Schule, Kunst und Leben – Grundfragen der ästhetischen Bildung [Textkritische interaktive Ansicht mit a als Leittext]
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Schule, Kunst und Leben –
Grundfragen der ästhetischen Bildung

[102:1] Eigentlich ist das Thema, über das ich sprechen will, gar nicht vernünftig zu behandeln. Obwohl die drei Stichworte (Schule, Kunst, Leben) in den verschiedenen Schulreformdiskussionen immer wieder, gelegentlich gar inflationär auftauchten, verbindet sie miteinander doch eine ziemlich glücklose Geschichte. Von der ironischen Behauptung Senecas, wir lernten nicht für die Schule, sondern für das Leben, über die Versuche des Comenius, die Schule als Metapher für lebenslanges Lernen zu verwenden, bis zu den reformpädagogischen Ideen unseres Jahrhunderts, die Künstlichkeit dieser gesellschaftlichen Einrichtung wenigstens dadurch zu mildern, daß sie zum sogenannten Leben hin, heute sagen wir: zu den Alltagserfahrungen der Schülerinnen und Schüler geöffnet wird, zieht sich die Linie einer vergeblichen Bemühung, mit der der scharfe Bruch wieder aufgehoben werden soll, der mit der Erfindung dieser merkwürdigen Einrichtung gesetzt war.
[102:2] Zwar schien das Problem um so dringlicher zu werden, je mehr Kinder auf Schulen geschickt wurden, pflichtmäßig. Aber es blieb im Prinzip bei der Regel und der Meinung der humanistischen und reformatorischen Schulmänner des 16. und 17. Jahrhunderts: in der Schule gilt das Gesetz einer organisierten formellen Instruktion, zweckrationales Lernen; und alles Störende, die zuweilen ungeordnet scheinende |b 20|Vitalität der primären Lebenswelten, müsse ferngehalten werden. Das ist auch heute noch die Lage, und sie ist, wie mir scheint, unwiderruflich systembedingt. Damit ist allerdings das kulturelle Unbehagen an dieser Sachlage nicht verschwunden.
[102:3] Die schroffe Grenzziehung zwischen Schule und Leben wird gelegentlich ausgefranst, z. B. in der Grundschule, z. B. in Lehr-Lernstilen, z. B. in Kursen und Arbeitsgemeinschaften der Sekundarstufe II, z. B. in den ästhetischen Fächern. Die Bemühungen also, die Künstlichkeiten des schulischen Lernens mit dem Lebensalltag der Kinder und Jugendlichen zu versöhnen, lassen nicht nach. Warum ist das so?
[102:4] Im Hinblick auf Probleme und Formen der ästhetischen Bildung ist die Sachlage nicht weniger schroff. Was hat denn die Schule mit der Kunst zu tun? Ist sie, die Kunst, nicht eine Angelegenheit von Erwachsenen? Außer daß Schulbücher zum Zwecke des leichteren Lernens mit Holzschnitten illustriert wurden, kam kein Schulmann der frühen Neuzeit – soweit die Quellen mir bekannt sind – auf den Einfall, die Schüler mit den Arbeiten Dürers vertraut zu machen, sie das Notenlesen zu lehren etwa am Beispiel von Madrigal-Partituren Hans-Leo Haslers, oder die Romane von Grimmelshausen in das Curriculum aufzunehmen. Darüber denken wir heute anders – aber gibt es gute Gründe dafür? Zunächst einmal gibt es Gründe dagegen, jedenfalls aus dem Lager der Kunst: Seit die Kunst und die Künstler nämlich ihre eigene Autonomie entdeckten oder propagierten, im 18. Jahrhundert, gibt es dort das Problem der Sezessionen; wer auf sich hält; hält Distanz zu den Akademien, den Malerschulen, so als sei Schule, allemal auf Tradition verpflichtet, der Feind der Kunst. Das ist bis zu Josef Beuys so geblieben.
[102:5] Mit dem Verhältnis schließlich zwischen Kunst und Leben steht es nicht besser. Die Frage, ob die Kunst das Leben bessern könne, also ob es irgendeine Wirkbeziehung zwischen Kunst und praktisch interessiertem Lebensalltag gebe, beantwortete G. Benn höchst skeptisch. Und vergleicht man die Volksbildungsprogrammatik von J. Beuys mit den Reaktionen des Publikums vor seinen Objekten, die Schwierigkeit, die auch fortgeschrittene Studenten mit den Kompositionen Anton Weberns haben, oder weiter in die Vergangenheit zurückgeblickt auf die Capricos Goyas oder die Sinnbilder vom Tod der Kommunikation Manets – dann möchte ich G. Benn recht geben: Weder kann die Kunst das Leben bessernb noch ist sie lehrbar, also schulfähig. Kunst und Schule, Kunst und Leben,
Schule, Kunst und Leben
innerhalb einer Argumentationsfigur – das ist ein abartiges Unterfangen, das ist ein Irrweg, eine Sackgasse, auf die uns Schiller verführt hatte, als er seine
Briefe zur ästhetischen Erziehung
schrieb.
[102:6] So könnte man meinen!
[102:7] Damit nun aber mein Vortrag nicht schon an dieser Stelle und entschieden vorzeitig endet, will ich versuchen, gegen den Strich zu argumentieren, und zwar in drei Hinsichten:
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    [102:8] in Hinsicht auf die Lesbarkeit der Kunst (1),
    [102:9] in Hinsicht auf das Verhältnis von Verstand und Sinnlichkeit (2) und
    [102:10] in Hinsicht auf die Verschiedenheit der Sinne bzw. der Künste (3).
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1. Lesbarkeit

[102:11] Auch Kunst kann
gelesen
werden. Ihr
Alphabet
oder
Lexikon
sind freilich nicht Buchstaben oder Wörter, sondern analoge sinnliche Zeichen. Auch sie
informieren
und tragen also, gewollt oder ungewollt, zur Bildung der Menschen bei. So etwas hatte wohl Papst Gregor der Große im Sinn, als er vor mehr als 1300 Jahren die Bebilderung der Kirchen als wichtiges Mittel zur Instruktion der leseunkundigen Gemeindemitglieder, also fast der ganzen Bevölkerung damals, empfahl. Es ist aber durchaus zweifelhaft, ob die Annahme, auf der seine Empfehlung beruhte, zutraf – nämlich daß die Schrift-Unkundigen wenigstens doch Bilder zu
lesen
imstande seien und also die religiösen Gehalte der Bildbotschaften sich tatsächlich auf diesem Wege aneignen konnten. Über ein Jahrtausend hinweg gibt es nahezu keine Dokumente, die beweisen könnten, daß ein derart unterstelltes Bildverstehen verbreitet gewesen war – ganz kleine soziale Eliten ausgenommen; aber eben diese verfügten zugleich über die Schrift.
