Der historische Materialismus
marxistischer Prägung ordnet kulturelle Phänomene wie etwa die Kunst dem
gesellschaftlichen
‚Überbau‘
zu, dessen
geschichtliche Entwicklung gesellschaftstheoretisch lediglich als
sekundäre Folgeerscheinung der materiellen gesellschaftlichen
‚Basis‘
, also der Entwicklung der ökonomischen
Produktionsformen und Produktionsverhältnissen einschließlich der
gesellschaftlichen Klassenstrukturen interpretiert wird. Die Analyse von
Kunstwerken verspricht aus dieser Sicht keinen eigenständigen
Erkenntnisgewinn, weil die Grundstrukturen gesellschaftlicher
Entwicklung am deutlichsten in der Analyse der ökonomischen Basis zutage
treten. [Hans-Rüdiger Müller]
Streifzug durch fremdes Terrain: Interpretation eines Bildes aus dem
Quattrocento in bildungstheoretischer Absicht
Vorbemerkung
[080:1] Die Interpretation eines Bildes
bereitet uns andersartige Schwierigkeiten als die Interpretation
eines sprachlichen Textes. Diese Unterschiede sind trivial, aber mir
scheint es dennoch nützlich, an sie zu erinnern: das Bild
präsentiert, gleichsam in einem Augenblick, was der sprachliche Text
nur zeitlich gestreckt mitteilen kann; der Text verwendet –
jedenfalls in unserer Schrift – keine analogen Zeichen; das Lesen
von Texten ist deshalb eine fortwährende
„Übung“
,
Grapheme und Bedeutungen zuzuordnen, und wir können uns dabei auf
ebenso fortwährende ähnliche Alltagsübungen stützen (
„Was hast Du gerade gemeint, als Du X sagtest?“
). Über Bilder aber kommunizieren wir nicht mit dieser
Regelmäßigkeit; zwar haben sowohl Bilder als auch sprachliche Texte
eine
„Syntax“
, am geschriebenen (gesprochenen)
Satz aber können wir unmittelbar Subjekt und Prädikat, Tempi,
Attribute usw. identifizieren; bei Bildern indessen scheinen wir
diese Fähigkeit nicht mit gleicher Zuverlässigkeit zu haben;
gleiches gilt für die Semantik, insofern mindestens, als wir bei den
„Wörtern“
– auch wenn sie im
Frühneuhochdeutsch des 15. Jahrhunderts geschrieben sind – noch
einen beträchtlichen Teil ihrer Bedeutung verstehen, bei Bildern aus
jener Zeit aber schon wesentlich weniger, weil uns die Bedeutung der
semantischen Trägerelemente (ein Hund, eine Blume, ein
kabbalistisches Zeichen, eine Kopfbedeckung, eine Körpergeste usw.)
nicht mehr vertraut ist. Bei einem älteren sprachlichen Text
brauchen wir in der Regel einige Zeit, um darauf aufmerksam zu
werden, daß wir ihn in wichtigen Hinsichten nicht verstehen; bei
einem Bild stellt sich dieses Nichtverstehen früher ein. Das |b 406|alles ist vielleicht
ein Artefakt der Tatsache, daß wir – immer noch – in einer
literarischen, nahezu vollständig alphabetisierten Kultur leben.
Bilder sind deshalb für den Alltag unseres Lebens keine
unverzichtbaren Träger von Lebenssinndeutungen mehr; und
infolgedessen schrumpft unsere Fähigkeit zur
Decodierung von Bildern auf die Wahrnehmung von deren
Signalfunktionen. Ich denke deshalb, daß das Bildverstehen –
besonders das Verstehen von Kunstwerken – in zweierlei Hinsicht für
Pädagogen eine wichtige Aufgabe ist: zum Verstehen der Lebensformen
vergangener Epochen, der Kultur, die in der Erziehung vermittelt
wurde – und zur Einübung in eine praktische Aufgabe, die wir den
Kindern heute schulden.
[080:2] Im folgenden versuche ich die Interpretation
eines Bildes, das auf den ersten, wohl auch noch auf den zweiten
Blick mit Erziehung und Bildung scheinbar nichts zu tun hat. Die
„bildungstheoretische Absicht“
dieses Essays
soll durch einige Hinweise erläutert werden.
„Bildungstheoretisch“
nenne ich solche Problemstellungen, die
die Auseinandersetzung der Person mit der kulturellen Überlieferung
zum Gegenstand haben, und das, was in dieser Auseinandersetzung mit der Person
geschieht. Die Teilprobleme, die unter einer derart globalen
thematischen Richtungsangabe auftauchen, sind – wie jeder weiß – so
vielfältig wie die je historisch besonderen Vorstellungen von der
Sache oder die Vielfalt der dazu gegenwärtig vertretenen Positionen.
Besonders in diesen letzten Streit will ich mich hier nicht einmischen, sondern lediglich die Sichtweisen
dieses Essays skizzieren: 1. Die Formierung von Bildungsprozessen
folgt je historisch bestimmten Regeln. 2. Sie geschieht nicht nur in
Schulen, sondern in allen sozialen Feldern. 3. Regeln sind nicht nur
in den gesellschaftlichen Einrichtungen repräsentiert, die die
Bildung der nachwachsenden Generation ausdrücklich zum Thema haben,
sondern in allen Produkten einer Lebensform. 4. Alle Produkte, die
eine Lebensform enthält oder hervorbringt, sind also, der
Möglichkeit nach, bildungsrelevant, wie auch alles, was in der
Bildung der Person geschieht, für die Lebensform relevant ist. 5.
Eine Analyse der für eine Lebensform repräsentativen Produkte (also
von Schulen, Lebensläufen, Bildern, Haushaltsbudgets, Formen des
ökonomischen Verkehrs, Geselligkeiten, Romanen, Siedlungsformen
usw.) ist also zugleich auch, wenn sie als Äußerung der Lebensform
im Hinblick auf Grundstrukturen vorgenommen wird, eine Analyse von
Bildungsstrukturen.
|b 407|
[080:3] Mir schein, daß die eigentümliche Anziehungskraft, die beispielsweise die
Arbeiten von Adorno, Aries, Benjamin, Elias, von Hentig, Bourdieu, Foucault u. ä. für Pädagogen haben, auch darin liegt,
daß an ihnen der unauflösliche Zusammenhang zwischen Bildungsproblemen und
den kulturellen Produkten hervortritt, häufig nur andeutungsweise; die (wissenschaftliche)
Auseinandersetzung mit den Produkten der Kultur, und zwar auf der ganzen
Skala und auch in den Heterogenitäten ihrer Ausprägung, ist deshalb ein Teil
bildungstheoretischer Arbeit.
[080:4] Mein Interpretationsweg ist eine Art Umweg. Dieser Umweg ist
indessen schon ein pädagogischer Weg: er führt an einen sehr anspruchsvollen
Gegenstand heran; er erfordert deshalb Mühe, Geduld und
„Begeisterung“
; er führt zur
Auseinandersetzung mit dem Ganzen wie mit den Details; und er führt – wenn
es gut geht – zum Verstehen einer
„Weitsicht“
als
Grundlage dessen, was – zur Zeit dieser Anschauung – Erziehung und Bildung
war. Da ich mir aber keine verantwortliche Pädagogik ohne begründete und
überlieferungswürdige Welt- und Selbst-Anschauung denken kann, ist auch die
Auseinandersetzung mit dem geschichtlich Anderen, mit dem, was dort der
Erziehung und Bildung zugrunde lag, eine notwendige pädagogische Übung. Daß
innerhalb unserer gesellschaftlich institutionalisierten Bildungsprozesse
die Auseinandersetzung mit der bildenden Kunst (im Unterschied etwa zum
sprachlichen Kunstwerk) so stark an den Rand gedrängt wurde, halte ich für
eine problematische Sache. Die Erziehungswissenschaft wiederholt diese
Attitüde: in Darstellungen zur Geschichte der Pädagogik tauchen Bilder nur
als Illustration sprachlicher Dokumente auf. Damit verbindet sich eine
eigentümliche Zurückhaltung Kunstprodukten gegenüber, so als seien diese für
die Erschließung von historischen Realitäten weniger relevant. Wieso
eigentlich? Für die Oberfläche gesellschaftlicher Erscheinungen könnte ich
das noch akzeptieren, interessiert man sich aber für Tiefenstrukturen, wird
diese Meinung obsolet. Sowohl der
„bildungsbürgerliche“
,
affirmative Kunstbetrieb wie auch die
„Basis-Überbau“
-Theoreme haben uns diese Verzerrung der Perspektive eingetragen
(vgl. dazu Sahlins 1981).
Angesichts der Probleme, die uns Bilder von Piero della
Francesca, Jan van Eyck, Vermeer van
Delft, Goya, van Gogh, Max
Ernst usw. aufgeben, sind der ästhetisierende Konsum wie die
sozial-
„realistische“
Attitüde ridicule, aber |b 408|zueinander passende Komponenten eines im Grunde kulturfeindlichen Habitus.
Demgegenüber möchte ich geltend machen, daß Kunst auch (oder besonders) für
Pädagogen ein Erkenntnismedium ist, nicht riskanter als eine empirische
Untersuchung. Vor allem aber nötigt die Auseinandersetzung mit Kunst den Erziehungswissenschaftler zur Beantwortung der Frage
nach dem, was überlieferungsbedürftig ist. Ich ordne mein Nachdenken in die
folgenden Schritte:
1.
[080:5] Oberflächlicher Hinweis auf den Gegenstand der
Interpretation,
2.
[080:6] Beschreibung und Deutung einiger formaler
Charakteristika,
3.
[080:7] Ikonographie der Bildelemente,
4.
[080:8] Versuch einer Bestimmung der grundlegenden Sinnstruktur des
Bildes.
[080:9] Allerdings möchte ich, um das folgende als
erziehungswissenschaftlich gemeinte Diskussionsbemerkung deutlich zu machen,
den hypothetischen Rahmen skizzieren, innerhalb dessen sie mir wichtig ist.
Die Bildungsgeschichte der Neuzeit lese ich nicht als allmählichen
Fortschritt zu pädagogisch immer besser ausformulierten Positionen und
Praktiken, aber auch nicht als dessen Gegenbild. Sie scheint mir vielleicht
– um hier einmal auf der Ebene einfacher (vielleicht allzu einfacher!)
