen mehr; und infolgedessen schrumpft unsere Fähigkeit |B 41|zur Decodierung von Bildern auf die Wahrnehmung von deren Signalfunktionen. Ich denke deshalb, daß das Bildverstehen – besonders das Verstehen von Kunstwerken – in zweierlei Hinsicht für Pädagogen eine wichtige Aufgabe ist: zum Verstehen der Lebensformen vergangener Epochen, der Kultur, die in der Erziehung vermittelt wurde – und zur Einübung in eine praktische Aufgabe, die wir den Kindern heute schulden. Im folgenden versuche ich die Interpretation eines Bildes, das auf den ersten, wohl auch noch auf den zweiten Blick mit Erziehung und Bildung scheinbar nichts zu tun hat. Die
»bildungstheoretische Absicht«
dieses Essays soll durch einige Hinweise erläutert werden.
»Bildungstheoretisch«
nenne ich solche Problemstellungen, die die Auseinandersetzung der Person mit der kulturellen Überlieferung zum Gegenstand haben, und das, was in dieser Auseinandersetzung mit der Person geschieht. Die Teilprobleme, die unter einer derart globalen thematischen Richtungsangabe auftauchen, sind – wie jeder weiß – so vielfältig wie die je historisch besonderen Vorstellungen von der Sache oder die Vielfalt der dazu gegenwärtig vertretenen Positionen. Besonders in diesen letzten Streit will ich |a 174|mich hier nicht einmischen, sondern lediglich die Sichtweisen dieses Essays skizzieren: 1. Die Formierung von Bildungsprozessen folgt je historisch bestimmten Regeln. 2. Sie geschieht nicht nur in Schulen, sondern in allen sozialen Feldern. 3. Regeln sind nicht nur in den gesellschaftlichen Einrichtungen repräsentiert, die die Bildung der nachwachsenden Generation ausdrücklich zum Thema haben, sondern in allen Produkten einer Lebensform. 4. Alle Produkte, die eine Lebensform enthält oder hervorbringt, sind also, der Möglichkeit nach, bildungsrelevant, wie auch alles, was in der Bildung der Person geschieht, für die Lebensform relevant ist. 5. Eine Analyse der für eine Lebensform repräsentativen Produkte (also von Schulen, Lebensläufen, Bildern, Haushaltsbudgets, Formen des ökonomischen Verkehrs, Geselligkeiten, Romanen, Siedlungsformen usw.) ist also zugleich auch, wenn sie als Äußerung der Lebensform im Hinblick auf Grundstrukturen vorgenommen wird, eine Analyse von Bildungsstrukturen.
Ab
schein
ABb
,
ABb
ø
A
(Abb. 1 siehe S. 97)
B
(Abb. 1 siehe S. 81)
ABb
ø
ABb
,
B
[080:11-13] Das Bild, über das ich nachdenke, ist ein Werk der Frührenaissance (Abb. 1 siehe S. 97) (Abb. 1 siehe S. 81). Ein Maler, von dessen persönlichem, alltäglichem Leben man fast nichts weiß, wenn man schon seine Bilder und Schriften nicht zum
»Alltag«
eines solchen Menschen rechnen will, hat es im Herbst des Jahres 1459 zu malen begonnen und Anfang 1460 vollendet1
1Die Datierung des Bildes ist umstritten. Ich folge hier dem Datierungsvorschlag Ginzburgs (1981, S. 176f.), der zwar nicht zwingend ist, mir aber als der plausibelste erscheint.
