Aussprache zum Bericht der Arbeitsgruppe 3 [Textfassung a]
|a 164|

Aussprache zum Bericht der Arbeitsgruppe 3

[V23:1] Laerum:
Ich bezweifle, daß Sozialpädagogik auf Verkündigung nicht angewiesen sei.
[V23:2] Kentler:
Die Arbeitsgruppe ist anderer Ansicht.
[V23:3] Mollenhauer:
Die Sinnfrage – anders ausgedrückt: die Frage nach der Bestimmung des Menschen – liegt quer zu allen pädagogischen Erörterungen. Jeder pädagogische Akt weist irgendwie auf die Sinnfrage. Diese Frage ist mit den Mitteln einer autonomen Pädagogik, wie wir sie verstehen, nicht zu lösen. Die Sinnfrage transzendiert die Pädagogik. Hier ist der Ort für das Gespräch mit der Theologie.
[V23:4] Sudermann:
Richtig ist, daß umgekehrt die Theologie ohne das Gespräch mit der Sozialpädagogik nicht auskommt. Ich sehe in einem solchen Gespräch eine der Formen, in denen die Befreiung zum Leben in der Welt und für die Welt aktualisiert werden kann. Gespräch verstehe ich dabei nicht als Plaudern, sondern als einen Prozeß, in dem kritisch gefragt und verantwortlich erwidert wird.
[V23:5] Jahn:
Die Identifizierung von
Sinnfrage
und
Frage nach der Bestimmung des Menschen
genügt mir nicht.
[V23:6] Mollenhauer:
Auf die Frage nach der Bestimmung des Menschen hören wir verschiedene Antworten, darunter auch die der Kirche. Dem Pädagogen ist die Übernahme einer Antwort verboten. Er kann daher nur zu formalen Aussagen kommen.
|a 165|
[V23:7] Jahn:
Warum einigen wir uns nicht auf die Antwort:
Leben in der Verantwortung vor Gott
?
[V23:8] Mollenhauer:
Für den, der eine empirische Wissenschaft betreibt, ist mit dieser Antwort nur etwas gewonnen, wenn sie bestimmte Handlungsweisen umschreibt, die erkennbar christlich sind. Bis zum Beweis des Gegenteils muß ich aber darauf beharren, daß es kein äußeres menschliches Verhalten im profanen Bereich gibt, zu dem nur ein Christ fähig ist. Wenn dem so ist, dann ist für einen Empiriker auch die Antwort
Leben in der Verantwortung vor Gott
nur eine formale Aussage.
[V23:9] Kentler:
Ob ein Physiker Christ ist oder nicht, trägt für seine wissenschaftliche Arbeit nichts aus. Mit dem Sozialpädagogen ist es nicht anders. Wer Sozialpädagogik betreibt, muß sein Tun am Maßstab der Vernunft messen lassen.
[V23:10] Wagner:
Die Christen haben den Auftrag, Menschen zu Jüngern Jesu zu machen. Ich sehe nicht ein, warum sie sich zur Erfüllung dieses Auftrages nicht der Erkenntnisse der Sozialpädagogik bedienen sollten.
[V23:11] Härter:
Ich halte es für gefährlich, den Unterschied zwischen evangelischer Jugendarbeit und der Jugendarbeit anderer Träger in äußeren Verhaltensweisen aufweisen zu wollen. Treffender ist die Frage nach dem Motiv. Mir ist es zu eng, wenn wir sagen, unser Auftrag laute
Jugend zu Christus zu bringen
. Es heißt nicht einfach
... machet zu Jüngern alle Völker
, sondern zuerst
Gehet hin in alle Welt ...
. Darin steckt mehr als nur der Aufruf zu erwecklicher Verkündigung.
|a 166|
[V23:12] Vogel:
Der Vergleich von Sozialpädagogik und Physik hinkt an einer entscheidenden Stelle. Physik ist eine exakte Naturwissenschaft, Sozialpädagogik eine Geisteswissenschaft, die es mit dem Menschen zu tun hat. Wenn der Verkündiger fragt,
wie kann ich dem jungen Menschen das zukommen lassen, was er braucht
, dann beschäftigt er sich mit einem Problem, das Sozialpädagogik und Theologie angeht.
[V23:13] Laerum:
Der Versuch, die inhaltliche Beantwortung der Sinnfrage auszuklammern, kommt mir wie ein Trick vor. Der Praktiker der Jugendarbeit fängt nichts an mit einer Theorie, in der die Sinnfrage nur gestellt wird, ohne daß Ansätze zur Beantwortung gegeben werden.
