Pädagogik und Politik [Textfassung b]
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Pädagogik und Politik

[047:7] Es ist sicher richtig [...], daß Pädagogik – sowohl in ihrer praktischen wie in ihrer erziehungswissenschaftlichen Gestalt – innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft in der Regel in Form eines Systems affirmativer Handlungs- und Erkenntnisregeln aufgetreten ist. Sie hat sich keine theoretische Basis verschaffen können, von der her es möglich gewesen wäre, das bestehende bürgerliche System pädagogischer Distributionen – der Verteilung von Lebenschancen nach Maßgabe geltender und materiell fundierter Herrschaftsbeziehungen – so strikt zu analysieren, daß das Denken einer gesellschaftlichen Alternative notwendig zu ihrem Geschäft gehörte.
[047:8] Dieses Problem – oder dieser Vorwurf – läßt sich auf verschiedenen Ebenen erörtern:
  • [047:9] auf der Ebene des institutionell gegebenen Handlungszusammenhangs in Familien, Schulen, Freizeiteinrichtungen, Heimen etc., in denen die institutionell gesetzten Zwecke entweder akzeptiert |b 423|oder nur auf gleicher Ebene gegen besser funktionable vertauscht wurden;
  • [047:10] auf der Ebene gegenständlicher Theorie, in der die gesellschaftlichen Bezüge nur als Randbedingungen eine Rolle spielen, nicht aber zum zentralen Forschungsinteresse der Erziehungswissenschaften wurden;
  • [047:11] auf der Ebene wissenschaftstheoretischer Begründung, wo es keine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Anspruch einer historisch-materialistischen Wissenschaftsauffassung gegeben hat.
[047:12] (9)
[047:13] Diese Erörterung kann indessen auch hier nicht vorgenommen werden [...] Vorweg aber seien wenigstens einige Merkmale der wissenschaftlichen Situation auf der Ebene gegenständlicher Theorie genannt:(9 f.)
  1. 1.
    [047:14] Das Problem der sozialen Ungleichheit und seiner pädagogischen Folgen ist innerhalb der Erziehungstheorie nicht als eines ihrer Hauptprobleme thematisiert worden.
    »Ungleichheit«
    wurde von ihr immer eher als ein Thema der Soziologie betrachtet.
  2. 2.
    [047:15]
    »Arbeit«
    wurde innerhalb der Erziehungstheorie nur zum Gegenstand, sofern sie sich den Bildungsinstitutionen als Teil des Curriculums eingliedern ließ, also in Berufsschulen, in der Polytechnischen Bildung, der Arbeitslehre; allenfalls noch in der Form eines formalisierten Arbeitsbegriffs, an dem nur noch die Lernschritte interessieren, die im Verlauf eines Arbeitsvorganges aufeinander folgen. Aber Arbeit als gesellschaftlich-konkretes Phänomen, als Produktion einer Gesellschaft in bestimmten historischen Lagen, lag am Rande des erziehungstheoretischen Interesses.
  3. 3.
    [047:16] Mit den Fragen der Produktion hängen die Fragen nach der Verwertung derjenigen Qualifikationen zusammen, die in den Bildungsinstitutionen erworben werden oder erworben werden sollen. Statt diese konkrete durch Institutionen und Sanktionen erzwungene Verknüpfung von Erziehung und Gesellschaft in ihre Forschungsinteressen aufzunehmen, orientierte sich die Erziehungstheorie eher an abstrakten Lern- und Bildungszielen. Die Frage nach dem gesellschaftlichen
    »Nutzen«
    von Erziehung und Ausbildung blieb den Ökonomen vorbehalten; der Erziehungstheorie schien dies ein marginales Thema zu sein.
  4. 4.