. Der Maler heißt |a 176| |a 177|Piero della Francesca, sein Bild heißt La Flagellazione (die Geißelung)2
2Lebensdaten Piero della Francescas: geb. 1417 oder etwas früher in Borgo San Sepolcro; Sohn eines Gerbers und Kaufmanns; 1439 Mitarbeiter von Veneziano bei der Herstellung von Fresken in einer Florentiner Kirche; 1449/50 Fresko-Auftrag in Ferrara; Mitte der 50er bis Anfang der 60er Jahre Fresken in S. Francesco in Arezzo (häufig als
»Hauptwerk«
bezeichnet); 1459 Aufenthalt in Rom, Kontakte zu Humanisten (L. B. Alberti); 1460–1470 häufige Aufenthalte beim Herzog von Urbino, Federico da Montefeltro, und vermutlich als Architekt beim Bau des Palazzo ducale beteiligt; teils in dieser Zeit, teils später (in den 80er Jahren) drei theoretische Schriften (über Perspektive, Mathematik und Geometrie); im Alter vermutlich erblindet; gest. 1492 in Borgo.
. Piero war – wie man schon aus der Produktionszeit für dieses Bild vermuten kann, aber auch von anderen Werken weiß – ein langsamer Maler (mindestens bei den Bildern, die er bis 1460 malte). Für dieses Bild hat er sich Zeit genommen, nicht nur für die Konstruktion der
»erzählten«
Geschichte, das Ausmalen der Flächen, die Charakteristik der Figuren, sondern offenbar besonders auch für die Pro|B 44|portionen, die formalen Beziehungen zwischen den Bildelementen. Die Reproduktion gibt einen ungefähren Eindruck von dem Gegenstand meines Interesses. (Es ist ein Tafelbild und mißt 58 x 81 cm.) Mit dem ersten und noch flüchtigen Blick erkennt man, daß es sich um die Geißelung Jesu handelt. Wer die überlieferten Geschichten kennt, entdeckt wohl auch Pilatus, vermißt vielleicht das Volk und die Spötter, findet die Szene ein wenig befremdlich. Die Architektur – das kennt man vielleicht von anderen Bildern mit dieser oder einer ähnli|A 43||b 410|chen Szene – ist wohl aus Verschiedenem gemischt, erweckt im ganzen aber den Eindruck eines durchgehenden
»Stils«
. Aber irgend etwas geschieht im Auge, mit meiner Tätigkeit des Sehens. Ich habe den Eindruck – und ich denke: jeder andere Betrachter hat ihn bei längerem Hinsehen auch –, daß der Blick gleichsam hin-und-her-schwankt zwischen der Geißelungsszene und den drei Männern im Vordergrund rechts. Diese Dreier-Gruppe scheint überhaupt ein Bild für sich zu sein; jedenfalls ist ein Bezug zur Geißelungsszene nicht erkennbar (vorerst), außer eben jener eigentümlichen Suggestion, die Einstellung des Blicks zwischen rechts und links, vorn und hinten dauernd zu wechseln. Darüber hinaus stellen sich vor allem ikonographische Fragen ein:
ABb
Alltags-Deutung
B
88 ff.
B
[080:19] Ich lehne mich hier an die methodologischen Vorschläge Panofskys an (1978, S. 36ff.), der drei Schritte oder Ebenen der Deutung unterscheidet: die Erfassung des
»natürlichen«
Sujets (
»vorikonographische Beschreibung«
), des „konventionellen Sujets (
»ikonographische Analyse«
) und der
»eigentlichen Bedeutung«
oder des
»Gehalts«
(
»ikonographische Interpretation«
). Panofsky bestimmt noch (der zitierte Aufsatz wurde erstmals 1939 veröffentlicht) die erste Ebene als
»pseudoformal «
und ordnet sie eher den gleichsam naiven Akten der Alltags-Deutung zu. Die begrifflichen Mittel der neueren hermeneutischen, besonders der zeichentheoretischen Diskussion (vgl. dazu beispielsweise M. Frank 1980) geben indessen Anlaß, diese Ebene des Verstehens nicht nur als Vorstufe (
»vorikonographisch«
) zu fassen. Vielmehr stellt sich bereits hier – und zwar vor und relativ unabhängig von der ikonographischen Analyse – eine eigentümliche hermeneutische Aufgabe, die nicht nur
