als einem
erziehungswissenschaftlichen Terminus hat es eigene Schwierigkeiten. Obwohl
er seit gut 100 Jahren in Gebrauch ist, wechselt seine Bedeutung immer noch
von Autor zu Autor, von Interessengruppe zu Interessengruppe. Man tut
deshalb gut, keine Übereinkunft vorauszusetzen, sondern zu sagen, wovon zu
sprechen man beabsichtigt.
[028:189] Wenn also hier von den gesellschaftlichen Bedingungen der
Sozialpädagogik gesprochen werden soll, so muß ich zunächst angeben, welcher
der üblichen Bedeutungen ich mich – wenn auch nur als Assoziationshilfe –
angeschlossen habe. Danach ist Sozialpädagogik die Theorie derjenigen
Erziehungsvorgänge, die im Jugendwohlfahrtsgesetz einen juristischen Niederschlag
gefunden haben, die Theorie der Jugendhilfe. Das klingt einleuchtend, ist
aber vielleicht so vernünftig nicht, wie es den Anschein hat.
[028:190] Mit Recht nämlich könnte eingewendet werden, daß es doch etwas
Bedenkliches habe, einen Begriff mit
erziehungswissenschaftlich-systematischem Anspruch derart pragmatisch zu
orientieren, das heißt, ihn nicht auf die Erziehungsprozesse, sondern auf
Rechtsinstitute zu beziehen, die zum Erziehungsproblem in keinem stringenten
Zusammenhang zu stehen brauchen. Am Beispiel der Jugendkriminalstrafe ließe
sich zeigen, wohin das führt.
[028:191] Wichtiger aber ist ein anderer Einwand. Sprechen wir in diesem
Sinne von Sozialpädagogik oder von Jugendhilfe, dann sind diese Ausdrücke
Sammelnamen für eine Reihe pädagogischer Institutionen und Eingriffsformen.
Schon auf den ersten Blick zeigt sich, daß sie
außerordentlich verschieden sind.
[028:192] Ein politischer Jugendclub und ein Heim für schwererziehbare
10jährige haben zu wenig gemeinsam, als daß es eine für sie gemeinsam
geltende pädagogische Theorie geben könnte, jedenfalls dann, wenn Theorie
hier mehr sein soll als Terminologie. Gewiß ist es sinnvoll, Theorien
anzunehmen, die in beiden Fällen bestimmte Aspekte des Geschehens zu
erklären vermöchten, so z. B. die eine oder andere Lerntheorie, die
Rollentheorie. Das aber wäre freilich keine Theorie der Jugendhilfe, sondern
wäre die Anwendung einer erklärungsfähigen Theorie einzelner pädagogischer
oder pädagogisch relevanter Vorgänge auf Praxisprobleme der Jugendhilfe.
[028:193] Aus diesen Gründen scheint es mir notwendig zu sein, die
theoretische Irrelevanz der Ausdrücke
“Sozialpädagogik”
und
“Jugendhilfe”
hervorzuheben. Es handelt sich eben
nicht um eine Klasse von Gegenständen und Vorgängen, die sich so ähnlich
sind, daß sie in einer gemeinsamen Theorie miteinander verbunden werden
könnten.
|a 116|
Sozialpädagogische Problemlagen
[028:194] Es scheint, als wäre ich mit meinem Thema in einer mißlichen
Lage. Nicht von
“Sozialpädagogik und Sozialstruktur”
wäre
sinnvoll zu reden möglich, sondern allenfalls von besonderen
sozialpädagogischen Institutionen oder Problemlagen, die zwar nicht den
Gegenstand
“Sozialpädagogik”
treffen, aber doch für die
eine oder andere unter diesem Namen zusammengefaßte pädagogische
Intervention charakteristisch sind.
