Was ist Erziehung – und wann kommt sie an ihr Ende? [Werkkommentar]

1 Werk: Formale Beschreibung

1.1 Leittext

[1] Mollenhauer, Klaus. Was ist Erziehung – und wann kommt sie an ihr Ende? (Beitrag 1997; KMG 145-a). In Klaus Mollenhauer Gesamtausgabe. Historisch-kritische Edition. (2025). Herausgegeben von Cornelie Dietrich, Klaus-Peter Horn & Hans-Rüdiger Müller. https://mollenhauer-edition.de/kmg.html?file=3qqbr&edition=a.
[2] Basierend auf:
  • [3] Mollenhauer, Klaus (1997). Was ist Erziehung – und wann kommt sie an ihr Ende? Loccumer Pelikan, Religionspädagogisches Magazin für Schule und Gemeinde, 4(4), 155–160.
[4] Der Text umfasst sechs Druckseiten, ist zweispaltig gedruckt und enthält eine ganzseitige schwarz-weiße Abbildung einer Lithografie von Siegfried Neuenhausen, die den Titel trägt Papa arbeitet in Wolfsburg sowie eine zweite, kleinere Abbildung einer Lithografie von Harald Duwe Platz an der Sonne.

1.2 Weitere Fassungen

[5] Weitere Fassungen liegen unserem Kenntnisstand nach nicht vor

1.3 Übersetzungen

[6] Übersetzungen liegen unserem Kenntnisstand nach nicht vor.

1.4 Unveröffentlichte Quellen

[7] SUB Göttingen, Cod. Ms. K. Mollenhauer
  • [8] Manu. nicht-pub. 90 06: Klaus Mollenhauer, o. D.: Vortragsmanuskript (11 S., zum Vortrag in Loccum am 26.11.1996 und zugleich Vorfassung des Aufsatzes mit Änderungen im ersten (Definitionsversuch), dritten (Liberale Erziehung) und vierten (Das Generationenverhältnis) Gliederungspunkt)

2 Inhalt und Kontexte

[9] Das Werk geht zurück auf einen Vortrag, den Mollenhauer am 26.11.1996 im Loccumer Religionspädagogischen Institut hielt. Im Melanchthon-Jahr 1997 fand dort eine Auseinandersetzung mit dem Bildungsverständnis Philipp Melanchthons statt (Wernstedt, 1997). Im gleichen Jahr hatte der damalige Bundespräsident Roman Herzog Bildung zum Megathema für die Gesellschaft erklärt. Auch hierauf nimmt der Herausgeber der Zeitschrift, Bernhard Dressler, Bezug und stellt Mollenhauers Beitrag
zu der Frage, was heute unter Erziehung verstanden werden könnte […] im Hinblick auf eine Klärung des Verständnisses von Wertevermittlung
(Dressler, 1997, S. 145)
in diesen Horizont.
[10] Der Text Mollenhauers setzt sich allerdings nicht explizit mit Melanchthon auseinander, sondern spielt in seinem Titel an auf ein Buch des Göttinger Kollegen Hermann Giesecke, der bereits 1985, und in einer Neufassung 1996 Das Ende der Erziehung (Giesecke, 1985; Giesecke, 1996) proklamiert hatte. Dieses Buch war entstanden in unmittelbarer Nähe zu dem auch in Deutschland populär gewordenen Buch des amerikanischen Medienwissenschaftlers Neil Postmans Das Verschwinden der Kindheit (Postman, 1983). Beide Autoren machen zum einen den enorm gestiegenen Einfluss der Medien, zum anderen die Pluralisierung der Werte in spätmodernen Gesellschaften dafür verantwortlich, dass eine kategoriale Unterscheidung zwischen Kindern und Erwachsenen, insbesondere zwischen Eltern und ihren Kindern in der Familie, immer schwächer und Erziehung – als ein intentionales Einwirken Erwachsener auf Kinder im Horizont eines stabilen Wertesystems – damit immer weniger möglich werde. Auf der anderen Seite stünden, so Mollenhauer, solche pädagogischen Ansichten, die weniger von der Pluralisierung der Werte als vielmehr von ihrem Verlust ausgehen und es der Erziehung
aufbürden, die Mängel wettzumachen, so als könnte nun ein spezieller Berufsstand ins Reine bringen, was durch Politik, Ökonomie und Sozialstruktur ins Schlechte gebracht wurde
(KMG 145-a, S. 155)
.
[11] Beiden Einschätzungen widerspricht Mollenhauer mit seinem Text, indem er den Begriff und Anspruch der Erziehung erläutert, dann auf die beiden aktuellen Thematiken der Wertedebatte sowie die Kritik an einer (zu) liberalen Erziehung eingeht und schließlich vor diesem Hintergrund eine aktuelle Antwort auf Friedrich Schleiermachers Frage nach dem Generationenverhältnis findet. Am Ende des ersten Abschnitts schlägt er eine Definition der Erziehung, abgegrenzt von Dressur, Bildung und Sozialisation, vor:
Erziehung ist der Inbegriff aller Handlungen und deren Produkte, die den Zweck haben den Nachwuchs mit den (letzten Endes zu rechtfertigenden) Lebensformen der Kultur in ihren Grundlinien vertraut zu machen.
(KMG 145-a, S. 157)
Im zweiten Abschnitt (Werte) unterscheidet er zwischen – kulturell auf Dauer gestellten – Werten und den im Erziehungsalltag sehr viel häufiger wirksam werdenden Normen. Erziehungstheoretisch gehe es darum, beides auf eine plausible Art aufeinander zu beziehen, d. h. die Normen durch die Werte zu legitimieren. Diese Überlegung führt im dritten Abschnitt (
Liberale
Erziehung
) zu praktischen und aktuellen Fragen nach der angemessenen Form dieser Beziehungsgestaltung von Normen und Werten in der Erziehung. Mollenhauer setzt sich hier mit der zu dieser Zeit oft vorgetragenen Kritik an
den 68ern
auseinander, durch die allzu freie Erziehung sei eine die fundamentalen Werte der Gesellschaft nicht mehr befolgende Generation herangewachsen. Mollenhauer widerspricht, indem er – im Rückgriff auch auf sein in den Vergessenen Zusammenhängen (KMG 081-A) entwickeltes Theorem der Präsentation – Erziehung nicht an einzelne Personen oder eine einzelne Profession bindet, sondern die gesamte erwachsene Generation in der Verantwortung sieht, die richtige, d. h. an den dauerhaften Werten orientierte Lebensform zu präsentieren. Erziehung käme also erst dann an ihr Ende, wenn
wir keine rechtfertigungsfähige Lebensform mehr als
wohnliche
anzubieten hätten, wir also als erziehende Person völlig entbehrlich wären
(KMG 145-a, S. 160)
.