[102:12] Diese Skepsis gegenüber Gregors Annahmen gilt natürlich nur dann, wenn vom
Lesen von Bildern
zwar in übertragener Bedeutung , aber dennoch streng und anspruchsvoll gesprochen wird, wenn also auch hier gilt, daß Grapheme einer Bedeutung zugeordnet werden können, daß die Lexeme erst im Rahmen semantischer und syntaktischer Strukturen verstehbar sind usw. Es ist deshalb leichtfertig, anzunehmen, daß Bildsprachen, nur weil sie angeblich leibnäher seien als die Schriftsprachen, so ohne weiteres auch leichter entschlüsselt werden können. Eine andere Hypothese als die Gregors des Großen scheint mir deshalb plausibler: Das Interesse an und die Fähigkeit zu einer Decodierung ikonischer Zeichen ist abhängig von dem Stand der literarischen Entwicklung einer Kultur; unterhalb eines bestimmten Niveaus sind derartige
Zeichen
nur streng kontextgebundene Signale. Zu dieser Hypothese gehört die Zusatzannahme, daß mit der Literarisierung ein Typus von verständiger Tätigkeit erlernt wird, in der die prinzipielle Kompetenz semiologischer Analyse einen wesentlichen Ort hat.
[102:13] Folgt man der Spur dieser Hypothese, dann fällt einem einiges auf, was für die europäische Geschichte der Bildung interessant sein könnte. Im 16. Jahrhundert kam zusammen: der erste starke Schub der Alphabetisierung im Zusammenhang mit dem reformatorischen Schulgründungen; die erste große Welle des Buchdrucks mit – für damalige Verhältnisse – Massenauflagen bis hin zu Raubdrucken und mit häufig reicher Illustration; der Beginn eines Diskurses unter Bildermachern über die Regeln ihrer Produktion (man denke nur an Ikonographie und Perspektive, oder, exemplarisch, an den immer noch schwer entschlüsselbaren
Melancholia
-Holzschnitt
Dürers oder an Holbeins
Gesandte
), schließlich die kurze, aber heftige Phase des |b 22|Bildersturms, die – von Münster abgesehen – in den Niederlanden sich besonders stark akzentuierte, immerhin einer Gegend, in der die Alphabetisierung und zugleich die subtil frühneuzeitliche Malkunst Spitzenwerte erreichte.
[102:14] Die zumeist religiös orthodoxen und traditionell orientierten
Bilderstürmer
begannen zu begreifen – so riskant möchte ich hier einmal spekulieren , daß das Leben von Bildern Informationen transportieren könnte, die subversiv sind. Es schien nicht sicher – in einer kulturellen Lage, in der ikonisches Lesenkönnen gerade erst am Anfang stand , was derjenige lesen und verstehen würde, der sich ernsthaft auf so etwas einließ. Hinzu kam freilich auch noch der ältere Signalcharakter ikonischer Zeichen, die Erinnerung daran, daß Bild und Bildnis das je
Abgebildete
inthronisieren, im Falle des Göttlichen also es unzulässig materialisieren, im Falle des Irdischen es unzulässig erhöhen. – In der nationalsozialistischen Kunstpolitik kam beides zusammen: ein ungebildeter Haß auf das schwer Lesbare (
entartete Kunst
) und die entsprechenden Vernichtungen auf der einen, und die Inthronisierung des Machtgestus in den konformen ästhetischen Produktionen auf der anderen Seite (die dann wiederum den Zerstörungsabsichten anheimfielen, wie, in anderem politischem Kontext, die Denkmäler Stalins im Ostblock oder Perons in Argentinien). Die Geschichte des Bildersturms hat offenbar eine eigentümliche Dialektik, nicht unähnlich der Geschichte der Bücherverbrennungen. Verstehen von Kunst und Verstehen von Sätzen, das scheint in der Tiefenstruktur zusammenzuhängen.

Bildung durch Kunst?

[102:15] Damit ist ein bildungstheoretisches Problem angedeutet, eines, das unsere Geschichte mit den aktuellen Fragen gleichsam zwanglos, selbstverständlich verbindet, allerdings über die Vermittlung unserer Vordenker aus dem 18. Jahrhundert. Daß Kunst in irgendeiner Weise bildend sein könne, davon war nicht nur in der Antike (die ich hier allerdings völlig außer acht lasse), sondern auch seitdem gelegentlich die Rede. Nun aber, im 18. Jahrhundert, wird ausdrücklich die Frage zum Thema, ob sich eine Einwirkung der Kunst auf den Bildungsprozeß des Menschen denken läßt, der über
prodesse und delectare
hinausgeht; und es wird diskutiert, wie diese Einwirkung beschaffen sein könnte, wenn man sie auf die Eigentümlichkeit ästhetischer Gegenstände bezieht und sich nicht etwa mit dem Hinweis auf Formen der
Belehrung
begnügt, die ja nun gewiß von vielerlei Objekten und Interaktionen ausgehen kann.
[102:16] Zu den herausragenden Dokumenten dieser Diskussion gehören Diderots Essays über die
Blinden
und die
Taubstummen
, vor allem aber seine
Salons
,
die 1759 begonnenen Rezensionen der großen Pariser Kunstausstellungen, in denen er immer wieder, in bisweilen quälender Eindringlichkeit, dahinter zu kommen sucht, worauf denn nun die Wirkung der Kunst, insbesondere der Malerei, beruhe. Er behilft sich schließlich mit der Bemerkung, diese Wirkung sei
Magie
– für einen derart resoluten Aufklärer immerhin bemerkenswert. Andererseits heißt es, mit Bezug auf den Maler Chardin:
Wer |b 23|Chardin studiert, ist wahr.
