ist in den letzten Jahrzehnten, aus der Perspektive sehr verschiedener Wissenschaften, derart viel geschrieben worden, daß, wenn sich nun auch noch die Erziehungswissenschaft zu Wort meldet, zu befürchten ist, sie könne sich entweder in den schwierig-pluralen Diskussionen von Physik, Biologie, Geschichtsschreibung, Religionswissenschaft, Ethnologie, Philosophie1
1Vgl. etwa H.
Gumin und H. Meier (Hg.),
Die Zeit. Dauer und Augenblick, München / Zürich
1989.
hilflos verfangen oder aber in erbauliche
Trivialitäten ausweichen. Ziemlich am Anfang des neuzeitlichen
Nachdenkens über Erziehung findet sich bereits eine solche
»Trivialität«
; in einem langen Traktat mit dem
Titel
»Della famiglia«
von Leon
Battista Alberti (um 1440) heißt es:
[129:2]
»Gianozzo: Drei Dinge sind es, die der
Mensch sein Eigen nennen kann; und sie sind es so sehr, daß
die Natur vom ersten Augenblick an, wo du das Licht der Welt
erblickt hast, sie dir gegeben hat mit der Freiheit, sie zu
gebrauchen, gut oder schlecht, soviel es dir beliebt und
gefällt; und die Natur hat angeordnet, daß diese Dinge immer
bei dir bleiben und sich niemals, bis zum letzten Tag, von
dir trennen. Das eine von ihnen, wisse, ist die Regung der
Seele, durch die wir begehren oder in Zorn aufwallen... Das
andere, siehe, ist der Körper. Ihn hat die Natur abhängig
gemacht, wie ein Werkzeug, wie einen Wagen, auf dem die
Seele fährt, und sie hat ihm befohlen, nimmer sich einem
anderen Befehl zu unterwerfen als dem der eigenen Seele...
Der Natur widerstrebt es, wenn der Körper nicht in der
Gewalt der Seele ist, und vor allem liebt der Mensch von
Natur aus die Freiheit, er liebt es, sich selbst zu leben,
sein Eigen zu sein... [129:3] Lionardo: Und das dritte – was wird das
sein? [129:4] Gianozzo:
Oh, ein höchst wertvolles Ding! Diese meine Hände und Augen
sind nicht so sehr mein Eigen... [129:5] Lionardo: Wunderbar! Was mag das sein?
[129:6] Gianozzo:
Man kann es keinem hinterlassen, nicht verringern, in keiner
Weise kann dies Ding dir nicht gehören, sofern du nur
willst, daß es dein ist. [129:7] Lionardo: Und wenn es mir beliebt, wird
es einem anderen gehören? [129:8] Gianozzo: Wenn du willst, wird es nicht
dein Eigen sein: die Zeit, mein lieber Lionardo, die Zeit, liebe Kinder!«
2
2
L. B.
Alberti, Über das Hauswesen (Della Famiglia),
Zürich / Stuttgart 1962, 216f.
|a 108|
[129:9] Frage und Antwort, die entfernt an Augustinus erinnern,
haben auch heute noch ihren Alltagssinn, ganz ähnlich dem, was nach
dem 15. Jahrhundert rasch geläufig wurde: Daß Zeit Geld wert sein
kann, weiß man, seit Geldverleiher Zinsen nehmen; daß sich Geld in
Arbeitszeit umrechnen läßt, war eine der Sorgen Dürers; Erasmus von Rotterdam
riet dringlich, bei der Ausbildung von Knaben und Jünglingen keine
Zeit zu verlieren; Johann
Amos Comenius konstruierte den Lebenslauf als sieben
aufeinanderfolgende
»Schulen«
; der Pietist August Hermann Francke wollte keine Pausen dulden usw. Derartiges ist oft beschrieben worden3
3Vgl. dazu
R.
Wendorff, Zeit und Kultur. Geschichte des
Zeitbewußtseins in Europa, Opladen 1980; Ph. Aries, Zeit und Geschichte, Frankfurt a.M.
1988; N. Elias, Über die Zeit (Arbeiten
zur Wissenssoziologie II, hg. von M. Schröter), Frankfurt
a.M. 1984; historisch besonders differenziert und
zuverlässig A. Borst, Computus. Zeit und Zahl in der
Geschichte Europas, Berlin 1990; ferner A. Keller,
Über die Zeit, Dortmund 1992; vielleicht auch,
bezogen auf Probleme der Bildungsgeschichte, K.
Mollenhauer, Zur Entstehung des modernen
Konzepts von Bildungszeit, in: ders., Umwege, Weinheim / München 1986,
68–91.
, und das Muster pädagogischer
Ermahnung, das sich darin zeigt, wird selbst dort noch bestätigt,
als ein kultureller Sachverhalt, wo ihm in moralisierender Attitüde
das Lob der Muße entgegengehalten oder in soziologisch-analytischer
Absicht die Richtung dieses Musters als Taylorisierung der Zeit oder
»Entkörperlichung«
4
4K. Heinemann und P. Ludes, Zeitbewußtsein und
Kontrolle der Zeit, in: K. Hemmerich
und M. Klein (Hg.), Materialien zur
Soziologie des Alltags, Opladen 1978, 220–243.
beschrieben wird.
[129:10] Die Frage ist also, was es zu derartigen und inzwischen
gut dokumentieren Problemlagen beizutragen gibt, wenn darüber in
pädagogischer Einstellung ergiebig gesprochen werden soll. Das wird
ohne Bescheidenheit der Einzelwissenschaft nicht möglich sein, ohne
Einschränkungen, die hier vorab erwähnt seien:
[129:11]
–
Ob es sinnvoll ist,
über
»Zeit«
so zu reden, als sei dies ein
über die Grenzen der einzelnen Wissenschaften oder Wissenssorten
hinaus identischer
»Gegenstand«
oder nicht
vielmehr ein immer wieder je anderes Konstrukt (vgl. dazu C. Colpe, N.
Elias)5
5C. Colpe, Die Zeit in den asiatischen Hochkulturen (Babylon – Iran –
lndien), in: Gumin und Meier (Hg.), Zeit,
225–256; auch Elias, Zeit.
, muß
gänzlich unerörtert bleiben.
[129:12]
–
Eine pauschale
Unterscheidung ist indessen sinnvoll: Offenbar liegt die
schwierigste Grenze zwischen Fragerichtungen der Natur- und
denjenigen der Geistes- und Sozialwissenschaften, zwischen
einerseits
»physikalischem«
und andererseits
»semantischem«
Zeitbegriff, den Deutungen
also, die sich auf das beziehen, was man als
»primäres Zeiterleben«
bezeichnet hat6
6E.
Pöppel, Erlebte Zeit und Zeit überhaupt, in:
Gumin und Meier (Hg.), Zeit,
369-382.
.
[129:13]
–
Zwar wäre auch das
»Zeiterleben«
ein sinnvoller Gegenstand der
Erziehungswissenschaft; seine Aufklärung müßte indessen weit in
die Naturwissenschaften hinreichen, etwa in die Biologie (
»biologische Uhr«
) oder die
Neurophysiologie. Deshalb soll im folgenden nur vom
»semantischen«
Zeitbegriff die Rede |a 109|sein, d.h. von solchen Sachverhalten,
die in den Alltagsvokabularien unserer Gegenwart zur Sprache
kommen und die sich auf das beziehen, was, ebenfalls
alltagssprachlich, in unserer historischen und kulturellen
Situation gemeinhin unter Problemen der Zeit verstanden
wird.
[129:14]
–
Dennoch wird im
folgenden auch vom
»Zeiterleben«
die Rede
sein. Dann aber handelt es sich nicht um die auch physiologisch
aufklärungsbedürftige Seite solcher Phänomene, sondern um
diejenige, die in Selbstbeschreibungen zur Darstellung
kommt.
2
[129:15] Es gibt, innerhalb unserer säkularen Kultur,
zwei Ausgangsdaten für das Nachdenken über Zeit in Erziehungs- und
Bildungsprozessen: einerseits Geburt und Tod und andererseits die
Frage, die Schleiermacher für die allererste jeder modernen
Pädagogik hielt:
»Was will denn
eigentlich die ältere Generation mit der jüngeren?«
7
7F.
Schleiermacher, Pädagogische Schriften I. Die
Vorlesungen aus dem Jahre 1826, Frankfurt a.M. / Berlin
(West)/ Wien 1983, 9.
Geburt und Tod stecken den Rahmen ab; was dazwischen
geschieht, soll von zwei Faktoren abhängig sein, die in einem
Wechselwirkungs-Verhältnis stehen: vom vernünftigen Wollen der
älteren und von den Entwicklungsverläufen der jüngeren Generation.
Aus dem damit gesetzten Problemspektrum greife ich hier nur einen
ganz kleinen Ausschnitt heraus, nämlich die Frage, wie psychosozial
stark belastete Jugendliche auf die Zumutungen reagieren, die die
ältere Generation ihr als Erwartungen zur zeitlichen Strukturierung
des Lebens entgegenbringt.
[129:16] Daß Bildung und Erziehung sich in der Zeit erstrecken, auch daß
innerhalb unserer Kultur diese Erstreckung geregelt ist, daß sie nach
Mustern verläuft, daß es Fortschritte und Einschnitte, kritische und weniger
kritische Phasen gibt, dies alles sind triviale Feststellungen. Trivial ist
vielleicht auch noch die Einsicht, daß derartige Muster, die das
Heranwachsen regulieren, dem Individuum Normalformen der zeitlichen
Lebenslaufgliederung auferlegen, mit denen es Schwierigkeiten haben kann.
Solche Schwierigkeiten hängen damit zusammen, daß die objektiven Muster, die
gesellschaftlichen Normalitätserwartungen für
»gelungene«
Bildungs- und Entwicklungsverläufe – also z. B. Pünktlichkeitserwartungen, Einschulungstermine, Lernzeiten im
Jahresrhythmus, Strafmündigkeitstermine u.ä. – dem Erleben von Zeit konfrontiert sind.