3 Rezeption

[12] In mehreren Gesamtdarstellungen von Mollenhauers Werk wird der Text als ein spätes Dokument von Mollenhauers erziehungstheoretischem Denken, in welchem er frühere Positionen auf aktuelle Debatten hin weiterentwickelt – insbesondere im Kontext der Wertedimension von Erziehung – aufgegriffen, so etwa bei Michael Winkler (2002, S. 51, 124–125) und bei Stefan Groß (2010, S. 140–141).
[13] Weiterhin wurde der Text häufiger in jüngeren erziehungstheoretischen Arbeiten rezipiert, entweder, um im Sinne eines Kompendiums Mollenhauers Arbeiten vorzustellen und einzuordnen, oder um die Argumente für eigene Weiterentwicklungen zu nutzen. Carola Kuhlmann (2013) stellt den Text in ihrer erziehungstheoretischen Rekonstruktion Mollenhauers den Auffassungen Wolfgang Brezinkas gegenüber. Raphael Grübler (2022) stellt ihn im Rahmen seiner gerechtigkeitstheoretischen Studie vor. Theresa Lechner (2024) verwendet Mollenhauers Argumentation zur Entwicklung ihres relationalen Ansatzes pädagogischer Beziehungen, während Ulrich Wehner (2011) ihn im Rahmen seiner Entwicklung einer generationellen Pädagogik aufgreift.

4 Literatur

4.1 Andere hier verwendete Werke von Mollenhauer

    [14] KMG 081-A

4.2 Weitere Literatur

    [15] Dressler, Bernhard (1997). Editiorial. Loccumer Pelikan, Religionspädagogisches Magazin für Schule und Gemeinde, 4(4), 145.
    [16] Giesecke, Hermann (1985). Das Ende der Erziehung. Neue Chancen für Familie und Schule. Stuttgart: Klett-Cotta.
    [17] Giesecke, Hermann (1996). Das Ende der Erziehung. Neue Chancen für Familie und Schule (7. Auflage). Stuttgart: Klett-Cotta.
    [18] Groß, Stefan (2010). Zwischen Politik und Kultur. Pädagogische Studien zur Sache der Emanzipation bei Klaus Mollenhauer. Würzburg: Königshausen & Neumann.
    [19] Grübler, Raphael (2022). Bildung und die Frage nach Gerechtigkeit. Eine gerechtigkeitstheoretische Analyse zentraler Bildungsziele als Erweiterung einer auf Chancengleichheit fokussierten Debatte. Bamberg: University of Bamberg Press.
    [20] Kuhlmann, Carola (2013). Erziehung und Bildung. Einführung in die Geschichte und Aktualität pädagogischer Theorien. Wiesbaden: Springer VS.
    [21] Lechner, Theresa (2024). Zwischen – eine relationale Anthropologie pädagogischer Beziehungen. Weinheim [u. a.]: Beltz Juventa.
    [22] Postman, Neil (1983). Das Verschwinden der Kindheit. Frankfurt am Main: Fischer.
    [23] Wehner, Ulrich (2011). Generationelle Pädagogik: Die menschheitsgeschichtliche Seite von Bildung und das öffentliche Moment von Erziehung. Paderborn [u. a]: Schöningh.
    [24] Wernstedt, Rolf (1997). Über Melanchthon, den Anreger. Loccumer Pelikan, Religionspädagogisches Magazin für Schule und Gemeinde, 4(4), 151–154.
    [25] Winkler, Michael (2002). Klaus Mollenhauer. Ein pädagogisches Porträt. Weinheim [u. a.]: Beltz.
[26] [ ]