»pseudo-formal«
ist, sondern die Formprobleme durchaus schon in ihrer Substanz betrifft – |a 178|eine Ansicht, die schon in Schleiermachers Begriff der
»grammatischen«
Interpretation enthalten ist und wohl auch noch bei R. Barthes in seiner Unterscheidung von
»Form«
,
»Sinn«
und
»Begriff«
sich ausdrückt (vgl. R. Barthes 1964, S. 88 ff.). Das gilt für das Verstehen von |A 44||b 411|
»Texten«
(sprachlichen |B 45|und nicht sprachlichen) überhaupt. In der neueren Kunstentwicklung wurde gar die erste Verstehensebene gelegentlich zum Programm gemacht: die
»konstruktivistische«
Malerei konzentriert sich puristisch auf die ästhethisch-formalen Konfigurationen (auf
»Form«
oder
»Syntax«
also) und zwingt den Betrachter zu vorikonographischem, formalem Verstehen. Angesichts derartiger Bilder kehrt sich Panofskys Hierarchie der Ebenen um: der spontane ikonographische Zugang wird hier gerade verwehrt, erweist sich als Alltags-Attitüde: Verstehen wird überhaupt erst möglich, wenn auch der Interpret des Bildes sein Erkenntnisvermögen auf Proportionen und Regeln konzentriert. Insofern erfüllt diese Richtung moderner Kunst ein altes, aus der Romantik stammendes, aber von Piero della Francesca schon – wenn man so spekulativ reden darf – vorformuliertes hermeneutisches Programm. (In diesem Zusammenhang mag es interessant sein, daß einer der großen
»abstrakten«
Maler – A. Calderara – sich ausdrücklich auf Piero bezieht; vgl. Jochims 1972).
ABb
,
ABb
sicherende
B
nur
ABb
Bildsyntax
ABb
das
ABb
1466
B
theoretischgeometrisch
AB
,
ABb
prospectiva pingendi
ABb
setzt
ABb
rilievo
ABb
.
ABb
ø
B
ArchitekturEntwürfe
ABb
zumindest
B
[080:37] Über Giovanni Bacci also war Piero mit den Kreisen humanistischer, wohlhabender Intellektueller aus Arezzo und Florenz verbunden, die das Geschäft der Väter nicht fortführen mochten, über neue Lebensperspektiven nachdachten, Dialoge und Abhandlungen über Probleme der Philosophie, der Rhetorik, der Kunstkritik, der Philologie (zumal mit Bezug auf die griechische Sprache), der frühbürgerlichen Lebensführung schrieben und dabei die christliche Überlieferung im Kontext einer neu
»entdeckten«
historischen Kontinuität zwischen Antike und Gegenwart auslegten (vgl. dazu z. B. Burckhardt 1925, Garin 1966, Müller 1969, Panofsky 1980). Die Verbindung zwischen Piero und diesen Humanisten ist (zumindest – und über den Kontakt zu L. B. Alberti hinaus) durch drei Daten nahegelegt: Einer der bedeutendsten Humanisten damals, Leonardo Bruni Aretino, hatte mit G. Bacci engen Kontakt. Das zweite Datum: 1439 fand das Konzil zu Florenz statt; als der Kaiser von Byzanz, Johannes VIII. Palaiologus, seinen Einzug in Florenz hielt, war auch Piero in Florenz und malte, zusammen mit dem etwas älteren Domenico di Bartolomeo (genannt Veneziano) Fresken für die Kirche S. Egidio; er begann damit nicht nur seine Malerlaufbahn, sah vermutlich nicht nur den Umzug und den byzantinischen Kaiser (zwanzig Jahre später porträtierte er ihn in einem Fresko der Kirche S. Francesco in Arezzo, mit dem charakteristischen Hut des Kaisers, dem gleichen, den auf der
»Geißelung«
Pilatus trägt. Auftraggeber nicht nur der
»Geißelung«
, sondern auch des Aretiner Freskos war Giovanni Bacci); er bekam vermutlich auch Zugang zu den aus Anlaß des Konzils reichlich versammelten Humanisten. Das dritte Datum ist das Bild selbst: Es ist eine Art humanistisches Lehrstück und spielt in Form und Inhalt auf die Themen an, die jene Intellektuellen beschäftigten.