Formeln zu bleiben – u. a. an einer
„Schwierigkeit“
zu laborieren, die – mal stärker, mal schwächer
hervortretend – sich umschreiben läßt als Versuch der Bestimmung dessen, was
pädagogisch relevante
„Erfahrung“
ist. Die szientistische
Antwort darauf dominierte in der Regel, vor allem dort, wo Erziehung in den
Einflußbereich gesellschaftlicher Planung geriet (ein fast analytisches
Urteil). Dieses Problem ist historisch nicht
„erledigt“
,
weder praktisch noch theoretisch. Die Diskussion um die
„Dialektik der Aufklärung“
, um
„System“
und
„Lebenswelt“
, die
„Alltagswende“
, die
„Antipädagogik“
, die Flut düster abrechnender Autobiographien,
Wachstumsraten versus ökologische Orientierung, neue Mystik, auch
Problemstellungen in der bildenden Kunst usw. sind meiner Vermutung nach
Anzeichen dafür. Das alles ist nicht völlig neu. Meine Hypothese: Es handelt
sich um eine Problemstellung, die im Hinblick auf den Bildungsprozeß des
Menschen seit der Frührenaissance immer wieder aufgegriffen wurde, in der
Auseinandersetzung mit den dominanten ökonomischen und kulturellen
Entwicklungen aber immer wieder unterlag; eine kla|b 409|re Formulierung der gegenwärtigen Form des Problems
würde durch historische Rekonstruktionen gewinnen; da es dabei um
bildungstheoretische, also um Fragen der Lebensform geht und damit von
„Weltsichten“
, dürfen die Rekonstruktionen sich nicht
auf
„Pädagogisches“
im engeren Sinne des Wortes
beschränken.
[080:10] Im Rahmen eines derartigen Programms ist dieser Essay vielleicht
ein Mosaikstein. Weitere Steine würde ich suchen bei Erasmus und Rabelais und Paracelsus, bei Comenius, den Autobiographien des 18. Jahrhunderts, in
der Romantik, bei Dada und Surrealismus, usw. Dabei habe ich noch ein
weiteres Interesse angedeutet: nämlich das pädagogische Denken wieder
stärker zu verknüpfen mit der Entwicklung anderer kultureller Produktionen,
und zwar in Auseinandersetzung mit dem einzelnen Produkt.
1.Hinweis auf den Gegenstand
[080:11] Das Bild, über das ich
nachdenke, ist ein Werk der Frührenaissance. Ein Maler, von dessen persönlichem, alltäglichem Leben man
fast nichts weiß, wenn man schon seine Bilder und Schriften nicht
zum
„Alltag“
eines solchen Menschen rechnen will, hat es im Herbst des Jahres 1459 zu malen begonnen und Anfang 1460 vollendet1
|b 433|1Die Datierung
des Bildes ist umstritten. Ich folge hier dem
Datierungsvorschlag Ginzburgs (1981, S.
176f.), der zwar nicht zwingend ist, mir
aber als der plausibelste erscheint.
. Der Maler heißt Piero della Francesca, sein
Bild heißt La Flagellazione
(die Geißelung)2
|b 433|2Lebensdaten Piero della Francescas: geb. 1417 oder
etwas früher in Borgo San Sepolcro; Sohn eines Gerbers und
Kaufmanns; 1439 Mitarbeiter von Veneziano
bei der Herstellung von Fresken in einer Florentiner Kirche;
1449/50 Fresko-Auftrag in Ferrara; Mitte der 50er bis Anfang der
60er Jahre Fresken in S. Francesco in Arezzo (häufig als
„Hauptwerk“
bezeichnet); 1459 Aufenthalt in
Rom, Kontakte zu Humanisten (L. B.
Alberti); 1460–1470 häufi|b 434|ge Aufenthalte beim Herzog von
Urbino, Federico da Montefeltro,
und vermutlich als Architekt beim Bau des Palazzo ducale beteiligt; teils in dieser Zeit, teils später (in den
80er Jahren) drei theoretische Schriften (über Perspektive,
Mathematik und Geometrie); im Alter vermutlich erblindet; gest.
1492 in Borgo.
. Piero war – wie man schon
aus der Produktionszeit für dieses Bild vermuten kann, aber auch von
anderen Werken weiß – ein langsamer Maler (mindestens bei den
Bildern, die er bis 1460 malte). Für dieses Bild hat er sich Zeit
genommen, nicht nur für die Konstruktion der
„erzählten“
Geschichte, das Ausmalen der Flächen, die
Charakteristik der Figuren, sondern offenbar besonders auch für die
Proportionen, die formalen Beziehungen
zwischen den Bildelementen. Die Reproduktion gibt einen ungefähren
Eindruck von dem Gegenstand meines Interesses. (Es ist ein Tafelbild
und mißt 58 x 81 cm.) Mit dem ersten und noch flüchtigen Blick
erkennt man, daß es sich um die Geißelung Jesu handelt.
Wer die überlieferten Geschichten kennt, entdeckt wohl auch Pilatus, vermißt vielleicht das Volk und die
Spötter, findet die Szene ein wenig befremdlich. Die Architektur –
das kennt man vielleicht von anderen Bildern mit dieser oder einer
ähnli|b 410|chen Szene –
ist wohl aus Verschiedenem gemischt, erweckt im ganzen aber den
Eindruck eines durchgehenden
„Stils“
.
[080:12] Aber irgend etwas geschieht im Auge, mit
meiner Tätigkeit des Sehens. Ich habe den Eindruck – und ich denke:
jeder andere Betrachter hat ihn bei längerem Hinsehen auch –, daß der Blick gleichsam hin-und-her-schwankt zwischen der
Geißelungsszene und den drei Männern im Vordergrund rechts. Diese
Dreier-Gruppe scheint überhaupt ein Bild für sich zu sein;
jedenfalls ist ein Bezug zur Geißelungsszene nicht erkennbar
(vorerst), außer eben jener eigentümlichen Suggestion, die
Einstellung des Blicks zwischen rechts und links, vorn und hinten
dauernd zu wechseln.
[080:13] Darüber hinaus stellen sich vor allem
ikonographische Fragen ein:
–
[080:14] Wer sind die drei so verschiedenartigen Männer auf der
vorderen Bildebene?
–
[080:15] Haben sie im Hinblick auf die Geißelungsszene irgendeine
bestimmbare Bedeutung?
–
[080:16] Wer ist der Mann im Turban, der uns den Rücken
zukehrt?
–
[080:17] Was für eine merkwürdige Kopfbedeckung hat Pilatus?
–
[080:18] Ist die Wahl der Architektur zeitgenössische oder
kunsthistorische Konvention oder Träger von besonderer Bedeutung?
[080:19] Ich lehne mich hier an die methodologischen Vorschläge Panofskys an (1978, S. 36ff.), der drei Schritte
oder Ebenen der Deutung unterscheidet: die Erfassung des
„natürlichen“
Sujets (
„vorikonographische Beschreibung“
), des „konventionellen Sujets (
„ikonographische Analyse“
) und der
„eigentlichen Bedeutung“
oder des
„Gehalts“
(
„ikonographische
Interpretation“
). Panofsky bestimmt noch (der
zitierte Aufsatz wurde erstmals 1939 veröffentlicht) die erste Ebene
als
„pseudoformal “
und ordnet sie eher den
gleichsam naiven Akten der Alltags-Deutung zu. Die begrifflichen Mittel der neueren hermeneutischen,
besonders der zeichentheoretischen Diskussion (vgl. dazu
beispielsweise M. Frank 1980) geben indessen Anlaß, diese
Ebene des Verstehens nicht nur als Vorstufe (
„vorikonographisch“
) zu fassen. Vielmehr stellt sich bereits
hier – und zwar vor und relativ unabhängig von der ikonographischen
Analyse – eine eigentümliche hermeneutische Aufgabe, die nicht nur
„pseudo-formal“
ist, sondern die Formprobleme
durchaus schon in ihrer Substanz betrifft – eine Ansicht, die schon in Schleiermachers
Begriff der
„grammatischen“
Interpretation
enthalten ist und wohl auch noch bei R. Barthes in
seiner Unterscheidung von
„Form“
,
„Sinn“
und
„Begriff“
sich
ausdrückt (vgl. R. Barthes 1964, S. ). Das gilt für das Verstehen von
|b 411|
„Texten“
(sprachlichen und nicht
sprachlichen) überhaupt. In der neueren Kunstentwicklung wurde gar
die erste Verstehensebene gelegentlich zum Programm gemacht: die
„konstruktivistische“
Malerei konzentriert sich
puristisch auf die ästhethisch-formalen Konfigurationen (auf
„Form“
oder
„Syntax“
also)
und zwingt den Betrachter zu vorikonographischem, formalem
Verstehen. Angesichts derartiger Bilder kehrt sich Panofskys Hierarchie der Ebenen um: der
spontane ikonographische Zugang wird hier gerade verwehrt, erweist
sich als Alltags-Attitüde: Verstehen wird überhaupt erst möglich,
wenn auch der Interpret des Bildes sein Erkenntnisvermögen auf
Proportionen und Regeln konzentriert. Insofern erfüllt diese
Richtung moderner Kunst ein altes, aus der Romantik stammendes, aber
von Piero della Francesca schon – wenn man so
spekulativ reden darf – vorformuliertes hermeneutisches Programm.
(In diesem Zusammenhang mag es interessant sein, daß einer der
großen
„abstrakten“
Maler – A.
Calderara – sich ausdrücklich auf Piero bezieht; vgl. Jochims 1972).
[080:20] Ein Bild – besonders eines wie dieses von Piero – ist auch
in formaler Hinsicht komponiert. Die ikonographischen Fragen sind nur
historisch zu beantworten; für formalästhetische Fragen genügt zunächst ein
wenig geübte Aufmerksamkeit. Ich beginne deshalb mit diesen.
2.Beschreibung und Deutung einiger formaler
Charakteristika
[080:21] Daß das Bild mit großer Sorgfalt perspektivisch, und zwar zentralperspektivisch konstruiert ist, ist unmittelbar augenfällig. Wo also liegt der Fluchtpunkt3
|b 434|3Ob es komparative
Untersuchungen zur Lage von Fluchtpunkten gibt, weiß ich nicht. Meine
eigenen, freilich sporadischen, Beobachtungen lassen mich vermuten, daß
die Lage von Fluchtpunkten nicht nur formal-immanente (syntaktische),
sondern auch
„ikonologische“
Bedeutung hat, also
einen kulturellen Habitus indiziert.
? Man kann es leicht
nachmessen: er liegt ein wenig links von der hintersten der vier Säulen, die
das Bild teilen, und zwar schon im dunklen Feld der Wand. So hat das Bild
gleichsam zwei
„Mitten“
, die allerdings außerordentlich
nah beieinanderliegen: die perspektivische Mitte, durch den Fluchtpunkt
bestimmt, und die planimetrische Mitte (die genaue Hälfte des Bildes in der
Ebene der hinteren Wand), durch die rechte Begrenzung des dunklen Teiles der
Wand bestimmt. Nimmt man diese senkrechte Linie als Orientierung, entsteht
in der Tat der Eindruck von zwei gleich großen, nur auf einer Tafel
verbundenen Bildern. Dieser Eindruck wird aber sogleich unsicher; und das
hat drei Gründe: der Blick wird auch auf den Fluchtpunkt links neben der planimetrischen Mittellinie gelenkt; der
Arm des rechten Geißlers ragt über Fluchtpunkt und
planimetrische Mittellinie hinaus; die Senkrechte, die das Bild
planimetrisch teilt, teilt es |b 412|in zwei Hälften nur in der hinteren Bildebene – in der vorderen ist das
rechte
„Bild“
kleiner, erscheint aber andererseits größer
weil näher, aber auch wieder – der Fläche nach – und selbst, wenn man die exakte Bildmitte in der Senkrechten als Orientierung wählt – kleiner, des sich nach hinten erweiternden Raumes wegen. Die unruhige Bewegung4
|b 434|4Vgl. dazu die Beschreibung der
Wirkung ästhetischer Gegenstände, die Schiller
gab:
„Erhabene“
ästhetische Gegenstände
„setzen das Gemüt in eine unruhige Bewegung und
spannen es an. Ein gewisser Ernst, der bis zur Feierlichkeit
steigen kann, bemächtigt sich unserer Seele, und indem sich in
den sinnlichen Organen deutliche Spuren von Beängstigung zeigen,
sinkt der nachdenkende Geist in sich selbst zurück und scheint
sich auf ein erhöhtes Bewußtsein seiner selbständigen Kraft und
Würde zu stützen“
(Friedrich Schiller 1793)
.
