Nachdenken über Erziehung – Schwierigkeiten mit der Moderne [Textkritische interaktive Ansicht mit a als Leittext]
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Nachdenken über Erziehung – Schwierigkeiten mit der Moderne

[143:1] Dass SieA zur Eröffnung einer Tagung, die doch offenbar an praktischen Problemlösungen interessiert ist, jemanden bitten, also mich, der eher dem Bereich akademischer, forschungsgestützter Argumentation zugehört als dem Bereich pädagogischer Praxis, lässt mich vermuten, dass Ihnen ein Blick aus der Distanz willkommen ist. Das fällt denjenigen, die sich Pädagogen nennen, nicht ganz leicht, meint der Name
Pädagogik
doch zumeist zweierlei: eine gesellschaftliche Tätigkeit, die sich auf die Praxis des Umgangs der Generationen miteinander bezieht, und eine Form des Argumentierens, die diese Tätigkeit sich zum Gegenstand macht. Sie werden also von mir, so hoffe ich, keine praktischen Empfehlungen für die Praxis von Schule und Sozialarbeit und all dessen, was, mit Bezug auf den Umgang der Generationen miteinander, gesagt werden könnte, erwarten, sondern nur eine (distanzierte) Beschreibung von (möglichen) Argumentationen. Zu den Argumentationen gehören auch die im gegenwärtigen Diskurs vorgeschlagenen Orientierungen, die zwar die alltägliche Praxis betreffen können, ihrerseits aber aus eher allgemeinen gegenwartsdiagnostischen Optionen gefolgert werden.
[143:2] In dieser Absicht werde ich die folgenden Fragen behandeln: 1. Gegenwärtiges Krisengerede, 2. Grundthemen der Erziehung und Bildung, 3. Beson|a 16|derheiten des ausserschulischen Feldes und 4. Zwei Konstruktionen von
Pädagogik
.

1. Krisengerede

[143:3] Wer von
Krisen
redet, darf zumeist der öffentlichen Aufmerksamkeit sicher sein. Andererseits ist es wie beim Roulette, nur dass der Croupier hier nicht sofort auf
rouge
oder
noir
erkennen lässt. Die Prüfung des Befundes dauert einige Zeit; inzwischen steigen die Auflagen der Diagnostiker; der materielle AGewinn ist ihnen sicher.
[143:4]
Krise
nennen wir, in Anlehnung an die medizinische Diagnostik, eine Situation, in der es um Leben oder Tod geht;
Krise
meint aber, jedenfalls nach der ursprünglichen Bedeutung dieser Vokabel, auch schon eine Lage, in der nach wahr oder unwahr, richtig oder falsch, gerecht oder ungerecht entschieden werden muss. Nach dieser zweiten Bedeutung lebt unsere Gattung beständig in
Krisen
. Das Krisengerede indessen profitiert von der dramatischen medizinisch-diagnostischen Konnotation, so als stünde Wesentliches auf dem Spiel.
Offensichtlich befindet sich die Pädagogik in einer tiefen Krise, die alle Ebenen erfasst hat, die dafür in Frage kommen
(Giesecke 1996, S. 9)
, so heisst es dann beispielsweise. Schaut man |A 34|sich dann aber die Befunde an, auf die derart kühne Behauptungen sich zu gründen versuchen – es ist übrigens ein Charakteristikum dieser Art von Literatur, dass sie mit der zuverlässigen Ermittlung von Tatsachen relativ grosszügig umgeht –, dann stösst man auf
alte Hüte
, d.h. auf Problemstellungen, mit denen unser Erziehungs- und Bildungssystem seit gut 200 Jahren zu tun hat. Ich nenne einige Beispiele:
  • [143:5] Zur
    Krise
    der Schule:
    Seit der französischen Revolution, spätestens seit Humboldts Argumentationen und der preussischen Bildungsreform vor knapp 180 Jahren gibt es, wenn man so reden will, eine Dauerkrise im Hinblick auf die Gestalt des Curriculums. Das ist nicht zu beklagen, sondern ein akzeptabler Sachverhalt. Wenn die Diagnose stimmt, dass moderne Gesellschaften es mit einer Beschleunigung ihrer Entwicklung |a 17|zu tun haben, dann müssen Lehrpläne solchen Veränderungen Rechnung tragen. In eine
    Krise
    geräte dann ein Bildungswesen, das dazu nicht mehr in der Lage ist. Ähnliches gilt für die Erziehungskomponente des Unterrichts: Wenn nun tatsächlich 100 % der nachwachsenden Generation in Schulen versorgt werden, dann wächst der Schule A eine
    erzieherische
    Komponente zu, über das Unterrichten hinaus. Dass sich damit Schwierigkeiten, besonders auch für den Lehrerberuf, einstellen, kann gar nicht bestritten werden. Eine kulturelle
    Krise
    würde allerdings dann riskiert werden, wenn die Schule und ihr professionelles Personal die Durchlässigkeitszumutung A konsequent und organisiert verweigern würden. Derartiges aber ist nicht in Sicht.
  • [143:6] Zur Krise der Familie: Sie befindet sich, wenn man das Vokabular des Krisengeredes verwenden will, seit 250 Jahren in einer Dauerkrise. Zunächst musste sie sich, im Unterschied zu den Haushaltseinheiten vorangegangener Jahrhunderte, als kleiner privater Binnenraum mit grosser Dichte emotionaler Beziehungen Abehaupten. Dann geriet sie unter den Druck der Erwartungen des öffentlichen Unterrichtssystems, bis zum Kindergarten hinab. Sie musste sich fragen, ob sie ein eigenständiger Ort des Lebens ist oder nur eine Zuliefer-Instanz für institutionelle Bildungskarrieren. Schliesslich, in unseren Jahrzehnten, wird die Konkurrenz zu anderen Instanzen der Sozialisation hervorgehoben, gelegentlich auch beklagt. Freilich nehmen die
    Kids
    vielerlei ausserfamiliare und ausserschulische Erfahrungsfelder in Anspruch: die Peer-Groups, das Fernsehen, die Medien überhaupt, das Lernen am Computer (den Eltern zumeist noch fremd), die Disco, die Fussgängerzonen u. ä.. Aber sie kehren von diesen Erfahrungen immer wieder, jedenfalls bis zum 14. oder 16. Lebensjahr, in diese Haushaltseinheit zurück. Ich hätte – trotz der unbestreitbaren, aber nur gelegentlichen, pathogenen Struktur von Familien – keinen Grund, hier von
    Krisen
    zu reden. |A 35|Eher schon schiene mir dieses Etikett angebracht angesichts der enormen Schwierigkeiten, die ein Landarbeiter-Haushalt um 1860 hatte, sich in das proletarische Milieu irgendeiner europäischen Metropole einzufädeln. Das, damals, könnte man als Krise des bürgerlichen Familienkonzepts bezeichnen. Was wir heute erleben, sind eher Nachhutgefechte, aber keine
    Krisen
    . |a 18|Es sind Anpassungserfordernisse an den Prozess fortschreitender Modernisierung.
  • [143:7] Zur Krise der Sozialpädagogik: Im Hinblick auf dieses Feld pädagogischer Praxis, gemeinhin Kinder- und Jugendhilfe genannt, gilt Ähnliches. Von einer
    Krise
    liess sich allenfalls reden, als im Bereich des damaligen Deutschen Reiches, nach dem Ersten Weltkrieg, die nur auf sozialisatorische Kontrollhandlungen erpichte Jugendpflege und Jugendfürsorge des Kaiserreichs mit einem Entwurf von Jugendwohlfahrtspflege konfrontiert wurde, der
    Hilfe
    statt
    Kontrolle
    im Auge hatte; wenngleich noch eher halbherzig. Damit war eine
    kritische
    Lage signalisiert, die bis heute ihre Problemkontur nicht verloren hat. Wir sind also Erben dieser Lage – bis hin zu den Fragen, die sich nicht nur für die aktuellen Probleme der Heimerziehung, des Streetwork, der verschiedensten therapeutischen Bemühungen ergeben, sondern auch für die Frage, was denn noch sinnvolle Jugendarbeit oder Jugendverbandsarbeit sein könnte. Letztere kam, in den fünfziger und sechziger Jahren, tatsächlich in eine Krise, als nämlich sich zeigte, dass die Mitgliederzahlen derart schrumpften, dass das Konzept ausserschulische Bildung überhaupt fragwürdig zu werden drohte. Mit einiger Verzögerung geriet die Heimerziehung unter Druck und wurde, endlich, genötigt, sich auf die Hilfe für ihre Klientel einzulassen und sich nicht mehr als ein Ensemble von Kontrollhandlungen zu begreifen. Die modischen Vokabeln wie etwa
    Lebensweltorientierung
    indizieren keine Krise, haben inzwischen auch keinerlei
    Brisanz
    mehr, sondern zeigen nur den normalen Gang der Ereignisse in modernen differenzierten und die Würde ihrer Bürger achtenden Sozietäten an.