Wie also läßt sich die Wahrheit ermitteln, die in der
magischen
Wirkung der Kunst verborgen liegt?
[102:17] Vergegenwärtigt man sich, daß zur gleichen Zeit Rousseau, der Freund Diderots, den
Emile
schrieb, daß wenig später der Göttinger Mediziner Blumenbach, im Anschluß an französische Autoren, den
Bildungstrieb
erfand, eine vitale vorbegriffliche Kraft, die die Gestalten des Lebens hervorbringe – dann wird etwas deutlicher, was hier gemeint war: Bildung des Menschen ist nicht nur eine Zurichtung seiner Verstandestätigkeit, sondern vollzieht sich auch in der Tätigkeit der Sinne. Ästhetisches
Lesen-Lernen
bedeutet also: Begreifen, was in der Wirkung von Kunst auf den Organismus mit der menschlichen Sinnlichkeit geschieht und wie dieses Geschehen mit Verstand und Begriff verbunden ist.
[102:18] In der Entdeckung dieser Problemstellung liegt eine eigentümliche Dialektik, die sich bis in unsere Tage erhalten hat: Einerseits entsteht mit der Verselbständigung der Kunst als autonomen Kulturbereich die Erwartung, die Objekte, die Zeichenwelt dieses Bereichs auch angemessen
lesen
zu können, andererseits verweisen die Schwierigkeiten des Lesen-Könnens hier auf scheinbar irratio|a 17|nale Komponenten unserer Leiblichkeit.
Einerseits rückt die Kunst damit durchaus an das
Leben
heran – nicht an die kollektiven ritualisierten Schemata des kulturellen Lebens, denn dort war sie vordem lokalisiert, sondern an die Lebendigkeit des einzelnen Subjekts und seine individuelle Bildungsbedeutung , andererseits aber wird sie weiterhin in entscheidender Distanz zur Schule gehalten (in der einzigen Schulschrift, die Diderot verfaßte, dem
Bildungsplan für die Regierung in Rußland
, gibt es auf der Elementar- und Sekundarstufe keine Unterrichtung in dem, für das er doch sonst so beredt und umfänglich tätig war).
[102:19] Liegt das an der Sache, beispielsweise daran, daß die Kunst es angeblich eher mit Vergnügen und Spiel zu tun hat, als mit Arbeit und Ernst, deshalb also auch innerhalb von Schulen eher dysfunktional wäre? Ist die Lage heute eigentlich im Prinzip anders? Zwar hat die Unterrichtung im Medium der bildenden Kunst, der Musik, der Bewegung einen inzwischen unbestrittenen Platz in den Lehrplänen; zu Entscheidungen über Schulerfolg aber tragen sie eher nur subsidiär bei – und dies angesichts der doch wirklich beeindruckenden Anstrengungen der Didaktik der Kunsterziehung. Die Fremdarbeit zwischen Schule und Kunst also scheint zu bleiben. Einzig im Hinblick auf die
Lesbarkeit
ästhetischer Gegenstände konnte sich eine Art didaktischer Optimismus entfalten, mit den Stichworten
Ikonographisches Verstehen
,
Visuelle Kommunikation
oder
Auslegen
.

2. Verstand und Sinnlichkeit

[102:20] Um die Jahrhundertwende vermutete der Sozialphilosoph Georg Simmel, daß die
Kultur der Individuen
mit den Raffinements der kulturellen Objektivation nicht |b 24|Schritt gehalten habe. Man kann diese Vermutung, auf die Gegenwart übertragen, so formulieren: Die Lesbarkeit der Kunst stellt derart schwierige Anforderungen (Diderot hatte es geahnt), daß die Individuen mit ihren Bedürfnissen nach Selbstverwirklichung darin keine Befriedigung finden können. Sie suchen deshalb nach Formen des ästhetischen Ausdrucks, der dem subjektiven Empfinden, der je individuellen Befindlichkeit möglichst nahe ist. Mir scheint, daß Simmels Diagnose zugleich eine Prognose war. Zwar nicht unter dem Namen
ästhetische Bildung
, aber unter dem der
Therapie
oder der
Selbsterfahrung
gedeiht gegenwärtig eine Art ästhetischer Subkultur, in der es gleichsam um die andere Hälfte der ästhetischen
Alphabetisierung
geht.
[102:21] Wenn denn die Künste, wie Diderot vermutete, eine eigentümliche Wirkung auf die Bildung des Menschen haben sollten, dann liegt es nahe, diese Hypothese nicht nur in Richtung auf die Rezeption, sondern auch in Richtung auf ästhetische Produktion zu entfalten. Wenn überdies – wie die neuen ästhetischen Selbsterfahrungspraktiken unterstellen – die eigene ästhetische Tätigkeit etwas zu dem Bewußtsein beizutragen vermag, das das Individuum von sich hat oder entwickelt, dann liegt es nahe, das Verhältnis vonBegriff und Leiblichkeit genauer zu bedenken. Dann wird vielleicht auch verständlich, warum die Hersteller ästhetischer Gegenstände, seit Beginn der Moderne im engeren Sinne, so aggressiv-sensibel auf alles Schulische und Akademische reagieren – und warum die Schule sich hartnäckig so schwer tut, Kunst ohne domestizierende Abstriche in sich aufzunehmen.
[102:22] Derartige Problemstellungen – peinlich zu sagen, denn inzwischen gehört dies zum elementaren Repertoire aller, die sich mit der Bedeutung ästhetischer Theorie für Schule, Unterricht und Erziehung auseinandersetzen – sind innerhalb unserer Kultur zum ersten Mal von Kant und Schiller exponiert worden.
Unter einer ästhetischen Idee
, schrieb Kant,
verstehe ich diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgendein bestimmter Gedanke, d. i. Begriff, adäquat sein kann, die folglich keine Sprache erreicht und verständlich machen kann.
Was Diderot mit dem Wort
Magie
ästhetischer Objekte nur diffus benennen konnte, ist hier, weniger zauberhaft, als ein nachempfindbares Spiel zwischen Einbildungskraft und Begriff gekennzeichnet.
