»Viele Jahre hattte ich an jedem Morgen aufwachend gedacht, daß ich
den von meinen Erziehern als Verwaltern mir
aufgezwungenen Weg abzubrechen hätte, aber ich hatte
nicht die Kraft dazu, so viele Jahre mußte ich diesen
Weg widerwillig und unter der größten Kopf- und Nervenanspannung gehen, bis ich
urplötzlich die Kraft gehabt habe, den Weg abzubrechen,
zu einer hundertprozentigen Kehrtwendung, an welche ich
selbst am wenigsten geglaubt hatte, aber eine solche
Kehrtwendung ist nur auf dem absoluten Höhepunkt der
Gefühls- und Geistesanstrengung möglich ... Wir haben in
einem solchen lebensrettenden Augenblick einfach gegen
alles zu sein oder nicht mehr zu sein, und ich hatte die
Kraft gehabt, gegen alles zu sein, und bin gegen
alles auf das Arbeitsamt in der Gaswerkgasse gegangen
... Zu deutlich war mir die |A B 133|Konsequenz meiner eigenen
Kraftlosigkeit an diesem Morgen gewesen, als daß
ich wieder einmal nachgeben hätte können: ich
wollte mich nicht vom Mönchsberg stürzen, ich
wollte leben, und so hatte ich an diesem Morgen
kehrtgemacht und war in Richtung Mülln und Lehen
um mein Leben gelaufen, immer schneller und
schneller, alles zurücklassend, was mir zur
tödlichen Gewohnheit geworden war in den letzten
Jahren, tatsächlich und endgültig alles, und ich
flüchtete tatsächlich in Todesangst in das
Arbeitsamt, ich bin nicht hineingegangen in das
Arbeitsamt, wie die meisten hineingehen, ich bin
in Todesangst hineingeflohen, innerhalb weniger Minuten alles in mir und gegen alles
auf den Kopf stellend durch die Müllner und durch
die Lehener Straßen gelaufen und in das Arbeitsamt
in Todesangst. Ich sagte mir jetzt oder nie, daß es im Augenblick sein mußte, war mir klar ... Ich wußte, warum ich die Beamtin im
Arbeitsamt Dutzende von Karteikarten aus dem
Karteikasten heraus nehmen hatte lassen, ich
wollte in die
entgegengesetzte Richtung, diesen Begriff in die entgegengesetzte
Richtung hatte ich mir auf dem Weg in das
Arbeitsamt immer wieder vorgesagt, immer wieder
in die entgegengesetzte
Richtung, die Beamtin verstand nicht, wenn
ich sagte, in die
entgegengesetzte Richtung, denn ich hatte ihr
einmal gesagt, ich will
in die entgegengesetzte
Richtung, sie betrachtete mich wahrscheinlich
als verrückt, denn ich hatte tatsächlich mehrere
Male zu ihr in die
entgegengesetzte Richtung gesagt, wie, dachte
ich, kann sie mich auch verstehen, wo sie doch
überhaupt nichts und nicht das geringste von mir
weiß. Sie a√hatte mir, schon ganz verzweifelt über mich und
über ihren Karteikasten, eine Reihe von Lehrstellen
angeboten, aber diese Lehrstellen waren alle nicht in der
entgegengesetzten Richtung gewesen, und ich mußte ihre Lehrstellenangebote
ablehnen, ich wollte nicht nur in eine andere Richtung, ich wollte in die entgegengesetzte Richtung, ein Kompromiß war unmöglich geworden ... sie
verstand ganz einfach nicht, daß mich nicht die allerbeste Adresse interessierte, sondern nur die entgegengesetzte, sie, die Beamtin, hatte mich ganz einfach gut
unterbringen wollen, aber ich wollte ja gar nicht gut
untergebracht sein, im Gegenteil, ich wollte in die
entgegengesetzte Richtung, immer wieder hatte ich vorgebracht, in die entgegengesetzte
Richtung ... bis die Adresse des Karl
Podlaha in der Scherzhauserfeldsiedlung an
der Reihe gewesen war ... Diese Adresse käme für mich
|A B 134|aber wahrscheinlich
überhaupt nicht in Frage, sagte die Beamtin, ohne den
Satz, die Adresse
kommt für dich nicht in Frage, auch wirklich auszusprechen, alles an ihr und in
ihr behauptete das, aber genau diese Adresse war die |a 83|Adresse gewesen, die für mich in
Frage gekommen war, denn die Adresse des Podlaha war die Adresse genau in der
entgegengesetzten Richtung«
(Thomas Bernhard: Der
Keller, Salzburg 1976)