[143:8] Das aktuelle Krisengerede will mir also, als pädagogische Rede, nicht einleuchten. Die historisch je ermittelbaren tatsächlich dramatischen Krisen sind im Übergang zur bürgerlichen Demokratie zu finden, mal früher, mal später. Womit wir heute – in Schule, Familie und Jugendhilfe – konfrontiert sind, das sind Anpassungsprobleme an die sich beständig verändernden Bedingungen der Sozialstruktur.
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[143:9] In dieser Hinsicht könnten uns nun allerdings tatsächlich Krisen bevorstehen, wenn wir uns nicht schon mittendrin befinden sollten. Ich sehe zwei solcher Krisenpotentiale, die nun aller|A 36|dings nicht der Pädagogik entstammen, sondern ihr vorgegeben sind: die Krisen des ökonomischen Systems und die zu erwartenden Schwierigkeiten im Blick auf multikulturelle oder multiethnische Gesellschaften. Beide Problemstellungen bringen die pädagogische Überlieferung und die in demokratischer Attitüde entworfenen Selbstverständlichkeiten der Egalité und Fraternité in praktische und theoretische Dilemmata. Die Pädagogik, als praktische wie als theoretische Tätigkeit, muss die Folgen verarbeiten, die sich daraus für ihr eigenes Feld ergeben. Eine
Krise
dieses gesellschaftlichen Teilsystems könnte sich allerdings dann auch hier einstellen, wenn dieses sich als unbeweglich erwiese und das angeblich
bewährte Alte
als Problemlösung empfehlen würde oder wenn, innerhalb der wissenschaftlichen Bearbeitung solcher Probleme, die zuhandenen Argumentationen versagen sollten (Lenzen 1996). Mit anderen Worten: Wer die
Krisen
-Rhetorik liebt, wird sie allemal herbeireden können. Ich liebe diese Rhetorik nicht und möchte deshalb einfach nur von dem sprechen, was mir relativ dauerhaft wichtig scheint.

2. Grundthemen der Erziehung und Bildung

[143:10] Die Titelfrage dieser Tagung, nämlich ob die Pädagogik sich als
Reparaturwerkstatt
für misslingende Sozialisation oder ob sie sich als
Zukunftsschmiede
verstehen solle, hat nicht nur in der Wahl dieser Opposition, sondern schon in den Vokabeln etwas ProvozierendesA. Dass Pädagogik sich einerseits mit Vergangenheiten, andererseits mit Zukünftigem befasst, wird seit vielen hundert Jahren niemand leugnen. Inwiefern aber zur Beschreibung dieser Verhältnisse mechanistische Metaphern tauglich sind, ist seit 250 Jahren, seit La Mettries
homme machine
, strittig. Die Maschinen-Metapher, aber auch die ihr entgegengesetzte einer dynamischen Ganzheit des
Organismus
hat einige Plausibilität. Überdies waren sie in der Geschichte des pädagogischen Denkens ziemlich produktiv. Da dies aber ein eigenes Thema wäre und ich zu beschreiben hätte, welche Richtungen mit der Wahl solcher Metaphern eingeschlagen werden und wie sie sich zueinander verhalten, verzichte ich auf solche Erörterungen (vgl. Meyer-|a 20|Drawe 1996). Ich bleibe also gewissermassen
unterhalb
solcher denkstrategisch wichtigen Problemstellungen.
[143:11] Jeder Versuch,
Grundthemen
zu ermitteln, enthält das Risiko, das komplexe Feld von Praktiken und Forschungen über Gebühr zu stilisieren, zumal dann, wenn man sich auf wenige zu beschränken sucht. Unabhängig von deren institutioneller Lokalisierung möchte ich die folgenden vier Themen in die Aufmerksamkeit, in den Vordergrund rücken: Generation, univer|A 37|salistische moralische Orientierungen, Interkulturalität und die ästhesiologischen Komponenten der Bildung des Menschen. Alle vier Themen haben den Vorteil, pädagogisch Allgemeines zur Sprache zu bringen, in der Geschichte überliefert zu sein und auf ungelöste Probleme in der gegenwärtigen Praxis und Theorie zu verweisen.
[143:12] 1. Generation: Die täglichen Anforderungen der Praxis in den verschiedenen und inzwischen höchst spezialisierten pädagogischen Institutionen verstellen leicht den Blick dafür, dass sie alle eingebettet sind in einen kulturellen Entwurf des Verhältnisses der Generationen zueinander. Diesen auf lange Zeiträume hin gerichteten Blick hatte vor 170 Jahren Schleiermacher empfohlen. Die inzwischen bis zum Überdruss zitierte Ausgangsfrage der Pädagogik lautet, in Schleiermachers Worten:
Was will denn eigentlich die ältere Generation mit der jüngeren?
Man kann diese Frage heute in zwei verschiedene differenzieren, nämlich: Was will ein Individuum der erwachsenen Generation im Hinblick auf die ihm verbundenen Individuen der heranwachsenden, und welche Vernunftgründe kann es für seine Art des Umgangs mit Kindern und Jugendlichen geltend machen? Und: Welche Verhältnisse, als sozialstrukturelle Systemvorgaben, sind herrschend oder greifen Platz, Vorgaben, die ohne Rücksicht auf konkrete Personen und individuell verantwortete Formen des Umgangs den Rahmen markieren, innerhalb dessen das pädagogische Handeln spielt, auch wenn es sich dieses Rahmens nicht bewusst ist. – Jede dieser beiden Fragen enthält eine je eigene Problematik.
[143:13] Die erste Frage wird, wie es scheint, zunehmend ausgedünnt. Sie droht, im Unterschied zu Schleiermachers Begriff von der Sache, auf private Dimen|a 21|sionen oder auf die Verhältnisse singulärer Erziehungseinrichtungen zu schrumpfen: Die kulturelle Überlieferungsaufgabe wird den von Personen verantworteten Handlungen im Umgang mit der jüngeren Generation von anderen Instanzen der Sozialisation immer mehr aus der Hand genommen. Denkt man sich die Familie als den primären Ort der Artikulation von Generationenbeziehungen, dann wird eine solche Behauptung anschaulich: Die Erfahrungsbereiche und die Fälle mehren sich, in denen nicht mehr Generationen-Beziehungen inszeniert werden, sondern die junge Generation eigene Wege geht und sich selbst inszeniert. In Venedig beispielsweise, eine Familie, ferienmässig: Wer studiert die Bellinis, wer die Biennale, wer die Discos? Oder in Bern: Ist Paul Klee noch ein relevantes Thema oder haben Computer-Bilder und Videoclips nicht längst dessen Stelle eingenommen? – In dieser Situation schrumpft die Generationenbeziehung fast auf nur eine Frage zusammen: Bin ich, als Erwachsener, ein noch hinreichend überzeugendes Modell für zukunftsfähige Problemstellungen? Mit dieser Frage sind nicht nur Eltern, sondern auch die Lehrerinnen und Lehrer der Altphilologie (beispielsweise), ist auch die |A 38|Heimerziehung konfrontiert, etwa dann, wenn es um Entscheidungen über innenarchitektonische Ausgestaltung der Räume geht. Krisenhaft ist die Lage dann, wenn die ältere Generation den Mut und die Kraft verliert, die deutliche Konturierung ihrer eigenen Lebensform, ihrer Herkünfte und Zukunftsprojektionen zur Geltung zu bringen,A ohne dadurch die Selbstinszenierungen der jungen Generation abzuwerten.
