Aussprache zum Referat von Herrn Dr. Bäumler [Textfassung a]
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Aussprache
zum Referat von Herrn Dr. Bäumler

[V20:1] Laerum:
Bonhoeffer versucht die Dialektik des Begriffs Mündigkeit zu sichern. Mündigkeit ist an Freiheit gebunden, welche aber nicht Willkür werden darf. Meine Frage für unseren thematischen Zusammenhang: Hat Bonhoeffer bei dieser Begriffsbestimmung einen Blick auf junge Menschen gehabt? Mir scheint, seine Sprachwelt ist für erwachsene Christen gedacht, die noch nicht mündig sind, denen aber in die Mündigkeit, zu der sie berufen sind, hineingeholfen werden muß. Also: Wie pädagogisch ist der Begriff?
[V20:2] Bäumler:
Bonhoeffer denkt eigentlich nie im strengen Sinn pädagogisch. Im praktischen Verhalten ist er unkonventionell. Partnerschaftliche Erziehung liegt zweifellos auf seiner Linie. Aber Mündigkeit als pädagogische Theorie findet sich bei ihm nicht. In seinen Thesen über die Jugendarbeit der Kirche mögen die Strukturen vom Begriff der Mündigkeit her geprägt sein, Inhalt eines pädagogischen Prozesses ist er nicht.
[V20:3] Mollenhauer:
Bonhoeffers Ansatz liefert uns also nicht ohne weiteres einen brauchbaren pädagogischen Begriff von Mündigkeit. Das entspricht aber durchaus der Autonomie der Erziehung. Pädagogische Begriffe, die diesen Namen verdienen, können nur in Beziehung auf den konkreten, kritisch interpretierten Status der Gesellschaft konzipiert werden. Sie sind nicht Nebenprodukte theologischer oder philosophischer Systeme, gleichsam wie Brosamen von der Herren Tische. Die Pädagogik hat ihr autonomes Verhältnis zur Wirklichkeit.
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[V20:4] Jahn:
Versuchen wir, den theologischen Begriff auf seinen gesellschaftlichen Inhalt hin zu befragen. Die mündige Welt wartet auf den mündigen Christen. Mündig ist aber, um es mit einem Wort zu sagen, nur der liebesfähige Mensch (Bäumler: Ich würde sagen: der vernünftige!). Eben: Es geht um das sachgerechte Verhältnis von Liebe und Vernunft.
[V20:5] Mollenhauer:
Wir fragen also, wodurch wird die Freiheit begrenzt. Gewöhnlich lautet die Antwort: durch Verantwortung. Richtiger müssen wir sagen: Die Liebe ist der Inhalt, die Freiheit ist die Form der Verantwortung.
[V20:6] Barley:
Kann man die Verwandtschaft von Liebe und Vernunft so ungebrochen sehen, wie wir es jetzt tun? Für die Theologie charakterisiert es die Liebe doch gerade, daß sie unvernünftig ist, selbstaufopfernd bis zum Tode. Eben das ist in der Welt nicht vernünftig. Theologisch verstanden ist Liebe also in einem anderen Sinne Grund für Mündigkeit als die Vernunft.
[V20:7] Kentler:
Dieses Argument sticht nicht. Es kann ja so kommen, daß man sich aufopfern muß für die Vernunft. Dieser Tod ist dann vernünftig.
[V20:8] Stetter:
Ergebnis unserer ersten Diskussion zur Mündigkeit war, daß die Umweltbedingungen, die das Leid schaffen, zu verändern sind. Wie geschieht das für den christlichen Glauben? Christus leidet mit. Das ist nicht Aufhebung des Leidens, sondern Überwindung des Leidens durch Mitleiden.
[V20:9] Wagner:
Um die Frage zuzuspitzen: Auch die Aufklärungszeit hatte ihre Blutzeugen. Starben sie für die Liebe oder für die ratio?
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[V20:10] Vogel:
Das Mitleiden Christi mit der Welt ist nicht passiv, sondern aktiv. Das heißt aber doch: Er hat das Leiden aufgehoben, außer Kraft gesetzt. Durch ihn geschah an der Welt eine reale Veränderung auf Glück, auf Heil hin. Man kann sogar sagen, Liebe Christi ist außerordentlich vernünftig: er tut, was die Welt notwendig braucht. Sein Scheitern kam daher, daß die Welt unvernünftig war.
[V20:11] Jahn:
Was ist denn Vernunft? Ein antikes ehernes Muß? Die Identität mit dem, was immer schon und unabänderlich ist?