Das hilft weiter. Es macht uns die eigentümlich begriffslose Faszination von Kunstwerken deutlicher, und es verhilft uns, besser zu verstehen, was sich im Vorgang der je eigenen ästhetischen Hervorbringung ereignet.
[102:23] Die Subsumption ästhetischer Zeichen unter die uns je geläufigen Begriffe des Verstandes betrifft gleichsam nur die akademisch-schulische Lesbarkeit ästhetischer Produkte; in dieser Hinsicht sind sie Kulturdinge unter anderen Kulturdingen (wie Schrift, Werkzeug, Wohnungsgrundriß, Waschmaschine, Landkarte, Formel usw.). Als
Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt
, sind derartige |b 25|ästhetische Produkte – oder, wenn wir sie selbst herstellen, unsere Produktionen – etwas kategorial anderes. Sie liegen auf der Grenze zwischen dem begrifflich Geformten und dem
Bildungstrieb
(Blumenbach). Damit ist nun, nimmt man das ernst, ästhetische Bildung ein ziemlich risikoreiches Unternehmen. Man riskiert nämlich, daß die in der Leibhaftigkeit des Subjektes sich meldende Deutungsbedürftigkeit, die begrifflich nicht präformierte Bestrebung, zu einem
adäquaten
Begriff allererst zu finden, in Differenz gerät zu dem, was begrifflich vermessen und in Schulen institutionalisiert ist.
[102:24] Eben dies war für Schiller, in den
Briefen über die ästhetische Erziehung
, das Aufkeimen einer Idee von Freiheit. Preußische Könige und gelegentlich auch unsere Kultusminister (wenngleich der Minister von Baden-Württemberg auch schon mal Schiller als Schullektüre empfiehlt) können sich naturgemäß solche Meinung nicht zu eigen machen. Sie widerstreitet zutiefst – die Schulreformer des 16. und 17. Jahrhunderts konnten das kaum ahnen – dem Zweck moderner Schulen. Schiller wußte das, und er hat es polemisch genug formuliert. Mit gesellschaftlicher Brauchbarkeit, mit dem Einfädeln der jungen Generation in den gerade erreichten Stand praktischer Vernunft und theoretischer Muster der Erklärung/Beschreibung der sogenannten Außenwelt in Begriffen des Verstandes hatte sein Projekt nur wenig, und wenn überhaupt, dann nur vermittelt zu tun.
Im 21. Brief
über die ästhetische Erziehung
heißt es: Alles Ästhetische sei
in Rücksicht auf Erkenntnis und Gesinnung ... völlig indifferent und unfruchtbar.
b
Der Begriff einer lehrenden (didaktischen) oder bessernden (moralischen) Kunst
sei, schreibt Schiller im nächsten Brief, ein Widerspruch, denn
nichts streitet mehr mit dem Begriff der Schönheit, als dem Gemüt eine bestimmte Tendenz zu gebenb
.
[102:25] Das heißt nichts anderes als: Kunstgegenstände und die Tätigkeiten ihrer Hervorbringung verfolgen weder einen moralischen Zweck noch sind sie Mittel der Erkenntnis dessen, was außer uns ist. Sie machen, wie Kant es sagte, die problematische, prekäre Beziehung zwischen unserer leibhaft fundierten
Einbildungskraft
und dem immer schon begrifflich strukturierten Weltverhältnis zum Thema. Eben deshalb stiften die Künste, stiften ästhetische Tätigkeiten
Freiheit
; sie bringen
mich selbst
zum Bewußtsein.
[102:26] Allein: Wir müssen an dieser Stelle des Gedankenganges nicht den anspruchsvollen Begriff der Freiheit bemühen. Es genügt – denke ich , wenn es gelänge, |a 18|die Behauptung zu erläutern, ästhetische Tätigkeiten und Objekte bringen
mich selbst
zum Bewußtsein, und zwar darin, daß sie
viel zu denken
veranlassen, ohne einem Verstandesbegriff adäquat zu sein. Mir scheint, daß dieser Gedanke für den, der an zuverlässiger, d. h. kontrollierbarer Curriculum-Konstruktion, an Lernziel-Taxonomien interessiert ist, schwierig ist, dysfunktional erscheint, dem gesellschaftlichen Zweck der Schule zuwiderlaufend, wenigstens aber irritierend. Um so wichtiger ist, zu prüfen, ob es denn überhaupt ein sinnvoller Gedanke ist.
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[102:27] Es gibt gute Gründe für die Annahme, daß alles Lernen, nicht nur das schulische, immer schon mit begrifflich geformtem Material operiert oder – wie Strukturalisten sagen – daß die Welt, in der wir aufwachsen, lernen und leben, ein Ensemble von Codes ist, wir also schon in der Tiefenstruktur unserer Existenz, und zwar von den allerersten Lernschritten an, eine kulturelle Form reproduzieren, jenseits derer nichts ist, bwas noch sinnvoll sagbar wäre. Demgegenüber läßt sich nun allerdings wenigstens eine Frage geltend machen: Ist es nicht so, daß unser Leib mit seiner Organausstattung auf dieses Ensemble von Codes, auf die kognitiv strukturierte
Welt
re-agiert, also nicht nur auf die Bedeutung der Zeichen, sondern auch auf das, was, als Wahrnehmungsreiz, Träger von Bedeutung und Element von Struktur ist? Das Pissoir, innerhhalb des kulturellen Codes seiner praktischen Verwendung begrifflich gut lokalisiert, steht als
objet trouvé
Duchamps im Museum in einer anderen Ordnung; seine kulturell-praktische Bedeutung wird hier nur noch zitiert; der neue Kontext, das neue Referenzsystem ist die phänomenale Ordnung des empfundenen Leibes, und zwar als Kontrast zur theoretischen und praktischen
Ordnung der Dinge
. In jeder Kinderzeichnung, in vielen Graffitis, in manchen Punk-Inszenierungen geschieht Analoges.