    [047:17] Die dominierende Rolle, die im bürgerlichen Denken die Ka|b 424|tegorie
    »Individualität«
    spielt, hat in der Pädagogik dazu geführt, daß Prozesse der
    »Kollektivität«
    eher abgewertet und abgewehrt wurden. Solidarität und gemeinschaftliches Handeln wurden keine das Forschungsinteresse leitende Begriffe; sie wurden zudem frühzeitig suspekt dadurch, daß sie in der sozialistischen Pädagogik der zwanziger Jahre nachdrücklich unter dem Gesichtspunkt einer klassenspezifisch orientierten Erziehungstheorie hervorgehoben wurden und diese Theorie außerdem streckenweise in ihren pädagogischen Sätzen den Charakter der alten normativen Weltanschauungspädagogik hatte – was freilich nicht für ihre gesellschaftstheoretischen Begründungen, sondern nur für die Form ihrer pädagogisch-normativen Deduktion gilt.(10)
  5. 5.
    [047:18] Der geisteswissenschaftlichen Pädagogik erschien Gesellschaft vornehmlich in Begriffen von
    »Kultur«
    , d. h. von ideologischen Systemen, deren Substrat und Genese zu vernachlässigen erlaubt schien. Kultur erschien damit allzu leicht schon als Gesellschaft und nicht als deren ideologisches Derivat. Infolgedessen tauchte auch gesellschaftlich-politisches Handeln nicht als ein Thema auf, das zu behandeln für die Erziehungstheorie unabdingbar wäre.
[047:19] Defizite dieser Art haben einen doppelten Effekt gehabt. Einerseits haben sich Soziologie, Politikwissenschaft und Ökonomie der vernachlässigten Themen zum Teil angenommen. Pädagogik erscheint dort – besonders im Rahmen soziologischer Forschung – als ein System von praktischen und theoretischen Regeln, das selbst dem von der Pädagogik als
»Kultur«
zusammengefaßten Komplex zugehört und also – sofern dieser Komplex als System bürgerlich-ideologischer Institutionen bestimmt werden kann – einer ideologiekritischen Analyse unterzogen werden muß: d. h.
»Pädagogik«
muß demjenigen Substrat konfrontiert werden, dem sie ihre Maximen verdankt (Ökonomie, Herrschaft, Ungleichheit). Die Themen, an denen dieses Interesse augenfällig geworden ist, sind
»politische Bildung«
,
»Bildungsbarrieren«
und
»Sozialisation«
.
[047:20] Die Skepsis gegenüber der bürgerlichen Pädagogik hat aber andererseits zu einer noch weitergehenden Reaktion geführt: der Entwertung einer Theorie, die sich die intersubjektiven Prozesse, die pädagogisches Handeln im Detail ausmachen, zu ihrem Gegenstand macht. Das Mißtrauen gegenüber dem konservativen |b 425|Charakter der Pädagogik veranlaßte besonders Autoren, die sich der
»linken«
Bewegung zurechnen, Erziehungsvorgänge nur noch in politischen bzw. ökonomischen Begriffen zu fassen oder sie gar nicht mehr zum Thema zu machen, vielmehr die Analyse von Bedingungen der Erziehung und deren Folgen im Kapitalverwertungsprozeß an die Stelle von Erziehungstheorie zu setzen. Auf der theoretischen Ebene wird damit die Differenz von Politik und Pädagogik (bzw. von politischer Ökonomie und Erziehungswissenschaft), auf der praktischen Ebene die zwischen politischem und pädagogischem Handeln vernichtet. Das wäre kein Verlust, wenn als eindeutig geklärt gelten könnte, daß es sich bei der Behauptung dieser Trennung um einen ideologischen Satz und bei der Praxis dieser Trennung um die Institutionalisierung eines ideologischen Interesses handelt. Genau dies wird von mir energisch bestritten. Zwar ist zutreffend, daß die Trennung von Politik und Pädagogik häufig oder gar in der Regel die Funktion gehabt hat, politische Fragestellungen dem Erziehungsdenken fernzuhalten, um es dadurch den Herrschaftsinteressen dienstbar zu erhalten; zwar ist ebenso richtig, daß jene Trennung ihre Genese in der Geschichte bürgerlicher Ideologien hat; Fragen nach Funktion und Genese aber liegen auf einer anderen Ebene als die Fragen der Geltung.(11f.)