[143:14] Eine solche Empfehlung folgt noch der Meinung Schleiermachers, ist also selbst ein Moment der traditionellen und überlieferungswürdigen Bestände unserer Kultur. Etwas anders steht es mit der zweiten Frage, den sozialstrukturellen Vorgaben. Viel ist gegenwärtig die Rede vom
Generationen-Vertrag
. In seinem Licht könnten die individuell zu präsentierenden und zu verantwortenden Entwürfe von Generationen-Beziehungen obsolet erscheinen, als Reste eines idealistischen Denkens, das von der irrigen Meinung geleitet ist, die Ausgestaltung der Generationen-Beziehung sei noch in der Verfügung der Individuen. Die gesellschaftlichen Verhältnisse haben längst andere Entscheidungen gesetzt. Z.B.: Die ethnologisch vergleichende Sozialpolitik-Forschung hat uns darüber belehrt, dass, je zuverlässiger die staatliche Altersvorsorge gesichert ist (Altersrenten), um so dünner und brüchiger die persönlich bestimmten Beziehungen zwischen |a 22|den Generationen werden können. Das ist plausibel, denn die adressatenunspezifische frühzeitige Zahlung von Rentenbeiträgen entlastet die persönlich bestimmte Verantwortung für die Alten, kann deshalb auch die persönliche Beziehung zwischen den Generationen ausdünnen. Der
contrat social
hat also Folgen im System der Interaktionen. Es gibt auch, neuerdings, den umgekehrten Fall: Die Wirtschaft ist, gelegentlich, nicht mehr in der Lage, für die junge Generation ausreichende Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen, kündigt also den Generationen-Vertrag zu seiner einen Seite hin. Zwar müssen die jungen Arbeitnehmer ihre Rentenbeiträge zahlen, sie haben aber keine Garantie dafür, dass sie dazu überhaupt in der Lage sein können. Der sicherlich wohlmeinenden Idee, wir müssten die Beziehungen zwischen den Generationen als persönlich zu verantwortende, das Verhältnis der Vergangenheit zur Zukunft reflexiv in Rechnung stellende Beziehung zum Thema machen, wird dadurch der Boden entzogen. Wer erzieherisch tätig ist, als Eltern, Lehrer oder Sozialpädagogin, muss heute mit dieser Differenz, oder gar mit diesem Widerspruch, seinen Weg zu finden suchen. Die Differenz wurde kürzlich in einer anschaulichen Metapher formuliert: Sollen wir uns die
Neuankömmlinge
A wie Immigranten denken, die sich unserer Kultur assimilieren müssen, oder wie Neuankömmlinge, denen wir eine wohnliche Welt präsentierenA, die sie zum Bleiben ermuntertA (Brumlik |A 39|1995)?
[143:15] 2. Ganz anders geartet ist die Frage nach einer universalistischen Moral. Die Forschungen zu diesem Thema sind inzwischen kaum noch zu übersehen. Die vielen Aufmerksamkeiten, die es gewonnen hat, verweisen auf ein Grundproblem unserer Kultur und dessen pädagogische Folgen. Jede Art von Erziehung – so will es unsere Überlieferung – soll moralisch rechtfertigungsfähig sein; und Kant hat uns Hoffnung gemacht, dass solche Rechtfertigungen letzten Endes eine Form finden könnten, die von allen gebilligt wird. Seitdem denken wir nicht nur darüber nach, welche Form des Urteilens im Fluchtpunkt unserer Argumentationen liegen sollte; uns beschäftigt auch das Problem, ob es Lernwege dorthin gibt. Solche Lernwege lassen sich als individuelle Genese oder als Kulturentwicklung denken. Die Pädagogik hat es mit beidem zu tun.
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[143:16] Im Hinblick auf die Kulturentwicklung, also auf die kollektiv mehr oder weniger akzeptierten moralischen Standards, befinden wir Europäer uns in einer misslichen Lage. Wir haben uns von den religiösen Institutionen als den letztendlich entscheidenden moralischen Autoritäten gelöst. In die entstandene Lücke haben wir die rationale, Güter abwägende Begründung gesetzt. Wir haben Menschenrechte und Verfassungen entworfen, deren vornehmlicher Zweck darin besteht, das Individuum vor kollektiven/staatlichen Zugriffen zu schützen. Wir haben damit den innerhalb unserer Kultur entwickelten Begriff von Individualität und bürgerlicher Subjektivität in Anspruch genommen – ein historischer Vorgang, der nichtA für die ganze Gattung geltend gemacht werden kann, von dem wir aber dennoch unterstellen, er müsste universell geltend gemacht werden.
[143:17] Auch im Hinblick auf die Ontogenese, die Entwicklung des einzelnen Individuums also, gibt es Misslichkeiten. Zwar finden wir es plausibel, eine postkonventionelle Moral ins Auge zu fassen, d.h. ein moralisches Argumentationsniveau, auf dem Besonderheiten der historischen, kulturellen und individuellen Lebenslage relativierend ins Verhältnis gesetzt und zu universell geltenden Maximen hingeführt werden können. Aber ähnlich wie beim Kulturvergleich ist an solchen theoretischen Entwürfen bemängelt worden, dass sie die konkrete Erfahrungswelt der Kinder nicht erreichen; blicken wir nämlich von der postkonventionellen Stufe der Entwicklung moralischer Urteilsbildung her auf die Optionen von Kindern – z.B. für Solidarität mit den Schwachen und gegen die Eigentumsordnung, für das Leben und gegen Zerstörung und Ausbeutung, aber auch für das Wohlergehen der eigenen Gruppe in Gleichgültigkeit gegen andere –, dann geschieht es leicht, dass die moralische Substanz solcher Optionen verblasst, und zwar nur deshalb, weil sie nicht als güterabwägende Argumentation vorgetragen werden, keine rational zu nennende allgemeine Geltungsbegründung regelhaft anstreben.
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[143:18] Dieses zunächst nur moral-theoretisch scheinende Problem hat eine historische Seite. Das sogenannte
westliche
Demokratieprojekt enthält ein sehr anspruchsvolles moralisches Lernprogramm. Es greift tief in die traditionellen Bestände und Gewissheiten ein, vor allem dadurch, dass nun nicht mehr kollektiv akzeptierte Autoritäten das sittlich Gute verbürgen sollen und auch die Reduktion auf je singuläre Interessenlagen oder auf die in den primären |a 24|Lebenszusammenhängen erfahrenen
Werte
einer kritisch abwägenden Prüfung bedürfen. Durch die Historiographie der höchst langsamen Veränderung von Mentalitäten im Lauf der Geschichte belehrt, dürfen wir annehmen, dass jene ja auch mit dem Begriff der
Mündigkeit
verknüpfte Lernerwartung eine Zumutung ist, der die Individuen wie die sozialen Kollektive nur in allmählichen historischen Schritten gerecht werden können.
[143:19] Dabei stellt sich leicht Ungeduld, wenn nicht gar Frustration ein. Es ist deshalb gar nicht so verwunderlich, wenn im politischen und pädagogischen Feld viele vor dieser schwierigen Mündigkeits-Erwartung zurückweichen. Das ist z.B. dann der Fall, wenn der angebliche Werteverlust beklagt wird. Ich vermag diesen Verlust nicht zu entdecken, jedenfalls nicht als
Verlust
, allenfalls als leichte Verschiebung: Die dem Konzept des postkonventionellen moralischen Urteils angemessene und in unseren Verfassungen zum Ausdruck gebrachte Verfahrensrationalität wird nur von Randgruppen nicht als Wert anerkannt. In den sechziger Jahren setzte eine Sensibilisierung für die Lebenslagen von Kindern ein, die zwar noch nicht die ganze Gesellschaft erfasst hat, aber doch stetig grössere Kreise zu ziehen scheint. Dass Natur nicht nur ein Ausbeutungsobjekt ist, sondern dass der schonende Umgang mit ihr einen Wert darstellt, an dem das Überleben der Gattung hängt, wird von immer weniger Gesellschaftsmitgliedern in Zweifel gezogen. Dass der Gerechtigkeitswert in Geltung ist, zeigen die heftigen Auseinandersetzungen um die Zukunft des Sozialstaates. Fast überflüssig zu sagen: Die Werte, die sich aus der herrschenden Eigentumsordnung ergeben bzw. diese legitimieren, sind kaum strittig, bis hin zu dem Punkt, an dem sie, wie im massenhaften Konsumverhalten, zum Fetisch zu werden drohen; aber auch sie können, wie auch die anderen im Prinzip, ihre Geltung einbüssen, wenn der moralische Diskurs nicht in der Lage ist, sie, im Verhältnis zu jenen anderen, in Kontrolle zu halten. Werte können also freilich unterhöhlt werden. Wo beginnt diese Unterhöhlung im Falle der Eigentumswerte: bei der überproportional steigenden Wirtschaftskriminalität der Reichen oder bei den Warenhausdiebstählen der 15jährigen?A
[143:20] Es ist ein dümmliches, vielleicht sogar verschlagenes Abwehrmanöver, die Auffüllung der Lücken, die zwischen Geltung und empirischer Befolgung klaffen, den Pädagogen aufzubür|A 41|den oder, schlimmer noch, deren Entstehen |a 25|ihnen anzulasten. Es ist nichts weniger als ein schleichender Fundamentalismus, im Gewände europäischer Überlieferung. Statt sich den Schwierigkeiten einer die Werte gegeneinander abwägenden Urteilsfindung zu stellen, wird ein konventionelles Verfahren empfohlen mit dem Titel
Werteerziehung
. Derartiges erfordert eine professionelle pädagogische Antwort. Meine Antwort ist diese: Es ist überhaupt nicht strittig, dass Kinder in ihren primären Lebensbezügen – also Familie, Kindergarten, Grundschule, Heim – so etwas wie Eindeutigkeit, Konstanz, Verlässlichkeit der moralischen Orientierung, also auch der in der Lebenspraxis solcher Gruppen geltenden Werte erfahren müssen. Der Unterschied liegt im Verhalten oder Handeln des Erwachsenen, der Kenntnis hat von den sensiblen Nuancen der Interaktion, der weiss, wie schwierig der Weg zur Fähigkeit der Übernahme der Perspektiven von anderen ist, der einen Begriff von jenem fiktiven Ende eines postkonventionellen Moralurteils hat. Die Unterhaltung mit einem Kinde – dessen können wir angesichts der vielen empirischen Befunde sicher sein – wird anders ausfallen bei einem Erwachsenen, der die damit zugemuteten Balanceleistungen im Kopf hat, als bei einem, der auf naive Identifikation mit Werten setzt. Die mögliche Universalisierung moralischer Urteile wäre dann auch kein Dogma, sondern, für professionelle Pädagoginnen und Pädagogen, ein regulatives Prinzip.