[V20:12] Bäumler:
Ich möchte Herrn Mollenhauers Frage von heute morgen aufgreifen: Wodurch soll die Vernunft begrenzt werden? Es gilt ja, sie vor dem Zerdenkungsprozeß zu bewahren, wie Bonhoeffer sagt. Wohl zu beachten ist aber, daß Bonhoeffer die Problematik tiefer anlegt und weiter faßt. [V20:13] Die theologia crucis zeigt, wer dieser Christus ist. Er ist der Mensch für andere. Das hat Konsequenzen: Die Teilnahme am Leiden Jesu bedeutet, daß der Mensch mit Einschluß seines Handelns und Denkens in Vernunft für andere verantwortlich ist. Diese Teilnahme ist eine Teilnahme an der Offenbarung des leidenden Gottes. Wo sie verwirklicht wird, da kann die Vernunft bei ihrem eigentlichen Geschäft erhalten werden. Das sieht dann etwa so aus: Die Gemeinde ist für andere da – in voller Mitwirkung am öffentlichen Leben. Aber dienend, nicht herrschend. Es gibt dann keine kategoriale Grenze, wo die Vernunft aufhört und die mitleidende Liebe anfängt. Vielmehr geht es um den Erweis der Koexistenz von Vernunft und Liebe.
[V20:14] Mollenhauer:
Wozu bedarf es aber dann der Theologie? Die Begrenzung der Vernunftherrschaft durch dienendes Dasein |a 105|für andere – das ist auch dem Philosophen plausibel, das könnte auch als Weltweisheit anerkannt werden. Die Frage war historisch viel brisanter. Das Verhältnis von Kirche und Herrschaft wurde problematisch. Die Lösung im Sinne der Säkularisierung: Die Herrschaft der Kirche soll reduziert werden. Je weniger Herrschaft, desto mehr Mündigkeit. Der Vernunft fiel dann die Aufgabe zu, das Modell des Miteinanderlebens von Menschen zu bestimmen und zu verwirklichen.
[V20:15] Kentler:
Genau das steckt schon in der Verfassung von 1795: Ein guter Bürger ist man nur, wo man ein guter Vater ein guter Sohn ist. Das Liebesverhältnis wird so zur Grundlage staatsbürgerlicher, vernünftiger Existenz.
[V20:16] Bäumler:
Man sollte einmal der Frage nachgehen, wie diese neutestamentlichen Sätze in die Verfassungstexte hineinkommen.
[V20:17] Gerds:
Ich frage mich, was damit gesagt sein soll, daß die Vernunft durch das Dienen begrenzt wird. Die Vernunft realisiert sich im Handeln. Dann dient sie eben.
[V20:18] Müller-Schöll:
Wir wissen immer noch nicht, wieso wir den theologischen Anlauf brauchen, um solch vernünftige Gedanken zu hegen. Christen fragen, wie sie mit der Welt umgehen sollen, und erhalten die Antwort: Die Christen sollen weltlich mit der Welt umgehen.
[V20:19] Mollenhauer:
Mir leuchtet ein, daß Bonhoeffers Bedeutung in der innerkirchlichen Auseinandersetzung enorm ist. Vielleicht darf ich daran erinnern, daß wir hier ein Gespräch führen wollen zwischen säkular konzipierter |a 106|Sozialpädagogik und Theologie. Da regt mich ein Satz Bonhoeffers auf. Sinngemäß zitiert lautet er: Gott gibt uns zu wissen, daß wir leben sollen, um mit der Welt fertig zu werden – ohne ihn. Gott, der offenbart, daß er mit uns ist, verläßt uns. Wie jede Paradoxie ist auch diese ein besonderer Problemhinweis. Kann er für unsere Debatte die Rolle eines Schlüsselsatzes spielen?
[V20:20] Bäumler:
Er ist nur auf dem theologiegeschichtlichen Hintergrund zu verstehen, den ich mit den Namen HeimAlthausTillich kennzeichnete. Bonhoeffer kritisiert deren Versuche als (gegen ihren Willen)
religiös
. Innerlichkeit – Kirche – Tiefe der Welt sollen einen religiösen Raum sichern. Religion ist immer am Machtgott interessiert. Aber durch den leidenden Gott der Offenbarung ist der Machtgott entlarvt. Dasselbe meint Barth: Die Offenbarung Jesu Christi ist gegen alle Religion geschehen. Man muß klar unterscheiden, daß das Wort
Gott
hier verschiedenen Inhalt hat: Der Gott der Religion ist die höchste Form der Macht. Der Gott der Bibel ist der leidende Gott.
[V20:21] Härter:
In der Tat, das scheint menschliche Neigung zu sein, wird zu leicht mit dem allmächtigen Gott operiert. Wie mit einem deus ex machina, vor dem man nur den Kopf einziehen kann, so oder so. Diesen gibt es in der Bibel nicht.
[V20:22] Mollenhauer:
Zweifellos eine radikale Änderung: Gott gibt uns zu wissen, daß wir leben sollen als solche, die ohne die Arbeitshypothese Gott auskommen müssen. Die Tragweite dieser Erkenntnis sollte uns interessieren.