[102:28] Wenn es heißt, daß ästhetische Tätigkeiten und Objekte
mimetisch
seien, also daß sie etwas nachahmen oder gar abbilden, ist zu fragen, was damit sinnvoll gemeint sein kann. Derartige Theoreme unterstellen eine Ähnlichkeitsbeziehung: ist nun das Pissoir in der Bedürfnisanstalt dem Pissoir im Museum ähnlich oder umgekehrt? Was wird in einem Wiesenstück Monets, in Picassos
Guernica
, in einem Bilde Mondrians
nachgeahmt
? Worauf bezieht sich das Mimetische, wenn wir schon so reden wollen, einer pantomimischen Körperbewegung, eines Tanzschrittes oder gar einer Tonfolge? Mir scheint, daß jeder Versuch, die ästhetische Mimesis auf äußere Wirklichkeit zu beziehen – etwa so, daß im ästhetischen Objekt ein
Schein
des Wirklichen hervorgebracht werde – in unlösbare logische Probleme hineinführt. Mit Versuchen, das ästhetische Objekt als Mimesis von Ideen oder als Mimesis guter Praxis, rechten Lebens zu begreifen, verringern sich die Schwierigkeiten nicht (wenngleich Künstler gelegentlich derartige Bezugnahmen für sich und ihre Arbeit in Anspruch nehmen).
[102:29] Was also könnte – wenn wir an dieser alten Vorstellung, ästhetische Produktion habe es mit
Mimesis
zu tun, festhalten wollen – Mimesis, Nachahmung für das ästhetische Panorama der Gegenwart bedeuten? Aristoteles erläuterte Mimesis durch
Offensichtlichmachen
; was also wird
offensichtlich
in der Auseinandersetzung mit unseren ästhetischen Bemühungen? Ich kann – im Rahmen eines knapp bemessenen Vortrags – dazu nur versuchsweise einen heuristischen Vorschlag machen:
offensichtlich
wird, so hätte wohl Kant gesagt, eine starke subjektive Empfindung. Das Mimetische des ästhetischen Ereignisses läge dann darin, daß eine mögliche Empfindung dieser Art
nachgeahmt
wird. Eine mögliche Empfindung ist b an den Leib und seine Organe gebunden; aber sie bringt etwas ins Spiel, das so nicht schon da war, eine Vorwegnahme, eine Antizipation, eine Modifikation oder Variation des schon Bekannten, Vertrauten, Gewohnten – eine Konfrontation also der begrifflich vermessenen Welterfahrung mit dem, was nur vorbegrifflich
empfunden
werden kann. Gegenstand der Mimesis wäre dann also eben diese Differenz: die Bruchstelle zwischen Lesbarkeit und Empfindbarkeit, Verstand und Sinnlichkeit.

Abwesenheit des Sagbaren?

[102:30] Läßt sich, so muß ich nun fragen, die Empfindung an dieser
Bruchstelle
(also sowohl das Objekt der ästhetischen Mimesis als auch die Wirkung des ästhetisch-mimetischen Produktes) genauer beschreiben? Ich kann eine solche Beschreibung hier nur andeuten – und ich kann es nur mit Hilfe eines sonst in der Wissenschaft verpönten Verfahrens, der Introspektion oder Selbstbeobachtung, denke aber, daß jeder, der ernstlich ästhetische Erfahrungen zu machen versucht, mir nicht sogleich widersprechen wird: ästhetische Ereignisse (Objekte und Tätigkeiten) bringen in mir eine eigentümliche innere Bewegung oder eben Empfindung hervor, die ich, als Gefühltes, gut unterscheiden kann von anderen Sinnesempfindungen wie zum Beispiel warm oder kalt, rauh oder glatt, laut oder leise, Hunger, Durst, der Schmerz im Knie oder im Kopf usw. Obwohl jene wie diese durch die Tätigkeit der Sinne hervorgebracht werden, empfinde ich die ersteren in meinem Leib anders lokalisiert, und zwar so, daß ich den Ort nicht genau anzugeben weiß, an dem sie körperlich auftreten. 
[102:31] Zwar kann ich in solchen Situationen sagen:
mir stockt der Atem
,
die Brust wird freier
,
der Puls geht schneller
,
ich habe ein samtenes Gefühl
, aber ich weiß sofort: dies sind nur Metaphern, in denen eine eigentümliche Sprachlosigkeit im Hinblick auf die empfundene Empfindung sich Ersatz sucht. Im scheinbaren Paradox formuliert:
Es ist die Abwesenheit von Sagbarkeit
, die hier die besondere Qualität dieser Empfindung ausmacht; das sprachlich
Leerste
ist das ästhetisch
Dichteste
(Boehm, S. 463).
Das ästhetische Ereignis konfrontiert mich also nicht nur mit dem Problem seiner semiologischen Lesbarkeit, sondern, in einer anderen Dimension, auch gerade meiner prinzipiellen Zeichen-Armut bzw. der Grenze des Begrifflichen.
[102:32] Diese Grenze ist nun allerdings nicht notwendig die Grenze meiner selbst; wie spracharm ich auch immer angesichts dieser Art von Empfindung sein mag: ich bin mir gewiß, daß ich sie so empfinde. Also kann ich darüber kaum mehr sagen, als daß ich mich empfinde. Ich empfinde – um abkürzend zu reden – mein
Selbst
, und zwar an der Grenze zwischen Sagbarem und Unsagbarem, zwischen Begriff und Leiblichkeit, zwischen kultureller Formation und Subjektivität.
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[102:33] Kann man derartiges in Lehrgängen unterbringen? Ich habe dazu keine vernünftige Hypothese. Das
Ich
, das in Schulen gebildet werden kann, ist die erste Person Singular im Satz, d. h. innerhalb der in unseren Verhältnissen und Sprachspielen regulierten Begriffe und Proportionen. Ein Ich, das sich dem entziehen wollte und auf derart vorbegrifflicher Erfahrung bestünde, wäre auf die Dauer wohl kaum schulfähig. Ästhetische Erfahrung verträgt sich eher mit Anarchie als mit organisierter Instruktion.