B
DreierGruppe
ABb
-
ABb
ø
ABb
ø
ABb
ø
ABb
ø
AB
Kontinuität
B
griechischnationaler
ABb
,
ABb
Programmes
AB
»haben «
ABb
ø
B
bildungs-theoreti|B 54|schen
ABB
Gegenstands
B
[080:45-46] Aber das Bild hat nicht nur das politische Thema griechischnationaler Identität, nicht nur das religiöse Thema christlicher und nicht nur das kulturelle Thema humanistischer |a 185|Identität – es hat auch ein ästhetisches Thema: Es eröffnet einen ästhetischen Diskurs, der anders ist, es plädiert nicht für nationale Interessen – dazu sind die griechischen Attribute viel zu verhalten dargestellt; es plädiert nicht für Kreuzzüge – die Geißelungsszene erscheint wie ein erstarrtes Ballett, und keine Person ist so dargestellt, daß sie Aggression auf sich lenken könnte; es plädiert aber auch nicht für die Durchsetzung eines kulturpolitischen Programmes – die Verschachtelung von histo|A 54||b 421|rischen, räumlichen und dialogischen Verhältnissen ist dafür viel zu komplex. Es plädiert – denke ich – für Nachdenklichkeit und Proportion und enthält insofern eine eigentümliche ästhetische Botschaft für den Herzog von Urbino, die historisch beträchtlich über das hinausgeht, was vielleicht Bessarion und Bacci dem Maler angeraten haben: Selbstreflexion. Dies scheint mir gerade für eine Interpretation in bildungstheoretischer Absicht wesentlich, und zwar weniger der Thematik der
»zur Sprache«
gebrachten Selbstreflexion, als der Art wegen, in der das Thema präsentiert wird; es wird nicht gepredigt – eine
»Predigt«
hält allein Bessarion, nicht der Maler – sondern gleichsam in actu vorgeführt. Selbstreflexion (und die dadurch in Gang kommende Identitätsproblematik) kann ja gar kein Inhalt, keine Eigenschaft, kein substantiell Zeigbares sein, sondern es ist sinnvoll (entgegen manchem gegenwärtigen Gebrauch des Wortes
»Identität«
, nach dem man sie etwa
»haben «
könne! ) nur als Verhältnis (
»Proportion«
) denkbar. Das kann deshalb auch nicht als Inhalt eines Textes erscheinen, sondern nur als seine Form (vgl. dazu beispielsweise W. Benjamin, 1973, S. 67ff.) und als die Beziehung, die der Text (hier das Bild) zwischen sich und dem Rezipienten stiftet. In der Form also wird die Tiefenstruktur erkennbar, das im Bild enthaltene Bildungsprinzip; in Panofskys Terminologie: seine ikonologischeStruktur. (Eben diese methodologische Annahme hat Bourdieu offenbar bewogen, seine bildungstheoretischen Hypothesen zum
»Habitus«
an Panofskys Kunsttheorie anzuschließen – vgl. P. Bourdieu 1970, S. 120ff., und ders. 1979, S. 139ff.) Aber diese Struktur des ästhetischen Objekts für sich ist nur die eine Hälfte der ikonologischen/ bildungs-theoreti|B 54|schen Wahrheit; die andere Hälfte ist die pragmatische Struktur der Beziehung zwischen Gegenstand und Rezipient. Die Form des Gegenstands enthält diese Beziehung nur als Möglichkeit; diese kann freilich verfehlt werden; es bleibt dann nur bei
»Halbbildung«
(Adorno), an der allerdings nicht das Produkt (wenn es nicht Konfektion ist) die Schuld trägt, sondern der Rezipient bzw. der Rezeptionsbetrieb. Die Pädagogik hat sich mit diesem Anspruch von Kunst schon immer schwer getan und die Auseinandersetzung mit ihr in die entsprechenden Unterrichtsfächer eingesperrt, statt sie als integrales Medium der Bildung zu begreifen.