[028:195] Einige solcher Problemlagen, die zum Gegenstand von
Jugendhilfe-Forschung geworden sind, will ich im folgenden nennen:
[028:196] 1. Die Situation der Jugend zwischen Arbeit, Freizeit und
politischer Beteiligung: Die Einrichtungen, die vorwiegend an
dieser Problemlage sich orientieren, sind unter dem Namen
“Jugendarbeit”
zusammengefaßt. Das in ihnen zum Vorschein kommende pädagogische Thema ist mit sozial-strukturellen Sachverhalten verbunden, die sich durch Begriffe wie industrielle Arbeitsverhältnisse, privatkapitalistische, konsumorientierte Produktionsverhältnisse, schichtspezifisches Freizeitverhalten und Demokratisierung schlagwortartig bezeichnen lassen.1
|a 122|1Vgl. H. Giesecke, Didaktik der politischen Bildung, München ³1968;
ders. (Hrsg.), Freizeit und Konsumerziehung, Göttingen 1968;
C. W. Müller / H. Kentler / K. Mollenhauer / H. Giesecke, Was ist Jugendarbeit? – Vier Versuche zu einer Theorie,
München 1964; C. W. Müller, Jugendpflege als Freizeiterziehung, Weinheim
1965.
Es zeigt sich darin aber auch, daß es sich hier
keineswegs um ein spezifisch sozialpädagogisches Problem handelt. Denn: Es
gibt wohl kaum einen Ort im gegenwärtigen Erziehungssystem, der von dieser
Problematik unberührt bleibt. Immerhin wäre es sinnvoll, zu verfolgen, wie
einzelne sozial-strukturelle Variablen nicht nur mit den Problemlagen des
jugendlichen Daseins, sondern auch mit den Maßnahmen der Jugendarbeit und
deren Prinzipien zusammenhängen.
[028:197] 2. Sozialisationsprobleme der Vorschulkindheit: Die in der Regel der Jugendhilfe zugeordneten Formen pädagogischer
Intervention in diesem Problemfeld beziehen sich vorwiegend auf die Familie
und den Kindergarten. Sie orientieren sich noch weitgehend an einem
traditionell festgelegten Leitbild familiär-pädagogischen Wohlverhaltens,
das in der deutschen Kindergarten-Ideologie vielleicht seinen deutlichsten
Ausdruck gefunden hat. Diese Ideologie oder Erziehungs-Wert-Orientierung ist
aber selbst ein sozial-strukturell bedingtes Phänomen: Sie ist die
Wertorientierung der Mittelschicht. Die damit zusammenhängenden Fragen
zeigen neuerdings auch, wie wenig sinnvoll z. B. eine theoretische
Unterscheidung zwischen sozialpädagogischen und schulpädagogischen Problemen
ist: Der familiäre Sozialisationsmodus, das ergibt sich z. B. aus der
Theorie der Lern- und Leistungsmotivation, ist eine der entscheidenden
Variablen für Schulerfolg und sozialen Aufstieg.
[028:198] 3.Die Entstehung individueller Konfliktlagen und deren
Lösung in gesellschaftlich nicht akzeptierter Art und Weise: Dissozialität als eine Form individueller Verhaltensauffälligkeit, der gegenüber die Gesellschaft sich
zum Eingreifen genötigt fühlt, ist sehr wahrscheinlich das älteste der
Probleme, die wir als
“sozialpädagogisch”
zusammenfassen. Auch hier könnte sowohl den sozial-strukturellen Bedingungen solcher Konfliktlagen und deren individuellen Lösungsformen wie auch den Formen pädagogischen Eingriffs nachgegangen werden. Allerdings zeichnet sich die bisherige Forschung dadurch aus, daß sie zwar nach den Bedingungen entstandener Auffälligkeit fragt, nicht aber auch die pädagogischen Reaktionen einer kritischen Analyse unterzieht.2
|a 122|2H. Schüler-Springorum / R. Sieverts, Sozial auffällige Jugendliche, München ²1965.
Und auch die Bedingungen für die Auffälligkeit werden vorwiegend nur
insofern ermittelt, als sie als Momente der individuellen Biographie
hervortreten.
[028:199] 4. Kollektive Konfliktlagen und Mangelsituationen und deren
Folgen: Hier scheint die Forschungsproblematik am einfachsten, am wenigsten verwickelt zu liegen. Die Klientel bringt ihre sozial-strukturellen Daten gleichsam schon in die Sprechstunde mit. Slums, Unterschichten-Gettos und andere randständige soziale Gruppen sind als sozialpädagogisches oder Jugendhilfe-Objekt geradezu durch die sozial-strukturellen Merkmale und deren Prognosewert definiert.3
|a 122|3H. Passow (Ed.), Education in Drepressed Areas, New York 1963; J. B. Mays, Growing Up in the City – A
Study of Juvenile Delinquency in an Urban Neighbourhood,
Liverpool ³1964.