[102:34] Kann Heinrich von Kleist uns beruhigen? Angesichts eines Bildes von C. D. Friedrich schrieb er, daß er sich fühlte, als seien ihm die Augenlider weggeschnitten, als sei er sich selbst auf schwer |a 19|sagbare Weise konfrontiert und als sei überhaupt die Sprache bei der Beschreibung dieses Bildes völlig unvermögend. Aber er sagte dies alles in einem poetischen Text, der nun seinerseits eine starke ästhetische Wirkung auf mich hat. Ich vermute, daß hier die Linie beginnt, auf der eine Antwort gefunden werden kann: Das vorbegrifflich seiner Selbstempfindungen gewisse Ich kann sich, als sich empfindend angesichts ästhetischer Ereignisse, nur dadurch zur Darstellung bringen, daß es selbst ästhetisch tätig wird. Ästhetische Produktion wäre demnach ein Diskurs in Metaphern. Ästhetische Mimesis wäre die sinnfällige Nachahmung der balancierten Position des Selbst zwischen Verstand und Sinnlichkeit, zur kruden Vitalität ebenso in Distanz wie zur begrifflich vermessenen Kultur. Ebendies nennen wir Selbstreflexion; ebendies ist der
choc
, den Baudelaire mit seiner Poesie im Sinne hatte.

3. Die Verschiedenheit der Sinne

[102:35] Dieses vorbegriffliche Selbst, das das Ich im Auge hat (
Reflexion ist das Auge, das sich selber sieht
, Fichte), wenn es
sich
meint, wird seiner selbst nicht unvermittelt ansichtig, sondern nur das Medium der Sinne, und die sind verschieden. Das Wort
Kunst
, so wie es unsere Kultur semantisch eingespielt hat, läßt uns vornehmlich an die sogenannte bildende Kunst denken. In Hinsicht auf Probleme der ästhetischen Bildung muß es aber geradezu als abartig erscheinen, daß wir von
Kunsterziehung
nur im Hinblick auf diese sprechen. Es gibt, wie jeder weiß, viele Künste; und diese sind an die Vielheit der Sinne bzw. deren Medien oder vorzügliche Objekte/Sinnesreize gebunden.
[102:36]
Gebunden
: das heißt, daß sie Regeln folgen, die einerseits in dem Organ, das sie ermöglicht, andererseits in einer Form, die sie kulturell variiert, fundiert sind. Die Tätigkeit unserer Sinne ist nicht geschichtslos. Sie folgt der Geschichte des jeweiligen Mediums, obgleich sie sich im Material dessen bewegt, was unserer Organausstattung zugänglich ist. Eine Theorie der ästhetischen Bildung müßte deshalb differenziell verfahren. Einige der dabei auftauchenden Probleme will ich abschließend kurz skizzieren, und zwar mit Bezug auf Bild, Ton und Bewegung.
[102:37] Nehme ich die bisher vorgebrachten Argumente zusammen, dann läßt sich sagen, daß an ästhetischen Ereignissen mindestens drei Komponenten beteiligt sind: die |b 29|Physiologie des jeweiligen Sinnes, das ästhetische
Material
und die zwischen Verstand und Sinnlichkeit operierende Reflexion. Der Verschiedenheit der Sinne und des Materials wegen liegt die Hypothese nahe, daß, in Abhängigkeit von jenen, je andere Aspekte von Selbstempfindung aktiviert werden, ein je besonderer Bildungssinn ins Spiel tritt.
  • [102:38] Der Gesichtssinn geht am entschiedensten in die Ferne und schafft Distanz. Das zeigt sich beispielsweise schon im Malvorgang selbst: ich kann innehalten und auf das eben Begonnene zurückblicken. Obwohl elementar in Farb- und Formwahrnehmungsmöglichkeiten fundiert, ist das Auge den historisch bestimmten visuellen Beständen unserer Kultur konfrontiert und schafft die ästhetisch-bildnerische Tätigkeit ihr Reflexionsmaterial aus diesen, akzentuiert also am ehesten oder am plausibelsten die Entgegensetzung von herrschenden Codes der optisch zugänglichen Umwelt und vorbegrifflich leibhaften Ich-Empfindungen.
  • [102:39] Das Ohr ist im Unterschied dazu viel stärker propriozeptiv, selbstwahrnehmend organisiert und zudem unausweichlich an fließende Zeit gebunden. Scheint die Frage, ob Bilder etwas Äußeres abbilden, wenigstens noch selbstverständlich, ist im Hinblick auf Musik sofort einleuchtend, daß sie ins Leere geht. Ihr Material ist von vornherein als kulturell-historisches Artefakt erkennbar – im Falle der europäisch neuzeitlichen Musik beispielsweise seine Abhängigkeit von der Erfindung der Notenschrift und den damit gesetzten Parametern. Einerseits geht der Ton, wie es in alten Texten immer wieder heißt, rascher zu Herzen, trifft also das empfindliche Subjekt eher als optische Eindrücke; andererseits aber scheint das Ohr
    konservativer
    zu sein als das Auge; viele, denen die moderne Malerei schon längst kein irritierend Fremdes mehr ist, haben immer noch große Schwierigkeiten, ästhetisches Wohlgefallen beim Hören von Zwölftonmusik, also aus den zwanziger Jahren, zu empfinden.
  • [102:40] Wiederum anders stellen sich die Probleme im Falle der Bewegung. Sie liegt am dichtesten an der eigenen Leibwahrnehmung. Wenn wir uns bewegen, geben wir ziemlich viel von uns selbst den anderen preis. Andererseits aber ist die Auseinandersetzung mit der Schwerkraft und mit der Tatsache, daß wir unseren Leib als
    Instrument
    benutzen können, nun wirklich kein Problem dieses oder jenes Individuums, sondern ein Problem menschlicher Subjektivität, ein Gattungsproblem. Im Tanz erneuert sich immer wieder die elementare Erfahrung des Kindes in dem Augenblick, in dem es ihm gelingt, sich aufzurichten, zu gehen und den drohenden Fall balancierend abzuwenden. Die Veränderung von Tanzstilen in der Geschichte – beispielsweise von der Pavane zur Volte, vom Menuett zum Walzer, vom Foxtrott zum Rock, vom Gruppentanz zum individuellen Ausdruckstanz usw. – ist deshalb, wie ich vermute, ein hervorragender Seismograph für die Veränderung von Lebensgrundstimmungen, für das Verhältnis des Individuums zur Gemeinschaft, für den Stand der kulturellen Reflexion über Besonderes und Allgemeines.