[047:21] Da es sich hierbei um ein für alle Theorien im Erziehungsfeld fundamentales Problem handelt, müssen seine Aspekte mindestens skizziert werden, weil sonst Mißverständnisse unvermeidlich sind und Kontroversen entlang einer falsch bestimmten Konfliktlinie entstehen. Ich versuche deshalb, das Verhältnis von Politik und Pädagogik (was als Sammelname für Praxis und Theorie der Erziehung gelten soll) in einigen Thesen bzw. Hypothesen zu bestimmen:
[047:22] 1. Es ist die Annahme sinnvoll, daß jeder Erziehungsvorgang in den Merkmalen seines Vollzuges politische Implikationen enthält. Der Erwachsene bleibt auch als Erziehender ein Erwachsener in einem bestimmten gesellschaftlich-politischen Kontext. Er gibt seine Berufsrolle nicht auf, wenn er Vater ist; er gibt seine Rolle als Interessenvertreter nicht auf, wenn er Lehrer ist; er gibt seine Abhängigkeit von einem Anstellungsträger nicht auf, wenn er Heimerzieher ist; er gibt seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, zu einer Klasse, seine ökonomischen, seine |b 426|Macht- und Prestige-Interessen nicht auf, wenn er erzieht: Kurz: die Tatsache, daß er in einem durch Herrschaft strukturierten gesellschaftlichen Kontext lebt, kann er zwar verleugnen, er kann sie aber nicht abschaffen; jedenfalls nicht im Vollzug seines pädagogischen Handelns. Unter diesem Aspekt erscheint also der gesellschaftliche Kontext als die
»Basis«
der Erziehung, seine politischen Komponenten gehören somit auch zu den Basis-Komponenten des Erziehungsvorgangs. Erziehung ist nicht ein politisches Exterritorium, in dem die Tatsache von Herrschaft und ihrer ökonomischen Bedingungen suspendiert wäre. In diesem Sinne können die materiellen Spielräume, die durch den sozialen Ort eines bestimmten Erziehungsfeldes gegeben sind, nicht lediglich als Randbedingungen in die erziehungswissenschaftliche Analyse eingebracht werden, sie gehören zu ihren konstitutiven Komponenten.(12)
[047:23] 2. Es ist die Annahme sinnvoll, daß kein Erziehungsvorgang durch Rekurs auf seine politischen Komponenten oder Implikationen vollständig und zureichend erklärt werden kann. Unterstellt man jedoch, daß die entgegengesetzte Annahme sinnvoll ist, daß also durchaus Erziehungsvorgänge zureichend in politischen Begriffen beschrieben und erklärt werden können, dann würde diese totale Subsumtion pädagogischer Phänomene unter die Kategorien der Herrschaft und der Ökonomie einen Handlungstypus im Erziehungsfeld nahelegen, der nur noch partiell rational werden könnte: Legitimes Handeln im Erziehungsfeld wäre dann nämlich nur solches, das sich auf die politischen Basisbedingungen der Erziehung richtet; innerhalb des Erziehungsfeldes wären nur noch – nach funktionalistischem Muster – Wiederholungen und damit Bekräftigungen der politischen Bedingungen möglich. Das ist das Dilemma der
»pädagogischen Linken«
: Durch ihre politische Theorie zu der dichotomischen Unterscheidung von
»systemstabilisierenden«
und
»systemsprengenden«
Handlungen genötigt, verfügt sie über keinen kategorialen Rahmen, der
»systemsprengendes Handeln«
als unmittelbares Erziehungshandeln zu fassen vermag. Zur Deduktion aus der politischen Theorie genötigt, strukturiert sich das pädagogische Handlungsfeld allzu leicht im Sinne einer normativen Indoktrination [...] Indessen: dies ist – wie sich in mancher Erziehungspraxis der letzten Jahre gezeigt hat – eine mögliche, nicht aber eine notwendige Folge des politischen Ver|b 427|ständnisses von Erziehung. Gerade der Handlungskonsequenzen wegen muß alles daran gelegen sein, Erziehungswissenschaft nicht zur Bildungssoziologie oder zu einem Anwendungsfall politischer Ökonomie schrumpfen zu lassen. Sie würde sonst ihren Gegenstand verlieren und damit auch den pädagogischen Handlungszusammenhang sich selbst überlassen. [...] Es ist die Annahme sinnvoll, daß neben den politischen Basisbedingungen eine zweite Gruppe von Basisbedingungen des Erziehungshandelns gedacht werden muß. In einer Auseinandersetzung mit der marxistischen Erziehungstheorie und besonders im Anschluß an [...] Bernfeld drückt Friedhelm Nyssen1
1Friedhelm Nyssen (Hrsg.): Schule im Kapitalismus, Göttingen 1970.
das so aus: (13f.)