Um so bedeutsamer wäre es gerade
hier, die gesellschaftlichen Bedingungen der Hilfsmaßnahmen zu analysieren.
[028:200] In den Jugendhilfe-Maßnahmen kommt ein Merkmal zum Vorschein, das
man fast zu ihrer Definition verwenden könnte: Sie kommen prinzipiell zu
spät. Prinzipiell ist diese Verspätung deshalb, weil sie nicht über die
Veränderungen der Bedingungen verfügt, die das Eingreifen nötig machen. Der
Zusammenhang zwischen der als ursächlich anzunehmenden Sozialstruktur, der
Erscheinungsform von Hilfsbedürftigkeit und der Hilfsmaßnahme wird weder
theoretisch mit der nötigen Deutlichkeit formuliert noch praktisch wirksam.
Damit hängt eine theoretische Hilfskonstruktion zusammen, deren sich die
Jugendhilfe besonders im Hinblick auf Dissozialitätsprobleme nahezu ausschließlich bedient: das Ersetzen gesamtgesellschaftlicher
Merkmale durch Merkmale der intim-sozialen Erfahrung. Um es konkret zu
sagen: Die Berufstätigkeit von Müttern ist ein Merkmal familiärer
Sozialstruktur, das sowohl relativ leicht zu ermitteln wie auch durch
moralischen Appell scheinbar leicht zu ändern ist, in Wahrheit aber ganz
andere als appellative Reaktionen nötig macht. Die praktische wie
theoretische Fixierung auf dieses Datum erspart oder versperrt den
Durchblick auf Bedingungen, die dahinter liegen. Oder: Die Veränderung der
familiären Kommunikationsstruktur durch die Massenmedien hat sicherlich
Variablen zum Vorschein gebracht, die das Verhalten von Kindern und
Jugendlichen in der einen oder anderen Richtung erklären können.
Pädagogisches Eingreifen wird aber naiv, wenn es sich nun kurzschlüssig als
appellative Gegenwirkung versteht. Oder: Psychoanalytische Theoreme haben
gewiß einiges zur Bedeutung früher Mutter-Kind-Beziehungen für die
Verhaltensprägung erbracht. Hält man aber die Ermittlung solcher
Zusammenhänge für einen zufriedenstellenden Erklärungsmodus, dann wird
dadurch die Verspätung der Jugendhilfe-Maßnahmen geradezu institutionalisiert. Verschleiert wird dieser Sachverhalt
dadurch, daß eine Theorie, die in einem sozial begrenzten Feld
erklärungsfähig ist, natürliche Diagnosen erlaubt, die angemessene pädagogische Maßnahmen möglich und
ihre Wirksamkeit vielleicht sogar wahrscheinlich machen. Die detaillierte
Einsicht in familiäre Sozialisationsprozesse, die Kenntnis der
ausschlaggebenden Variablen, erlaubt die Aufstellung eines
erfolgversprechenden Erziehungsplans im individuellen Fall. Sie richtet aber
nichts aus gegen die immer neue kollektive Reproduktion des Falles. So kann
Jugendhilfe, ohne ihre Absicht und ohne ein Bewußtsein davon zu haben, ein
selbst hilfloses und darin ideologisches Instrument sein. Mit dem Erfolg im
einzelnen Fall täuscht sie sich darüber, daß sie in der Tat nichts ist als
caritative Hilfe, die das angeblich Unvermeidliche erträglich macht.
[028:201] Wiederum konkret gesprochen: Die diagnostische Subtilität des
amerikanischen Social Work hat an der immer
neuen Reproduktion des Elends in den Unterschichten nichts ändern können.
Die Theorien sind – und das gilt auch für die deutsche Jugendhilfe-Forschung
– am Interesse für die Erklärung individuell-biographischer Verläufe und
Veränderungen orientiert. Ich will nicht entscheiden ob es sich hier um eine
prinzipielle Schranke für die Jugendhilfe-Praxis handelt. Sicher aber
scheint mir zu sein, daß es für die Forschung eine solche Schranke nicht
geben darf, daß die Theorie sich auf größere Erklärungszusammenhänge
einlassen muß, auch wenn ihre Umsetzung in pädagogisches Handeln schwierig oder ausgeschlossen sein mag.