[V20:23] Jahn:
Die Theologie des Kreuzes tritt mir hier zu exklusiv auf. Das entspricht doch nicht dem neutestament|a 107|lichen Sachverhalt. Gott ist ganz gewiß der Allmächtige. Durch die Auferstehung erweist er gerade seine Herrschaft. Da offenbart er sich doch als der Gott des Lebens – der von mir den Weg der Liebe verlangt, den er mir eröffnet. Ohne Ostern kann ich den Gott des NT nicht verstehen.
[V20:24] Härter:
Bonhoeffer schließt Ostern keineswegs aus. Er will die Zustände des Denkens und Lebens in dieser Welt ändern. Ohne Ostern und die Kraft der Auferstehung wäre das sinnlos. Allerdings ist Ostern nichts Greifbares, Handfestes, das den Einsatz der Christen erübrigte, weil alles schon geschehen wäre. (Jahn: Ich finde, für die Jünger ist Ostern immerhin überwältigend beweisbar.) Bonhoeffer sieht den Christen in dieser Welt, so wie sie ist: mit ihrem Widerspruch und Widerstand. Eben da wird der Christ zum Abbild der Ohnmacht Gottes in der Welt. Das kann man nicht rational demonstrieren. Es soll auch nicht so sein. Der
allmächtige
Gott wäre leichter zu vertreten.
[V20:25] Gerds:
Wenn ich mir eine Deutung Bonhoeffers anmaßen darf, so erkenne ich in seinem Satz eine radikale Absage an die Zwei-Bereiche-Lehre. Es gibt für den Christen keine Zuflucht vor der Welt. Es gibt überhaupt keine Unterscheidung zwischen Christ und Welt.
[V20:26] Wagner:
Beantwortet sich die Frage nach Ohnmacht und Allmacht Gottes nicht, wenn man das Verhältnis zwischen Erstem und Zweitem Glaubensartikel bei Bonhoeffer klärt?
[V20:27] Müller-Schöll:
Warum müssen wir den Begriff
allmächtiger Gott
infragestellen? Man kann legitim von Gott nur sprechen, wo und soweit er sich selber uns offenbart, als der allmächtige oder als der durch Leiden herrschende. Solche Begriffe dürfen nicht systematisiert werden, weil sie gar nicht qualifiziert genug sind, |a 108|die Wirklichkeit Gottes angemessen auszudrücken. (Man könnte zuspitzen: Wären unsere Begriffe für Gott qualifiziert – Gott wäre tot.)
[V20:28] Barley:
Ohnmacht und Allmacht Gottes: keins kann gegen das andere ausgespielt werden. Wir haben aber wohl immer zwischen Gott und Gott zu unterscheiden. Allmacht, d. h.: Liebe ist Grund und Zukunft der Welt. Aber diese Liebe wird nicht herrschaftlich durchgesetzt, sondern sie begibt sich in Knechtgestalt. Darin ist uns Menschen Anschluß an die Liebe möglich, welche Zukunft hat.
[V20:29] Jahn:
Ich verstehe das NT so: In Jesus Christus offenbart sich Gott dieser Welt als der, der er ist. Damit ist immer Allwissen, Allwille mitgemeint. Gott tritt in seiner ganzen Größe und Realität auf den Menschen zu. Die Weise dieser Realität und das Prinzip der Machtausübung ist die Liebe. Ist aber nicht die Ohnmacht. Der Wesensinhalt der Liebe ist doch gerade, daß Gott dem Christen Kraft zuspricht. Auferstehung heißt ein neues, die Welt verwandelndes Verständnis.
[V20:30] Bäumler:
Man wird für Bonhoeffer sagen dürfen, daß er beim Zweiten Artikel einsetzt, ohne den Ersten Artikel auszuklammern. Aber: Die Konzentration auf die Weise der Christusoffenbarung läßt die Eschatologie zu kurz kommen. Moltmann sieht die Machtaussagen in der eschatologischen Perspektive. Er hat dabei das NT für sich. Gottes Herrschaft kommt als unsere Zukunft auf uns zu, sie entführt uns nicht aus dieser Welt. Darum dürfen wir nicht – wie es die dialektische Theologie tat – über die Diesseitigkeit hinwegsehen und hinweggehen. Ganz unzulässig ist es, die allgemeine These von der Allmacht Gottes gegen die Schwierigkeit und Bedrängnis dieser Welt auszuspielen.
