Das pädagogische Phänomen „Beratung“ [Werkkommentar]

1 Werk: Formale Beschreibung

1.1 Leittext

[1] Mollenhauer, Klaus. Das pädagogische Phänomen
Beratung
(Beitrag 1965; KMG 021-a). In Klaus Mollenhauer Gesamtausgabe. Historisch-kritische Edition. (2025). Herausgegeben von Cornelie Dietrich, Klaus-Peter Horn & Hans-Rüdiger Müller. https://mollenhauer-edition.de/kmg.html?file=3qqsp&edition=a.
[2] Basierend auf:
  • [3] Mollenhauer, Klaus (1965). Das pädagogische Phänomen
    Beratung
    . In Klaus Mollenhauer & C. Wolfgang Müller,
    Führung
    und
    Beratung
    in pädagogischer Sicht
    (S. 25–41 und 47–50). Heidelberg: Quelle & Meyer.
[4] Der Band von Mollenhauer und Müller besteht aus zwei getrennten Beiträgen der Autoren, deren Zusammenhang in einer gemeinsamen Einleitung begründet wird (s. KMG 020-a und den Werkkommentar dazu). Der Band erschien als Heft 29 der Reihe: Erziehungswissenschaftliche Studien, herausgegeben vom Comenius-Institut in Münster. Der Beitrag Mollenhauers umfasst 17 Druckseiten Text, ergänzt um ca. drei Druckseiten Anmerkungen.

1.2 Weitere Fassungen

[5] Weitere Fassungen liegen unserem Kenntnisstand nach nicht vor.

1.3 Übersetzungen

[6] Übersetzungen liegen unserem Kenntnisstand nach nicht vor.

1.4 Unveröffentlichte Quellen

[7] Diesem Werk konnten keine unveröffentlichten Quellen zugeordnet werden.