Muster und Erleben können also aufeinander abgestimmt sein; sie können aber
auch, das ist vielleicht schon weniger trivial, im Streit miteinander
liegen. Sie müssen also balanciert werden.
|a 110|
[129:17] Diese Balance gelingt nicht immer. Das Mißlingen kann auf
verschiedene Weise erscheinen oder erkennbar werden: Lernzeiten, die Kinder
oder Jugendliche brauchen, können von den institutionellen
»meßbaren«
Bildungszeiten (Kleinkindalter, Kindergarten, Grundschule
usw. bis hin zum Berufsabschluß) abweichen und etwa als
»Entwicklungsrückstände«
zu Konflikten führen; erinnerte Zeit kann
die objektive Chronologie in Verwirrung bringen; die Zeit, die man braucht,
um ein auftretendes Bedürfnis sozial verträglich zu befriedigen, kann als
unerträglich lange erlebt werden8
8Vgl. G.
Kasakos, Zeitperspektive, Planungsverhalten und
Sozialisation, München 1971.
; das Zeitempfinden in der Gleichaltrigengruppe, der Subkultur, der
Clique kann zu den institutionellen Vorgaben im Hinblick auf meßbare Zeit in
Konflikt geraten; wenn die Zeit mit Tätigkeit angefüllt ist, vergeht sie
rasch, andernfalls streicht sie frustrierend langsam dahin, entsteht
Langeweile; die Zukunft kann, wie die Vergangenheit, als ein Fatum erlebt
werden, ohne
»Perspektive«
, ohne
vorstellbare zeitliche Gliederung; schließlich kann auch der Tageslauf so
scheinen, als sei er nichts als eine Abfolge innerer Impulse des Organismus,
nicht abstimmungsbedürftig mit äußeren,
»objektiven«
Zeitsachverhalten. In derartigen Balancierungsleistungen zeigt sich ein historisch-anthropologisches Grundproblem, mit dem wir alle zu tun haben, aber
auch eine besondere Schwierigkeit, mit der Jugendliche konfrontiert sind, diesich in ohnehin schon schwieriger Lebenslage befinden. Beständig werden uns Synchronisierungen abverlangt.
[129:18] Wir9
9Die
folgenden Materialien und Argumentationen entstammen der
empirischen Jugendstudie K. Mollenhauer und U.
Uhlendorff, Pädagogische Diagnosen II.
Selbstdeutungen verhaltensschwieriger Jugendlicher
als empirische Grundlage für Erziehungspläne,
Weinheim / München 1995. Die
Materialien der Studie bestehen als Protokollen von 70
Gesprächen, die mit Jugendlichen beiderlei Geschlechts
geführt wurden. Die Stichprobe war eine sehr einseitige
Auswahl von Fällen: Es wurden (fast) nur solche
Jugendliche interviewt, denen ihre Erzieher (vorwiegend
in Heimen der Jugendhilfe) derart gravierende
Verhaltensschwierigkeiten zuschrieben, daß die Prognosen
eher skeptisch oder gar pessimistisch ausfielen. Neben
der Auswertungsdimension
»Zeit«
haben
wir in jener Studie die Gesprächsmaterialien auch nach
»Körpererfahrungen«
,
»Selbstbildern«
,
»normativen Orientierungen«
und
»Devianz«
ausgewertet. Dabei war uns in jeder
dieser Hinsichten nur an den Selbstdeutungen bzw. Selbstbeschreibungen der Jugendlichen gelegen,
nicht aber an objektivierender Ursachenermittlung. Die
folgende empirische Berichterstattung ist ein
gemeinsamer Text von U. Uhlendorff und
mir.
wollen deshalb ermitteln – und das ist nun die engere Fragestellung, die
hier (empirisch) erörtert werden soll –, ob bei den
Jugendlichen, die in schwierige Verhaltenskonflikte
hineingerieten und die bei ihren Erzieherinnen und Erziehern
in verschiedenen Einrichtungen der Jugendhilfe eher
Ratlosigkeit hervorrufen, etwas erkennbar ist, das auf derartige Lebensprobleme Bezug
nimmt. In welchen |a 111|Deutungsmustern, so ist
also unsere Frage, geben die Jugendlichen ihren Umgang mit Zeit zu
erkennen? Da nach solchen Mustern nicht direkt und nicht in
standardisierter Form gefragt wurde – wir haben mit den Jugendlichen offene Gespräche
geführt –, können sie nur aus dem Erzählduktus und den zur Sprache
gebrachten Inhalten erschlossen werden.
[129:19] Der Spielraum, den der
Interpret dabei hat, ist freilich groß und kann zu
unkontrollierbaren Vermutungen führen. Er liegt zwischen einer sehr
oberflächlichen Auswertung einerseits, bei der etwa nur darauf
geachtet würde, ob und in welchen Zusammenhängen überhaupt der
Ausdruck
»Zeit«
oder sinnverwandte Vokabeln
auftreten – und andererseits in dem Versuch,
»tiefe«
Charakteristiken der Rede, die etwa schon im Satzbau,
in der Grammatik, in den Verbformen Indikatoren für den Umgang mit
Zeitproblemen vermuten lassen, zu beschreiben. Die erste Variante
schien uns zu unergiebig; die zweite wäre eher in linguistischer
Grundlagenforschung angebracht, nicht aber im Zusammenhang
vorwiegend pragmatischer Interessen. Wir haben uns für einen
mittleren Weg entschieden, auch wenn er strengere theoretische Interessen kaum zu befriedigen vermag.
[129:20] Es wurden drei Arten von Äußerungen zum Gegenstand der Auswertung
gemacht, die, auch wenn sie nicht in die
»Tiefe«
der
mental verankerten Bewußtseinsformen eindringen, doch etwas vom
Zeit-Management und dem ihm zugrunde liegenden Habitus im Umgang mit
Zeitproblemen zum Vorschein bringen, nämlich:
–
[129:21] Wie bringen die Jugendlichen ihre biographische
Vergangenheit zur Darstellung, wie strukturieren sie ihre
Erinnerung?
–
[129:22] Wie beschreiben sie soziale Interaktionen und die
Wege zwischen einem auftauchenden Bedürfnis und dessen
Befriedigung, die Abstimmungen auf die Erwartungen anderer, die
dabei als nötig oder unwichtig erachteten
»Antizipationen«
?
–
[129:23] Wie gehen sie mit Zukunftsvorstellungen um, nicht
nur in mikrosozialen Interaktionszusammenhängen, sondern im
Sinne biographischer Entwürfe als zeitliche Strukturierungen im
Erwartungsfeld zwischen
»Wunsch und
Wirklichkeit«
?
[129:24] In allen drei Hinsichten muß jene oben angedeutete Balanceleistung
erbracht werden zwischen objektiv vorgegebenen chronometrischen Zeitschemata und dem subjektiven Erleben von Dauer. Man
kann davon ausgehen, daß im sozialisatorischen Regelfall beides im labilen
Gleichgewicht gehalten werden kann: Die chronometrischen Vorgaben können akzeptiert werden; hingegen wird das
»psychologische«
Erlebnis von Dauer, die Befriedigung
des Moments gleichsam in den Nischen der Chronometrie lokalisiert,
gleichviel ob sie im biographischen Verlauf oder in situativen Besonderheiten gefunden werden. Das chronometrisch
auferlegte Schema von Bildungskarrieren z. B. kann, ohne daß daraus
gravierende Schwierigkeiten entstehen, gelegentlich durchbrochen werden.
Jemand kann mal ein halbes Jahr
»durchhängen«
, ohne daß die eigene
Kontrolle über Zeitdistanzen verlorengeht; Spiel, Abenteuer und Reisen
können si|a 112|tuativ die Erlebnis-Zeit in den Vordergrund rücken, ohne daß dadurch die gesellschaftlich standardisierten Vorgaben
prinzipiell in eine Zone der Ablehnung geraten, wie auch umgekehrt die
auferlegte Chronometrie nicht das subjektive Erleben von Dauer oder
situativer Intensität beeinträchtigen muß.
[129:25] Die Jugendlichen unserer Stichprobe sind zumeist anders. Sehr
viele von ihnen tun sich schwer mit dem, was in der Interaktionstheorie
»Perspektiven-Übernahme«
heißt, eine Fähigkeit, die
nicht nur die allgemeine Interaktionskompetenz betrifft, sondern auch für
den Erwerb sozial verträglicher Zeitschemata grundlegend wichtig ist. Das
Sich-Hineinversetzen in die Perspektive von anderen bedeutet ja nicht nur,
diesen konkreten anderen Menschen, als aktuellen Beziehungspartner, in
seinen Erwartungen an mich ernst zu nehmen; es bedeutet auch, den
»generalized other«
, das, was mir als
verallgemeinerte Erwartung begegnet, in meine Handlungsschritte
einzubeziehen, also mich in der Perspektive solcher Erwartung zu sehen. Die
chronometrische Struktur von Bildungsverläufen in unserer Gesellschaft ist
eine solche verallgemeinerte Erwartung. Wer also im Verlauf seiner
Sozialisation wenig Gelegenheit hatte, derartige Abstimmungen zu erlernen,
gerät leicht in Konflikte. Fast immer entstehen sie entlang dieser kritischen Zone von verallgemeinerungsfähigen
objektiven Zeitgliederungsregulativen und den eher subjektiv zu nennenden
Erlebnisweisen, die sich von konkreten Situationen, von individuellen
Impulsen, von spontanen Befriedigungswünschen nur schwer lösen können. Auch
der umgekehrte Fall ist denkbar, daß nämlich die institutionelle
Zeitgliederung die subjektiven Erlebnisspielräume überwuchert und deshalb
gar nicht mehr zur Erfahrung kommt, daß das subjektive Zeiterleben (
»psychologische Zeit«
) sein Recht verlangen darf und
also auch in der Selbstdeutung einen wesentlichen Platz haben sollte.