, in die, wie eingangs bemerkt, unser Blick versetzt wird
– und dies trotz der Ruhe, die das Bild im
ganzen präsentiert – findet damit vielleicht und vorerst eine plausible
Erklärung.
[080:22] Aber mit dem Verhältnis des Fluchtpunktes zu den anderen im Bild
konstruierten Proportionen hängt noch ein weiteres formales Merkmal
zusammen: Der Fluchtpunkt liegt, für Pieros Bilder überhaupt
charakteristisch, erstaunlich tief, und er befindet sich an einer
ikonographisch gleichsam leeren Stelle des Bildes.
Das war nicht durchaus üblich: sowohl beispielsweise Massaccio, ein von der Florentiner Kunstkritik
außerordentlich geschätzter Zeitgenosse Pieros als auch
(beispielsweise) Leonardo, eine Generation jünger,
legten in der Regel den Fluchtpunkt wesentlich höher in die Bildebene und
zugleich auf ein ikonographisch wesentliches Bildelement (z. B. das Haupt
Jesu, eine bedeutungsvolle Geste, den planimetrischen
Mittelpunkt einer Handlung, einen Punkt über dem Handlungszentrum u. ä.).
Piero tut das nicht, und zwar hartnäckig. Der Effekt ist, daß – ich riskiere jetzt eine
durch Daten vorerst nicht zu sicherende Deutung – ein Kontrast, eine Opposition erzeugt wird zwischen
perspektivischer Bewegung und planimetrischer Ruhe,
„Tiefe“
und
„Oberfläche“
oder Handlung und
Kontemplation. Diese Opposition ist allerdings derart, daß ihre beiden
Komponenten gleichzeitig im Recht bleiben.
[080:23] Schon bis hierher zeigt sich – vorsichtig gesprochen –, daß
bereits die nur formalästhetischen Charakteristika inhaltliche Hinweise enthalten. In
linguistischer Metapher gesprochen: Die Bildsyntax zeigt schon der Bildsemantik eine Richtung. Die Hypothese soll noch
durch einige weitere Beobachtungen bekräftigt werden (ich folge dabei der
Interpretation M. Imdahls): der Abstand zwischen der vorderen Säule und dem Kopf des
mittleren, jungen Mannes vorn und der Abstand des Kopfes Jesu
von derselben Säule ist gleich; beide haben überdies die fast gleiche
Beinstellung. Der linke Deckenbalken zeigt, planimetrisch verlängert, genau
auf den Kopf Jesu und in weiterer Verlängerung auf den Fuß des
Bärtigen vorn; die |b 413|rechte
planimetrisch schräge Dachkante zeigt genau auf den Kopf des jungen Mannes
und in weiterer Verlängerung auf den Fuß des rechten Geißlers. Was oben
„Opposition“
genannt wurde, kann also durchaus im
strukturalistischen Sinne dieses Ausdrucks verstanden werden: Perspektive
und Planimetrie sind in diesem Bild nicht nur zwei mögliche
„Lesarten“
des Betrachters, sondern komponierte Dimensionen der Sache
(des Bildes und seiner Botschaft) selbst: innerhalb der perspektivischen
Lesart trennt der linke Deckenbalken die Bildteile,
innerhalb der planimetrischen verbindet er sie; er
repräsentiert also, das Element des ganzen Bildes, eine Opposition. Die Geißelungsszene
besteht aus drei Personen und einem mit dem Rücken uns zugekehrten
Zuschauer; auch die drei Männer vorn rechts haben
einen Zuschauer: er befindet sich, komplementär im Hinblick auf die
Geißelungsgruppe komponiert, rechts außerhalb des Bildes (das ergibt sich
zwingend aus der Blickrichtung des Bärtigen; inwiefern das
„zwingend“
ist und wer der Zuschauer ist,
wird sich noch herausstellen). Die Säule, an der Jesus steht, bezeichnet
genau den Goldenen Schnitt der Strecke zwischen den beiden vorderen
Säulen.
[080:24] Die Reihe derartiger Beobachtungen ließe sich noch verlängern
(beispielsweise ist Jesus im Original des Bildes 17,8 cm
groß; das ist genau 1/10 der Größe, die in zeitgenössischen Legenden als die
Körpergröße Jesu angegeben wurde). Man muß nicht soweit gehen wie
ein englischer Kunsthistoriker, der hier von
„Maß- und
Zahlenmystik“
sprach. Es genügt, sich
klarzumachen, daß allein die formal-ästhetischen Verhältnisse des Bildes
weder zufällig noch beliebig-willkürlich sein können, sondern ein
außerordentlich dicht konstruiertes Netz von
„Informationskanälen“
, ein Kursbuch gleichsam sind, die festlegen,
was an inhaltlicher Bedeutung nun noch möglich ist und was nicht.
[080:25] Zu dieser Behauptung berechtigt noch ein anderer, historischer
Umstand. Piero schrieb, allerdings vermutlich erst im Alter von ungefähr 60 Jahren, ein Buch über die Perspektive in der Malerei (De prospectiva pingendi). Nach
dem Urteil E.
Panofskys war es das damals fortgeschrittenste Werk über
diesen Gegenstand, nachdem schon L. B. Alberti um 1435 das Problem in einem langen
Traktat behandelt, vor allem aber ein wenig früher F. Brunelleschi (1377–1466, Architekt des Florentiner Doms und des Palazzo Pitti) das Prinzip der architektonischen perspektivischen
Zeichnung
„erfunden“
hatte. |b 414|Auch die mittelalterlichen Dombaumeister
beispielsweise konnten schon perspektivisch zeichnen; aber erst in der
Frührenaissance konnte diese Darstellungspraxis theoretisch-geometrisch begründet werden. Erst jetzt nämlich gelang es – interessanterweise
den
„Künstlern“
und nicht den
„Wissenschaftlern“
– die freilich längst bekannte euklidische Geometrie, durch das
Verständnis ihrer Prinzipien, auf beliebige Bereiche menschlich-technischen
Könnens anzuwenden:
„Theorie“
also, als Einsicht in die
Gesetze dieses oder jenes Machens, soll nun dieses Machen leiten.
[080:26] Wie wichtig den Renaissance-Malern diese Einstellungsänderung war,
illustriert die folgende Geschichte: Dürer, als er 1506 in Venedig
war, wanderte von dort ca. 100 km nach Bologna
„um der Kunst in heimlicher Perspektive willen, die
Einer mich lehren will“
(zit. nach Panofsky 1977)
; freilich beherrschte er zu dieser Zeit, wie übrigens auch längst
schon die flämischen Maler (z. B. Jan van Eyck), die Praxis
perspektivischer Zeichnung und Malerei; die Meisterschaft darin ist in
seinen Bildern mühelos zu erkennen. Aber die
„Kunst“
, d.
h. nun: die Kenntnis der Prinzipien solcher Mal-Praxis, hatten erst wenige,
und diese hatten ihre Kenntnisse nicht zum Druck gegeben. Deswegen wanderte
Dürer nach Bologna zu einem Lehrer, von dem er wußte, daß
er über diese Kunst verfügte. Man weiß nicht, wer
dieser
„Eine“
war, vielleicht der Mathematiker Luca
Pacioli, irgendein Professor der Universität von Bologna, oder gar der
Architekt Bramante. Dafür, daß Bramante es war, spricht
einiges: Der einzige Text, in dem Probleme so behandelt wurden, wie Dürer es erwartete, war Piero della
Francescas Text
„De prospectiva pingendi“
; Bramante war in Urbino,
noch zu Pieros Lebzeiten, gewesen und hat ihn getroffen; daß er
dessen theoretische Arbeit über die Perspektive nicht gelesen haben sollte,
ist unwahrscheinlich. Andererseits, da Pieros Traktat
damals nicht im Druck erschien (es wurde erst 1899 gedruckt), gehörte Bramante vermutlich zu den ganz wenigen Zeitgenossen, die
das Werk lesen konnten. Da schließlich Bramante nicht nur
Architekt, sondern auch Maler war, ist es wahrscheinlich, daß Dürer ihn und nicht einen Gelehrten der Universität
aufsuchte. Das alles sind hypothetische Konjekturen, keine historischen
Tatsachen. Ziemlich sicher jedoch ist, daß der, den Dürer in Bologna aufsuchte, um die theoretischen Prinzipien
dessen, was er praktisch schon konnte, zu erlernen, jenes Werk von Piero|b 415|kannte. – Die Handhabung der
Perspektive also war für Maler jener Zeit wesentlich mehr als nur eine neue
Technik, die das Repertoire ihrer Fertigkeiten erweiterte. Es war eine neue,
prinzipiell theoretisch begründbare Weise der Weltdarstellung.
[080:27] Der Dachbalken in Pieros Bild, der von links oben durch
das Haupt Jesu, durch die Bildmitte (den Fluchtpunkt) auf die
Füße des Bärtigen weist, ist nun vielleicht in seiner Bedeutung besser
verständlich: er unterstreicht, als kräftigstes Formelement, die
perspektivische Lesart; perspektivisch perfekter kann ein Bild kaum sein.
Zugleich setzt er ihr die planimetrische Lesart des Bildes unübersehbar entgegen,
zunächst deutlich in der Dreier-Gruppe rechts (pointiert ausgedrückt in der
Fußstellung des Mannes im Brokatmantel und dessen Profil), eher indirekt und
erst bei längerer Betrachtung erkennbar in den schon erwähnten
planimetrischen Verhältnissen zwischen der perspektivisch durchkomponierten
Geißelungsgruppe und jenen drei Männern. Zwischen diesen beiden Bildebenen
besteht offenbar eine Beziehung der Gleichheit (insofern sie in ein und
demselben Bild enthalten sind) und eine Beziehung der Verschiedenheit
(sofern das eine Geschehen perspektivisch entrückt, das andere eher
flächig-planimetrisch dicht vor unsere Augen geführt wird): zwei
„Realitätsebenen“
.