Soziale Schicht und sozialpädagogische Maßnahmen
[028:202] Zu solchen, das individuelle Erziehungsschicksal überschreitenden Zusammenhänge gehören die Probleme der sozialen Schichtung. Es bedarf, insbesondere
nach den breit gestreuten und zahlreichen Untersuchungen der letzten Jahre,
kaum noch eines Hinweises darauf, daß die Variable der sozialen Schicht
allgemein-pädagogisch und nicht nur für die Jugendhilfe von gravierender
Bedeutung ist. Es ist jedoch bemerkenswert, daß diese Zusammenhänge zwar für
schulische Lernprozesse theoretisch relativ weit entwickelt sind, daß es
aber für die Jugendhilfe-Forschung in Deutschland nur sehr wenige
ausdrückliche Ansätze in dieser Richtung gibt. Ich möchte deshalb versuchen,
einiges zu diesem Problem beizutragen, und zwar eingeschränkt auf den
Zusammenhang von Dissozialität und ihrer pädagogischen Behandlung auf der
einen und sozialer Schichtzugehörigkeit auf der anderen Seite.
[028:203] Meine These lautet: Die pädagogischen Probleme der Jugendhilfe,
insbesondere dort, wo sie sich mit dissozialem Verhalten auseinanderzusetzen
hat, sind geprägt von den Merkmalen der sozialen Schichtung in
unterschiedliche sozio-ökonomische Strata. Einerseits drückt sich diese
Geprägtheit in der von der Jugendhilfe
betreuten Population aus, andererseits ist zu vermuten, daß die Einstellung
derer, die Jugendhilfe betreiben, durch ihre mittelständische Position
bestimmt ist und infolgedessen sich auch auf die Einschätzung von
Dissozialitätsproblemen auswirkt.
.......
Dissozialität: ein Unterschicht-Phänomen?
[028:209] Stimmt indessen die These, daß die soziale
Zusammensetzung der von Jugendhilfe-Institutionen betreuten Kinder
und Jugendlichen das Ergebnis eines schichtspezifischen
Ausleseprozesses ist?
[028:210] Obwohl wir über keine Gesamtstatistik verfügen, in der die z. B. in Heimerziehung untergebrachten Minderjährigen nach ihrer sozio-ökonomischen Herkunft aufgeschlüsselt sind, geben einige Einzeluntersuchungen doch durch weitgehende Übereinstimmung halbwegs verläßliche Anhaltspunkte. So können wir damit rechnen, daß ungefähr 75 Prozent der Jungen und 80 Prozent der Mädchen aus Familien stammen, die der Unterschicht angehören.11
|a 122|11Vgl. Fr. Specht, Sozialpsychiatrische Gegenwartsprobleme der
Jugendverwahrlosung, Stuttgart 1967.
Der Rest
gehört der unteren und mittleren Mittelschicht an. Betrachtet man
also zunächst naiv die Schichtmerkmale der Unterschicht als
unabhängige Variable, dann scheint es, als wirke sie
dissozialitätsbegünstigend.
[028:211] Zwei Beobachtungen indessen lassen Vorsicht geraten sein
bei so allgemeiner Formulierung. Wäre diese These nämlich in solcher
Einfachheit ohne Modifikation richtig, könnte man aus ihr folgern,
daß mit sinkendem sozio-ökonomischem Niveau Dissozialitätshäufigkeit und Dissozialitätsgrad ansteigen. Das aber ist nicht der Fall.
Kontrolliert man nämlich bei den Gruppen, die etwa nach dem |a 119|extremen Gesichtspunkt der
Schwersterziehbarkeit ausgelesen werden, die soziale Herkunft,
verringert sich der Anteil von Kindern aus
Unterschicht-Familien.