2 Inhalt und Kontexte

[8] Beratung sei, so Mollenhauer in der Einleitung zu seinem Beitrag, auf den ersten Blick
ein gleichsam
unpädagogisches
Phänomen
(KMG 021-a, Abs. 021:9)
. Doch sei dieses Phänomen insbesondere im sozialpädagogischen Feld verstärkt als
neue[r] pädagogische[r] Verhaltenstypus
(KMG 021-a, Abs. 021:7)
zu finden und könne als Erziehungsstil aufgefasst werden, der zum
Erziehungsbedürfnis der jungen Generation
(KMG 021-a, Abs. 021:9)
passe, trete doch
der Ratsuchende nicht in der Rolle des […] Erziehungsbedürftigen auf[], sondern als jemand, der zu selbständiger Entscheidung und Lebensführung fähig [ist] und deshalb dem Erziehungsanspruch, wenn überhaupt, nur noch in begrenztem Sinne unterworfen werden kann
(KMG 021-a, Abs. 021:9)
. Bislang fehle allerdings eine
pädagogische Reflexion über die pädagogische Struktur und Relevanz des Beratungsvorganges
(KMG 021-a, Abs. 021:9)
. Grundlegend dafür sei ein weiter Erziehungsbegriff, der Abstand nimmt von der Konzentration auf die direkte Einwirkung, das planvolle und zielorientierte Handeln sowie auf die überkommenen Erziehungsfelder Familie, Heim, Beruf, Schule. In der sozialpädagogischen Praxis der jüngeren Zeit sei ein anders akzentuiertes Erziehungsverständnis leitend, das eher auf begleitende und korrigierende Aktivitäten als auf Führung setze. Beratung lasse sich hier zuordnen und sei durch zwei Besonderheiten gekennzeichnet: Zum einen sei sie noch als
persönlich-pädagogisches Verfahren
(KMG 021-a, Abs. 021:15)
zu betrachten, zum anderen betreibe sie dezidiert
die Aktivierung des
Klienten
(KMG 021-a, Abs. 021:15)
. Sie stelle ein
charakteristisches Element mindestens im Felde moderner Sozialpädagogik, wenn nicht überhaupt ein Stilmerkmal der sich selbst demokratisch verstehenden Erziehungspraxis
(KMG 021-a, Abs. 021:15)
dar.
[9] Detailliert geht er in der Folge auf den Beratungsvorgang mit seinen verschiedenen Momenten und Aspekten ein, von der auslösenden Frage bis hin zum gegebenen Rat, der lediglich ein unverbindliches Angebot für die Ratsuchenden darstelle und v. a. auf
die Selbsttätigkeit, die Produktivität, die Rationalität und Phantasie des Ratsuchenden
(KMG 021-a, Abs. 021:22)
ziele, also übernommen, aber auch abgelehnt werden könne. Der
Bildungssinn der Beratung
(KMG 021-a, Abs. 021:28)
bestehe darin, durch Informationsvermittlung und
kritische Aufklärung
(KMG 021-a, Abs. 021:24)
den Ratsuchenden
ein rationales Verhalten zu sich selbst und zu den Bedingungen der eigenen Existenz
(KMG 021-a, Abs. 021:24)
zu ermöglichen. Der Berater dürfe in diesem Zusammenhang nicht zu viel Gewicht erhalten, sondern müsse bedenken, dass er seine
pädagogische
Legitimation einzig und allein vom Ratsuchenden
(KMG 021-a, Abs. 021:34)
erhalte. Im Erziehungsprozess ermögliche eine so verstandene Beratung ein neues Verhältnis zwischen Erziehenden und Heranwachsenden, ein
persönliches Vertrauensverhältnis
(KMG 021-a, Abs. 021:35)
.
[10]
[I]m Zusammenhang pädagogischer Institutionen
(KMG 021-a, Abs. 021:36)
habe Beratung schon weite Verbreitung gefunden. Mollenhauer nennt hier: 1. die (Erziehungs)Beratungsstellen, die eher therapeutische Einrichtungen geworden seien; 2. die
beratungsreichen
Erziehungsfelder
(KMG 021-a, Abs. 021:41)
Erziehungsbeistandschaft, Jugendgerichtshilfe, Familienfürsorge, Bewährungshilfe; 3. Einrichtungen, in denen Beratung bislang eine
marginale Rolle
(KMG 021-a, Abs. 021:42)
spiele, aber ausgebaut werden könne (u. a. Jugendstrafvollzug, Heimerziehung, Jugendarbeit, Schule); 4.
Praxisberatung
und
Supervision
(
KMG 021-a, Abs. 021:45
; s. a. KMG 011-A, Abs. 011:265–273; KMG 014-a, Abs. 014:33–38).
[11] Abschließend befasst sich Mollenhauer mit dem
didaktische[n] Problem in der Beratung
(KMG 021-a, Abs. 021:46)
. Die Bedeutung von Inhalten in Beratungsprozessen sei deutlich zu unterscheiden von den Inhaltsbezügen in der Schule, in der es um kanonisierte Wissensbestände sowie vorrangig um Information und Inhalte gehe. Dagegen würden in der Beratung die Inhalte erst im Prozess durch die jeweiligen Fragen und Anlässe hervorgebracht. Beratung bringe einen erhöhten Aufwand an didaktischer Reflexion mit sich und sei weniger
methodisierbar
(KMG 021-a, Abs. 021:48)
als die Unterrichtstätigkeit, da sie auf die
besondere[] Lebensproblematik des einzelnen Ratsuchenden
(KMG 021-a, Abs. 021:49)
reagieren müsse. Inhalt von Beratung sei die
Diagnose der eigenen Lage bzw. deren [gesellschaftlichen] Bedingungen
, wodurch Beratung
Aufklärung […] im fast reinen Fall
(KMG 021-a, Abs. 021:50)
und damit zum
exponierteste[n] Teil einer modernen Bildung
(KMG 021-a, Abs. 021:50)
werde.
[12] Mollenhauers Abhandlung von 1965 war nicht sein erster Beitrag zum Thema Beratung, sondern stellt eine erweiterte Fassung des entsprechenden Kapitels in der 1964 erstmals erschienenen Einführung in die Sozialpädagogik dar; so finden sich Textstellen aus dem Kapitel
C. 4. Beratung
(KMG 011-A, S. 011:266-011:273), mit wenigen kleinen Änderungen hier wieder (KMG 021-a, Abs. 021:16–35). Sie war auch nicht die erste Abhandlung, die Beratung und Erziehung thematisiert hat. Bereits 1959 hat Otto Friedrich Bollnow in seinem Buch Existenzphilosophie und Pädagogik diesem Thema ein Kapitel gewidmet und Beratung als eine der
unstetige[n] Formen von Erziehung
diskutiert
(Bollnow, 1959, Kap. IV, S. 78–86)
, worauf Mollenhauer selbst auch Bezug nimmt (KMG 021-a, Abs. 021:21–21).
[13] Beratung wird in diesem Beitrag von 1965 nicht primär als sozialpädagogisches Phänomen – wenngleich es im sozialpädagogischen Bereich weit verbreitet sei (KMG 022, S. 26) –, sondern als allgemeines pädagogisches Phänomen angesprochen. Dies verweist auf Mollenhauers Plädoyer für einer Erweiterung des Erziehungsbegriffs in jenen Jahren, das hier (KMG 021-a, Abs. 021:22–35) und an verschiedenen anderen Stellen in seinen Schriften der 1960er Jahre (s. KMG 010-a, Abs. 010:5–8; KMG 025-a) prominent zu finden ist.