[080:28] Das alles mag überflüssig scheinen bei einer Bildinterpretation in
bildungstheoretischer Absicht. Ich kann die Notwendigkeit eines solchen
ersten Deutungszuganges hier nicht beweisen. Ich kann nur darauf hinweisen,
daß die formalen Verhältnisse des Bildes eine Art Struktur enthalten, die
schon vor jeder ikonographischen Bestimmung
Bedeutung nahelegt:
–
[080:29] die Irritation zwischen Fluchtpunkt und Bildmitte und damit
eine Bewegung des Auges des Betrachters,
–
[080:30] die Konfrontation von Perspektive und Planimetrie und damit
die Konstruktion von zwei Realitätsebenen,
–
[080:31] die perspektivische Trennung und planimetrische Verbindung
der beiden Szenen und damit die Verknüpfung der zunächst getrennten
Realitätsebenen.
[080:32] Die raffinierteste Konstruktion des Bildes scheint mir jedoch die
Konstruktion des Betrachters oder Zuschauers (also meiner selbst als
Betrachter des Bildes) zu sein:
[080:33] Im Bild gibt es bereits einen Zuschauer, der uns, die Betrachter
des Bildes, simuliert: den uns mit dem Rücken zugekehrten Zuschauer der
Geißelung. Sofern wir auf diesen Bildausschnitt |b 416|schauen, sind wir nicht nur Zuschauer der Geißelung,
sondern auch Zuschauer des Zuschauers der Geißelung. Sofern wir auf den
rechten Teil des Bildes schauen, sind wir Zuschauer eines Gesprächs.
Überdies hat die Dreier-Gruppe einen imaginären Zuschauer/Zuhörer – die
Blick- und Rederichtung des Bärtigen zeigt es. Sofern wir aber das ganze
Bild mit dem Blick zu erfassen versuchen, sind wir Zuschauer eines Gesprächs
angesichts eines Zuschauers der Geißelung. In modernistischer Terminologie
(und an dieser Stelle vielleicht noch wenig überzeugend ausgedrückt) könnte
man sagen: Das Bild verunsichert unsere Identität als Zuschauer – wovon?
3.Zur Ikonographie
[080:34] Der bärtige Mann in der Dreiergruppe vorn rechts markiert in der
Komposition eine Sonderstellung: er
„stört“
die
perspektivischen Fluchtlinien durch die plane Gestaltung seiner Füße und
dadurch, daß er teils die Säule verdeckt. Er ist der einzige Bärtige (mit
Ausnahme des Pilatus), was deshalb bemerkenswert ist, weil Bärte
damals unter Italienern noch durchaus unüblich waren; sein Kopf hat, im
Vergleich zu seinen beiden Partnern
„rilievo“
(ein die Qualität eines Bildes bezeichnender Terminus der
Florentiner Kunstkritik), d. h. ist mit Licht und Schatten komponiert; er
wirkt, ebenfalls im Vergleich zu den beiden anderen, fremdartig. Offenbar
spricht er, denn sein Mund ist leicht geöffnet; daß er spricht, wird durch
die Geste seiner linken Hand zur Gewißheit: diese Geste bedeutet (bedeutete
damals!), daß eine Behauptung, eine Meinung, eine Vorhaltung, ein Hinweis
mit Nachdruck ausgesprochen wird. Wer ist dieser Mann, was sagt er und was
verbindet ihn mit den anderen Personen und Bildelementen? (Für das folgende
vgl. Ginzburg
1981.)
[080:35] Diese Fragen sind nur zu beantworten, wenn zuvor Gewißheit
entsteht im Hinblick auf einige andere Personen des Bildes. Z. B.: Wer ist
der Mann, der der Geißelung zuschaut und uns den
Rücken zukehrt? Das ist leicht zu sagen: an der Kleidung erkennen wir den
Türken! Was hat es mit der Kopfbedeckung des Pilatus auf sich? Es ist
die charakteristische Kopfbedeckung des Kaisers von Byzanz! Und nun noch
einmal der Bärtige: er ist – es ergibt sich aus Kleidung und Bart – ein
Grieche. Es hat den Anschein, als spräche er zu dem Manne rechts im
Brokatmantel. Aber das stimmt nicht – wie wir wis|b 417|sen; sein Blick führt nach rechts vorn vor das Bild. Der Mann im Brokatmantel indessen hört
ihm aufmerksam zu. Wer ist es?
[080:36] Es ist Giovanni Bacci, Sohn eines
außerordentlich reichen Gewürzhändlers aus Arezzo. G. Bacci taucht
in mehreren Bildern Pieros auf; er war nämlich einer
seiner wichtigsten (einträglichsten) Auftraggeber. Er war aber für Piero nicht nur einträglich. Den Maler und seinen Mäzen
verbanden Interessen oder Neigungen, wie sie damals unter den Humanisten der
Toskana verbreitet waren. (Beide kannten z. B. L. B. Alberti,
dessen Architektur-Konzept Piero besonders ansprach: die
Geißelungshalle auf dem Bild ist für Albertis ziemlich charakteristisch.)
[080:37] Über
Giovanni Bacci also war Piero mit
den Kreisen humanistischer, wohlhabender Intellektueller aus Arezzo
und Florenz verbunden, die das Geschäft der Väter nicht fortführen
mochten, über neue Lebensperspektiven nachdachten, Dialoge und
Abhandlungen über Probleme der Philosophie, der Rhetorik, der
Kunstkritik, der Philologie (zumal mit Bezug auf die griechische
Sprache), der frühbürgerlichen Lebensführung schrieben und dabei die
christliche Überlieferung im Kontext einer neu
„entdeckten“
historischen Kontinuität zwischen Antike und
Gegenwart auslegten (vgl. dazu z. B. Burckhardt 1925, Garin
1966, Müller 1969, Panofsky
1980). Die Verbindung zwischen Piero und
diesen Humanisten ist (zumindest – und über den Kontakt zu L. B.
Alberti hinaus) durch drei Daten nahegelegt: Einer
der bedeutendsten Humanisten damals, Leonardo Bruni
Aretino, hatte mit G.
Bacci engen Kontakt. Das zweite Datum: 1439 fand das
Konzil zu Florenz statt; als der Kaiser von Byzanz, Johannes VIII.Palaiologus, seinen Einzug in Florenz hielt, war auch Piero in Florenz und malte, zusammen mit dem
etwas älteren Domenico di Bartolomeo
(genannt Veneziano) Fresken für die Kirche S. Egidio; er begann
damit nicht nur seine Malerlaufbahn, sah vermutlich nicht nur den
Umzug und den byzantinischen Kaiser (zwanzig Jahre später
porträtierte er ihn in einem Fresko der Kirche S. Francesco in Arezzo, mit dem
charakteristischen Hut des Kaisers, dem gleichen, den auf der
„Geißelung“
Pilatus trägt. Auftraggeber nicht nur der
„Geißelung“
, sondern auch des Aretiner Freskos war
Giovanni Bacci); er bekam vermutlich auch
Zugang zu den aus Anlaß des Konzils reichlich versammelten
Humanisten. Das dritte Datum ist das Bild selbst: Es ist eine Art
humanistisches Lehrstück und spielt in Form und Inhalt auf die
Themen an, die jene Intellektuellen beschäftigten.
[080:38] Ohne detaillierter auf den Entstehungskontext des Bildes
einzugehen und ohne für die einzelnen Bildelemente jeweils hier |b 418|einen Beweis zu geben (vgl.
dazu vor allem Ginzburg 1981, S.
133ff.), berichte ich, was man sieht und was der Empfänger des Bildes – es ist vermutlich
Federico
da Montefeltro, Herzog von Urbino – sehr wohl verstanden
hat:
[080:39] Er ist es, der von dem Bärtigen angesprochen wird. Dieser Grieche
wiederum ist ein
„Emigrant“
, humanistischer Geistlicher
und Freund Federicos: BischofBessarion (Vergleiche mit anderen zeitgenössischen Porträts
Bessarions belegen das). Das Bild enthält also eine
Botschaft Giovanni Baccis, des Auftraggebers, durch den gemalten
Mittelsmann Bessarion an Federico. Was ist Inhalt der
Botschaft?
[080:40] Inhalt der Rede Bessarions ist die Geißelung Jesu, aber in eigentümlicher Verfremdung. Daß die
Geißelungsszene eine zweite Wirklichkeitsebene darstellt, im Vergleich zu
der Dreier-Gruppe, ergibt sich aus der Syntax des Bildes; neben den schon im
2. Abschnitt hervorgehobenen Merkmalen füge ich hier noch die
Lichtverhältnisse hinzu: Auf die fällt das Licht von links, auf die Geißelung von rechts. Der Ort ist
sowohl erfunden als auch ein wirklicher Ort: Es ist der Nordeingang des
Laterans in Rom (da das Licht auf die Dreier-Gruppe von links, also aus dem
Osten kommt, ist dies die erste,
„alltägliche“
Realität).
Erfunden ist die Kombination und Zusammenrückung der architektonischen
Elemente: die Treppe hinten links ist die Heilige Stiege (Scala Pilatii), über die Jesus während des Prozesses
dreimal gegangen sein soll und die Helena, die Mutter Kaiser Konstantins, von Jerusalem nach Rom bringen ließ (ca. 315),
und auch die Türen hinten sollen dem Pilatus-Palast entstammen.
[080:41] Konstantin war für die Humanisten eine wichtige
Traditionsfigur: Er stellte die Christenverfolgung ein und war
„kulturpolitisch“
eine Art Mittler zwischen antiker
Tradition und neuerer christlicher Entwicklung; z. B. förderte er die
architektonische Entwicklung der christlichen Basilika, u. a. den Lateran in
Rom. Daß Ginzburg auch diese Spur im Bild verfolgt, ist deshalb
verständlich: Er meint, in der Figur auf der Geißelungssäule Konstantin zu erkennen, und zwar der Ähnlichkeit mit einer
gefundenen Skulptur wegen, die tatsächlich vor dem Lateran gestanden habe.
Die Beweise scheinen mir in diesem Fall aber zu unbestimmt zu sein. Trotzdem
ist es eine schöne Interpretationsidee! – Helena ließ aber, nach
der Überlieferung, noch drei Türen aus dem Pilatus-Palast nach Rom bringen,
wo sie in den Lateran eingebaut wurden. Zwei |b 419|davon sind die beiden von Piero gemalten in
der hinteren Bildebene. Die Behauptung ist nicht unstrittig. Ginzburg (1981,
S. 153
f.) trägt sie zwar plausibel vor, erwähnt aber nicht
die ebenso plausible These Salmis (1979, S. 188f.), nach der die
Türen jenen gleichen, die sich in einem von Piero gebauten
(entworfenen) Haus in Borgo, seinem Wohnort, befinden. Außerdem sind die
Türen in einem Stil gemalt, der der Architektur Michelozzos (1396-1472) sehr ähnlich ist, einem Florentiner Architekten, von dessen Stil
auch Alberti viel übernommen hat und von dessen Bauten (u.
a. der Medici-Palast) im Florenz der 50er Jahre schon
mehrere zu sehen waren. Auch im Palazzo ducale in Urbino gibt es mehrere solcher Türen, die allerdings erst nach
der
„Flagellazione“
entstanden. Die Türen auf dem Bild könnten
also eine viel schlichtere Erklärung finden als Ginzburgs Vorschlag: die
Form der Türen fügt sich besser als andere in Pieros Stil kühler
Intellektualität ein. Und die Säulenhalle, in der sich die Geißelung
abspielt, gab es 1359 an der Nordseite des Laterans wirklich (man sieht es
an zwei zeitgenössischen Bildern von anderen Malern), wenngleich nur mit
drei und nicht vier Säulen und nicht in der von Piero gemalten
Klassizität. Auch der Glockenturm stand im Lateran – allerdings hätte Piero ihn
„wirklichkeitsgetreu“
auf die linke Seite des Bildes setzen müssen. Das triviale Bürgerhaus
hinter G.