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[102:41] Das sind nur Andeutungen. Ich konnte hier nur die Aufgabe skizzieren, nicht aber die damit verbundenen Fragen beantworten. Sollten wir immer noch Schillers Idee einer
ästhetischen Erziehung des Menschen
für diskutabel und praktisch relevant halten, dann wäre mindestens viererlei zu tun:
  • [102:42] eine bildungstheoretische Begründung des je besonderen Bildungssinnes unserer ästhetischen Organe;
  • [102:43] eine Erläuterung der Bedeutung ästhetischer Ereignisse für unsere Empfindung und die reflektierende Tätigkeit des Ich;
  • [102:44] eine genauere Bestimmung der Bildungswirkung ästhetischer Ereignisse mit Bezug auf deren Rezeption einerseits und der eigenen ästhetischen Tätigkeit andererseits;
  • [102:45] eine Klärung der Frage, welchen Ort denn eine derart verstandene ästhetische Bildung im Kontext schulischer Curricula hat.
[102:46] Mindestens die letzte Frage ist, so scheint es, längst entschieden. Die Kunstfächer sind etabliert. Aber um welchen Preis? Sie haben sich, wenn ich derart zugespitzt reden darf, den Normalitätserwartungen der Lehrpläne gefügt; sie haben sich eingefädelt und eingerichtet in der begrifflich-curricular vermessenen Welt; sie rechtfertigen sich mit Hinsicht auf Nützlichkeit, und sei es nur die demokratische Nützlichkeit intellektueller Kritik, jedenfalls theoretisch und praktisch. Das schlechterdings Nutzenlose der ästhetischen Erfahrung, gelegentlich als elitär verunglimpft, das einerseits entschieden Intim-Private, andererseits Allgemein-Subjektive im ästhetischen Akt, das vorbegrifflich Nicht-|a 20|Meßbare der korrespondierenden Erlebnisse, die dabei sich einstellenden Gewißheiten gerade in Opposition zu den gesellschaftlich-praktisch eingespielten Codes, die Plötzlichkeit und der Choc in den starken ästhetischen Empfindungen – all dies bleibt auf der Strecke, und zwar notwendigerweise.
[102:47] Es widerstreitet zutiefst, jedenfalls innerhalb der ästhetischen Szenarios der Moderne, allem, was wir mit Schulen vernünftigerweise beabsichtigen. Freilich gibt es gelegentlich Durch- oder Ausbrüche. Immer wieder gelingt es Lehrern, den ästhetischen Schein (videt? lucet?) elementarer Subjekt-Erfahrung aufleuchten zu lassen. Aber das sind, systemnotwendig, Ausnahmen. Kunst und Schule, denke ich, sind sich so fremd wie je zuvor. Psychologisierende Deutungen, um eine Versöhnung bemüht dadurch, daß sie ästhetische Objekte als Psychosymbolik, als charakterologischen oder entwicklungsgerechten Ausdruck interpretieren und daraus gelegentlich gar curriculare Entwicklungsreihen normativ konstruieren, führen von der Brisanz ästhethischer Ereignisse eher weg.
[102:48] Aber all dies, sollte es zutreffen, muß uns nicht entmutigen. Im Gegenteil: Im ersten Abschnitt versuchte ich zu erläutern, was ästhetische Alphabetisierung heißen könnte: das Bilden der Fähigkeit, ästhetische Zeichen überhaupt erst lesen, und, in der eigenen Tätigkeit, setzen zu können. Das ist eine Propädeutik ästhetischer Erfahrung. |b 31|Nirgends, soweit ich weiß, wurde das besser und überzeugender praktiziert als im Bauhaus. Ich habe Sie in diesem Vortrag kaum mit längeren Zitaten behelligt. Nun aber, zum Schluß, möchte ich Ihnen eines zumuten, das, obwohl am Ende stehend, wieder an den Anfang führt, an den propädeutischen Beginn ästhetischer Bildung.
[102:49] In seiner ersten Vorlesung am Bauhaus 1921 begann Paul Klee so: Nach einem Hinweis auf die Bedeutung des Wortes
Analyse
für den Chemiker:
In unserem Betrieb sind die ... Beweggründe zur Analyse natürlich andere. Wir machen keine Analysen von Werken, die wir kopieren möchten oder denen wir mißtrauen ... Wir untersuchen die Wege ... um durch die Bekanntschaft mit den Wegen selber in Gang zu kommen ... Wir sind Bildner und werden uns hier daher naturgemäß auf formalem Gebiet bewegen. Ohne darüber zu vergessen, daß vor dem formalen Anfang oder einfacher vor dem ersten Strich eine ganze Vorgeschichte liegt, nicht nur etwa die Sehnsucht, die Lust des Menschen, sich auszudrücken, nicht nur die äußere Notwendigkeit dazu, sondern ein allgemeiner Zustand der Menschheit ... Aber noch mehr muß ich hier betonen ... daß uns das tiefste Gemüt, die schönste Seele nichts nützt, wenn wir die dazugehörigen Formen nicht bei der Hand haben. – Hier heißt es auf den vereinzelten Zufallstreffer verzichten, der dem Dilettanten einmalige Ehre macht ... [102:50] Nach diesen allgemeinen Voraussetzungen beginne ich da, wo die bildnerische Form überhaupt beginnt – beim Punkt, der sich in Bewegung setzt.
b
Gottfried
b
Joseph
b
Capriccios
b
Gottfried
b
,
b
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b
ø
b
.
b
  1. 1.
    [102:8] in Hinsicht auf die Lesbarkeit der Kunst
  2. 2.
    [102:9] in Hinsicht auf das Verhältnis von Verstand und Sinnlichkeit
  3. 3.
    [102:10] in Hinsicht auf die Verschiedenheit der Sinne bzw. der Künste.
b
,
b
-
b
-
b
Verstehen von Kunst und Verstehen von Sätzen, das scheint in der Tiefenstruktur zusammenzuhängen.
b
ø
b
-
b
[102:18a] In der Entdeckung dieser Problemstellung liegt eine eigentümliche Dialektik, die sich bis in unsere Tage erhalten hat: Einerseits entsteht mit der Verselbständigung der Kunst als autonomen Kulturbereich die Erwartung, die Objekte, die Zeichenwelt dieses Bereichs auch angemessen
»lesen«
zu können, andererseits verweisen die Schwierigkeiten des Lesen-Könnens hier auf scheinbar irratio|a 17|nale Komponenten unserer Leiblichkeit.