[143:21] 3. Das hängt nun eng zusammen mit dem dritten meiner Grundthemen, der Interkulturalität. Die Schweiz, aber auch die Niederlande, Frankreich und England, verfügen in Europa und in dieser Frage schon über längere Erfahrungen. Die Deutschen sind Anfänger in diesem der ganzen Kultur zugemuteten Curriculum. Man könnte es – wenn es nicht zynisch wäre – als einen historischen Grossversuch, einen Test ansehen, in dem die folgende Frage geprüft wird: Ist eine politische Kultur, die mit den Leitbegriffen der Liberté, Fraternité und Egalité ihre eigene Zukunft entwarf, noch in der Lage, unter neuen Bedingungen ethnisch-kultureller Mischungsverhältnisse das ursprünglich universalistische Projekt aufrechtzuerhalten? Der Test bringt, jedenfalls derzeit, keine eindeutigen Resultate, bis hin zu kriminellem Widerspruch.
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[143:22] Auch in dieser Lage wird der Pädagogik aufgebürdet, die Wogen zu glätten, die von den (erwachsenen!) Konventionalisten in Bewegung gebracht wurden. Wir, die Pädagoginnen und Pädagogen, versuchen es: Wir lassen keinen Zweifel daran – er wäre aberwitzig –, dass die Einwanderer und ihre Kinder sich durch das Nadelöhr der je herrschenden Sprache hindurchzwängen müssen. Das ist unzweifelhaft eine Assimilationserwartung. Aber unterhalb der gemeinsamen Verständigungsmedien, und sich durch diese hindurchartikulierend, behalten die kulturellen Herkünfte und Zugehörigkeiten indessen ihr je thematisches Profil. Wenn wir das |A 42|akzeptieren, tun wir nichts anderes als zu bekräftigen, dass wir die pluralistische Struktur der modernen Gesellschaften anerkennen, wenngleich hier in einem besonders exponierten Fall. Dieser Fall ist nicht nur eine Probe auf die Tragfähigkeit nicht-imperialer universalistischer Antizipationen, sondern auch auf unsere schon erwähnte Fähigkeit zur virtuellen Übernahme, zum Sich-Hineindenken in die Perspektive anderer. Diese aus der Philosophie des Pragmatismus stammende Idee, inzwischen zahllos als empirischer Sachverhalt nachgewiesen, enthält freilich im Hinblick auf die Wirklichkeit multikultureller Gesellschaften eine Zumutung an Lernfähigkeit, mit der sich Ängste schüren lassen, so als gäbe seine Identität auf, wer sich ernstlich auf die der anderen einzustellen versucht. Wir sollten uns bewusst halten, dass der inzwischen abgegriffene Terminus
Identität
ursprünglich eine schwierige und erst im Tode endende Balance-Leistung des Individuums bedeutet, jederzeit fragil. Wer diese Dynamik stillstellen will, etwa als blosse
Zugehörigkeit
, verleugnet damit das kulturelle Konzept von
Mündigkeit
(Gruschka 1995).
[143:23] Der schlichte Rassismus, der aus den Äusserungen und Tätigkeiten Le Pens und seiner Anhänger spricht, oder die Unfähigkeit deutscher rechtsradikaler, zur Gewalt neigender Cliquen, mit Ambiguitäten, Mehrdeutigkeiten also umzugehen – das sind deutliche Zeichen historischer Regression. Wird eine Aufgabe zu schwer, dann wehrt man sie ab oder greift zu früheren, primitiveren Lösungen. Das gilt für Kinder, aber auch für Politiker und Pädagogen. Dass ziemlich viele noch an dieser Hürde scheitern, zeigen die europaweit etwa auf 15 % geschätzten Bürgerinnen und Bürger, die die letzten 200 Jahre der Entwicklung moderner Demokratien nicht haben nachvollziehen können – Fusskranke gleichsam auf diesem beschwerlichen Weg.
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[143:24] Der schwierigste Lernfall ist dabei nicht einmal der erwachsenen, der erziehenden Generation aufgebürdet. Diese verfügt vielleicht, dort wo sie professionell ist, über die notwendigen interaktionstheoretischen Kenntnisse (etwa zum Problem des Perspektivenwechsels) und über die Kompetenz, entsprechende Lernarrangements für Kinder und Jugendliche zu inszenieren. Dem schwierigsten Lernfall sind jene konfrontiert, die aus der Fremde kommen und unter uns leben wollen. Denken wir uns ein 16jähriges muslimisches Mädchen, kurdisch, aus einer Familie, der die Herkunftskultur wichtig ist, der Vater ist Taxifahrer, sie hat gerade den Übergang in die Sekundarstufe geschafft, geht abends gelegentlich in Discos, hat Freunde, aber muss ihre
Ehre
bewahren, will in Mitteleuropa bleiben, aber auch ihre
Wurzeln
in der Türkei nicht verlieren, weiss nicht, ob die Familie dorthin zurückkehren wird, wird zur Frau in einem Land, in dem sie
feministische
Erwartungen erreichen, mit ihrer Herkunft überhaupt|A 43| nicht kompatibel, usw..usw. Die sozial-psychischen Lernprobleme, mit denen dieses Mädchen konfrontiert ist, übertreffen bei weitem das, was wir Erwachsene uns, universalistisch und pluralistisch gebildet, abverlangen müssten.
[143:25] 4. Die ästhesiologischen Komponenten der Bildung des Menschen: Der Ausdruck
ästhesiologisch
weist auf die Frage hin, welche Bedeutung im Leben des Menschen seiner Sinnestätigkeit zukommt, wenn er ein Bewusstsein von sich selbst erwirbt und damit zu anderem, zu Personen oder Kulturprodukten, in Beziehung tritt. Diese Frage spielte in der Pädagogik eine lange Zeit nur eine untergeordnete, wenn nicht gar keine Rolle. Pädagogen sind merkwürdigerweise zumeist auf alles Sprachliche fixiert. Das ist deshalb merkwürdig, weil doch der ontogenetische Anfang jeder Erziehung in einem vorsprachlichen Stadium beginnt und also es zunächst gleichsam auf der Hand liegt, dass dieser Anfang der Bildebewegungen des Menschen mit der Sinnestätigkeit anhebt.
[143:26] Damit stellt sich eine für die Pädagogik ziemlich fundamentale Frage ein: Bleiben diese Anfänge über die ganze Entwicklung des Individuums erhalten oder werden sie, durch die Prozeduren des Spracherwerbs, durch die Aneignung von Wissensbeständen und Verhaltensgewohnheiten, durch immer komplizierter werdende kognitive Operationen allmählich weggearbeitet?