3 Rezeption

[14] Mollenhauer gehört neben Walter Hornstein (Hornstein, 1966) oder Wolfgang Bäuerle (Bäuerle, 1966) zu den Autoren, die Mitte der 1960er Jahre an der
Geburtsstunde der
pädagogischen Beratung
(Dewe & Schwarz, 2013, S. 135)
beteiligt waren. Entsprechend erfährt Mollenhauers Beitrag zum Thema Beratung seit seinem Erscheinen bis in die Gegenwart hinein kontinuierlich Aufmerksamkeit. Wolfgang Scheibe bezeichnete ihn 1967 als einen
recht überzeugend[en]
(Scheibe, 1967, S. 307)
Entwurf und hob die analytische und ordnende Leistung Mollenhauers hervor.
Beratung als pädagogische Tätigkeit [dürfe] in Zukunft in keiner allgemeinen Pädagogik fehlen
(Scheibe, 1967, S. 307)
. Wolfgang Fischer äußerte sich in seiner ebenfalls 1967 erschienenen Besprechung skeptischer zu Inhalt und Ertrag der Mollenhauerschen Abhandlung und kritisierte, dass Mollenhauer sich gegen ein Verständnis von Erziehung richte, das
in der pädagogischen Fachdiskussion nicht das vorherrschende oder gar das einzige
(Fischer, 1967, S. 154)
sei, und zugleich selbst einen
diffusen Begriffswert von Erziehung
(Fischer, 1967, S. 154)
zugrunde lege.
[15] In der Folgezeit wird Mollenhauers Aufsatz in verschiedenen Beiträgen und Handbüchern zum Thema Beratung genannt bzw. knapp referiert (z. B. Hornstein, 1976, S. 681–682; Hornstein, 1977, S. 33–34; Nestmann, 1988, S. 102; Müller, 1993, S. 83; Müller, 1998, S. 437; Füssenhäuser, 2005, S. 129–131; Nestmann, Engel & Sickendiek, 2008, S. 37–38; Hechler, 2010, S. 14–15; Dewe & Schwarz, 2013, S. 135–138; Engel, 2014, S. 108), oft mit dem Hinweis, dass es sich um einen der frühen Beiträge zu einer erziehungswissenschaftlichen Befassung mit dem Thema Beratung gehandelt habe, und in der Regel in sozialpädagogischen Kontexten (s. auch Ried, 2017, Kap. 4.3.7). In der Allgemeinen Erziehungswissenschaft hingegen ist keine spezifische Rezeption der Überlegungen Mollenhauers festzustellen.

4 Literatur

4.1 Andere hier verwendete Werke von Klaus Mollenhauer

    [16] Mollenhauer, Klaus. Die Bildungs- und Erziehungsarbeit der Jugendverbände im Blickfeld der Erziehungswissenschaft (Beitrag 1964; KMG 010-a). In Klaus Mollenhauer Gesamtausgabe. Historisch-kritische Edition. (2025). Herausgegeben von Cornelie Dietrich, Klaus-Peter Horn & Hans-Rüdiger Müller. https://mollenhauer-edition.de/kmg.html?file=3qqtn&edition=a.
    [17] Mollenhauer, Klaus. Einführung in die Sozialpädagogik. Probleme und Begriffe (Monografie 1964; KMG 011-A). In Klaus Mollenhauer Gesamtausgabe. Historisch-kritische Edition. (2025). Herausgegeben von Cornelie Dietrich, Klaus-Peter Horn & Hans-Rüdiger Müller. https://mollenhauer-edition.de/kmg.html?file=3qqtk&edition=A.