Bacci ist reine Erfindung. Alles andere ist zwar nicht
naturalistisch, aber doch realistisch in dem Sinne, in dem ein dichtes Netz
von symbolischen Verweisen Wirklichkeit zur
Anschauung bringt, die Struktur
„hinter“
der Erscheinung
also keine
„Fiktion“
ist, sondern sich auf konkrete
Erfahrung bezieht.
[080:42] Ferner: Pilatus trägt die Kleidung des
byzantinischen Kaisers. Das ist offenbar eine doppelte Information, Pilatus und Nicht-Pilatus, Kaiser und Nicht-Kaiser –
doppelt wie die Reliquien: Die Heilige Stiege ist auch trivialer
Hintergrund, die Pilatus-Türen sind auch dekorative Auflockerung der Wand,
die Körperlänge Jesu ist auch (nur) Element formaler
Bild-Metrik. Ähnlich steht es mit dem Zuschauer in der Türkentracht: Das
wäre, nach Maßgabe historischer Genauigkeit, nicht möglich. Auch hier wird,
wie in einer Collage, verschiedene Bedeutung gemischt, aber nicht willkürlich.
[080:43] Das Bild ist die visuelle rhetorische Figur einer Ermahnung, die
Federico
da Montefeltros humanistische Freunde ihm vorhalten, und
zwar aus Anlaß und im Anschluß an einen |b 420|Karfreitagsgottesdienst in der Lateranskirche in
Rom, am frühen Vormittag (das Licht kommt von Osten) des Jahres 1459, denn
dies ist das einzige Datum von dem wir annehmen können, daß Bessarion, Bacci und Piero zugleich in
Rom waren. Piero war, eines kirchlichen Malauftrags wegen, in Rom;
die beiden anderen standen – mehr oder weniger – in päpstlichem Dienst.
Während Piero Zeit hatte, sein Bild zu skizzieren, das zu malen
Bacci ihm vielleicht an diesem Karfreitag aufgetragen
hatte, reisten Bessarion und Bacci ab; Bessarion wegen des Kongresses in Mantua, auf dem die
Möglichkeiten eines neuen Kreuzzuges gegen die Türken erwogen werden
sollten. Federico da Montefeltro aber, der Freund jener drei, hielt nichts von Kreuzzügen, hielt sich vielmehr in allen kriegerischen Angelegenheiten zurück, mochte sich in solchen Dingen in keiner Weise beteiligen5
|b 434|5Das war besonders für
Bessarion schmerzlich: 1453 wurde Konstantinopel
von den Türken/Osmanen erobert; Bessarion war Emigrant, ohne
aktuelle Rückkehrmöglichkeit; er war nicht nur Christ, er war Grieche;
die Türken waren inzwischen weit über Konstantinopel hinaus vorgedrungen
und bedrohten jetzt gerade (1459) den Peloponnes. Wer von den dreien
(Bessarion, Bacci, Piero) die
Idee gehabt hat, wissen wir freilich nicht. Aber sie haben wohl, da
Piero dabei war, die Vorstellung entwickelt, er
könne ein Bild malen (und Bacci könne es bezahlen), in dem
Federico eindringlich vor Augen gestellt würde,
worin in diesem historischen Moment seine humanistische Aufgabe liege:
zu helfen, die Türken aus Griechenland (Ostrom, christlichem Gelände) zu
vertreiben, die Kontinuität zwischen Antike und Gegenwart
wiederherzustellen, die Zukunft eines christlich-humanistischen
Abendlandes zu sichern.
.
[080:44] Nun ist das Bild Pieros ikonographisch lesbar: Giovanni
Bacci vor dem toskanischen Bürgerhaus als Zuhörer, Bessarion in griechischer Kleidung als Mitteiler der
Botschaft, und zwar – bildsyntaktisch – an der Grenze der beiden
Bildebenen/Wirklichkeitsebenen. Seine Mitteilung: Der Heide/Türke beobachtet nicht nur, sondern läßt abermals die Geißelung
Jesu (der Christenheit) vollstrecken; der Kaiser von Byzanz
ist hilfloser (gleichgültiger?) Zuschauer des historischen Geschehens; dies alles angesichts einer Kultur, die
gerade gegenwärtig (1459) sich anschickt, heidnische (antike) und
christliche Elemente (wie gut 1000 Jahre früher Konstantin) in eine zu bringen; kannst Du, Federico da Montefeltro, Zuschauer
oder zögernd bleiben wie der Kaiser von Byzanz (Johannes VIII,) oder gar in der uneindeutigen Rolle des
Türken als Aufseher oder zynischer Beobachter; kannst Du die Vernichtung
Griechenlands dulden?
[080:45] Aber das Bild hat nicht nur
das politische Thema griechisch-nationaler Identität, nicht nur das religiöse Thema christlicher und
nicht nur das kulturelle Thema humanistischer Identität – es hat auch ein ästhetisches Thema: Es eröffnet einen
ästhetischen Diskurs, der anders ist, es plädiert nicht für
nationale Interessen – dazu sind die griechischen Attribute viel zu
verhalten dargestellt; es plädiert nicht für Kreuzzüge – die
Geißelungsszene erscheint wie ein erstarrtes Ballett, und keine Person ist so dargestellt, daß sie Aggression auf
sich lenken könnte; es plädiert aber auch nicht für die Durchsetzung
eines kulturpolitischen Programmes – die Verschachtelung von histo|b 421|rischen, räumlichen und dialogischen
Verhältnissen ist dafür viel zu komplex. Es plädiert – denke ich –
für Nachdenklichkeit und Proportion und enthält insofern eine
eigentümliche ästhetische Botschaft für den Herzog von Urbino, die historisch
beträchtlich über das hinausgeht, was vielleicht Bessarion und Bacci dem
Maler angeraten haben: Selbstreflexion.
[080:46] Dies scheint mir gerade für eine
Interpretation in bildungstheoretischer Absicht wesentlich, und zwar
weniger der Thematik der
„zur Sprache“
gebrachten
Selbstreflexion, als der Art wegen, in der das Thema präsentiert
wird; es wird nicht gepredigt – eine
„Predigt“
hält allein Bessarion, nicht der Maler –
sondern gleichsam in actu
vorgeführt. Selbstreflexion (und die dadurch in Gang kommende
Identitätsproblematik) kann ja gar kein Inhalt, keine Eigenschaft,
kein substantiell Zeigbares sein, sondern es ist sinnvoll (entgegen
manchem gegenwärtigen Gebrauch des Wortes
„Identität“
, nach dem man sie etwa könne!) nur als Verhältnis
(
„Proportion“
) denkbar. Das kann deshalb auch
nicht als Inhalt eines Textes erscheinen,
sondern nur als seine Form (vgl. dazu
beispielsweise W. Benjamin, 1973, S. 67ff.) und als die Beziehung, die der Text (hier das Bild)
zwischen sich und dem Rezipienten stiftet. In der Form also wird die Tiefenstruktur erkennbar, das im Bild
enthaltene Bildungsprinzip; in Panofskys
Terminologie: seine ikonologischeStruktur.
(Eben diese methodologische Annahme hat Bourdieu
offenbar bewogen, seine bildungstheoretischen Hypothesen zum
„Habitus“
an Panofskys
Kunsttheorie anzuschließen – vgl. P. Bourdieu 1970, S. 120ff., und
ders. 1979, S. 139ff.) Aber
diese Struktur des ästhetischen Objekts für sich ist nur die eine Hälfte der ikonologischen/bildungstheoretischen Wahrheit; die andere Hälfte ist die pragmatische Struktur der
Beziehung zwischen Gegenstand und Rezipient. Die Form des enthält diese Beziehung nur als Möglichkeit; diese kann
freilich verfehlt werden; es bleibt dann nur bei
„Halbbildung“
(Adorno), an der allerdings
nicht das Produkt (wenn es nicht Konfektion ist) die Schuld trägt,
sondern der Rezipient bzw. der Rezeptionsbetrieb. Die Pädagogik hat
sich mit diesem Anspruch von Kunst schon immer schwer getan und die
Auseinandersetzung mit ihr in die entsprechenden Unterrichtsfächer
eingesperrt, statt sie als integrales Medium der Bildung zu
begreifen.
[080:47] Die Frage, worüber im Vordergrund rechts gesprochen wird, will ich
deshalb noch einmal stellen. Gewiß ist das Thema – |b 422|die Bildkomposition beweist es – politische
Geschichte und Religionsgeschichte, Antike und Gegenwart, historische
Kontinuität und Diskontinuität, das Florentiner Konzil 1439 und der
bevorstehende Kongreß in Mantua. Aber dies alles kann auch nur Hintergrund
sein, so wie man, wenn man über sich selbst zu sprechen versucht,
Hintergründe ausmalt oder erläutert (Historisches, Kulturelles, Regionales,
Soziales), um das Thema hervortreten zu lassen, an dem
„eigentlich“
gelegen ist. Genau dies tut Piero in diesem
unvergleichlichen Bild. Was läßt er hervortreten?
[080:48] Der – ikonographisch gesehen – historische
„Schlüssel“
des Bildes ist der Auftraggeber Giovanni Bacci
und/oder die Figur des Bischofs Bessarion. Der ästhetische Schlüssel
dagegen, oder die eigentümlich-eigenwillige
Pointe, die der Maler setzt, liegt in dem bisher noch nicht erwähnten jungen
Mann, der mittleren Person in der Dreiergruppe rechts. Diese Gestalt scheint
mir sowohl ikonographisch als auch formalästhetisch, sowohl semantisch als
auch syntaktisch, ein Kommentar dessen zu sein, was Piero im Auftrage
Baccis in seinem Bild kommentieren sollte. Wer ist
es?
[080:49]
„Seine Anwesenheit ist in keiner der
unzähligen Interpretationen, die nach und nach vorgeschlagen
worden sind, in annehmbarer Weise erklärt worden. Sein
Gewand, sein Angesicht, seine Haltung scheinen nicht
übereinzustimmen mit dem, was ihn umgibt. Er ist barfüßig,
mit einer einfachen Tunika bekleidet und steht zwischen zwei
Männern in Schuhen, die moderne, fein geschneiderte Gewänder
tragen. Weder spricht er (wie der Mann zu seiner Rechten),
noch hört er zu (wie der Mann zu seiner Linken). Der
feierliche Ernst des ersteren, die Aufmerksamkeit des
letzteren berühren ihn nicht. Keine erkennbare Emotion und
kein erkennbares Gefühl werfen Falten auf seinem
außerordentlich schönen Gesicht. Seine Augen starren auf
etwas, das wir nicht sehen. Der junge Mann ist tot“
(Ginzburg 1981, S. 171)
.