[V23:14] Mollenhauer:
Wir können nicht zugleich auf den Ebenen der Praxis und der Theorie diskutieren. Die Sozialpädagogik hat es nur mit empirisch erweislichen Aussagen zu tun. Auf der wissenschaftlichen Ebene hat sie empirisch gehaltvolle Sätze zu formulieren. Dazu gehört die Frage nach der Bestimmung des Menschen. Auf der praktischen Ebene kann die Sozialpädagogik beschreiben, an welcher Stelle der pädagogischen Prozesse die Sinnfrage ins Spiel kommt und welche Antworten auf diese Frage angeboten werden. Die Entscheidung für eine bestimmte Antwort obliegt ihr nicht.
[V23:15] Jahn:
Die durch das Evangelium bewirkte Freiheit kann nicht nur negativ, als
Freiheit wovon
, umschrieben werden. Die Lebensbereiche in der Gesellschaft sind in Wahrheit nicht Räume voller Entfaltungsmöglichkeiten, sondern voller Normen, die die Freiheit einschränken. Wer Freiheit aufzeigen will, muß Horizonte eröffnen und Orientierungshilfen durch das Gestrüpp gesellschaftlicher Normen geben.
|a 167|
[V23:16] Gerds:
Kann sich nicht in einem demokratischen Führungsstil schon ein Stück Verwirklichung evangelischer Freiheit zeigen?
[V23:17] Barley:
Ich möchte den Gedanken von Herrn Jahn noch in eine andere Richtung wenden. Nehmen wir einmal zur Kenntnis, daß die Sozialpädagogik von sich behauptet, sie könne die Sinnfrage nicht beantworten. Nun behauptet die Theologie, die Sozialpädagogik habe mit der Berufung auf ihre Autonomie schon eine Vorentscheidung über die Sinnfrage getroffen. Das scheint mir eine der legitimen Fragen zu sein, die die Theologie heute an die Sozialpädagogik richtet.
[V23:18] Weisser:
Wir müssen von der Frage ausgehen, ob der Mensch von Gott her nicht eine andere Qualität zugesprochen bekommt als von der Natur her. Wenn wir diese Frage bejahen, dann hat das Folgen für das pädagogische Verhalten der Christen. Sie sollen und wollen verkündigen.
[V23:19] Sudermann:
Auch in der Verkündigung ist das Handeln des Christen verwechselbar, nicht eindeutig.
[V23:20] Kentler:
Ich möchte auf einen Beitrag von Herrn Mollenhauer zurückkommen. Man kann nicht so klotzig sagen, die Wissenschaft klammere die Sinnfrage aus. Wenn ich mir vor meiner Vernunft Rechenschaft über die Sinnfrage ablege, bleibe ich auf wissenschaftlichem Boden.
[V23:21] Mollenhauer:
Damit wird die Sinnfrage und diese oder jene Möglichkeit ihrer Beantwortung zum Gegenstand empirischer Wissenschaft, nicht aber wird eine Antwort zum Inhalt der Wissenschaft.
|a 168|
[V23:22] Kentler:
Der Mensch gebraucht wissenschaftliches Denken als Instrument im Prozeß seines Mündigwerdens. Er will verstehen, was er tut. Zu diesem Zweck trifft er eine vernünftige Entscheidung.
[V23:23] Mollenhauer:
Solange man sich nicht über die einzige vernünftige Antwort auf die Sinnfrage verständigen kann, gehört der Inhalt der Antwort nicht in den Bereich der Wissenschaft.
[V23:24] Jahn:
Um einen Gedanken von Herrn Barley aufzugreifen: Das Postulat, daß Vernunft zur Sensibilität führe, ist nicht mittels der Vernunft nachprüfbar. Es ist nicht geschichtlich aufzuweisen. Die verschiedenen philosophischen Systeme geben verschiedene Antworten auf die Frage nach dem, was Vernunft leisten kann. Insofern ist der Satz:
Vernunft führt zur Sensibilität
eine Art Glaubensprämisse. [V23:25] Wir Theologen haben uns mit den Pädagogen in der Auseinandersetzung um den Begriff der Mündigkeit getroffen. Ich meine, daß eine Weiterführung des Gesprächs an dieser Stelle fruchtbar sein könnte.