[129:26] In solcher Lage entwickeln die Jugendlichen unserer Stichprobe
»Schemata«
oder
»Muster«
, nach denen
das für jeden von uns irritierende Spiel zwischen persönlichen Impulsen und
unpersönlichen Regelvorgaben individuell akzeptabel gedeutet wird. Die
Irritation wird, wenn man nicht über die oben beschriebene
Frustrationstoleranz und die Fähigkeit zur Übernahme
genereller Perspektiven verfügt, in durchgehenden Deutungsmustern zur
Beruhigung gebracht. Das erlaubt es den Jugendlichen, die Widersprüche oder
Differenzen gleichsam zu bereinigen. Drei solcher subjektiver Deutungsmuster
haben wir in den Materialien gefunden, und zwar nach Maßgabe der erläuterten
Problemlage:
–
[129:27] Es gibt Jugendliche, deren Umgang mit Zeitproblemen
ganz oder doch sehr weitgehend von den verallgemeinerten und
objektiven Schemata geprägt ist, die in unserer Kultur für
biographische Verläufe, für Bildungs- und Lernzeiten gel|a 113|tend gemacht werden. Was ihnen in ihrem
Leben relevant erscheint, das wird jenen Vorgaben zugeordnet.
Wir bezeichnen dies als das Muster
institutionalisierter Zeit.
–
[129:28] Daneben gibt es Jugendliche, die so erzählen, als
seien derartige Chronometrien irrelevant. Die Strukturierung von
biographischen Erinnerungen, aktuellen Schilderungen und
Zukunftserwartungen erfolgt nach Maßgabe wichtiger
Beziehungserfahrungen, zumeist in nahen sozialen Kontexten;
Zeitverläufe werden entsprechend gegliedert; die Dichte des
Erlebens von Interaktionen ist ihnen erheblich wichtiger als die
Frage, wie dies sich in die Zeitstruktur etwa von Bildungs- oder
Ausbildungskarrieren einfügt. Wir bezeichnen diese Mentalität
als an sozialen Beziehungen orientiertes
Muster der subjektiven Deutung von Zeit.
–
[129:29] Das dritte Muster umfaßt nicht, wie es scheinen
könnte, eine Restgruppe, sondern hat ein ausgeprägtes eigenes
Profil. Es wird von Jugendlichen zur Sprache gebracht, denen
sowohl die institutionellen Zeitschemata als auch die
erlebnisdichten Beziehungsereignisse gleichgültig zu sein
scheinen. Ihr Leben – so ist der Eindruck beim Lesen der
Interviews – gliedert sich in seinem Verlauf nach aufregenden
Episoden, die im übrigen unverbunden bleiben. Eigentlich nehmen
sie überhaupt keine Gliederung nach Entwicklungs- oder Bildungsschritten, auch nicht nach folgenreichen Erfahrungen mit anderen Menschen vor,
sondern springen von Episode zu Episode, ohne daß
Relevanz-Abstufungen erkennbar wären. Wir nennen dieses Muster
»fragmentiert«
.
[129:30] Jedes dieser drei Muster enthält Stärken und Schwächen. Erst aus
deren Abwägung können sich pädagogische Folgerungen ergeben. Vorerst aber
sollen sie qualitativ beschrieben werden.
3
Institutionalisierte Zeit
[129:31] Unter den 70 interviewten Jugendlichen gab es eine Teilgruppe,
die eine in sich konsistente, mehr oder weniger chronologische
Lebensdarstellung zur Sprache brachte, und zwar in enger Anbindung des
Lebenslaufs an Institutionen wie Familie, Heim und Schule. Ein
17jähriger Junge zum Beispiel beschreibt seinen Lebenslauf
folgendermaßen:
[129:32]
»Ich war ein Jahr lang im Krankenhaus,
weil ich blutkrank war. Und mein Vater und meine Mutter
waren ja Alkoholiker und haben sich immer gestritten.
Und da kam das Jugendamt und meinte, ein Kind weg oder
alle. Und da hat meine Mutter gesagt: eins. Und das war
ich, weil ich ja krank war. Und da bin ich gar nicht
mehr zu meiner Mutter gekommen, sondern in den Wohnhof
in X. Das ist so ein Kinderheim. ... Da war ich dann
ungefähr ein halbes Jahr, und dann hat sich ein anderer
Heimleiter gemeldet. Und hat gefragt, ob ich nicht da
ins Heim möchte. Ich hab natürlich ja gesagt, weil ich
das noch nicht alles genau wußte. ... Und dann kam ich
auf den Trip, mehr Scheiße zu bauen, also Blödsinn zu
machen und sowas. Und dann meinte der Heimleiter, ich
hätte so ein kleines, vierjähriges Mädchen betatscht.
Und da meinte der Heimleiter, ich kann gehen und sowas.
Und dann bin ich in die Jugendpsychiatrie nach D.
gekommen. Und die haben dann gesehen, daß ich über|a 114|haupt nichts in der Birne habe,
noch richtig ticke da oben. ... Und die haben nach einem
Heim geguckt, X. und Y. und weiß Gott nicht alles. Und
dann haben sie gesagt, A. ist noch ein Platz frei, und
dann bin ich hergekommen. Nee, die Leute sind hier in
die Psychiatrie gekommen. Und dann haben wir geredet und
so und denn hab ich Ja gesagt. Und dann bin ich hierher
gekommen.«
(15/17/m) 10
10Der Code in
den Klammerausdrücken bedeutet:
Fallnummer/Alter/Geschlecht.
[129:33] Ein anderer erzählt:
[129:34]
»Ich bin in A. geboren, das ist bei X. ... Dann ist
meine Mutter gestorben. ... Ich bin dann zu Pflegeeltern
in X gekommen. Erst habe ich bis zu meinem ersten
Lebensjahr, haben wir in Y noch gewohnt und dann eben zu
Pflegeeltern nach X. ... Da kam mal eine harte Zeit, da
waren meine Eltern arbeitslos. Und da wurde eben alles
gekürzt. ... Und dann bin ich auf die Schule gekommen,
auf die Hauptschule. Da bin ich bis zur achten Klasse
dann gegangen, siebte habe ich einmal wiederholt, ne,
weil ich so einen langen Krankheitsfall hatte. ... Und
dann bin ich nach S. gegangen in die Ausbildung letztes
Jahr.«
(14/17/m)
[129:35] Ein Mädchen berichtet:
[129:36]
»Also ich bin 1970 hier in X. geboren, ja ich mein’,
welches Krankenhaus, das weiß ich jetzt nicht mehr. ...
Ich hab zuerst mit meiner Oma, meiner Tante, meinem Opa
und meiner Mutter in einem Haus gewohnt. ... Meine
Mutter, die mußte ja arbeiten. Also die war eigentlich
nie da. Mein Vater, der war eigentlich auch nicht da,
also wo ich schon ganz, ganz klein war, da ham se sich
auch schon getrennt. Weil ich bin ja auch gekommen, da
war meine Mutter 19 und so. Ja, und dann hat se
eigentlich so viel Zeit auch nicht gehabt, um sich immer
so ganz intensiv zu kümmern, und halt erzogen hat mich
halt irgendwie mehr meine Oma. Und darum ist
wahrscheinlich auch klar gewesen, daß die halt eben mit
14, wo ich dann 14 war, wo ich dann mit ihr richtig so
gewohnt habe, irgendwo dann auch nicht so ganz
klargekommen ist. Ja, und dann ging das halt eben nicht
mehr, ich hab mich irgendwo dann
mit meiner Mutter überhaupt nicht verstanden, ja und
dann hat se mich eben ins Heim gesteckt, ins Heim
geschickt. ...«
(56/22/w)
[129:37] Die Erzählweise ist relativ einfach. Die Jugendlichen reihen
die für sie relevanten Ereignisse zu einem bestimmten Erfahrungsfeld
(Familie, Schule) einfach aneinander, sie verwenden dabei häufig die
Konjunktion
»und dann«
. Selbst bei der Darstellung
wichtiger Situationen und Lebensereignisse gibt es selten Hinweise auf
das innere Zeiterleben. Die
»psychologische Zeit«
,
Momente der Langeweile oder Ungeduld werden kaum zum Thema. Über die
Einschulung heißt es z.B.:
[129:38]
»Morgens hat meine Mutter mich fertiggemacht für die
Schule, hat mir ’ne Schultüte in die Hand gedrückt, dann
sind wir zur Schule hingefahren. ... Ja, und dann kamen
auf einmal meine Freunde aus’m Kindergarten, die ich da
kennengelernt hatte, ... und dann kamen die Lehrer raus
und ham uns die Hand gegeben, ham se uns in unsern
Klassenraum gebracht. Na, dann haben se die Eltern
weggefahren, ... haben wir so Zettel gekriegt und
sollten das ankreuzen, ja weiter weiß ich auch gar |a 115|nicht mehr. Zwischen elf und
zwölf Uhr konnten wir dann gehen. Haben die Eltern uns
wieder abgeholt.«
(2/16/m)
[129:39] In ihren Erzählungen vermißt man detaillierte Beschreibungen
und zeitliche Abfolgen von zwischenmenschlichen Ereignissen und
Handlungen mit den ihnen nahestehenden Personen. Für Außenstehende
dramatisch erscheinende Ereignisse wie Trennung und Heimeinweisung
werden eher distanziert-sachlich mitgeteilt.
[129:41] In
vergleichbarer Art werden Tagesverläufe oder auch Interaktionssequenzen
dargestellt. Die Beschreibung des Tagesablaufs folgt den
vorgegebenen Zeitplänen und Angeboten der Institutionen. Das
»Ich«
nimmt selten gestaltenden
Einfluß, es fügt sich scheinbar dem Rhythmus der
Einrichtungen und Lebensfelder.Biographisch relevante
Ereignisse wie etwa der Aufenthalt in einer psychiatrischen
Einrichtung sind vorwiegend chronometrisch interessant;
demgegenüber tritt die mögliche Erlebnisdichte interaktiver
Erfahrungen zurück:
[129:45]
»Da bin ich mit andern Leuten zusammengekommen, ja, und
dann nach ’ner Zeit fing dann die ganze Scheiße an, ne?