[080:50] Ginzburg schlägt vor,
„den jungen Mann mit Buonconte da Montefeltro, dem
unehelichen Sohn Federicos, zu
identifizieren“
(ebd.)
. Für diese Hypothese spricht folgendes: Ein Jahr ehe Piero mit der Arbeit an dem Bild begann, starb Buonconte im Alter von 17 Jahren an der Pest. Die
humanistische Bildung des Jungen erstaunte alle, mit denen er in Berührung
kam. Er schrieb nicht nur ein sehr gutes Italienisch – für die Humanisten
seit Dante, Petrarca und Bocaccio eine
wesentliche Erwartung an den Gebildeten –, sondern führte sei|b 423|ne
Briefwechsel auch in Latein und Griechisch. Bessarion – Freund der
Familie des Herzogs – nahm sich des Jungen besonders an, unterstützte ihn in
seinen Studien und wünschte, ihn zu firmen. Zumal daß Buonconte die griechische Sprache beherrschte, muß
Bessarion beeindruckt haben. Auch Federico hing sehr an ihm und wünschte, daß er sein Erbe
werden sollte. In dem Jungen also symbolisierten sich die Zukunftshoffnungen
dieses humanistischen Kreises. Es ist deshalb mindestens plausibel, daß er
in der Dreiergruppe des Bildes steht, besonders dann, wenn die Botschaft des
Bildes an Federico gerichtet ist.
[080:51] Da von Buonconte kein Bildnis existiert, bleibt es bei
Vermutungen. Daß es sich indessen um eine starke Hypothese handelt, wird
auch von den Bild-Proportionen bekräftigt, von denen im zweiten Abschnitt
die Rede war: Buonconte und Jesus sind je Mittelpunkt einer
der beiden Szenen, beide sind tot, ihre Körpergesten sind analog, sie sind
beide gleich weit (planimetrisch) von jener Bildlinie entfernt, die die
beiden Realitätsebenen voneinander trennt, beide signalisieren Hoffnung auf
eine zwar riskante, aber – wenn Federico der Angesprochene ist – durch
Tätigkeit zu bewältigende Zukunft.
[080:52] Neben dem religionsgeschichtlichen, dem politischen und dem
kulturellen also auch ein
„privater“
,
bildungsgeschichtlicher Diskurs, und zwar nun nicht mehr nur in der Weise
des Hinzeigens, sondern so, daß noch einmal das ganze Bild in eine reflexive
Bewegung hineingenommen wird.
4.Sinnstruktur und Habitus
[080:53] Es bedarf keiner besonderen Erläuterung, daß dieses Bild kein
Kunstwerk für das
„Volk“
war. Es war für eine
intellektuelle und ökonomische Elite gemalt, nur diese war überhaupt in der
Lage, es zu verstehen (die italienischen Bauern bespielsweise hatten derzeit
andere Probleme). Eine
sozialgeschichtlich-ideologiekritische Interpretation des Bildes als –
vielleicht ungewollte – Affirmation der damals herrschenden Verteilung von
Gütern, Macht und Bildung wäre gewiß nicht abwegig, aber doch trivial: Sie
würde dieses Dokument in die Unzahl kultureller Produkte einreihen, die eine
gleiche Funktion hatten (und haben). Ich versuche deshalb, in diesem letzten
Interpretationsabschnitt, den kritischen Bildungssinn des Werkes |b 424|anzudeuten. Daß die
„Geißelung“
Pieros
„gesellschaftlich“
ist und affirmative Momente enthält,
hat die ikonographische Interpretation deutlich gezeigt;
„kritisch“
kann sie nur sein, wenn ihre
Botschaft das kunstsoziologisch den gesellschaftlichen Verhältnissen als
Determinanten zurechenbare semantische Material übersteigt. Das geschieht
auf zweierlei Weise: durch Arrangement, Collage,
„Bricolage“
(Levi-Strauss) des historisch zuhandenen Zeichenvorrats und
durch Konstruktion der Bildverhältnisse (sowohl innerhalb des Bildes als
auch zwischen Bild und Betrachter). Die bildende Wirkung der Kunst (ihre
pädagogische Funktion also) beruht auf eben diesem Sachverhalt.
[080:54] Den bildungstheoretischen Gestus des Bildes möchte ich in drei
Formeln zusammenfassen (Perspektive und Fläche, imaginierte Identität,
„perspektivische“
Brechung) und diese abschließend auf
die Dimensionen der Bildungswelt (Raum, Beziehung, Zeit) beziehen.
[080:55] (1) Perspektive und Fläche. Die
Zentralperspektive ist – wie gesagt – nicht nur eine neue Fertigkeit des
Renaissancemalers, sondern zeigt die Entdeckung (Erfindung) eines
theoretischen Prinzips für die Malweise an. Ihre Bedeutung geht aber noch
darüber hinaus, denn sie dokumentiert eine Weltsicht.
[080:56]
„Der Vorgang der Projektion eines
Gegenstandes auf eine Fläche in solcher Weise, daß das sich
ergebende Bild durch die Distanz und den Ort eines
‚Gesichts-Punktes‘
determiniert ist, versinnbildlicht gleichsam
die Weltanschauung einer Periode, die eine historische
Distanz – ganz vergleichbar der perspektivischen Distanz –
zwischen sich und der klassischen Vergangenheit
eingeschaltet und dem Geist des Menschen einen Platz
‚im Mittelpunkt des Universums‘
zugewiesen hatte, genauso wie die Perspektive seinem Auge
einen Platz im Mittelpunkt ihrer graphischen Darstellung
zuwies“
(Panofsky 1977, S.
346)
.
[080:57] Die Perspektive verändert nicht nur das Bild, sondern auch den
Betrachter. Das Subjekt ist
„der Bezugspunkt des Erkennens“
, mithin ist die Zentralperspektive
„eine
‚symbolische Form‘
dieser
anthropozentrischen Einstellung“
(Imdahl 1979, S. 192)
.
[080:58] Piero spielt in seinem Bild besonders souverän mit
diesem Anthropozentrismus; das Bild repräsentiert zugleich einen anderen Modus von Weltsicht in seinen planimetrischen Konstruktionen: in der
„Proportionsmystik“
, von der im zweiten Abschnitt die Rede war, und
in der Konstruktion der mensch|b 425|lichen Figuren, die der mittelalterlichen Proportionslehre des Villard de
Honnecourt zu folgen scheinen (vgl. Panofsky
1978, S. 87ff.).
Diese beiden Kompositionsregeln sind gerade nicht anthropozentrisch; sie
sind vielmehr Transformationsregeln, nach denen
„makrokosmische“
Proportionen auf
„mikrokosmische“
Erscheinungen bezogen werden. Piero konstruiert also eine Opposition
zwischen dem anthropozentrischen
„Macher“
-Schema und dem
Schema kosmosorientierter
„Mimesis“
oder
„Imitatio“
und schließt sie beide in seinem Bild zur Figur eines Habitus zusammen, eines problematischen freilich.
[080:59] (2) Imaginierte Identität. Das Bild ist –
wie mir scheint – ein höchst subtiler Diskurs über das Problem der
Identität. Der Schlüssel, die Form, die Piero dem Problem
gibt, liegt in der Art, in der er den
Betrachter/Zuschauer konstruiert. Wie wir wissen, gibt es vier betrachtende
Positionen: Pilatus, den Türken, Federico da Montefeltro
und uns. Der Türke betrachtet (oder dirigiert gar) den Vorgang der
Geißelung, aber er ist ein Betrachter ohne reflektierendes Ich, nur
ethnisches Exemplar, er ist sich selbst kein Problem. Federico, dem direkt Angesprochenen, wird ein Dilemma
vorgehalten, und Bessarion erläutert ihm, dem auf
Tätigkeit erpichten
„uomo universale“
der Frührenaissance, was er tun müsse, um der sein zu können, der er
als Entwurf schon ist; Federico – er steht ja (imaginativ)
rechts vom Bild –
„sieht“
nicht das historische Geschehen
der Geißelung, sondern nur Bessarions Kommentar dieser Geißelung;
dieser Kommentar wird (visuell eindeutig und buchstäblich)
„durchkreuzt“
von dem Blick seines Sohnes Buonconte; wie soll Federico sich nun
entscheiden? Es scheint, als hätte er zwischen zwei Gütern, zwei Positionen
zu wählen: Wie der Türke oder Pilatus zu sein oder
Kreuzfahrer/Antitürke; der durchkreuzende Blick Buoncontes aber bremst die Naivität dieser Alternative; vor allem für uns; wir sehen ja das Ganze und die Teile;
keine der in der Erzählstruktur des Bildes mitgeteilten Alternativen könnte
uns befriedigen, schon längst nicht mehr: sind wir doch inzwischen von Piero hervorgebracht nicht nur als
Betrachter eines politisch/religionsgeschichtlich/kulturellen Vorgangs,
sondern – und dies vor allem durch die formalen Konstruktionsprinzipien des
Bildes, seine
„konstruktivistische“
Grundstruktur (vgl. Jochims
1972) – als eine Art von Betrachter, der seines eigenen
Betrachtens inne wird. Das aber bedeutet doch wohl, daß wir, |b 426|als Zuschauer historischer Szenen,
angesichts dieses Bildes, im Fluchtpunkt (
„deshalb“
ist
dieser Punkt im Bild eine semantisch leere Stelle) von (scheinbar
eindeutigen) Handlungen, Kommentaren solcher Handlungen und dadurch
hervorgerufener Kontemplation, auf das Problem unserer selbst gelenkt
werden. Fichte meinte (in der
„Wissenschaftslehre“
von 1798), daß Selbstreflexion das Auge sei, das sich
selber sieht (vgl. Pothast 1971); eine starke Metapher, von der Piero 350 Jahre früher etwas hat ahnen lassen: Denn wir,
die Betrachter, werden von Piero konstruiert einerseits als
diejenigen, die die Vorgänge und Vorhaltungen
„sehen“
,
andererseits aber auch als solche, die dieses Sehen sehen könnten. Fichte meinte, daß dieser Gedanke erst zu seiner Zeit
möglich geworden sei. Er hatte vielleicht recht im Hinblick auf die
Literatur. Im Hinblick darauf, was Malern zu zeigen möglich war, hatte er
unrecht. Piero zeigt:
„Identität“
ist keine
Eigenschaft, sondern ein Problem, das sich allen Eigenschaften stellt.