[V20:31] Mollenhauer:
Wie orientieren wir uns in dieser Welt? Mit Hilfe der |a 109|Theorie und der Sachwalterin Vernunft. Nun darf ich an ein Ergebnis Kentlers erinnern: Die Vernunft hat mit sich eine bestimmte Erfahrung gemacht, nämlich die, daß sie sich selber hindert durch vergegenständlichendes Denken. Andererseits kann sie dieses vergegenständlichende Denken nicht verhindern. Denken ist immer Denken über Sachen, auch wenn Menschen der Gegenstand sind. (Hier nimmt Habermas vielleicht einen unnötigen Anstoß am Positivismus.) Also ist das objektivierende Denken ein permanentes Hindernis für die Vernunft. Und vielleicht auch für ihre Mündigkeit. Hier sehe ich nun eine hilfreiche Analogie zum Problem Bonhoeffers: Objektivierung findet auch in allem theologischen Denken statt. Darum greift er zu Paradoxie. Darum versucht er einen konsequenten Abbau der Objektivierungen: der herrschende, allmächtige Gott ist die massivste der theologischen Vergegenständlichungen. Theologie wird erst dann sachgemäß, wenn sie für das vergegenständlichende Denken Beunruhigung und Begrenzung schafft. Genau das will auch die Vernunft in ihrem praktischen Denken erreichen. Sie stellt permanent Grenzpunkte in Rechnung, die mit objektivierendem Denken nicht aussagbar sind. Es geht hier um ein neugedachtes Verhältnis von Theorie und Praxis.
[V20:32] Bäumler:
Halten wir fest, daß die theologische Bestimmung sich, im Verhältnis von Vernunft und Liebe konkretisiert. Die Liebe behandelt den andern nicht als Gegenstand, sondern sie tritt in Kommunikation zu ihm. Diesen Unterscheidungspunkt gibt es aber nicht als denkbare Markierung, sondern er wird als Praxis der Liebe wahrgenommen und wahrgemacht.
[V20:33] Waitzmann:
Muß nicht die kritische Frage gestellt werden; wie sich die Vernunft in der Grenzsituation des Todes verhält? – Und zur Herrschaft Gottes: Sie ist doch auch basileia hier, unter den Bedingungen der weltlichen Existenz. Wer sich dem anderen zuwendet, bezeugt diese Herrschaft. In dieser Zuwendung beginnt sie – als Herrschaft.
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[V20:34] Sudermann:
Normalerweise denken wir Herrschaft als Bewegung von oben nach unten. In Johannes 13 geschieht Christi Herrschaft genau umgekehrt: von unten nach oben. Sie dient, verzichtet auf Demonstration der Macht, gibt ein Beispiel und gibt Anteil an dem wahren Herrsein Jesu. Damit wird das objektivierende Denken als versagend erwiesen.
[V20:35] Jahn:
Nach meinem Verständnis wird im NT Allmacht als Liebe definiert. Jesus zeigt, wie man mit Macht auch anders umgehen kann. Eben das versucht er in den Gleichnissen denkbar zu machen, nicht aber es zu vergegenständlichen. [V20:36] Wie Moltmann sehe auch ich dies in eschatologischer Perspektive. In den eschatologischen Aussagen wird gerade die Liebe als Macht dargestellt. Das bedeutet ein radikal anderes Weltverständnis. Nachfolge in der Liebe ist darum mehr als imitatio und devotio: sie steht im Horizont der Verheißung. Der Verheißung nämlich, daß die Liebe über dieser Welt das letzte Wort behält. Darum kann sie schon jetzt in ihrer fragmentarischen Verwirklichung
Erfolg
haben. Darin steckt auch ein anderer Begriff der Freiheit: Ich kann in aller Freiheit das Modell einer zwischenmenschlichen Verwirklichung anfangen, ohne in Sorge sein zu müssen, ob es gelingt, ob es sein Ziel erreicht. Ein theologischer Ohnmachtsbegriff allein ließe mich nicht arbeiten, sondern resignieren. Nach neutestamentlichem Zeugnis und existenzieller Wahrheit sind wir auf das Gegenüber Gottes als Herr und Richter aller Welt angewiesen, vor dem wir uns verantworten müssen.
[V20:37] Bäumler:
Der Ohnmachtsbegriff ist nicht formal gemeint. In dem ohnmächtigen Mitleiden Gottes mit seiner Kreatur ist gerade seine Herrschaft angebrochen. Fortan befinden wir uns inmitten dieser Herrschaft als einem geschichtlichen Prozeß. Mit ihrer theologia crucis verfolgen Paulus wie Luther doch nur ein Interesse: |a 111|zu zeigen und zu bezeugen, wie sich Gottes Verheißungen inmitten der weltlichen Wirklichkeit in Kraft setzen. Gerade so vertreten sie ein ständiges Aufheben des objektivierenden Denkens. Das ist biblische Theologie. Denn die biblischen Texte sprengen selber jedes Gottesbild der Menschen, das sich zu verdinglichen droht. Und durch diese Durchbrechung halten sie den Raum offen für Mündigkeit als Mündigwerden des Menschen vor Gott.