Mit Klauen und Lügen und zu spät nach Hause kommen, mal
’ne Nacht gar nicht kommen. Und da wurden meine
Großeltern nach ’ner Zeit natürlich nicht mit fertig.
Wurden ja auch älter, und dann ham die gesagt: so, jetzt
können wir nicht mehr. Die ham’s lange mit mir
ausgehalten! ... Dann ham die mich in die
Kinderpsychiatrie gesteckt nach H., weil die gedacht
haben, ich bin innerlich nervös. ... Also ich war da auf
’ner geschlossenen Station, hab jeden Tag ’n Gespräch
mit dem Doktor gehabt, so ’n Arzt, und nachmittags hab
ich Therapien gehabt. Wenn ich gut, mich gut gefühlt
habe, dann hab ich nachmittags mal ’ne halbe Stunde oder
’ne Stunde Ausgang gehabt, na, dann wieder rein, dann um
8 ins Bett. Das war so meist der Tagesablauf, der immer
so abging, immer. Da gab’s keinen Tag, der nicht so
aussah. ... Und dann ’n halbes Jahr da gewesen, und dann
bin ich hierhin gekommen, also nicht direkt hier,
erstmal in ’ne andere Außenwohngruppe. Ja, und dann nach
’ner Zeit ham se mich dann hier hingetan. Gucken, wie’s
hier läuft.«
(35/15/m)
[129:48] Auch die Zukunftspläne scheinen einem Fahrplan zu folgen, den
man zwar in seinem Zukunftssinn nicht durchschaut, der aber dennoch
akzeptiert wird:
[129:49]
»Ein Jahr Hauswirtschaftsschule. Und danach mach’ ich
aber noch was anderes, wegen meinem Hauptschulabschluß,
damit ich ihn krieg’. Das nennt sich, glaub’ ich,
irgendwie BFH oder BVH. ... Danach will ich ’ne
Ausbildung als Floristin anfangen. Weil ich Blumen mag,
weil ich schon immer hinter Blumen her war, so Gartenarbeit, so Blumengestecke,
Blumen binden, Biedermeiersträuße und so weiter.«
(30/16/w)
[129:50]
»Ich war hier zur Schule. Und dann hab ich erst
Hauswirtschaft und Agrar gemacht. Und da hab ich
gesehen, das ist überhaupt nichts für mich. Ja, und dann
hab ich mal versucht, BVJ, Farbe und Holztechnik. Da hat
mir Farbe keinen Spaß gemacht, weil der Meister so mies
zu mir war. Und der Meister bei Holz war eigentlich
immer voll nett zu mir. Dann hab ich mir angewöhnt,
immer schon um halb loszugehen, statt immer ein paar
Minuten zu spät zu kommen. Und dann hat’s mir |a 116|auch immer mehr Spaß gemacht.
Auch, wenn ich da morgens reinkam, so ein schöner
Holzduft von Kiefer oder sowas.«
(15/17/m)
[129:53] Die Zeit-Deutungsmuster, nach denen diese Jugendlichen ihre
biographischen Ereignisse ordnen, sind auf sympathische, aber häufig auch dürftig anmutende Weise realistisch, haben
etwas von der Zuverlässigkeit handwerklicher Orientierungen, wie in
alten Handwerker-Chroniken. Individuell Bedeutsames rückt demgegenüber
eher in den Hintergrund; statt dessen treten Merkmale eines gleichsam
öffentlichen Lebenslaufs hervor. Manchmal lesen sich die Äußerungen der
Jugendlichen wie eine Jugendamtsakte: frühe Krankheit, Scheidung der Eltern, Aufenthalte bei Verwandten,
Einschulung, Umzüge, Schulschwierigkeiten, Familienhilfe,
Heimeinweisung, psychiatrische Betreuung, Heimwechsel, BGJ, Lehre.
Hinter dem (scheinbar) nüchternen und auf institutionelle Abläufe
bezogenen Schema der zeitlichen Orientierung bleibt indessen verborgen,
was mit der Bildung des Individuums geschieht. Die in den Äußerungen
vorherrschende chronometrische Einstellung könnte auch brüchiges Eis
sein, ein durch leidvolle Lebenserfahrung akzeptiertes Korsett
biographischer Orientierung, das einerseits Stütze, andererseits
Restriktion bedeutet. Es gibt bei dieser Art biographischer Mitteilungen
keine, in denen die Zeitvergessenheit im Spiel, die eher privaten
biographischen Gliederungen, die Zeitabläufe von Freundschaften oder
anderen sozialen Beziehungen, die
»Biographien«
von
Gruppenstrukturen, die (vermutbare) Erlebnisdichte von herausragenden
Lebensereignissen zur Darstellung gebracht werden.
Beziehungszeit
[129:58] Das folgende Beispiel eines türkischen Mädchens zeigt, trotz
chronologischer Erzählweise, die zeitliche Gliederung der Vergangenheit
nach Maßgabe mehr oder weniger dramatischer Beziehungsereignisse:
[129:59]
»Ich bin in Deutschland geboren, ... dann bin ich
gleich, nachdem ich geboren bin, hat mich meine Mutter
nach Türkei gebracht, bin ich mit meinen Großeltern da
aufgewachsen, bis ich sieben Jahre alt war, meine Mutter
kam ab und zu mal zu Besuch, und dann hab ich sie Tante
genannt, weil ich sie ja nicht kannte, und dann hat sie
sich immer über mich geärgert. ... Und meine Großeltern
haben versucht, irgendwie zu beweisen, daß sie meine
Eltern sind, also meine richtigen Eltern. Das wollt’ ich
einfach nicht kapieren, weil ich hab gedacht, ich hab
meine Eltern, das sind meine Großeltern, und dann basta,
hab ich gedacht. Und ich wollte meine Eltern nicht
akzeptieren. Und als ich dann sieben geworden bin, hat
mein Vater ’n Brief geschrieben nach Türkei und hat
gesagt: ... wir wollen unsere Tochter wiederhaben. ...
Und bin ich wieder zurückgekommen, und dann hab ich
meine Eltern kennengelernt und meine richtigen
Geschwister. ... Und da war ich ganz entsetzt ... ich
hab mich selber gefragt: was soll das jetzt, auf einmal
hab ich Geschwister, und ich hab nicht meine Ruhe, und
ich wollte meine Großeltern also für mich haben, weil
die mir mehr Liebe gegeben haben, und alles was ich
brauchte. Und mein Vater |a 117|und
meine Mutter, die waren eifersüchtig, weil ich meine
Großeltern mehr mochte als meine Eltern. Meine
Geschwister, die waren auch eifersüchtig, weil meine Oma
hat mir alles gegeben, ... die sind eifersüchtig
gewesen, die sind immer noch eifersüchtig. Die hetzen
mich gegen meine Oma auf. Und als dann dieses Problem
kam, also dieses Problem mit meinem Vater, er wollte
was, naja – er wollte was von mir, was ein normaler
Vater nicht machen konnte. Dann bin ich zur Schule
gegangen in H., erst in die Grundschule, ich hatte
riesige Probleme erst mit meiner Familie, weil ich erst
meine Geschwister kennengelernt habe, und dann, mit der
Schule wollt’ ich ja nichts anfangen irgendwie, die
Schule war mir nicht wichtig in dem Augenblick. Und dann
bin ich in die Sonderschule gekommen, mit meinem Bruder
zusammen, der hatte, glaub’ ich, auch Probleme. ... Und
als ich in der Sonderschule war, dann nach paar Wochen
wollt ich Selbstmord machen. ... Naja, meine Großeltern
sind ausgezogen, und dann kam das Problem mit meinem
Vater, ... hab ich ganz viele Tabletten genommen. ... Da
war ich ... noch nicht ganz 13.«
(29/16/w)
[129:60] Es folgt eine detaillierte Beschreibung der Reaktionen auf den
Selbstmordversuch, die familiäre Aufregung, die Behandlung im
Krankenhaus, die peinlichen Fragen der Ärzte,
»ob
mich jemand vergewaltigt hat, warum ich diesen Selbstmord gemacht
habe«
. Sie beschreibt ihre Loyalitätskonflikte gegenüber
ihrem Vater, der sie sexuell mißhandelt hat, dann ihren Versuch, einen
türkischen Rechtsanwalt einzuschalten, eine dramatische Entführungsszene
in die Türkei. Wieder zurück in Deutschland, so erzählt sie,
[129:61]
»... bin ich denn abgehauen, hab ich ’n Auto angehalten,
und da war ein Mann, wollt’ ich lieber nicht einsteigen.
Hab ich denn ’ne Frau angehalten, und sie mußte zum
Zahnarzt, hat sie da den Termin abgesagt, hat mich zum
Polizeirevier gefahren. Und der Direktor kannte mich ja
nicht, dann kam der andere Polizist, der mich schon
kannte. Der hat gesagt: Sie sagt die Wahrheit, dann hat man gleich das
Jugendamt verständigt, dann wußten auch meine Eltern
schon, wo ich war. Mein Bruder kam, meine Mutter kam,
die ganzen türkischen Leute haben sie mitgebracht. Mein
Bruder hatte gesagt: bitte tu das nicht, gehe nicht zum
Heim zurück. Dann war ich noch verzweifelter und noch
bescheuerter an dem Tag! ... Dann bin ich ins Internat
gekommen. Ja, und von da aus bin ich nach X. (Heim) gekommen, nach zwei
Jahren.«
[129:62] Die erinnerten Erwartungen und die damit verbundenen
Spannungen geben dem Lebenslauf seine eigentliche Dynamik. Dramatische
soziale Zuspitzungen (wie z.B. die Entführung), die verschiedenen Versuche des Mädchens, die
Situation zu lösen (Selbstmordversuch, die Bemühung, über eine Lehrerin
einen Rechtsanwalt einzuschalten, die Flucht) und die Gegenhandlungen
der Eltern und Reaktionen der Jugendhilfevertreter markieren die
verschiedenen Etappen und Wendepunkte innerhalb des Lebenslaufs. Im
Zentrum der Erinnerungen stehen aber – im Unterschied zum
»institutionellen«
Zeit-Muster – die Wünsche sowie
Strebungen des Individuums und die damit verbundenen sozialen
Schwierigkeiten, Ängste und Verzweiflungen. Die erinnerten
konflikthaften zwischenmenschlichen Situationen und die mit ihnen
verbundenen inneren Bewegungen bilden die eigentlichen Säulen der
Autobiographie. Sie verdichten sich zu |a 118|Beziehungsthematiken, die sich über einen längeren Lebensabschnitt
hinziehen und nur hier und da mit dem institutionellen Werdegang
verknüpft werden. Institutionsbezogene Ereignisse wie Einschulung oder
Heimeinweisung tauchen vereinzelt in der Lebensbeschreibung auf, aber
mehr im Schatten der sozialen Beziehungsereignisse; sie dienen, wie auch
die jeweiligen Altersangaben, mehr als chronologische
Orientierungshilfen.