[080:60] (3) Symbolische Brechungen. Die dritte
Komponente der ikonologischen Sinnstruktur ist in der Verschränkung der
verschiedenen Ebenen von
„Wirklichkeit“
enthalten. Das Bild ist eine
„Collage“
, deren Teile einander in Frage stellen. Jede Teilmenge von
Bildelementen repräsentiert eine mögliche Lesart, die indessen von einer
anderen Teilmenge relativiert wird: Die planimetrische Lesart relativiert
die perspektivische, die aktuell-alltägliche (die Dreiergruppe) relativiert
die historische (Geißelung). Pilatus wird durch seine Kopfbedeckung
zu einem anderen, der Türke ist historisch unpassend, der Blick des Buonconte läßt daran zweifeln, ob die Rede des Bessarion die Wahrheit trifft, die sakralen Elemente der
Architektur (Treppe, Türen, Geißelungssäule) werden zu Versatzstücken einer
säkularen, der Dialog drängt die Historie in den Hintergrund (man beachte
auch das Fußbodenmuster), das Hintergrundgeschehen qualifiziert den Dialog
als bloßes Kommentieren, wer ist die Hauptperson: Christus oder Buonconte? Obwohl perspektivisch so
vollkommen, verwirrt dieses Bild jene Durchblicke, die Gewißheit
verschaffen.
[080:61] Es teilt keine einzelne Weltanschauung mit, sondern bietet deren
mehrere an. Es ist zuverlässig in den historischen Fakten, aber sät
Mißtrauen im Hinblick auf ihre Deutungen. Es verlegt Gewißheit einzig in die
Nachdenklichkeit des Betrachters (und in die formale Proportioniertheit des
Kosmos).
„Ceci n’est pas une pipe“
heißt die Unterschrift eines Bildes von Rene|b 427|Magritte, auf dem eine Pfeife gemalt ist.Pieros Bild
„La Flagellazione“
könnte heißen:
„Dies ist keine ,Geißelung“
.
[080:62] (4) Obwohl offensichtlich für private Verwendung gemalt, ist der
dargestellte Raum durchaus öffentlich. L. B.
Alberti verglich (1435) Gemälde mit einer
„finestra
aperta“
, einem offenen Fenster,
„durch das wir hinausblicken in einen Ausschnitt der
sichtbaren Welt“
(zit. nach Panofsky 1977, S. 329)
. Pieros Bild ist eine solche finestra aperta, die sich öffnet. Daß sich darin ein
besonderes Raumkonzept zeigt, wird andeutungsweise plausibel (mehr vermag
ich hier nicht auszuführen), wenn man sich etwa die niederländischen Gemälde
in Erinnerung bringt, die, 200 Jahre später, ebenfalls von Kaufleuten in
Auftrag gegeben worden sind: Die Interieurs von Jan Vermeer oder Pieter de
Hooch beispielsweise sind Innenräume mit einer finestra aperta,
einem offenen Fenster nämlich, das einen kleinen Ausblick in die
öffentlichen Räume freigibt, ein Stück Öffentlichkeit in den privaten
Binnenraum hineinholt (vgl. Möller 1981, S. 15ff.). Aber Pieros Bild ist nicht nur, sondern enthält auch eine finestra
aperta: Die Geißelungsszene wird durch das
„Fenster“
der vorderen Begrenzung der Säulenhalle freigegeben, eine
Art Fenster im Fenster, das nun allerdings den Blick nicht nach außen,
sondern nach innen lenkt – in die Halle und die Erinnerung hinein. Es sind
mithin zwei Räume konstruiert, von denen der eine – durch die rot-braune
Fußbodenfläche markiert – die durchlässige
„Privatheit“
der humanistischen Bildungskonzeption, der
andere – durch die schwarz-weiße, wie eine Etüde in perspektivischer
Zeichnung anmutende Fläche markiert – die im Raum gegenwärtige Vergangenheit
(Treppe, Türen, Säulen,
„Konstantin“
)
darstellt. Dabei ist
„Raum“
hier keinesfalls die
metaphorische Erschleichung eines Argumentes, sondern durchaus im
physikalischen Sinne zu verstehen: Architektur-Zeichnungen des Quattrocento
und die
„Struktur“
italienischer Plätze dieser Zeit
repräsentieren das gleiche Raum-Schema: öffentliche Räume, die einerseits
früh-bürgerliches Innenleben nur andeuten, als nebensächlich zurücktreten
lassen (allenfalls, wie in Pieros Bild, nur durch
Alltagsgerätschaften wie den Waren-Aufzugsbalken an der Fassade rechts),
andererseits Geschichte sichtbar und eine auf öffentliche Probleme
konzentrierte Kommunikation möglich machen (vgl. dazu auch die
gleichzeitigen
„Schul“
-Bauten: Universitäten und
Kollegien).
|b 428|
[080:63] (5) Der Öffentlichkeit des Raumes entspricht das im Bild
vorgeschlagene Schema der Beziehungen zwischen
Menschen. Das Auffallendste in dieser Hinsicht ist vielleicht die fast
rituelle Pose der Figuren; sie haben Ähnlichkeit mit Tanzfiguren, jedenfalls
mit derjenigen Art von Tänzen, die damals gerade in Mode kam: im
„stile nuovo“
der Tanzkompositionen nach 1450 schritten Damen und Herren nicht mehr
in langen parallelen Linien durch den Saal, sondern formierten sich in
kleinen Gruppen; durch die Einfügung von kurzen Szenen wurden typische
Beziehungsfigurationen (Werbung, Unsicherheit, Abweisen usw.) angedeutet;
die Personen kehrten sich symmetrisch gegeneinander und wiederholten –
gleichsam in Zeitsymmetrie – die Gesten des Partners (vgl. Brainard
1956).
„Dadurch entstand eine Spannung zwischen einer
bestimmten Bewegung und ihrer gleichartigen Wiederholung in dem
Spiegelbild, das durch die andere Person
ausgeführt wurde. Die Bewegung wurde sich selbst entgegengesetzt und
mit sich selbst vereinigt und umschloß damit einen Raum, der so zum
Ort eines Vorgangs sich selbst darstellender mimetischer
Selbstreflexion wurde“
(zur Lippe
1974, S.
134)
.
[080:64] Zu derartigen Stilisierungen scheint schlecht
zu passen, daß ich – in bezug auf die Dreiergruppe – gelegentlich von
„Alltag“
sprach. Die
„Rhetorik“
des
Bildes, des Tanzes und übrigens auch der humanistischen Brief-Literatur
wirkt auf uns eher unalltäglich, feierlich, artifiziell; unzuverlässige
Indikatoren also für das, was tatsächlich die Beziehungen zwischen den
Menschen ausmachte. Diese Skepsis wird beispielsweise auch durch die in den
Briefen übliche Topik der Anrede unterstützt und durch die Tatsache, daß die
Humanisten ihre Briefe häufig nicht nur dem Adressaten zusandten, sondern
Abschriften davon auch unter ihren anderen Freunden verteilten oder sie gar
schon im Hinblick auf eine Veröffentlichung konzipierten. Indessen läßt sich
gegen eine derartige Skepsis einiges Vorbringen (vgl. dazu Batkin
1979, S.
170ff.):
–
[080:65] Nicht nur in den Briefen, auch in den in Dialogform
abgefaßten theoretischen Schriften der Humanistenwaren die Dialogpartner bekannte und lebende Personen; die
theoretischen Topoi konnten sich deshalb, sollte nicht Lächerlichkeit
riskiert werden, nur in Grenzen von den tatsächlichen Beziehungen
entfernen.
–
[080:66] Stilisiertes und Triviales standen sich nicht wie zwei
„Welten“
gegenüber, sondern waren aufeinander
bezogen: Die Stilisierung war eine allseits akzeptierte Deutung
alltäglicher Beziehungen, die als Teil des Alltags fungierte.
|b 429|
–
[080:67] Die Wertungskategorien, nach denen eine gewisse
Schlichtheit, persönliche Bestimmtheit, Individuelles, emotionale Tönung
usw. notwendig den menschlichen Beziehungen zugehört, entstammen der
Gegenwart und waren Pieros Zeitgenossen jedenfalls
nicht in gleichem Maße selbstverständlich; das legt die Vermutung nahe,
daß für diese Zeitgenossen
„Intimes und Abstraktes in ihrem Bewußtsein
nicht getrennt wurde“
(Batkin
1979, S.
201)
;
„die Stilisierung des Lebens stimmte mit dem
Leben überein“
(a.a.O., S. 204)
.
„Der berüchtigte Individualismus der
Renaissance, der sich in der Tat mit großem Pathos
manifestierte, war mit einem Individuum verbunden, das noch
recht weit von der atomaren, sich selbst genügenden,
eifersüchtig über die Unantastbarkeit des Privatlebens wachenden
Persönlichkeit späterer Zeiten entfernt war“
(ebd.)
.
[080:68] Das Bild Pieros formuliert die Struktur von
Beziehungen und Interaktionen homolog zu dem, was im Tanz und Ballett, in
den humanistischen Briefen, in den Dialogen sich zeigt.
„Hier gibt es keinerlei sozialpsychologische Rätsel
zu lösen“
(Batkin 1979,
S.
206)
; die planimetrische Proportionalität der Figuren, die Einfachheit und
Eindeutigkeit der Gesten führt Beziehungsschemata vor Augen, allgemeine
Regeln, nicht aber psychologische Stimmungen oder individuelle Motive – eine
Darstellung, die dem analytischen Vokabular des symbolischen
Interaktionismus verwandter scheint als dem Instrumentarium psychologischer
oder gar psychoanalytischer Theorien. Alle Körpergesten auf dem Bild sind
soziale Gesten; sie stehen aber nicht nur
„in bezug auf
...“
, sondern zugleich auch
„für sich“
(Geißeln,
Dirigieren, Zuschauen, Reden, Zuhören usw.), haben eine kosmologische und
eine interaktive Komponente (bemerkenswert in diesem Zusammenhang, daß – mit
Ausnahme des linken Geißlers – keine Körperberührung zwischen den Personen
stattfindet).