B
[080:49]
»Seine Anwesenheit ist in keiner der unzähligen Interpretationen, die nach und nach vorgeschlagen worden sind, in annehmbarer Weise erklärt worden. Sein Gewand, sein Angesicht, seine Haltung scheinen nicht übereinzustimmen mit dem, was ihn umgibt. Er ist barfüßig, mit einer einfachen Tunika bekleidet und steht zwischen zwei Männern in Schuhen, die moderne, fein geschneiderte Gewänder tragen. Weder spricht er (wie der Mann zu seiner Rechten), noch hört er zu (wie der Mann zu seiner Linken). Der feierliche Ernst des ersteren, die Aufmerksamkeit des letzteren berühren ihn nicht. Keine erkennbare Emotion und kein erkennbares Gefühl werfen Falten auf seinem außerordentlich schönen Gesicht. Seine Augen starren auf etwas, das wir nicht sehen. Der junge Mann ist tot«
(Ginzburg 1981, S. 171)
.
ABb
,
B
Weitsicht
ABb
Gesichts-Punktes
B
[080:56]
»Der Vorgang der Projektion eines Gegenstandes auf eine Fläche in solcher Weise, daß das sich ergebende Bild durch die Distanz und den Ort eines
Gesichts-Punktes
determiniert ist, versinnbildlicht gleichsam die Weltanschauung einer Periode, die eine historische Distanz – ganz vergleichbar der perspektivischen Distanz – zwischen sich und der klassischen Vergangenheit eingeschaltet und dem Geist des Menschen einen Platz
im Mittelpunkt des Universums
zugewiesen hatte, genauso wie die Perspektive seinem Auge einen Platz im Mittelpunkt ihrer graphischen Darstellung zuwies«
(Panofsky 1977, S. 346)
.
B
Weitsicht
ABb
ø
ABb
ø
ABb
»uomo universale«
ABb
;
ABb
sind
ABb
der
ABb
»Ceci n’est pas une pipe«
ABb
Rene |A 60||b 427|Magritte
Ab
,Geißelung
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»stile nuovo«
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ø
ABb
,
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Dialogpartner
ABb
.
B
[080:71] In L. B. Albertis Traktat
»Della Famiglia«
(1434) gibt es zum Zeit-Problem eine interessante Dialog-Passage. Nachdem einer der Dialogpartner, Gianazzo, angekündigt hatte, daß es
»drei Dinge«
gebe, die für die Lebensführung des Menschen wesentlich seien, und nachdem er die beiden ersten,
»Seele«
und
»Körper«
, genannt und erläutert hatte, entsteht eine Verzögerung:
»Lionardo: Und das dritte – was wird das sein?
Gianazzo: Oh, ein höchst wertvolles Ding! Diese meine Hände und Augen sind nicht so sehr mein Eigen...
Lionardo: Wunderbar! Was mag das sein?
Gianazzo: Man kann es keinem hinterlassen, nicht verringern, in keiner Weise kann dies Ding dir nicht gehören, sofern du nur willst, daß es dein ist.
Lionardo: Und wenn es mir beliebt, wird es einem anderen gehören?
Gianazzo: Wenn du willst, wird es nicht dein Eigen sein: die Zeit, mein lieber Lionardo, die Zeit, liebe Kinder!«
(Alberti 1962, S. 216f)
.
[080:72] Die
»Moral«
der dann folgenden Erläuterungen besteht darin, daß – im Unterschied zu allen anderen Gütern – die Zeit dem Menschen nur als reine Möglichkeit |B 62|gegeben ist, die nur durch Tätigkeit angeeignet werden kann.
»Für Alberti ist die Zeit im Grunde identisch mit Kultur, sie ist nicht bloße Dauer, sondern Tätigsein,
essercizio
, die Daseinsform der Kultur«
(Batkin 1979, S. 176)
.
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B
Piero della Francesca