[129:63] Die Biographie verliert dadurch, daß eigene und fremde
Handlungsabsichten mitgeteilt werden, ihre starre und an institutionelle
Abfolgen gebundene Form. Diese Jugendlichen ziehen andere zeitliche
Gliederungspunkte heran und strukturieren ihre Biographie nach einer
anderen Logik als jene, die dem Prinzip institutioneller Zeitschemata
folgen. Die Autobiographie wird als eine Art Etappendrama aufgebaut, in
dem die Entwicklung eines zwischenmenschlichen Konfliktes über einen
längeren Zeitraum dargestellt wird, und zwar aus der Sicht des
Hauptakteurs; die einzelnen Etappen bzw. dargestellten Lebensstationen
bilden bewegende Höhepunkte des Lebensweges, die zumeist mit wichtigen
Veränderungen und Wendungen einhergehen.
[129:66] Kennzeichnend für die Erzählweise ist, daß Handlungen in
dichten zeitlichen Schritten berichtet werden:
»Bin ich
dann abgehauen, hab ich ’n Auto angehalten, und da war ’n Mann drin,
wollt’ ich lieber nicht einsteigen ... «
Schwierig wird es nur dann, wenn ein Handlungsgeschehen
beschrieben werden soll, in dem mehrere Personen einbezogen sind, die
parallel, also zeitgleich handeln, und deren Handlungen schließlich
aufeinandertreffen. Als Beispiel noch ein weiterer Auszug aus dem Bericht
des türkischen Mädchens:
[129:67]
»Da war ich 13½. ... Und dann wollt’ ich, also hat mein Bruder
gesehen, daß ich die Tabletten geschluckt habe, hat
meine Mutter geholt. Damals hatt’ ich ja, hatte meine
Mutter noch ’n Kind gekriegt, das war mein jüngster
Bruder, der war, glaub’ ich, gerade 4 oder 5 Jahre alt,
der jüngste jetzt. ... Und meine Mutter hat ja meinen
kleinen Bruder bißchen ausgeführt, ... in’ Spielplatz,
das war in der Nähe. ... Und dann, als mein Bruder
gesehen hat, daß ich Tabletten genommen habe, hat mein
Bruder meine Mutter geholt, dann hat sie – mein Vater
hat immer Geschichten erzählt, daß ich angeblich in den
Toiletten mit deutschen Jungs rumgemacht habe, aber das
stimmte gar nicht. Mein Bruder hat gesagt, das stimmt
gar nicht, also ich war immer bei meinem Bruder. Und
dann hat mein Vater meinen Bruder auch geschimpft, und
dann hatt’ ich die Nase voll, ich hab gesagt: Ich will
nicht mehr weiterleben! Hab ich Tabletten genommen, ich
hatte meinem Bruder auch erzählt davon, und dann, was
mein Vater für Märchen zu meiner Mutter erzählt hat, mit
den Jungen da – dann hat meine Mutter mich auch halt,
als ich Tabletten genommen hab, ... dann hat meine
Mutter gesagt: Du bist ’ne alte, was weiß ich, Hure und
so. Hat mein Bruder dann alles in dieser Sekunde
erzählt, er hat gesagt: das stimmt alles nicht, sie
traut sich nicht, dir die Wahrheit zu sagen. Meine
Mutter wollt’ das aber nicht glauben, und dann in dem
Moment ist mein Vater einen trinken gegangen in ’ne
Kneipe, ist mein Bruder schnell hingefahren, hat meinen
Vater geholt ... Und dann ist mein Vater gekommen, ham
se mich zum Hausarzt gebracht.«
(29/16/w)
|a 118|
[129:68] Es fällt auf, daß es dem Mädchen
noch nicht gut gelingt, die verschiedenen Handlungen der
beteiligten Personen in der Erzählung zeitlich aufeinander
abzustimmen; man weiß beim ersten Lesen nicht so richtig, was
vorher und was gleichzeitig passiert ist, wer wann dies oder
jenes erzählt hat und zu welchem Zeitpunkt sich dies oder jenes
ereignet hat. Erst nach mehrmaligem Lesen läßt sich das
Geschehen rekonstruieren. Die Erzählerin reiht Handlungen, die
sich parallel zur selben Zeit ereignen, aneinander, so als
würden sie zeitlich nacheinander erfolgen (
»Hat
mein Bruder in dieser Sekunde dann alles erzählt. Meine
Mutter wollt’ das aber nicht glauben, und dann in dem
Moment ist mein Vater einen trinken
gegangen ..., ist mein Bruder schnell hingefahren ... hat
meinen Vater geholt«
). Alles geschieht zur selben Zeit und doch
zeitlich nacheinander. Nun könnte man dies mit den sprachlichen
Schwierigkeiten des Mädchens begründen, ihr fehlen solche
adverbialen Bestimmungen der Zeit, welche Zeitrelationen
verdeutlichen, wie z.B. während, bevor, zur gleichen Zeit, vorher, nachher. Sie
verwendet nur ungenaue zeitliche Bestimmungswörter wie
»und dann«
,
»damals«
,
»da«
,
»in dieser Sekunde«
. Das scheint aber eher ein Entwicklungsproblem zu sein.
[129:69] Bei der ersten Gruppe wurden Zeitverläufe
beschränkt auf eine Handlungsabfolge beschrieben, in ihrer
Vorstellung schien es keine parallel verlaufenden Geschehensabläufe zu geben.
Für die Jugendlichen, die sich diesem zweiten Typ zuordnen
lassen, existieren neben den eigenen Handlungen auch andere, von
ihnen unabhängige Geschehensabläufe, die sich zeitgleich
ereignen. Sie können sie aber noch nicht zeitlich koordinieren.
Das Mädchen, das hier prototypisch für die ganze Gruppe steht,
scheint sich auf einer Entwicklungsstufe zu befinden, auf der das Individuum in seinen Vorstellungen noch nicht in der
Lage ist, zwei Handlungen in ihrer Gleichzeitigkeit zu denken
bzw. darzustellen; es gibt noch keine von dem Geschehen abstrahierte
Zeitvorstellung, in der verschiedene Handlungsverläufe
aufeinander bezogen werden könnten. Die Erzählweise folgt einer
»zentrierten Handlungslogik«
11
11G. Dux, Die Zeit in der
Geschichte, Frankfurt a.M.
1989.
: Verschiedene Handlungsabläufe, in die mehrere Personen
verwoben sind, die zum Teil parallel verlaufen und aufeinander
Bezug nehmen, werden von der Position eines der Beteiligten
beschrieben. Einen dem Geschehen übergeordneten und wechselnden
Betrachterstandpunkt gibt es nicht. Das Mädchen versetzt sich in
ihre damalige Notsituation und beschreibt sie allein aus ihrer
Perspektive. Das Muster der
»institutionalisierten Zeit«
ist der entgegengesetzte
Fall: Dieeigene|a 120|Perspektive fehlt und wird gleichsam der
eines abstrakten Anderen geopfert.
[129:70] Die Lebensbeschreibungen unterscheiden sich von denen der
ersten Gruppe noch durch ein weiteres Merkmal: Handlungsabfolgen
ereignen sich nicht mehr schicksalhaft, sondern werden z.T. selbst mitbestimmt; Ursachen für Veränderungen werden begründet:
[129:71]
»Naja – weil jedes Mal, wenn ich da zu Hause war, dann
gab’s irgendwie immer Streit wegen irgendwelchen Sachen!
Und wenn’s so Kleinigkeiten waren. Ich mein’, meine
Mutter, die hat Brustkrebs, und die hat auch nicht mehr
viel von ihrem Leben zu erwarten, kann ich auch
verstehen. Aber deswegen muß sie sich nicht gleich ganz
verkriechen und so. Mit meinem Vater ist es auch nicht
so ganz einfach, der hat krankhafte Eifersucht. Das ist
schon schlimm, also wenn’s nach mir geht, würd’ ich den
sofort in’ne Klapse einweisen. Naja, mein Vater, der hält
eh nicht viel von mir, der meint, ich wäre zu dumm und
so. Aber ich hab mir gesagt, ich geh’ arbeiten, und dann
kann ich ihm wenigstens beweisen: Ich hab was gelernt, und du nicht! ... Naja, eine
Zeit hab ich ziemlich intensiv über meine Eltern
nachgedacht. In letzter Zeit träum’ ich auch sehr viel
von ihr (Mutter). Aber mehr so die grausigen Sachen. Da
hab ich z.B. schon den eigenen Kopf von meiner Mutter in der
Hand gehalten! Und – ach – aber
jetzt geht’s eigentlich so, find’ ich. Also ich find’,
ich muß mich jetzt mehr auf die Arbeit konzentrieren,
das ist wichtiger. Weil es geht jetzt im Endeffekt um meine Zukunft, weil ich hab mich sechs Jahre – oder
besser gesagt, fünfeinhalb – mehr um meine Eltern
gekümmert als um mich selbst. Weil, um mich hat sich
keiner gekümmert! Die waren entweder nie da, oder es gab
nur Streit und waren weg.«
(47/17/m)
[129:72] Jugendliche, die am institutionen-orientierten Zeitmuster
hängen, bevorzugen eine relativ bewertungsfreie Schilderung von
Ereignisabfolgen, für die die Konjunktion
»dann ... und
dann ... und dann«
steht. Jugendliche des an
Beziehungsereignissen orientierten Musters von Zeitgliederungen bringen
die Lebenssachverhalte in einer Darstellungsweise zur Geltung, in der
interaktiv wichtige Gründe und Folgen mitgeteilt werden. Die von ihnen
bevorzugte Konjunktion, auch wenn sie nicht wörtlich verwendet wird, ist
»weil ...«
. Die zeitliche Abfolge von
Lebensereignissen ist, innerhalb dieses Musters, an das subjektive
Wollen und Können gebunden, mehr jedenfalls als an die
institutionalisierte Chronometrie.