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[143:27] Eines der für unser Fach, für seine Praxis wie auch für seine Theorie, interessantesten Gedankenexperimente stellte Condillac in der Mitte des 18. Jahrhunderts an. Er gehörte jenen französischen Philosophen zu, die in der Regel als
Materialisten
etikettiert werden, den argumentativen Hintergrund für die französische Revolution vorbereiteten, in der Tradition des pädagogischen Denkens dann aber kaum mehr vorkamen. Er stellte sich eine Marmorstatue vorA und fragte, wenn sie lebendig würde, wann sie wohl, im Nacheinander der erwachenden Sinne, ein Bewusstsein von sich selbst gewinnen würde. Seine Antwort, nach abwägendem Durchgang durch die verschiedenen Sinne, lautete: Ich gewinne ein Bewusstsein meiner selbst, im ersten Schritt, durch das taktile Spüren meines eigenen Leibes (
Elle se touche, et dit: c’est moi
), in Abwägung zu den Sensationen des Gesichtssinnes
(vgl. Müller 1996)
.
[143:28] Derartige Fragen – die Antworten müssten heute angesichts der biologisch-anthropologischen Forschung komplizierter ausfallen – gewinnen derzeit eine besondere Aktualität, und zwar von drei Richtungen her: Die Kinder- und Jugendkultur konfrontiert uns, zunehmend, wie es scheint, mit einem
Habitus
, in dem Körperselbsterfahrung inszeniert wird; Auto-Crashing, |A 44|Skooter-Kunststücke, Graffiti, die Freude an wirbelnden Videoclips, an sprachlosen Computerspielen, auch an Techno-Dance, dies und Ähnliches sind nicht nur einer Beschleunigungsmode, einem Protest oder einem profitablen Markt geschuldet, sondern auch (!), so vermute ich, einem Impuls, sich selbst in einer Weise zu erfahren, die noch nicht durch die intellektuellen Pädagogen-Diskurse besetzt ist. Dazu gibt es im kulturellen Habitus der Erwachsenen, wenngleich durch traditionelle Gewohnheiten gebremst, eine Parallele, nämlich die massenhaft ansteigenden Museums- und Sonderausstellungs-Besuche. Auch hier ist schwer zu entscheiden, ob der Markt ein Bedürfnis befriedigt oder ob er es erzeugt. (Schaue ich mir die Bilder Vermeers in Den Haag oder van Goyens in Leiden an, weil ich es mir vom Feuilleton habe einreden lassen oder weil solche Bilder mich schon immer faszinierten und ich glaube, dabei etwas über mich zu erfahren?). Diderot, mit Condillac befreundet, schrieb manchen Bildern der Pariser Salons um die Mitte des 18. Jahrhunderts, insbesondere denen Chardins,
Magie
zu. Sie hatten nämlich, nach seiner und auch der Meinung späterer Kunsthistoriker, die Eigenschaft, den taktilen Sinn (wenngleich nur virtuell), das |a 29|Spüren also meiner selbst, mit dem optischen zu verbinden. Joseph Beuys (und freilich noch manch anderer) hat das, in unserem Jahrhundert, zur Meisterschaft gebracht. Steckt also nicht doch in der ästhetischen Geschäftigkeit der Märkte und Kunden ein Bildungssinn, der tiefer reicht? Schliesslich ist, nahezu gleichzeitig, in den pädagogischen Institutionen und an ihrem Rande Ähnliches aufgetaucht (inzwischen ist es schon ganz unoriginell geworden, darauf hinzuweisen): In der Elementar- und Primarpädagogik wächst das Interesse an expressiv-ästhetischen Tätigkeiten; auf Körperempfindungen bezogene Therapien, Paratherapien und
Kreativitäts
-Kurse gehören mehr und mehr zum Standard-Angebot in Jugendhilfe und Erwachsenenbildung und verbreiten sich weit in den Freizeitmarkt hinein. Derartiges wird in einer reichhaltigen und fast unübersehbaren Literatur kommentiert und befördert; auch die Forschung in diesem Feld nimmt allmählich an Zahl und Zuverlässigkeit zuA.
[143:29] Darf man dies alles so verstehen, dass innerhalb unserer pädagogischen Kultur nun das Gedankenexperiment Condillacs in Bildungs- und Selbstbildungs-Taten übertragen wird? Oder handelt es sich um nichts anderes als um Fluchten in ein Gelände von Irrationalität hinein, um den System- Zumutungen zu entgehen, eine neuerliche Variante von bürgerlicher Ideologie? Der inflationäre Gebrauch der schwer aufklärbaren Vokabel
Kreativität
könnte das vermuten lassen. Ich denke indessen, dass mit diesem Etikett der kulturelle, anthropologische und bildungstheoretische Sinn dieser Phänomene verspielt würde. Die Argumentationsstände der französischen
Materialisten
konnten, aus vielerlei Gründen, die deutsche Bildungstheorie |A 45|und ihre pädagogische Institutionalisierung nicht erreichen. Nun hat, nach 200 Jahren, die Praxis sie zurückgewonnen. Es ist zu hoffen, dass die akademische Theorie damit zwar streng, aber auch
hermeneutisch
umgeht.

3. Besonderheiten des ausserschulischen Feldes

[143:30] Von dem, was ausserhalb der Unterrichtsanstalten geschieht, war gelegentlich schon in Andeutungen die Rede. Dieses Feld – im theoretischen Vokabular nennen wir es
Sozialpädagogik
, in praktischer Beschreibung sagen wir
Kinder- und Jugendhilfe
und haben dann immer noch das Problem, |a 30|wie wir den Ausdruck
Sozialarbeit
darin unterbringen oder sonst irgendwie darauf beziehen – dieses Feld also ist, so scheint mir, ein besonders sensibler Indikator für pädagogisch relevante Vorgänge innerhalb unseres Gemeinwesens. Das mag überraschen, handelt es sich doch statistisch gesehen nur um eine Minderheit der nachwachsenden Generation, die von diesen Einrichtungen und Massnahmen erreicht wird. Zudem könnte man hier tatsächlich annehmen, dem Titel dieser Tagung folgend, dass es die
Reparaturwerkstatt
unseres Generationen-Verhältnisses ist. Indessen hat man sich, seit dieses Feld in die akademische und wissenschaftliche Aufmerksamkeit gerückt ist – also seit den zwanziger Jahren, mit einigen Vorahnungen im 19. Jahrhundert –, gegen eine solche Etikettierung immer wieder gewehrt, als sei es ein zugeschriebenes Stigma. Ich halte eine solche Abwehr für falsch. Nur ein sehr trüber Blick auf unsere Gesellschaft könnte übersehen, dass der schwierige Weg der Moderne, gepflastert mit den Stolpersteinen institutioneller Differenzierung, Pluralisierung der Lebensformen, abstrakter Leistungserwartung, Misserfolgsbedrohung, emotionaler Kälte oder Überhitzung, Konsum-Verführungen usw., angesichts der anspruchsvollen Vorstellung eines politisch und alltäglich
mündigen
Bürgers nicht von jedem erfolgreich begangen werden kann. Dass viele stolpern, gehört zur Normalität dieser Gesellschaften. Es mindert nicht den Status der Sozialpädagogik, wenn sie die Schattenseite der Moderne im Auge hat. Aber so eindeutig ist das gar nicht. Um es zu erläutern, greife ich aus der Fülle der beschreibbaren Probleme nur drei heraus, die mir besonders aktuell erscheinen und im Felde der Sozialpädagogik deutlicher zum Bewusstsein kommen als anderswo: Normalitätsentwürfe, Armuts-Fragen, Verwertungszumutungen.
[143:31] 1. Normalitätsentwürfe: In etwas grober Vereinfachung kann man sagen, dass die nun ungefähr 500 Jahre alte europäische Alphabetisierungskampagne recht erfolgreich war. Sie hat indessen nicht nur ein differenziertes System von Unterrichtsanstalten zur Folge gehabt, sondern auch den Entwurf eines Normalverlaufs von Lebenswegen, zunächst nach Ständen geordnet, dann |A 46|aber auch mit manchen Verzweigungen. Wie wir aus alten Schulordnungen, aber auch aus den Genre-Bildern besonders der niederländischen Malerei ersehen können, griff dies tief in Verhaltensgewohnheiten der |a 31|jungen Generation ein. Die Schule präsentierte nicht nur ein Alphabetisierungs-, sondern auch ein Disziplinierungsprogramm, das bis zurück auf die Familien sich erstreckte. Es passt ins Bild, dass sich parallel zur Schulentwicklung Bemühungen etablierten, stationär und ambulant, die sich um jene kümmerten, die dem schulischen Normalitätsentwurf nicht folgen konnten oder mochten. Seitdem gibt es auch in pädagogischen Feldern Modernitätsgewinner und -Verlierer.