[102:21b] Einerseits rückt die Kunst damit durchaus an das
»Leben«
heran – nicht an die kollektiven ritualisierten Schemata des kulturellen Lebens, denn dort war sie vordem lokalisiert, sondern an die Lebendigkeit des einzelnen Subjekts und seine individuelle Bildungsbedeutung -, andererseits aber wird sie weiterhin in entscheidender Distanz zur Schule gehalten (in der einzigen Schulschrift, die Diderot verfaßte, dem
»Bildungsplan für die Regierung in Rußland«
, gibt es auf der Elementar- und Sekundarstufe keine Unterrichtung in dem, für das er doch sonst so beredt und umfänglich tätig war).
b
ästhetische Bildung“
b
von Begriff
b
[102:21a] Wenn denn die Künste, wie Diderot vermutete, eine eigentümliche Wirkung auf die Bildung des Menschen haben sollten, dann liegt es nahe, diese Hypothese nicht nur in Richtung auf die Rezeption, sondern auch in Richtung auf ästhetische Produktion zu entfalten. Wenn überdies – wie die neuen ästhetischen Selbsterfahrungspraktiken unterstellen – die eigene ästhetische Tätigkeit etwas zu dem Bewußtsein beizutragen vermag, das das Individuum von sich hat oder entwickelt, dann liegt es nahe, das Verhältnis von Begriff und Leiblichkeit genauer zu bedenken.
[102:21b] Dann wird vielleicht auch verständlich, warum die Hersteller ästhetischer Gegenstände, seit Beginn der Moderne im engeren Sinne, so aggressiv-sensibel auf alles Schulische und Akademische reagieren – und warum die Schule sich hartnäckig so schwer tut, Kunst ohne domestizierende Abstriche in sich aufzunehmen.
b
ø
b
[102:22a] Derartige Problemstellungen – peinlich zu sagen, denn inzwischen gehört dies zum elementaren Repertoire aller, die sich mit der Bedeutung ästhetischer Theorie für Schule, Unterricht und Erziehung auseinandersetzen – sind innerhalb unserer Kultur zum ersten Mal von Kant und Schiller exponiert worden.
[102:22b]
»Unter einer ästhetischen Idee«
, schrieb Kant,
»verstehe ich diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgendein bestimmter Gedanke, d. i. Begriff, adäquat sein kann, die folglich keine Sprache erreicht und verständlich machen kann.«
Was Diderot mit dem Wort
»Magie«
ästhetischer Objekte nur diffus benennen konnte, ist hier weniger zauberhaft, als ein nachempfindbares Spiel zwischen Einbildungskraft und Begriff gekennzeichnet.
[102:22c] Das hilft weiter. Es macht uns die eigentümlich begriffslose Faszination von Kunstwerken deutlicher, und es verhilft uns, besser zu verstehen, was sich im Vorgang der je eigenen ästhetischen Hervorbringung ereignet.
b
sind Kulturdinge
b
adäquaten“
b
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.
b
.
b
.
b
[102:24a] Eben dies war für Schiller, in den
»Briefen über die ästhetische Erziehung«
, das Aufkeimen einer Idee von Freiheit. Preußische Könige und gelegentlich auch unsere Kultusminister (wenngleich der Minister von Baden-Württemberg auch schon mal Schiller als Schullektüre empfiehlt) können sich naturgemäß solche Meinung nicht zu eigen machen. Sie widerstreitet zutiefst – die Schulreformer des 16. und 17. Jahrhunderts konnten das kaum ahnen – dem Zweck moderner Schulen. Schiller wußte das, und er hat es polemisch genug formuliert. Mit gesellschaftlicher Brauchbarkeit, mit dem Einfädeln der jungen Generation in den gerade erreichten Stand praktischer Vernunft und theoretischer Muster der Erklärung/Beschreibung der sogenannten Außenwelt in Begriffen des Verstandes hatte sein Projekt nur wenig, und wenn überhaupt, dann nur vermittelt zu tun.
[102:24b] Im 21. Brief
»über die ästhetische Erziehung«
heißt es: Alles Ästhetische sei
»in Rücksicht auf Erkenntnis und Gesinnung ... völlig indifferent und unfruchtbar«
.
»Der Begriff einer lehrenden (didaktischen) oder bessernden (moralischen) Kunst«
sei, schreibt Schiller im nächsten Brief, ein Widerspruch, denn
»nichts streitet mehr mit dem Begriff der Schönheit, als dem Gemüt eine bestimmte Tendenz zu geben.«
.
b
,
b
-
b
wir also schon in der Tiefenstruktur unserer Existenz, und zwar von den allerersten Lernschriften an, eine kulturelle Form reproduzieren, jenseits derer nichts ist,
b
innerhalb
b
Kontrast
b
Graffiti
b
Theoreme
b
ästetischen
b
et|b 27|was anderes als eine wirkliche. Auch die mögliche Empfindung ist
b
so
b
.
b
[102:31a] Zwar kann ich in solchen Situationen sagen:
»mir stockt der Atem«
,
»die Brust wird freier«
,
»der Puls geht schneller«
,
»ich habe ein samtenes Gefühl«
, aber ich weiß sofort: dies sind nur Metaphern, in denen eine eigentümliche Sprachlosigkeit im Hinblick auf die empfundene Empfindung sich Ersatz sucht. Im scheinbaren Paradox formuliert:
»Es ist die Abwesenheit von Sagbarkeit«
, die hier die besondere Qualität dieser Empfindung ausmacht; das sprachlich
»Leerste«
ist das ästhetisch
»Dichteste«
.
[102:31b] Das ästhetische Ereignis konfrontiert mich also nicht nur mit dem Problem seiner semiologischen Lesbarkeit, sondern, in einer anderen Dimension, auch gerade meiner prinzipiellen Zeichen-Armut bzw. der Grenze des Begrifflichen.
b
Caspar David
b
Augenlieder
b
wird.  Ästhetische
b
 
b
ästhetischen Erziehung des Menschen
b
vielerlei
b
NichtMeßbare
b
ästhetischer
b
selber
b
ein allgemeiner Zustand der Menschheit
b
noch
b
beginne