[129:75] Ähnlich wie bei der Tagesgestaltung folgen diese Jugendlichen
auch bei der Zukunftsplanung stärker als die
erste Gruppe ihren individuellen Wünschen, oft entgegen den Ratschlägen
ihrer Erzieher und unabhängig von den tatsächlichen
Verwirklichungschancen. Ein Mädchen möchte unbedingt Sozialpädagogin
werden und entwirft gemeinsame Lebenspläne mit ihrem Freund:
[129:76]
»Wir sind jetzt fast ein Jahr zusammen, und wir wollen
noch länger zusammen bleiben. Und wir glauben auch, daß
es klappt. Und wir lassen uns nicht von außen
beeinflussen, von den Erziehern, das fand ich also
ziemlich erniedrigend, daß die kommen und sagen, hör mal
zu, der steht doch sowieso nicht auf deinem Niveau, der
ist doch etwas tiefer, laß ihn doch hängen, es bringt
nichts mit euch beiden. ... |a 121|Wenn, dann muß ich das selber
für mich rauskriegen, ob es stimmt, was die sagen. Aber
das können die doch gar nicht beurteilen. Wenn er
arbeiten geht und ich arbeiten gehe, dann ist es ...
also, ich find’s besser, wenn man zwei verschiedene
Arbeiten hat, als wenn z.B. beide im Büro wären. Das wäre überhaupt nichts.
... Und manche sehen das hier nicht ein. Die Erzieher,
was die gesagt haben, das fand ich echt total daneben,
oh, ich fand das so gemein.«
(20/16/w)
[129:79] Jugendliche, die ihren Lebenslauf stärker nach
Beziehungsereignissen gliedern, orientieren sich in ihren
Zukunftsvorstellungen weniger an konventionellen Karrieren, sondern
folgen mehr ihren Interessen, Neigungen, Bedürfnissen. In der eigenen
Vorstellung folgt der Lebensweg nicht festgelegten Bahnen. Das Geschehen
in der Zeit kann von ihnen mitbestimmt werden, sie vertreten also ein
eher
»aktives«
Konzept von Lebenszeit. Die eigene
Lebenszeit wird als Entwicklungszeit erlebt: Die persönliche Vergangenheit zeichnet sich durch die Bewältigung
sozialer Konflikte und den Erwerb von Kompetenzen aus, das Leben wird
als ein individueller sozialer Reifeprozeß gesehen. Sie sehen sich vor der Entwicklungsaufgabe, ihre Lebensvorstellungen und
Interessen den eigenen Könnens- und Wollensmöglichkeiten anzupassen.
[129:80] Auch angesichts dieses Zeitmusters – es mutet nicht weniger
sympathisch an als das erste – kann man sich fragen, warum eigentlich
Jugendliche mit derartigen Orientierungen in Schwierigkeiten geraten,
die sie zu Klienten der Jugendhilfe machen. In beiden Arten von Selbstbeschreibung stecken
Einseitigkeiten: eine Unterschlagung gleichsam der subjektiven Erlebniskomponente
im
»institutionsorientierten«
, ein Mangel an institutionellem Realismus – wenn man so sagen
darf – im zweiten, ganz an das individuelle Zeiterleben gebundenen
Fall.
Fragmentierte Zeit
[129:81] Die Strukturierung des Zeiterlebens an den meßbaren
institutionellen Abfolgen des Lebens und die Orientierung an
erfahrungsdichten Interaktionsereignissen ließen beide Ordnung und eine
gewisse Logik erkennen. Daneben gibt es Jugendliche (ca. 25 % der Fälle), deren Erzählweise abgehackt und sprunghaft erscheint,
gelegentlich beliebig assoziativ, jedenfalls so, daß zunächst
Regelhaftes kaum zu entdecken ist.
[129:82] Ein Jugendlicher z.B. sagt über seine Zeit
im Kindergarten:
[129:83]
»Ou! Tja, das ist schwer. Also da
war ich, glaub’ ich, von vier bis fünf. Sind wir
spazieren gegangen, auch zusammen was gemacht. Mein
Bruder kam ja ein’ Tag später rein. Wir sind zusammen
eingeschult worden. War ja vorher auch schon im
Vorschulkindergarten. Zweimal im Kindergarten. War
langweilig das zweite Mal. ... Ich weiß nur noch, daß
ich mal im Kindergarten Geburtstag hatte. Denn war ja
bei uns so Sitte, so auf’n Stuhl. Und die Jugendlichen
durften mich mit Stuhl hochhe|a 122|ben ... da bin ich eine Woche auf Sonderschule
gekommen. Dann waren wir schwimmen, haben wir auch schon
gemacht. Mein Djako (Schwimmabzeichen) in der
Sonderschule gemacht. Einer mußte sich ja freiwillig
melden, ne. Waren ja mehrere. Fragte ein Direktor oder
was er war: Wer hat Lust auf den Stuhl? Alle haben sich
gemeldet. Außer ich, ne. Er hatte mich drangenommen.
Auf’n Stuhl, dann kamen noch drei, vier Stühle drunter.
Hat er mir erstmal gratuliert. Da hab ich Schiß gehabt,
weil ich Höhenangst hatte.«
(22/17/m)
[129:84] Zu seiner Schulzeit sagt er
folgendes:
[129:85]
»Nur Schreckliches. Wir haben uns
nur geprügelt. Der hat angefangen, da hab ich
zurückgeschlagen. Ich hab nur einen Zahn verloren ...
Wenn ich Schule geschwänzt habe, bin ich meistens zum
Wald gegangen, nur rumgegangen, Scheiße bauen, Bäume
ausreißen. Da bin ich aber geflitzt, weil ein
Wildschwein kam.«
(22/17/m)
[129:86] Auch andere wissen von der Schulzeit wenig
zu berichten, was auf die Institution bezogen ist:
[129:87]
»An die Schultüte kann ich mich
noch erinnern, aber sonst? Nö. Da war ich noch bei
meinen Pflegeeltern, glaub’ ich, so genau weiß ich das
nicht ... Was hab ich damals gemacht? Wir ham draußen
gespielt, mit den Autos da, und was weiß ich. Oder wir
sind in Scheunen vom Bauern gegangen, ins Heu reinfallen
lassen oder so. Dann ham wir auch so einige Einbrüche
gemacht, mal ’n bißchen Alkohol rausgeholt und
so.«
(12/18/m)
[129:88] Diese Jugendlichen haben offensichtlich gravierende
Schwierigkeiten mit der Chronologie. Zwischen verschiedenen
Lebenszeitpunkten springen ihre Schilderungen assoziativ hin und her.
Dennoch kann man nicht behaupten, daß ihr Zeiterleben ohne jede Ordnung
sei; sie ist nur schwerer zu erkennen: Nicht die institutionelle Zeit,
nicht Geschichten und Vorgeschichten von Beziehungsereignissen
strukturieren ihre biographische Erinnerung, sondern aufregende Momente.
Was zwischen diesen liegt, scheint gänzlich irrelevant zu sein (
»Was hab ich denn immer gemacht?«
). Die Bruchstücke
stehen in einem Sinnzusammenhang, der sich nicht aus der zeitlichen
Abfolge von Ereignissen ergibt, auch nicht aus der Relevanz und
»inneren«
Dauer von Beziehungskonflikten, sondern aus Momenten, die nur durch das Merkmal
miteinander verbunden sind, aufregend gewesen zu sein. Auch die
Beschreibung von Situationen, für die man im Regelfall die
Verdeutlichung von Handlungsabläufen erwarten würde, fällt nach dem
gleichen Muster der Reihung aufregender Momente aus, z.B. die Beschreibung einer Jugendgerichtsverhandlung:
[129:89]
»Ich dachte, das wär’ hier nicht öffentliches Gericht.
Meinte ich, was sind das für Leute? Ja, das sind
Praktikanten. Ich hab mich immer kaputtgelacht. Die
sahen ja schlimmer aus als ich. Die sahen ja
verbrechermäßig aus. Und der Richter: Wie alt bist du?
Hab ich gesagt. Wann bist du geboren? Stimmt das wie,
wie du heißt? Ich sage, ja. Ich sag’ ihm, daß ich von
Geburt so alt bin. Sag’ ihm, daß ich von Geburt auch so
heiße. Immer Gericht verarscht. Eine viertel oder halbe
Stunde später mein|a 123|te dieser
Rechtsanwalt – ich hatte keinen Anwalt, ne: Das war das
erste Mal, lassen wir ihn davonkommen! Meinte der
Richter ganz blöd – da hätte ich mich allerdings
aufregen können, ne: Wenn ich Sie noch einmal erwische,
dann sieht das gar nicht so gut für Dich aus! Ja, ja, laber mal, ich so gedacht. Tschau,
geh mal schön. Bin ich rausgegangen.«
(22/17/m)
[129:90] Die beschriebenen Ereignisse haben den Charakter von in sich
abgeschlossenen Episoden, sie fügen sich in keine zeitliche
biographische Abfolge und haben scheinbar auf das weitere
Lebensgeschehen keinen Einfluß. Hier andere, nicht weniger skurrile
Beschreibungen:
[129:91]
»Und dann bin ich auch abgehauen einmal, mit’m Fahrrad,
... hab ich Streit gehabt mit so’m Jungen, mein Rennrad
geschnappt, dann bin ich per Autobahn gleich
zurückgefahren nach X. ... Da ham mir noch 20, 30
Kilometer gefehlt auf diesem Schild – steht ja 130, ne.