[143:32] Die Sozialpädagogik hat es grossenteils mit den Verlierern zu tun. Allerdings sind die Grenzlinien nicht mehr so leicht zu ziehen. Inzwischen nämlich, besonders in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts – aber vordem schon in der kaiserdeutschen Abwehr proletarischer oder sozialdemokratischer Lebensentwürfe – scheint überhaupt zur Disposition zu stehen, ob die Pädagogik noch, von der Pflicht zu zuverlässiger Unterrichtung abgesehen, mit einem einheitlichen Normalitätsentwurf operieren kann. Das Problemfeld, mit dem es die Sozialpädagogik derzeit zu tun hat, indiziert nämlich eine Charakteristik unserer Kulturlage, die schon Schleiermacher 1826 ahnte, als er die Meinung vertrat, man müsse, um des Fortschreitens der Kultur willen, das Jugendalter als eine Experimentierphase mit Normalitätsentwürfen ansehen. Wenn wir heute den soziologischen Schlagworten
Individualisierung
und
Pluralisierung
willig folgen, gelegentlich wohl allzu rasch, dann betrifft das auch die Frage, mit welcher Gewissheit wir noch von
Normalität
reden können. Die Klientel der Kinder- und Jugendhilfe ist zum grossen Teil dadurch zu charakterisieren, dass sie unter den institutionalisierten Normalitätsentwürfen leidet. Das breite Problemfeld, das zwischen dem autistischen Kind und dem der Schule und seiner Familie mit Gleichgültigkeit oder Verachtung den Rücken kehrenden Jugendlichen liegt, bringt eine zweifache Frage hervor: Welches sind die elementaren Kompetenzen, die wir für normale Lebensführung unterstellen müssen – und wie kann unser eigener Normalitätsentwurf gerechtfertigt werden, wenn wir die vielen Alternativen zur Kenntnis nehmen?
[143:33] In dieser Lage zu empfehlen, wie heute häufig zu beobachten, man solle sich an der
Lebenswelt
der Klientel
orientieren
, kommt mir unbedacht oder verschleiernd vor, jedenfalls dann, wenn pädagogisches Handeln gemeint ist. Wie könnte ich mein Handeln an der Lebenswelt eines 14jährigen |a 32|Jungen orientieren, der, im Alter von 10 Jahren, in einem Heim untergebracht ist, wegen schwer erträglicher Familienverhältnisse, nun auch aus dem Heim beständig fortläuft, die Schule vermeidet, sich mal dieser, mal jener Clique oder Subkultur |A 47|anschliesst, am Stadtrand in Bretterbuden übernachtet, durch kleine Diebstähle sich über Wasser hält, sonst niemandem etwas zuleide tut, dem eine spätere Zukunft noch gleichgültig ist usw.? Es ist keine Frage, dass es hermeneutisch-diagnostischer Anstrengungen bedarf, um die Lage und die Normalitätsexperimente dieses Jungen zu verstehen. Das pädagogische Handeln aber muss sich in das schwierige Feld pluraler Normalitätsentwürfe hineinbegeben und darf sich nicht einzig an dieser
Lebenswelt
orientieren, sondern an dem rechtfertigungsfähigen Weg, der für einen solchen Jugendlichen begehbar ist.
[143:34] 2. Armutslagen: Sozialpädagogik und Sozialarbeit haben es immer schon auch mit denen zu tun gehabt, die am gesellschaftlichen Wohlstand weniger teilhatten als andere. Das war zu Zeiten Pestalozzis und Wicherns nicht anders, als es heute ist.
[143:35] Historiographische Hinweise, die darauf hinauslaufen, dass wenigstens eines der sozialpädagogischen Grundthemen mit der frühneuzeitlichen Armengesetzgebung oder dem Amsterdamer
Tuchthuis
beginnen, treffen auch heute noch die Sache. Schon aus dem Vergleich der Jugendhilfe- mit den Sozialhilfe-Statistiken geht hervor, dass die Klientel der ausserschulischen pädagogischen Einrichtungen und Massnahmen vorwiegend den durch Armut bedrohten Bevölkerungsteilen entstammt. In dieser Lage ist bemerkenswert, dass auch die sozialpolitischen Prognosen uns kaum einen Rückgang dieser Bedrohung versprechen können. Wir werden es also, selbst in Europa, mit einem relativ dauerhaft bleibenden Problem zu tun haben.
[143:36] In dieser Sachlage können die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen durch Pädagogik kaum verändert werden. Das gilt nicht nur global, sondern selbst für Europa. Keine Art von Pädagogik kann das immer stärker werdende Auseinanderdriften von hohen und niedrigsten Haushaltsbudgets verhindern. In dieser Lage hilft die an Pädagogik und Jugendstrafrechtspflege gerichtete Erinnerung wenig, ein europäischer Sozialhilfeempfänger verfüge über ma|a 33|terielle Ressourcen, die in manchen Entwicklungsländern Wohlstand indizieren. Armut ist eine kulturrelative Kategorie, weil sie sich an dem innerhalb einer Gesellschaft oder Kultur durchschnittlich herrschenden Anspruchsniveau bemisst. Dieses Niveau wird nicht von Pädagogen in Szene gesetzt, sondern von Ökonomie und Politik. Die Pädagogik hat lediglich die Folgen zu tragen. Die empirisch bisher nicht widerlegte, wenngleich vielfältig benörgelte
Anomie
-Theorie R. Mertons, nach der in einer Gesellschaft, die Eigentum, Besitz, Wohlstand als Werte favorisiert, diejenigen, die nicht über die Mittel dazu verfügen,
anomische
Handlungsstrategien einschlagen, um die Werte dennoch zu erreichen, ist also die Vorgabe.
|A 48|
[143:37] Über dieseA aber haben wir nachzudenken. Die Praxis des Unterrichts in Schulen erreicht diese Problemlage in der Regel zumeist nur unter dem merkwürdigen Namen
Sozialisationsdefizit
. Das führt dann zu den Diagnosen von Leistungsschwäche oder Lernverweigerung, um deren Hintergründe sich freilich das dort professionelle Personal nur innerhalb enger Grenzen kümmern kann. Es ist richtig, wenn die Schule sich auf ihre Aufgaben des Unterrichtens konzentriert und dabei einen unifizierenden, einen die Gleichheit vor den unterrichtlichen Ansprüchen betonenden Habitus realisiert. Mit Recherchen nach den
Lebenswelten
, wie manche heute gern sagen, wäre sie überfordert.
[143:38] Anders ist die Sachlage im Felde von Sozialpädagogik/Sozialarbeit. Wenn wir schon Armut dauerhaft in Rechnung stellen müssen, und wenn wir wissen, dass das Heranwachsen unter solchen Bedingungen mindestens misslich ist, jedenfalls zu lebenslangen Beschädigungen führen kann, dann stellen sich pädagogische Fragen besonderer Art ein: Wissen wir wirklich hinreichend zuverlässig, welche Dimensionen der Erziehungskraft etwa von Familien durch Armut gravierend beschädigt werden? Verfügen vielleicht nicht doch auch Armutsmilieus über pädagogische Ressourcen, die in der einen oder anderen Hinsicht den Wohlstandsmilieus überlegen sein könnten? Gibt es ein pädagogisches Komplement zur sozialpolitischen Strategie der Armutsbekämpfung, wenn doch, jedenfalls mittelfristig, dies als Sisyphos-Tätigkeit eingeschätzt wird? Müssen wir nicht – anstatt in erlebnisdichten Beschreibungen die biographischen Engpässe und Versagungen immer wieder zu beklagen oder in der Manier von Fest- oder einleitenden |a 34|Kongressvorträgen (wie diesem) auf den
Zusammenhang politischer, materieller, instrumenteller und sozialer Nöte und Aufgaben
(Thiersch)
und deren pädagogische Folgen appellativ zu verweisen – ich sage: müssen wir nicht jenseits oder diesseits der allgemeinen, aber abstrakten Richtigkeit solcher Formeln uns viel genauer einstellen auf die empirischen Details solcher Milieus oder Lebensformen und auf die hermeneutischen Herausforderungen, die sie für Theorie und Praxis bereithalten? Wissen wir wirklich genug über die pädagogisch relevanten Unterschiede zwischen Lebenslagen, innerhalb unserer Kultur, die unter kurzfristiger Armutsbedrohung stehen, und solchen, in denen wir langfristige, auch intergenerationell dauerhafte materielle Versagungsmilieus konstatieren müssen, und darüber, welche Formen des pädagogischen Eingriffs, der Hilfe, der Unterstützung hier angemessen wäre?