[047:24a]
»Die Ohnmacht von Kindern gegenüber Erwachsenen ist, das behaupte ich, ein kapitalismusunabhängiges Phänomen, eine, mit Bernfeld gesprochen, Konstante aller Erziehung.«
[047:27] [...] Jeder aus dem politischen Theoriezusammenhang deduzierte Satz, der in pädagogischen Kontexten gelten soll, muß sich als legitim im Hinblick auf den Umgang mit einer heranwachsenden Generation als eines Umgangs mit abhängigen Unerwachsenen ausweisen. Jeder Satz oder jede Regel im Zusammenhang dieses Umgangs muß auf seine politischen Implikationen hin befragt werden. Beides zusammengenommen erst vermag pädagogische Legitimität zu konstituieren. [...] (14)
[047:28] 3. In den vorangegangenen Sätzen wurde unterstellt, was nun als dritte These zum Verhältnis von Politik und Pädagogik formuliert werden soll: Für alles Erziehungshandeln muß eine andere Struktur postuliert werden als für politisches Handeln. [...] Politisches Handeln steht unter dem Druck praktischer Ziele; der politisch Handelnde trägt – als Erwachsener – das Risiko seines Handelns selbst; er hat es allenfalls anderen Erwachsenen gegenüber zu verantworten, die ihn zur Rede stellen können. Pädagogisches Handeln ist demgegenüber zu postulieren als ein Handeln mit
»gebrochener Intention«
; die Intentionen des Erziehenden müssen sich im Lichte der zu interpretierenden Intentionen des Educandus reflektieren. Der Herrschaftszusammenhang, den auch Erziehung immer schon enthält, kann wenigstens in einem seiner Aspekte tatsächlich aufgehoben werden: als Herrschaftsbeziehung zwischen dem mächtigen, über alle Mittel der Bedürfnisbefriedigung verfügenden Erwachsenen und dem zunächst ohnmächtigen Kinde; die Erziehung des Kindes ist abgeschlossen, |b 428|wenn diese Differenz verschwunden ist. Diese Differenz kann nur verschwinden, wenn ihr Ziel – Verständigung und gemeinschaftliches Handeln unter Gleichen – im Erziehungshandeln selbst schon antizipiert wird, und zwar nicht nur als gedachtes, sondern als eines, dessen Merkmale in der Praxis des Erziehungshandelns real hervorgebracht werden [...] Insofern ist pädagogisches kommunikatives Handeln.
[047:29] Eine solche Unterscheidung hat ihre Gefahren. Sie ist überhaupt nur vertretbar unter der Bedingung der ersten These. Pädagogisches Handeln verfällt in Illusion, wenn es über die politischen Grenzen hinwegsieht, die die historisch-konkreten kommunikativen Spielräume beschränken und in der Gestalt materieller Bedingungen und ihrer psychischen Folgen Kommunikation immer wieder verzerren. (15)
[047:30] [...] Offenbar ist das, was im Vorstehenden als Pädagogik bezeichnet wurde, seiner Aufgabe nach darauf angewiesen, [...] darauf zu bestehen, daß die entsprechenden Handlungszusammenhänge imstande sind, ein Maximum differenzierter kognitiver Strukturen hervorzubringen. Freilich wäre das gleiche für politische Handlungszusammenhänge zu postulieren. Unsere Unterscheidung liefe also auf das Postulat hinaus, daß pädagogisches Handeln nur als Praxis der Aufklärung in dem strikt kognitiven Sinne dieses Wortes und als Bildung der für solche Praxis unerläßlichen Bedingungen im Individuum selbst legitimiert werden kann[...] (16)