[080:69] Dennoch formuliert das Bild ein Beziehungs-Problem. Ich habe es schon angedeutet, als von
„imaginierter Identität“
die Rede war: Zwar erscheinen die (meisten)
Figuren als
„Rollen“
; aber diese werden, sowohl von der
linken wie von der rechten Bildseite her, gleichsam in Diffusion gebracht:
Pontius
Pilatus wäscht nicht – wie in frühmittelalterlichen
Darstellungen üblich –
„die Hände in Unschuld“
; diese
ohnehin historisch zwielichtige Figur wechselt, in der Pose des bloßen
Beobachters, die Rolle zwischen dem Präfekten Judäas und dem byzantinischen
Kaiser; Giovanni Bacci am rechten Bildrand trägt einerseits die
Zeichen ökonomischer (Brokat|b 430|mantel) und politischer (rote Schärpe über der
rechten Schulter) Macht, andererseits ist er kontemplativer Zuhörer der
Mitteilungen des Bessarion; dieser wiederum, zwar als
einziger im Gesicht als Individualität dargestellt, schwankt zwischen
Typischem und Individuellem, er spricht zudem in verschiedenen Rollen:
griechischer Patriot, kirchengeschichtlich
engagierter Kleriker, humanistischer Gelehrter, geistlicher Vater des Buonconte und Freund des
angesprochenen Federico. Einzig Buonconte ist nicht als
„Rolle“
zu
identifizieren. Er bringt deshalb – wie wir schon gesehen haben – die
„Metakommunikation“
des Bildes in Gang; sein Blick
„durchkreuzt“
nicht nur die Interaktion Bessarion/Federico, sondern auch die zwischen
Bild und uns, den Betrachtern des Ganzen. In der, angesichts eines solchen
Dokuments etwas schalen, modernen Terminologie gesprochen: Soziale Identität
wird als Sachverhalt gezeigt, personale Identität wird als Problem
metakommuniziert. Die Antithese zum Gesellschaftlich-Faktischen ist (hier)
die Vision des Buonconte/des Malers von andersartigen Beziehungstrukturen6
|b 434|6Dazu mag noch angemerkt werden – freilich nur assoziativ und
nicht beweisführend –, daß Piero den jungen Mann, den wir hier als Buonconte vermuten, ein zweites
Mal, und zwar auch im Jahre 1459, dargestellt hat: als Propheten in den von der Familie Bacci in Auftrag gegebenen Fresken der Kirche S. Francesco in
Arezzo.
.
[080:70] (6) Das hat etwas mit der Zeit-Dimension
des Bildes zu tun. Zunächst ist daran zu erinnern – das zeigte sich nicht
nur in der ikonographischen, sondern bereits in der formalästhetischen
Analyse –, daß die beiden Wirklichkeitsebenen der Komposition Gegenwart und
Vergangenheit repräsentieren. Vergangenheit ist nicht nur als entrückte
Geschichte dargestellt, sondern als Erinnerung, als vergangene Gegenwart
bzw. gegenwärtige Vergangenheit (vgl. dazu Luhmann 1975, auch Bergmann
1981). Diese Ambivalenz wird im Bild unmittelbar sinnfällig: Die
historischen Indikatoren der Geißelungshandlung (vergangene Gegenwart) und
die aktuellen Überlagerungen bzw. Konnotationen – byzantinischer Kaiser,
Türke, zeitgenössisches Architektur-Design –, die die Gegenwärtigkeit des
Vergangenen hervorheben. Diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ruft
Tradition in Erinnerung, macht sie aber auch zum Problem. Der eindringliche
Blick des Bessarion erheischt eine Antwort; Federico aber dürfte sie, angesichts des ganzen Bildes,
wenn er es recht gelesen hat, nicht umstandslos möglich gewesen sein, da –
wie gesagt – Buoncontes
„postkonventioneller“
Blick die konventionellen
Alternativen in Zweifel zieht.
|b 431|
[080:71] In
L.
B. Albertis Traktat
„Della Famiglia“
(1434) gibt es zum
Zeit-Problem eine interessante Dialog-Passage. Nachdem einer der Dialogpartner, Gianazzo, angekündigt hatte, daß es
„drei Dinge“
gebe, die für die Lebensführung des Menschen
wesentlich seien, und nachdem er die beiden ersten,
„Seele“
und
„Körper“
, genannt und
erläutert hatte, entsteht eine Verzögerung:
„Lionardo: Und das
dritte – was wird das sein? Gianazzo: Oh, ein
höchst wertvolles Ding! Diese meine Hände und Augen sind
nicht so sehr mein Eigen... Lionardo:
Wunderbar! Was mag das sein? Gianazzo: Man kann
es keinem hinterlassen, nicht verringern, in keiner Weise
kann dies Ding dir nicht gehören, sofern du nur willst, daß
es dein ist. Lionardo: Und wenn
es mir beliebt, wird es einem anderen gehören? Gianazzo: Wenn du willst, wird es nicht dein
Eigen sein: die Zeit, mein lieber Lionardo, die Zeit,
liebe Kinder!“
(Alberti 1962, S. 216f)
.
[080:72] Die
„Moral“
der dann folgenden Erläuterungen besteht darin, daß –
im Unterschied zu allen anderen Gütern – die Zeit dem Menschen nur
als reine Möglichkeitgegeben ist, die nur durch Tätigkeit
angeeignet werden kann.
„Für Alberti ist die
Zeit im Grunde identisch mit Kultur,
sie ist nicht bloße Dauer, sondern Tätigsein,
‚essercizio‘
, die
Daseinsform der Kultur“
(Batkin 1979, S. 176)
.
[080:73] Die Erinnerung an Tradition/Vergangenheit kann also in diesem Bild
nicht ihre Imitation oder die Vorstellung eines gleichsam zyklischen
Verlaufs evozieren. Vielmehr wird die Tätigkeit des
Adressaten herausgefordert, und zwar ohne ihr eine normative Vorgabe zu
machen. Zyklisch wird nur die Vergangenheit gedacht. Die Zukunft ist vom
Zyklus ausgenommen: Der von antiken Schriftstellern übernommenen
Vorstellung, der geschichtliche Verlauf folge dem Zyklus von Kindheit,
Jugend, Reife und Alter, mochte die Renaissance nicht mehr folgen; Vasari, der in
„Le vite de’ più
eccellenti pittori, scultori e architetti“
auch
der erste – wenngleich unzuverlässige – Biograph Piero della
Francescas war, läßt, hundert Jahre nach Pieros Bild, den
Zyklus mit der Reife enden; für die Zukunft gibt es, als Geschichte, kein
biologisches Altern mehr.
„Damit konnte Vasari die
Vorstellung eines kreatürlichen Werdens und Vergehens der
Vorstellung eines intellektuellen
‚Fortschritts‘
... unterordnen“
(Panofsky
1978, S.
231)
.
[080:74] Piero scheint indessen diese Annahme nicht ungebrochen
zu teilen. Die Bedeutung des Blicks des Buonconte bleibt ambivalent, wie das ganze Bild. Auch
nach der Interpretation bleibt es rätselhaft.
Vielleicht dokumentiert es, was Batkin von der |b 432|ganzen Epoche behauptet: Selten sei
„man sich darüber im klaren, daß die Renaissance
nahezu die zweideutigste aller großen Kulturepochen ist, ja mehr
noch, daß die Ambivalenz in ihr zu einem strukturbildenden Prinzip
erhoben wurde“
(S. 208)
.
Nachbemerkung
[080:75] Da ich vorgab, eine Interpretation in
„bildungstheoretischer Absicht“
zu versuchen, und da diese Absicht,
der vielen ästhetischen, ikonographischen und historischen Verzweigungen des
Argumentationsganges wegen, vielleicht nicht mit der gewünschten
Deutlichkeit hervortrat, möchte ich abschließend einigen Mißverständnissen
Vorbeugen und auf drei denkbare Einwände eingehen.
[080:76] Der erste Einwand könnte bemängeln, daß
doch von
„Bildungstheorie“
kaum die Rede war. Das ist
richtig, jedoch nur dann akzeptabel, wenn Bildungsprobleme lediglich solche
Fragen betreffen sollen, die mit pädagogischen Veranstaltungen direkt
verknüpft sind oder die sich auf den individuellen Erfahrungs- und
Lernvorgang richten. Ich mache demgegenüber geltend, daß, was Bildung
genannt werden kann, eine Auslegung je herrschender kultureller Standards
ist, und zwar mit diesen Standards strukturgleich.
Perspektive, Identitätsthematik und gebrochene
Symbolik wären demnach Komponenten nicht nur eines kulturellen Habitus,
sondern auch das Orientierungsnetz, innerhalb dessen die neuzeitlichen
Bildungsaufgaben formuliert werden können.
[080:77] An dieser Stelle liegt ein zweiter Einwand
auf der Hand: Bildungstheoretisch plausibel wird diese Hypothese erst, wenn
die Befunde der Interpretation eines kulturellen Dokumentes auf die
gleichzeitige bildungstheoretische Literatur und auf die Praxis der Bildung
in pädagogischen Einrichtungen oder Lebensläufen bezogen wird. Dieser Mangel
des Essays ist keinem anderen Umstand geschuldet als nur der Nötigung,
meinen Text nicht allzu stark ausufern zu lassen. Mir war an dieser Stelle
zunächst nur daran gelegen, Bildmaterialien nicht nur als Illustrationen der
Geschichte der Bildung heranzuziehen, sondern zur
Diskussion zu stellen, ob sie nicht ähnlich als Quellen historischer
Erkenntnis genommen und gedeutet werden könnten (und sollten) wie die Texte
des Erasmus, Vives, Castiglione, Rabelais, Morus oder Schulordnungen,
Kollegienbauten, Familienzyklen usw.
|b 433|
[080:78] Eine derartige Bemühung bliebe freilich immer noch
ideengeschichtlich und müßte sich den Vorwurf gefallen lassen, von den
sozialgeschichtlichen Komponenten der Bildungsgeschichte keine Notiz zu
nehmen. Dieser Einwand scheint mir am schwersten zu wiegen. Allein, am
Bildungshabitus einer Epoche (auch der unseren) gibt es mindestens zweierlei
zu studieren: den dem Habitus innewohnenden, in ihm, seinen Produkten,
repräsentierten Bildungssinn und seine gesellschaftliche, beispielsweise
herrschaftssichernde oder selektive Funktion. Die Frage nach seiner Güte,
seiner Legitimität, seinen Anregungspotentialen im Hinblick auf die
Auseinandersetzung des Menschen mit sich und seinesgleichen, ist nicht schon
durch den Nachweis dieser oder jener gesellschaftlichen Funktion erledigt.
Das gilt besonders für das hier interpretierte Dokument. Mir scheint nämlich
– das ist eine freilich noch riskante Hypothese –, daß die im Bild
repräsentierten Ambivalenzen mit dem Zeitenbruch, an dem es steht,
zusammenhängen, besonders mit zwei möglichen Rationalitätsentwürfen: Was ich
am Bilde als Konfrontation von anthropozentrischer und kosmos-orientierter
Perspektive zu erläutern versuchte, hängt – so vermute ich – nicht nur mit
der damaligen Gleichzeitigkeit
„neuplatonischer“
und
„erfahrungswissenschaftlicher“
Orientierungen zusammen, sondern markiert den historischen Beginn eines Bildungsproblems, das immer noch das unsere ist7
|b 434|7Vgl. dazu auch K.-O. Apel: Die
Situation des Menschen als ethisches Problem, in: Z. f. Päd. 5/1982,
S. 677ff. Dort wird m.E. eine parallele These erläutert, und
zwar als Unterscheidung zweier ethischer
Rationalitätsentwürfe:
„der konsensual-kommunikativen und der
strategischen Handlungsrationalität“
(S. 687)
.
.
[080:79] Ich hatte also in dem vorliegenden Essay nicht die Absicht,
derartige Fragen zu verdrängen oder gering zu achten. Ich wollte lediglich
an einem (mich besonders beeindruckenden) Beispiel großer Renaissancemalerei
ausprobieren, ob es gelingt, die Interpretation solcher Materialien in den