[143:39] Die Armutsthematik greift, wenn ich recht sehe, tief in das hinein, was seit einiger Zeit unter dem Titel
Wertedebatte
publizistisch reichhaltig bedient wird. Die Armutsfrage macht das Dilemma deutlich: Der herrschende Wert
Eigentum
, in den verschiedenen Auslegungen der gesellschaftlichen Praxis – vom Leistungsprinzip, dem Karriere-Erfolg, den Konsumzumutun|A 49|gen des Warenmarktes bis (negativ) zur Steuerhinterziehung und dem Kaufhausdiebstahl eines 13jährigen – ist unbestritten, wenn man von den Diskursen der akademischen Ethik absieht. Sind aber die Chancen zur Verwirklichung dieses Wertes deutlich ungleich verteilt, wie etwa im Falle der Armut, dann entstehen anomische Situationen, im Extremfall
Kriminalität
. Könnten vielleicht Armutsmilieus in der Lage sein, diesen Wert in Zweifel zu ziehen?
[143:40] 3. Verwertungszumutungen:
Was eine Funktion hat, ist ersetzlich; unersetzlich nur, was zu nichts taugt
, hat Adorno einmal geschrieben. Diese Behauptung bezog Adorno zwar auf die Kunst; aber könnte sie nicht auch im pädagogischen Feld einen Sinn haben? Das scheint zunächst absurd zu sein. Mindestens darin doch sind sich pädagogische Praxis und Wissenschaft einig, dass allen Einrichtungen des Erziehungs- und Bildungssystems eine Funktion zugesprochen wird, ein gesellschaftlicher Verwendungssinn dessen, was dort mit der nachwachsenden Generation geschieht. Notengebung, |a 35|die verschiedenen Zeugnisarten, Übergänge von einer Einrichtung in die andere, der Streit um die Modernisierung der Lehrpläne, die Berufseinmündungsprobleme, die damit verbundenen Statuszuweisungen, selbst noch
Persönlichkeitsbildung
,
Kompetenzerwerb
– dies alles sind Komponenten der pädagogischen Funktionscharakteristik, auch wenn sie nicht mehr in dem älteren Vokabular von Utilität, Brauchbarkeit, Nützlichkeit, von Förderung oder Auslese vorgetragen werden. Auch die Vokabeln
Zukunftsschmiede
oder
Reparatur
verweisen auf derartige Funktionen. Die Sozialpädagogik/Sozialarbeit hat innerhalb solcher Verwendungszumutung ihren funktionalen Ort: Die Kfz-Werkstatt bringt in Ordnung, was durch Fehler im Herstellungswerk oder irgendwie unpassende Benutzung unbrauchbar wurde.
[143:41] An den Rändern des Unterrichtssystems, im Hinblick auf Familien, besonders aber im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe können sich Zweifel einstellen, ob solche Beschreibungen durchweg empirisch triftig und ob die damit verbundenen Erwartungen nicht eher Zumutungen sind, die einige Skepsis verdienen. Man kann das Problem, das darin liegt, am ehesten durch extreme Fälle erläutern. Die Integration behinderter Kinder in die Normalschule, jedenfalls in den ersten sechs Schuljahren, zeigt, dass es sich um eine Frage des pädagogischen Gesamthabitus handelt und nicht um eine Frage, mit der nur Spezialeinrichtungen konfrontiert sind, nämlich: Einerseits wird das Kind in einen situativen Kontext eingefädelt, in dem es beständig den Verwertungszumutungen, der
Funktion
des Unterrichtssystems konfrontiert ist, auch wenn das pädagogische Personal nicht solche Absichten verfolgen sollte; andererseits sollen die Unterrichtsprozeduren dafür sorgen, dass dieses Kind nicht ständig Versagens-Erfahrungen |A 50|macht. Woher kommt dieses zweite Motiv? Noch konturierter tritt das Problem hervor, wenn wir an autistische Kinder oder solche mit Down-Syndrom denken. Kann man in solchen Fällen überhaupt noch pädagogisch vernünftig handeln in der Perspektive von Funktionen und Verwertungen? Zwischen solchen Extremfällen und dem Alltag in schulischen oder Jugendhilfe- Einrichtungen gibt es mannigfache Übergänge, die meine skeptische Frage mal stärker konturieren, mal in den Hintergrund von
Ausnahmefällen
treten lassen.
|a 36|
[143:42]
Was eine Funktion hat, ist ersetzlich
; das gilt für Produkte, Einrichtungen und Menschen. Was indessen
zu nichts taugt
, das sei, so meinte Adorno,
unersetzlich
. Unersetzlich also ist auch ein Individuum, ein einzelnes Exemplar unserer Gattung, für das die Tauglichkeits-, Verwertungs- oder Funktionserwartungen ins Leere gehen. Das ist der Kontrapunkt zu den pragmatischen Entwürfen pädagogischer Einrichtungen.

4. Schluss: Zwei Konstruktionen von
Pädagogik

[143:43] Angesichts dieser Lage ist es nicht leicht, eine Summe zu ziehen, das Verschiedene auf handliche Formeln zu bringen. Ein solcher Versuch wäre auch ganz unpassend. Über Generationenverhältnisse, universalistische Moral, Interkulturalität, ästhesiologische Probleme und über Normalitätsentwürfe, Armutslagen und Verwertungszumutungen habe ich relativ naiv geredet. Bedenke ich nun noch einmal, was ich da eigentlich getan habe, dann muss ich einsehen, dass ich, trotz der vielen Bezugnahmen auf
Reales
, keine Realitäten beschrieben, sondern Problem-Konstruktionen vorgeschlagen habe. Ist die Art des Denkens über Pädagogik, die ich dabei vorgeführt habe, eigentlich akzeptabel? Lasse ich meine sieben Grundfragen noch einmal Revue passieren, dann fällt mir innerhalb dieser eine Differenz auf, die wichtiger sein könnte als die einzelnen Themen, die ja ohnehin nur skizzenhaft vorgetragen wurden und leicht mit anderen Optionen in Konkurrenz geraten können. Es ist die Differenz zwischen zwei verschiedenen Entwürfen derjenigen Tätigkeiten, die wir mit den Namen
Erziehung
und
Bildung
verbinden:
[143:44] Einerseits habe ich, mit den neuzeitlichen Traditionen pädagogischen Denkens übereinstimmend, diese Tätigkeiten als Handlungen gedacht. Bei den Stichworten
Generationenverhältnis
,
universalistische Moral
,
Interkulturalität
und Erziehung angesichts von
Armut
dominierte dieser Entwurf, ganz in dem Sinne, in dem häufig davon gesprochen wird, dass die Pädagogik eine
Handlungswissenschaft
sei. Verwendet man diese Vokabel, dann wird in der Regel eine schwierige Unterstellung mitgeführt: die Annahme nämlich, solche Handlungen hätten ein erreichbares Ziel, die Akteure könnten sich als ihrer selbst bewusste |A 51|Subjekte inszenieren, und sie |a 37|könnten, durch derartig gedachte pädagogische Handlungen, die nachwachsende Generation auf den gleichen Weg bringen. Dieser Weg wird dann häufig so gedacht, dass er auf einen (unendlich fern liegenden) Fluchtpunkt, ein Telos, einen geschichtsphilosophisch ausmachbaren Endzweck hinführt. Wer den modisch gewordenen Ausdruck
Handlungskompetenz
verwendet, sei es zur Beschreibung von Ausbildungsabsichten für professionelle Pädagogen, sei es zur Beschreibung dessen, was man bei den Edukanden zu erreichen hofft, folgt dieser Konstruktion, auch wenn er die geschichtsphilosophischen Implikationen auf sich beruhen lässt. Es scheint, als gäbe es dazu keine vernünftige Alternative. Von der Alphabetisierung über soziales Lernen, heilpädagogische Formen der Behandlung bis hin zur Therapie von Süchten und Abhängigkeiten ist uns diese Form der Zweckrationalität, die vernünftige Begründung der Zwecke und die angemessene Wahl von Mitteln, um sie zu erreichen, auferlegt.