4.2 Weitere Literatur

    [18] Bäuerle, Wolfgang (1966). Beratung in der Jugendhilfe. Neues Beginnen, 20(5), 162–168.
    [19] Bollnow, Otto Friedrich (1959). Existenzphilosophie und Pädagogik. Versuch über unstetige Formen der Erziehung. Stuttgart: Kohlhammer.
    [20] Dewe, Bernd & Schwarz, Martin P. (2013). Beraten als professionelle Handlung und pädagogisches Phänomen (2., überarbeitete und aktualisierte Auflage). Hamburg: Kovač.
    [21] Engel, Frank (2014). Allgemeine Pädagogik, Erziehungswissenschaft und Beratung. In Frank Nestmann, Frank Engel & Ursel Sickendiek (Hrsg.), Das Handbuch der Beratung: Bd. Band 1: Disziplinen und Zugänge (3. Auflage, S. 103–115). Tübingen: dgvt-Verlag.
    [22] Fischer, Wolfgang (1967). [Rezension von] Klaus Mollenhauer & C. Wolfgang Müller (1965)
    Führung
    und
    Beratung
    in pädagogischer Sicht. Heidelberg: Quelle & Meyer. Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 43(2), 153–155.
    [23] Füssenhäuser, Cornelia (2005). Werkgeschichte(n) der Sozialpädagogik. Klaus Mollenhauer – Hans Thiersch – Hans-Uwe Otto; der Beitrag der ersten Generation nach 1945 zur universitären Sozialpädagogik. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.
    [24] Hechler, Oliver (2010). Pädagogische Beratung. Theorie und Praxis eines Erziehungsmittels. Stuttgart: Kohlhammer.
    [25] Hornstein, Walter (1966). Beratung – ein Erfordernis unserer heutigen Gesellschaft. Jugendwohl, 47(9 und 10), 312–320 und 360–366.
    [26] Hornstein, Walter (1976). Beratung in der Erziehung – Aufgaben der Erziehungswissenschaft. Zeitschrift für Pädagogik, 22(5), 673–697.
    [27] Hornstein, Walter (1977). Beratung in der Erziehung – Ansatzpunkte, Voraussetzungen, Möglichkeiten – eine Einführung. In Walter Hornstein, Reiner Bastine, Helmut Junker & Christoph Wulf (Hrsg.), Funk-Kolleg Beratung in der Erziehung: Bd. I (S. 21–60). Frankfurt am Main: Fischer.
    [28] Müller, C. Wolfgang (1993).
    … Der Figur vom
    Arrangement der Umstände
    treu geblieben
    . Über Klaus Mollenhauer. In Dieter Lenzen (Hrsg.), Verbindungen. Vorträge anläßlich der Ehrenpromotion von Klaus Mollenhauer an der FU Berlin am 15.1.1993 (S. 81–90). Weinheim: Deutscher Studien Verlag.
    [29] Müller, C. Wolfgang (1998).
    … Der Figur vom
    Arrangement der Umstände
    treu geblieben
    . Über Klaus Mollenhauer. Neue Praxis, 28(5), 436–441.
    [30] Nestmann, Frank (1988). Beratung. In Georg Hörmann & Frank Nestmann (Hrsg.), Handbuch der psychosozialen Intervention (S. 101–113). Wiesbaden: VS.
    [31] Nestmann, Frank, Engel, Frank & Sickendiek, Ursel (2008). Beratung. Eine Einführung in sozialpädagogische und psychosoziale Beratungsansätze (3. Auflage). Weinheim [u. a.]: Juventa.
    [32] Ried, Christoph (2017). Sozialpädagogik und Menschenbild. Bestimmung und Bestimmbarkeit der Sozialpädagogik als Denk- und Handlungsform. Wiesbaden: Springer VS.
    [33] Scheibe, [Wolfgang] (1967). [Rezension von] Klaus Mollenhauer & C. Wolfgang Müller (1965)
    Führung
    und
    Beratung
    in pädagogischer Sicht. Heidelberg: Quelle & Meyer. Recht der Jugend vereinigt mit Recht und Wirtschaft der Schule (RdJ/RWs), 15(11), 307.
    [34] Thiersch, Hans (2014). Sozialarbeit/Sozialpädagogik und Beratung. In Frank Nestmann, Frank Engel & Ursel Sickendiek (Hrsg.), Das Handbuch der Beratung: Bd. Band 1: Disziplinen und Zugänge (3. Auflage, S. 115–124). Tübingen: dgvt-Verlag.
[35] [Klaus-Peter Horn]