... Dann hab ich gesagt: och Scheiße, ich hab keinen
Bock mehr. ... Und dann sind se, das waren Anhalter, mit
mir dann aus der Ausfahrt runter, und ich wollte das gar
nicht. ... Dann, ja, ham se mich zur nächsten
Tankstelle, die Erzieher angerufen, wo ich war, aus dem
Heim da, ne? Dann ist ’n Erzieher gekommen, hat mich da
wieder abgeholt. Erst mal wieder zurückgefahren, erst
mal geduscht. Weil, ich mußt’ ja mal pinkeln auch mal
auf dem Fahrrad. Na, hab ich nicht extra angehalten,
sondern ich bin gefahren und hab dabei gepinkelt,
ne.«
(33/15/m)
[129:93] Eine Jugendliche berichtet:
[129:94]
»Und, ja, diese Cousins wurden
halt innerhalb von zwei Jahren auch zwei Jahre alt,
logisch, ne? Ja, und die ham dann immer zu Weihnachten
halt immer ihre Süßigkeiten gekriegt, und die hatte dann
halt jeder für sich alleine. Na, seit dem Tag an hab ich
gemerkt, daß das auch für mich dann besser kommt, wenn
ich für mich die Sachen behalte, weil ich hab ja dann
mehr, ne! ... Also ich hab ’ne Puppe gekriegt, und die
ham ’n LKW gekriegt, so ’n Truck, so ’n Modelltruck, ne.
Und das fand ich ja natürlich völlig genial, so’n
Modelltruck. Na, und da hab ich, bin ich einfach zu P.
hin und meinte so: Du, laß mich doch mal tauschen! Er
so: Ja, aber nicht lange! Ich so mir den Truck genommen,
ihm die Puppe in die Hand gedrückt und weg damit, das
Zimmer abgeschlossen! (lacht) Naja, gut, und den hab ich
dann auch behalten. ... Äh (lacht), ich muß da ganz
ehrlich zu sagen, vor zwei
Jahren, da war ich ja noch 17 und alle drei Cousins 15,
und da war ich mit einem von den dreien ’ne ganz kurze
Zeit zusammen, aber das ist daran gescheitert, daß ich
nie wußte, welchen ich denn nun habe. Weil, irgendwie
bin ich da immer so’n bißchen durcheinandergeraten! ...
Das waren Drillinge!«
(50/19/w)
[129:95] Wieder ein anderer Jugendlicher beschreibt
seine Kindheit so:
[129:96]
»Meine Onkels, die waren auch erst 16,
17, also: Skateboard, Karton draufgenagelt und mich
reingesetzt und angefahren. Oder irgendwie beim
Fußballspielen in ’n Riesenmüllcontainer eingesperrt,
ja, und dann ham se Fußball gespielt und mich natürlich
auch rausgeholt. ... Wo ich meinen ersten Hund hatte, an
den erinner’ ich mich auch noch. ... Immer wenn’s
irgendwie Ärger gab, dann bin ich immer bei dem Hund in
die Hütte reingekrochen, und keiner konnte was
machen!«
(3/18/m)
[129:98] Wie schon im Zusammenhang der
Chronologie von Lebenslaufdaten nützen auch hier die Nachfragen
der Interviewer wenig. Sie |a 124|werden teils
übergangen, teils bleiben sie mit dem Hinweis darauf, sich nicht
erinnern zu können, unbeantwortet, teils werden sie geradezu
unwillig abgewehrt, als
»stressig«
empfunden.
Zu einem geordneten Nachvollzug ihrer Lebensgeschichte sind sie
aufgrund der häufigen Brüche und Wechsel in ihrem Leben nicht in
der Lage. Befragt man sie zu einem Lebensabschnitt, dann können
sie je nach Erlebnisdichte eine Reihe kurzer Episoden
beschreiben; unangenehm in Erinnerung gebliebene Lebensetappen
werden, wenn überhaupt, dann stark verkürzt abgehandelt.
[129:99] Vor einer ständig
wechselnden Kulisse werden auf der Vorderbühne immer
gleichartige Sketches inszeniert. Die Anekdote scheint deshalb
das geeignete Erzählmittel zu sein, mit dessen Hilfe erlebte
Diskontinuität in positive Momente gewendet werden kann und die
Darstellung der bruchstückhaften Vergangenheit in Form einer
Selbststilisierung als Held der Unbeständigkeit gelingt.
Veränderungen scheint es dabei nur in der Außenwelt, Bewegung
nur zwischen Personen zu geben. Das Selbst bleibt in ihrer
Wahrnehmung zwangsläufig unverändert, und zwar deshalb, so läßt
sich vermuten, weil die nötige Selbstdistanz fehlt, um eine sensible
Innenwelt zu konturieren. Dadurch kann Lebenszeit nicht als Entwicklungszeit wahrgenommen werden.
Veränderungen sind gleichsam nur auf der Außenseite der Persönlichkeit, nämlich in der Dimension von Interessen und Tätigkeiten, denkbar. Für einen Fünfzehnjährigen z.B. scheint Therapie eher ein
»netter«
Zeitvertreib gewesen zu sein. Mit der Frage, ob er sich im
Hinblick auf seine früheren sozialen Schwierigkeiten verändert
habe, scheint er überfordert zu sein. Therapie hat für ihn eher
den Charakter einer ausgefüllten Freizeit:
[129:100]
»Und dann konnt’ ich da kokeln, konnt’ ich da auf meiner
Therapeutin reiten, so’n Gurt anlegen und dann hinten
so: schneller, und so! Im Matsch rum, und das war ganz
nett da. Da ... hab ich dann auch vier Jahre Therapie
gekriegt. (I: Aber hat
das was für dich gebracht, diese Therapie? Daß es dir
besser ging?) Also ich glaube nicht. Außer, daß meine
Freizeit dann bißchen besser war, ne. Daß ich nicht mehr
so rumgegammelt habe, sondern daß ich was zu tun hatte.
Nee, ansonsten glaub’ ich nicht.«
(33/15/m)
[129:101] Entsprechend bleiben die Zukunftsvorstellungen und -wünsche
dieser Jugendlichen blaß, wirken kontextlos, zufällig, willkürlich,
bleiben völlig unerläutert:
[129:102]
»Sanitäter will ich werden, aber ich
weiß noch nicht, wie ... Die Ideen kommen später
noch«
(6/15/m).
»Fliesenleger
oder Schreiner, aber das interessiert mich noch
nicht«
(7/13/m).
»Ich will Millionär
werden«
oder
»Flugzeugbauer –
meine Mutter hat da wohl Beziehungen zum
Flughafen.«
(12/18/m)
[129:103] Es gibt keine artikulierten Vorstellungen über
Ausbildungswege. Wie man einmal sozial lokalisiert sein will, auch im
Hinblick auf |a 125|familiäre Kontexte, bleibt ganz unbestimmt. Ein phantasierendes Ausmalen, oder auch nur die Andeutung davon, ist
nicht zu beobachten. Die Unfähigkeit oder Unwilligkeit, die eigene
biographische Vergangenheit nach dem Muster sinnhafter Zeitfolgen zu
strukturieren, hat in der Diffusität von Zukunftserwartungen ihre
Entsprechung. Es herrscht der mal mehr, mal weniger aufregende
Lebensaugenblick, ohne in die Ordnungen von Erinnerung und Erwartung
eingefügt zu werden.
4
[129:104] Diese drei Deutungsmuster, die sich auf das beziehen, was
wir Probleme der Lebenslauf- oder Bildungsgang-Gliederung nennen
können, sind natürlich nur ein sehr kleiner Ausschnitt aus dem
breiten Fragenspektrum, das sich unter dem Titel
»Zeit und Erziehung/Bildung«
einstellt. Aber selbst dieser
bescheidene Ausschnitt zeigt die Schwierigkeiten, die sich dann
ergeben, wenn begrifflich Plausibles in empirisch halbwegs
Zuverlässiges überführt werden soll. Zudem haben wir nur untersucht,
wie Jugendliche ihre Situierung in der
»Zeit«
,
d.h. hier nur im Kontext ihres Lebensablaufs, in eigenen Worten zur
Sprache bringen – und selbst dies nur mit Bezug auf eine kleine und
besonders problembeladene Gruppe. Verallgemeinerungen verbieten sich
deshalb. Dennoch lassen sich einige weiterführende Fragen aus
unseren Interpretationen gewinnen.
[129:105] Eigentlich haben die Jugendlichen in den Gesprächen mit
uns nur zu erkennen gegeben, wie sie ihre Erinnerung strukturieren.
Wenn aber, wie viele meinen, Vergangenheit und Zukunft, dazwischen
der flüchtige Moment von Gegenwart, wesentliche Ordnungsrichtungen
für unser (wenigstens das moderne; aber Augustinus war schon der gleichen Meinung)
Zeitbewußtsein sind, dann ist die Frage bildungstheoretisch ziemlich
relevant, wie die nachwachsende Generation sich zu dieser
»Ordnung«
verhält. Alle Stufen, die Piaget als Entwicklung des Zeitbewußtseins beim Kinde beschrieben hat12
12J. Piaget, Bildung des
Zeitbegriffs beim Kinde, Zürich 1955.
sind von
unseren Probanden bereits durchlaufen. Aber nun, gleichsam am Ende
des
»Zeit-Bildungs-Curriculums«
, stehen sie vor
der Frage, wie sie die zeitliche Konstituierung ihrer Individualität
(sie können Geschwindigkeiten messen und vergleichen, mit Uhren
umgehen,
»physikalische«
von
»psychologischer«
Zeit unterscheiden usw.) mit den Kontexten
synchronisieren können (oder wollen), in denen sie leben. Zu diesen
Kontexten gehört auch – nach dem Verständnis der älteren Generation
– die erinnerte Vergangenheit. Man |a 126|kann
diese Frage weit ausgreifend diskutieren, etwa durch die Zuspitzung
auf Geschichte, wie Ph.