[143:45] Was aber wäre der Fall, wenn wir daran zweifeln würden, dass wir, in jenem idealistischen Sinne von Handlungskompetenz, tatsächlich bewusst und in den Folgen kalkulierbar, Subjekte unseres Handelns sind? Die Geschichte unseres Jahrhunderts hat dafür schmerzhafte Beispiele parat. Aber auch in der kleinteiligen trivialen pädagogischen Praxis gehört es zur alltäglichen Erfahrung, dass wir, die erwachsene Generation, uns undurchsichtig bleiben können und dass die rational entworfenen Erziehungshandlungen – trotz der überwältigenden Fülle empirischer Forschung in diesem Feld – ihr Ziel nicht erreichen. Seit Marx, Freud und Foucault können wir das wissen. In solcher Lage erscheint es anmassend anzunehmen, dass die zweckrational angelegten pädagogischen Handlungen mehr als nur Oberflächenphänomene erreichen – auch wenn schon diese wichtig genug sein sollten. Es bedarf deshalb einer zweiten, nicht alternativen, aber konkurrierenden Konstruktion.
[143:46] Einer solchen zweiten Konstruktion folgen – andererseits – meine Stichworte
Ästhesiologie
,
Normalitätsentwürfe
und
Verwertungszumutungen
. In diesen Fällen habe ich es nicht auf die zweckrational organisierbaren pädagogischen Handlungen mit den je zugehörigen Kompetenzen abgesehen, sondern ein anderes Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern konstruiert. Man hat ihm den Namen
Teilhabe
oder, in Erinnerung |a 38|an Platon,
Metexis
gegeben
(Lenzen 1996)
. Man kann das philosophisch oder biologisch fundieren. Eines der biologisch relevanten Prinzipien ist die
Resonanz
(Cramer 1996), d.h. das biochemisch ermittelte Mitschwingen der Zellen mit dem, was in den anderen geschieht. Die pädagogische Phänomenologie nennt das, bezogen auf menschliche Interaktion,
Responsivität
. Da wir, trotz der vielen Hypothesen, nicht zuverlässig wissen, wie ein Organismus seine kulturelle Gestalt |A 52|als Individualität findet und wie diese zum souveränen Subjekt ihres Handelns werden könnte, da also unser prognostisches Wissen allzu dürftig ist, wäre es vielleicht hilfreich, dem traditionellen Konstrukt des voll handlungskompetenten Subjekts ein anderes Konstrukt an die Seite zu stellen. Kein Kind muss durch Pädagogik
zum Menschen gemacht
werden, wie es in der pädagogischen Tradition gelegentlich hiess. Es ist dies immer schon, und zwar vor jeder pädagogischen Bemühung. Die
Idee
des Menschen – wenn man so platonisch reden will – zeigt sich in jedem Neuankömmling von Beginn an, sie muss nicht erst hergestellt werden.
[143:47] Die Grenzen, bei dieser Konstruktion, verlaufen anders. Es ist dann, für die pädagogische Tätigkeit, nicht die Differenz zwischen handlungskompetenten und -inkompetenten Teilnehmern an einer Sozietät, sondern die Differenz zwischen einer Tätigkeit, die solche
Resonanz
oder
Responsivität
verhindert und einer anderen, die sie zulässt. Der Philosoph R. Rorty, sonst gar nicht auf erziehungsphilosophische Erörterungen erpicht, hat dies auf eine knappste Formel gebracht. Die eine Frage, die nämlich nach der kompetenten Teilnahme an der res publica, sei letzten Endes eine nach dem je herrschenden Vokabular, eine Frage also danach, wie wir über das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft reden – und da gibt es viele Varianten. Die andere Frage sei die,
ob du Schmerzen hast
,
leidest du?
Es sei möglich, beide Fragen zu stellen, ohne die eine der anderen aufzuopfern.
|a 39|

Literatur

[143:48] Bibliographische Notiz: Im hier dokumentierten Vortrag fand keine detaillierte Auseinandersetzung mit der Forschungslage statt. Die von mir eingeschlagenen Wege der Argumentation lehnen sich indessen vornehmlich an die folgenden Schriften an, wenngleich gelegentlich im Widerspruch und nicht immer im Text zitiert:
    [143:49] Brumlik, M.: Gerechtigkeit zwischen den Generationen. Berlin 1995.
    [143:50] Cramer, F.: Symphonie des Lebendigen. Versuch einer allgemeinen Resonanztheorie. Frankfurt am Main 1996.
    [143:51] Giesecke, H.: Wozu ist die Schule da? Die neue Rolle von Eltern und Lehrern. Stuttgart 1996.
    [143:52] Gruschka, A. (Hrsg.): Wozu Pädagogik? Die Zukunft bürgerlicher Mündigkeit und öffentlicher Erziehung. Darmstadt 1996.
    [143:53] Lenzen, D.: Handlung und Reflexion. Vom pädagogischen Theoriedefizit zur Reflexiven Erziehungswissenschaft. Weinheim/Basel 1996.
    [143:54] Meyer-Drawe, K.: Menschen im Spiegel ihrer Maschinen. München 1996.
    [143:55] Müller, H.-R.: Ästhesiologie der Bildung. Manuskript 1996 (im Druck).
    [143:56] Rorty, R.: Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt am Main 1989.
    [143:57] Schleiermacher, F.: Pädagogische Schriften 1. Unter Mitwirkung von Th. Schulze, herausgegeben von E. Weniger. Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1984.
    [143:58] Winkler, M.: Eine Theorie der Sozialpädagogik. Stuttgart 1988.
A
Daß
A
1
1Die Diktion des Vortragstextes habe ich im folgenden beibehalten
A
läßt
A
außerschulischen
A
2.1.
A
daß
A
und ideologische
A
(Giesecke 1996)
A
heißt
A
daß
A
großzügig
A
stößt
A
d. h.
A
preußischen
A
daß
A
100%
A
unweigerlich
A
Daß
A
zwischen Unterricht und Erziehung
A
.
A
mußte
A
großer
A
konstitutieren und dann
A
mußte
A
Schließlich
A
außerfamiliare
A
außerschulische
A
Fußgängerzonen
A
u. ä.
A
ließ
A
einem
A
50er
A
60er
A
daß
A
außerschulische
A
tatsächlich Krisen
A
muß
A
2.2.
A
2
2Der Titel jener Tagung lautet: Schule und Soziale Arbeit – Reparaturwekstätte oder Zukunftsschmiede?
A
Daß
A
befaßt
A
l’homme machine
A
beide
A
gewißermaßen
A
aisthesiologischen
A
daß
A
Überdruß
A
bewußt
A
Erfahrungsberichte
A
ferienmäßig
A
konturiert zur Diskussion zu stellen,
A
Z. B.
A
daß
A
müßen
A
daß
A
müßten
A
muß
A
in unserer Gesellschaft, die Kinder also,
A
sollten
A
?
A
ø
A
daß
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mißlichen
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umstandlos
A
müßte
A
Mißlichkeiten
A
d. h.
A
daß
A
z. B.
A
verblaßt
A
Gewißheiten
A
daß
A
daß
A
z. B.
A
60er
A
erfaßt
A
größere
A
Daß
A
daß
A
Daß
A
einbüßen
A
Die sogenannte
»Werte«
-Debatte ist also ein Phantom-Spektakel
A
daß
A
Verläßlichkeit
A
müßen
A
weiß
A
Großversuch
A
wir
A
daß
A
daß
A
daß
A
bloße
A
Äußerungen
A
Daß
A
15%
A
Fußkranke
A
muß
A
weiß
A
, denen
A
müßten
A
in der Tradition der antiken Erzählung von
»Pygmalion«
,
A
Bewußtsein
A
müßten
A
;
A
Schließlich
A
(vgl. Mollenhauer 1996)
A
daß
A
daß
A
2.3.
A
außerschulischen
A
außerhalb
A
Maßnahmen
A
daß
A
20er
A
Mißerfolgsbedrohung
A
Daß
A
.
A
daß
A
paßt
A
daß
A
großenteils
A
großen
A
daß
A
Rükken
A
anschließt
A
daß
A
muß
A
daß
A
daß
A
außerschulischen
A
Maßnahmen
A
daß
A
und ihre Folgen
A
mißlich
A
.
A
daß
A
,im
A
6
A
daß
A
daß
A
2.4.
A
daß
A
daß
A
bewußte
A
daß
A
daß
A
bewußt
A
daß
A
daß
A
anmaßend
A
daß
A
d. h.
A
hieß
A
muß
A
zuläßt
A
ø
A
[143:59] Brumlik 1995, Cramer 1996, Giesecke 1996, Gruschka 1996, Lenzen 1996, Meyer-Drawe 1996, Mollenhauer 1996, Müller 1996, Rorty 1989, Schleiermacher 1984, Winkler 1988