Konjekturen und Konstruktionen
Welche
„Wirklichkeit“ der Bildung referieren
Dokumente der Kunstgeschichte?1
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1.[123:33] Innerhalb des als„albertinisch“benennbaren Bildungshabitus – war nicht nur der Verfasser von kunsttheoretischen Kommentaren zu Architektur und Malerei, sondern auch einer umfänglichen Schrift zur Gestalt der Bildung im 15. Jahrhundert – waren zwei durchaus verschiedene Bildprojekte möglich und vom Publikum geschätzt – im Repertoire ziemlich gleich, in der Komposition/Konstruktion ziemlich verschieden. und , durch Schwesterheirat verwandt, malten je ein Bild, das (fast) eine Kopie des je anderen sein könnte, eine„Darbringung im Tempel“, vielleicht unmittelbar vor der Beschneidung (vgl. Belting 1990, S. 42ff.; Ringbom 1965). Identisch sind die (trivialen)„Realitäts“-Referenzen: der in Tücher gewickelte Knabe, die Figuren , , – bis auf Konturen und Kleidung ziemlich genau übereinstimmend. Vor allem ist der Gesamthabitus identisch: der Blick auf eine bedeutende Szene hin. Verschieden ist indessen die Komposition des Ganzen bzw. die Konstruktion der Bildungsfigur: malte ein Andachtsbild mit Heiligenscheinen und sparsamster Personnage. erzählte eine ambivalente Geschichte zwischen Mythos und Wirklichkeit, und zwar dadurch, daß er die Komposition in wenigen, aber signifikanten Merkmalen veränderte: Die Anzahl der Personen wird vermehrt, die perspektivische Bild|b 179|tiefe wird verstärkt, die Trauergeste der wird physiognomisch deutlicher akzentuiert. Die Kompositionsdifferenz gibt auch dem einen anderen semantischen Ort; bei war es nur , bei ist es beides: und Wickelkind. Der pädagogische Historiograph, der zwischen 1450 und 1470, zwischen Padua und Venedig vielleicht einen identischen, den„albertinischen“Bildungshabitus ausgemacht hat, müßte nun diese beiden Entwürfe von Bildung, den devotionalen und den narrativen, gegeneinander abwägen, als Bestandteil dessen, was„albertinisch“als Bildungsentwurf der Fall gewesen ist.
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2.[123:34] Die historiographische Rekonstruktion dessen, was zu diesem oder jenem historischen Zeitpunkt der Fall war, sollte, im Hinblick auf Bildungsgeschichte als Bildergeschichte, diejenige Komponente des jeweiligen Bildungshabitus ermitteln, die als je charakteristische„Seh-Kultur“bezeichnet und auf je elementare Kompositions-/Konstruktionsregeln zurückgeführt werden kann. Es gibt deren viele. Eine davon ist die oben angedeutete„albertinische“: eine„finestra aperta“, in der eine bedeutende Handlung zur Darstellung kommt, perspektivisch geordnet, mit eindeutigem Blick- und Fluchtpunkt, physiognomisch – mit„rilievo“– konturiertem Individualitäts-Ausdruck etc.. Einen anderen Habitus präsentiert die etwas spätere niederländische Malerei: keine„finestra aperta“, keine perspektivisch organisierte bedeutende Handlung, nicht„ut pictura poesis“, sondern„ut pictura, ita visio“, das Bild auf der Netzhaut: die Kuh, die Landschaft, der Fliesenboden sind in diesem Projekt ebenso„bedeutend“wie die bedeutenden Erzählungen; die Perspektiven werden diffundiert; Helligkeitsstufen werden wichtig usw.; kurz: die Leibhaftigkeit des Seh-Vorgangs tritt gegenüber der Worthaftigkeit des Bildes in den Vordergrund (vgl. Alpers 1985). ( konnte sich bei dieser Alternative und als Nicht-Niederländer, obwohl in Amsterdam wohnend, in seinem„Orbis pictus“nicht entscheiden). Im Bildungshabitus der italienischen Frührenaissance dominierte, stilisierend gesprochen, der ikonographisch-narrative Blick, im Bildungshabitus der Niederländer der leibhaft-phänomenologische. Ich vermute, daß es, wie für das 19. Jahrhundert poetologische Tiefenregeln der Geschichtsschreibung ermittelt wurden (vgl. White 1991), viele solcher visuellen Konstruktionen gibt, die für Bildmaterialien allerdings ikonologisch und nicht poetologisch beschrieben werden müßten. Es würde dann deutlich werden (vgl. Boehm 1980; Imdahl 1986), daß ikonographische Nacherzählungen von Bildquellen nur eine mögliche Variante der bildungshistoriographischen Verwendung von Dokumenten der Malkunst sind, eine Variante zudem, die sich die Konstruktionsregel eines besonderen historischen Typus als Rekonstruktionsregel überhaupt zu eigen gemacht hat.
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3.[123:35] Die historischen Dokumente der Malkunst sind Konstruktionen. Die Behauptungen des Geschichtsschreibers der Bildung sind Rekonstruktionen. Die Zusammenfügung der Elemente/Fragmente zu einem als sinnvoll annehmbaren historischen Bericht gelingt nur mit Hilfe von Konjekturen (Bätschmann 1988). Als Bestandteil hermeneutischer Operationen bringen sie, hypothetisch, schon innerhalb der Quelle das dort verschieden Scheinende zusammen. Die Operation wiederholt sich im Zusammenfügen verschiedenartiger Quellen zur Rekonstruktion einer Seh-Kultur, z.B. die Bilder oder mit der Theorie der Optik von (Alpers 1985); und noch einmal bei dem Versuch, solche Seh-Kulturen innerhalb eines Bildungshabitus zu lokalisieren, z.B. die Verknüpfung von , , und der Stadtkultur Amsterdams im 17. Jahrhundert, oder der Bilder , , , den Pariser„Salons“und im 18. Jahrhundert (vgl. z.B. Baxandall 1985; Mollenhauer 1988/89).