Ariès das tat13
13Ariès, Zeit.
: Haben
die von uns befragten Jugendlichen ein Verhältnis zur Geschichte?
Vermutlich haben sie keins. Aber ist nicht schon der gelungene
Schritt in die je eigene Erinnerung und die Weise solcher
Strukturierung wenigstens auch ein erster möglicher Schritt in die
Geschichte – vielleicht nicht die öffentliche aber doch die private?
Und ist es nicht der pädagogischen Aufmerksamkeit wert,
»unterstützend«
und
»gegenwirkend«
14
14Vgl.
die erste und – wie mir scheint – immer noch überzeugende
Konstruktion dieser beiden pädagogischen Handlungstypen bei
Schleiermacher, Schriften, 51ff.; 45ff., die Erörterung der
Frage, ob in der Erziehung der
»Moment«
der
»Zukunft«
aufgeopfert werden
dürfe.
auf das zu achten, was in solchen Strukturierungen
oder Selbstdeutungen vor sich geht?
[129:106] Aber wo soll man (
»Was will denn eigentlich die ältere Generation mit der
jüngeren?«
) unterstützen, wo gegenwirken? Wir haben aus
unseren Gesprächsmaterialien drei (grobe), Deutungsmuster für
Erinnerung konstruiert. Sie haben eine, wenngleich entfernte,
Ähnlichkeit mit Weisen des Umgangs mit erinnerter Zeit, die
innerhalb der europäischen Geschichte der Neuzeit literarische
Höhepunkte hatten: die
»institutionelle Zeit«
in
den frühesten Memoiren und Handwerker-Chroniken, wo, bis ins 19.
Jahrhunden hinein, nahezu ausschließlich die Werkstatt-Geschichte
notiert wird; die
»Beziehungszeit«
am Beginn der
Autobiographie und des Pietismus bis zum Höhepunkt des
»Anton Reiser«
von K.Ph. Moritz, eine Gattung oder eine Erzählweise, in
der personale Konstellaionen und damit verbundene innere Geschichten
des Individuums zur Darstellung kommen; die
»fragmentierte«
Zeit schließlich bei Baudelaire, wo, etwa im
»Spleen de Paris«
, die
Kontinuitäten zerbrechen und nur noch von lyrischen oder
dramatischen Lebensmomenten die Rede ist. Diese Abfolge ist nicht
unbedingt als Fortschrittsgeschichte zu lesen. Es sind drei hier nur
ganz vorläufig konstruierte verschiedene Typen, die der moderne
Europäer (möglicherweise) in sich verträglich versammeln kann. Diese
Erinnerungstypen, so möchte ich vorschlagen, sind drei
nicht-hierarchisch anzuordnende Auslegungen der Zeitlichkeit unserer
Existenz im Hinblick darauf, wie wir unsere Erinnerung
strukturieren.
»Pathologien«
entstehen –
jedenfalls in unserer Kultur – dann, wenn nur je eine dieser drei Weisen zur Geltung gebracht werden kann.
Und das scheint bei unseren jugendlichen Gesprächspartnern der Fall
gewesen zu sein. Darum sind sie in Schwierigkeiten geraten. Man
sollte ihnen deshalb helfen, auch die je anderen beiden Modi in sich
zu aktivieren.
[129:107] Erinnerung hat etwas mit Zukunft zu tun. Schleiermacher meinte
schon – und Piaget
hat es 100 Jahre später empirisch bekräftigt –, daß in dem Maße, in
dem die Erinnerungsfähigkeit des heranwachsenden Individuums sich
ausbildet, auch sein Vermögen steige, Zukünftiges antizipieren zu
können. Das konnte freilich nicht im Sinne irgendeiner
empirisch-prognostischen Fähigkeit gemeint sein. Es war gemeint als
das Vermögen, aus erinnerten Daten (und ihrer Situierung in
Lebens-Zeit-Kontexten) Mutmaßungen über Erwartbares und dessen
(mögliche) Modifikationen anzustellen. Das war die |a 127|große Hoffnung der Bildungstheorie der deutschen
Klassik; nur so konnte Fortschritt denkbar sein. Die
Möglichkeitsbedingung für eine bessere Zukunft schien die
zuverlässige (historische) Erinnerung zu sein. Wissen wir es besser?
Kaum. Aber was wäre dann ein Umgang der Generationen miteinander,
der es ermöglicht, Erinnerungen derart zu artikulieren, daß
geschichtliche Vergangenheit und Zukunft in solcher Artikulation
wenigstens vorbereitet würden? Im Blick derjenigen Jugendlichen, die
ihre Erinnerung nach dem
»institutionellen«
Muster beschreiben, ist die Zukunft nur die Wiederholung der
Vergangenheit; nach dem
»Beziehungszeit«
-Muster
bleibt alles offen, allenfalls auf das psychologische Subjekt und
seine
»Bedürfnisse«
oder aktuellen Beziehungen
beschränkt. Auch bei denen, die dem
»fragmentierten«
Muster folgen, blieben die
Zukunftserwartungen, wie wir sagten, blaß, kontextlos, willkürlich.
Worauf weisen – in der Perspektive pädagogischer Verantwortung
gedacht – solche Befunde hin? Läßt sich also ein Erinnerungsmuster
denken, das so strukturiert ist, daß es eine ebenfalls
»strukturierte«
Zukunftsphantasie erlaubt?
Allerdings immer nur – mit Schleiermacher gesprochen –, wenn wir das mit
vernünftigen Gründen
»wollen«
sollten!
[129:108] Das kleinste Partikel in diesem mentalen Spiel zwischen
Erinnerung und Antizipation, Vergangenheit und Zukunft, ist der
aktuell erlebte Augenblick,
»Moment«
, mehr oder
weniger gedehnte Gegenwart. Dürfen wir, die ältere Generation, mit
vernünftigen Gründen wollen, daß seine glückliche Erfüllung einer
unbestimmten Zukunft aufgeopfert werden solle? Diese Frage war
ursprünglich – am Beginn des 19. Jahrhunderts – teilweise der hohen
Kindersterblichkeit geschuldet. Sie ging aber schon damals,
jedenfalls bei Schleiermacher, darüber hinaus und ist eine Frage
danach, ob wir wollen dürfen, daß Bildungswege von Kindern und
Jugendlichen nur als
»Karrieren«
gedacht werden,
als systemgerechte Schrittabfolgen in der Lebenszeit. Oder müssen
wir nicht vielmehr, nach skeptischer Abwägung unserer
Wollens-Motive, die Abbrechungen und hedonistischen Impulse, das
zwecklose und also aller Zukunft gegenüber gleichgültige Spiel, den
erfüllten und damit auch zukunftsindifferenten Augenblick mit seiner
besonderen Erlebnisdichte in sein Recht setzen, wenn er denn eines
haben sollte? Die oben skizzierten
»fragmentierten«
Deutungen von erinnerter Zeit kommen dem am
nächsten; die
»institutionalisierte«
Zeit steht
dem am fernsten. Zwischen beiden dehnt sich eine Facette von
pädagogischen Aufgaben (für die Erwachsenen), die den Sinn weder des
einen noch des anderen liquidieren dürfte.
[129:109] Das Muster der
»fragmentierten«
Deutungen steht der
»postmodernen«
Mentalität am
nächsten, das
»institutionelle«
den gegenwärtigen
Markt-Mechanismen, die
»Beziehungszeit«
am
ehesten den |a 128|psychosozialen Deutungen gegenwärtiger Wirklichkeit. Ich denke, keines von diesen dreien verdient einen Vorzug vor dem anderen. Allenfalls könnte man sie in eine Entwicklungsreihe bringen. Es ließen sich dann auch je spezifische Bildungs- oder Entwicklungsaufgaben denken, die den Jugendlichen dazu verhelfen, ihre zum Stereotyp geronnenen Selbstdeutungen noch einmal in Bewegung zu bringen15
15Vgl. dazu die sehr
eindringlichen empirischen Befunde und theoretischen Deutungen
von R.L. Selman, The Growth of Interpersonal
Understanding, New York 1980; ders. und
H. Schultz, Making a Friend in
Youth. Developmental Theory and Pair Therapy, Chicago /
London 1990.
. Allerdings zeigt sich, wenn wir
den Ausdruck
»Entwicklung«
in Anspruch nehmen,
ein Zeitkonstrukt nicht der Jugendlichen, sondern unserer eigenen
Theorie bzw. unseres kulturellen Bildungsumfeldes. Lebensereignisse
von Kindern und Jugendlichen im Sinne einer
»Entwicklung«
aufeinander zu beziehen, ist der Versuch, durch
die Reihung gestufter Abfolgen im einzelnen Ereignis Sinn zu finden.
Machen wir dieses Konstrukt in der pädagogischen Praxis geltend,
dann bekräftigen wir damit den kulturellen Zeithabitus, der unsere
pädagogische Kultur prägt. Keinesfalls aber sprechen wir damit eine
universelle Wahrheit aus.
Abstract
[129:110] From the beginning of modern times
(Neuzeit) the fact that the
growing up of the young generation is submitted to various regulations
of time got an increasing significance. All the more not only the
question becomes important which forms of social organisation of time,
for instance in educational institutions, are being available, but also
with which patterns of interpreting themselves children and adolescents
react on that. Three of such patterns are described and discussed,
namely by using materials from discussions with adolescents with severe
behavioral disorders.