[028:212] Die zweite zur Vorsicht veranlassende Beobachtung
betrifft die zu vermutende
“Dunkelziffer”
von
Mittelschicht-Kindern. Zwar ist der Anteil dieser Gruppe an den
Heimeinweisungsfällen in den letzten Jahren gestiegen. Zwar ist
vermutlich in den letzten Jahren auch die Schwelle niedriger
geworden, die vor allem Eltern der Mittelschicht überwinden müssen,
um sich an das Jugendamt um Hilfe zu wenden. Derjenige Teil der
Bevölkerung aber, der über hinreichende ökonomische Mittel verfügt,
kann auch heute noch die öffentliche Erziehung auf dem Wege über
privatwirtschaftliche Beratungs-,
Behandlungs- und Therapie-Einrichtungen umgehen. Werden jedoch
Erziehungsmaßnahmen der öffentlichen Ersatzerziehung unumgänglich,
dann ist zu vermuten, daß die Mittelschicht, wenn irgend möglich,
die Zwangseinweisung in die Fürsorgeerziehung dadurch vermeiden
wird, daß sie ihr durch die Vereinbarung der Freiwilligen
Erziehungshilfe zuvorkommt. Da kein statistisch verläßliches
Material vorliegt, muß es bei dieser Vermutung bleiben .......
[028:214] Aus der jugendkriminologischen Forschung sowohl in der
Bundesrepublik wie in England und den USA ergibt sich, daß
diejenigen Merkmale, die ein späteres delinquentes Verhalten der
Kinder vorhersagen lassen, zum großen Teil mit allgemeinen Merkmalen
des Unterricht-Verhaltens zusammenfallen. Sheldon und Eleanor
Glueck12
haben z. B. ermitteln können, daß
delinquente Jugendliche in der Regel aus Familien stammen, die zu
Planlosigkeit neigen und dazu,
“von der Hand in den
Mund zu leben”
. Dieser Sachverhalt ist freilich für den
bürgerlichen
“common sense”
nicht
überraschend. Das gilt gewiß auch für die Untersuchungsergebnisse
der Sozialisationsforschung von Kohn, Strodtbeck, Bronfenbrenner, Grimm und anderen, daß
Unterschicht-Familien generell gegenwartsorientiert sind und wenig
zukunftsorientiertes Planungsverhalten zeigen – Ergebniise, die übrigens auch in der deutschen Bildungsforschung bestätigt werden konnten.13
|a 122|13D. C. McClelland / A. L. Baldwin / U. Bronfenbrenner / F. L. Strodtbeck, Talent and Society, Princeton, N. J., 1958;
J. I. Roberts (Ed.), School Children in the Urban Slum, New York
1967; M. L. Kohn, Social Class and Parental Values; in: The American Journal of Sociology, 64 (1959),
S.
337-351; S. Grimm, Die Bildungsabstinenz der Arbeiter, München
1966.
[028:215] Diese Trivialität wird aber bedeutsam, wenn man sie als
die Folge einer sozialen Zwangslage interpretiert. Die Unterschicht
befindet sich in einer sozialen Situation, durch die der soziale
Aufstieg objektiv wenig wahrscheinlich gemacht wird. Sie bildet
deshalb ein Wertorientierungsprofil aus, das dieser Lage angepaßt
wird, wenn auch resignativ, wenn auch in dem richtigen Gefühl, daß
ihr etwas versagt wird, das doch formell, dem Anspruch dieser
Gesellschaft nach, ihr zukommen könnte. Nur durch die Aufgabe ihrer
schichtenspezifischen Wertorientierung, insbesondere durch eine
Veränderung ihres Leistungsverhaltens, können die Angehörigen der
Unterschicht aufsteigen; soziale Situation und Berufsrolle aber
drängen ihnen einen Orientierungs- und Verhaltenshabitus auf, der –
durch die familiäre Erziehungspraxis vermittelt – die Kinder in den
Gewohnheiten dieser Schicht festhält, statt sie daraus befreien zu
können. ......
[028:219] ...... Sozio-ökonomische und sozio-kulturelle Situation sind keine
voneinander unabhängigen Variablen. Wären sie es, müßten wir den
international regelmäßig größten Anteil der Unterschicht an
Dissozialität für einen Zufall halten. Statt dessen scheint es so zu
sein, daß die Zugehörigkeit zur Unterschicht und die damit
verbundene Benachteiligung in den Lebenschancen defizitäre
Familienstrukturen begünstigt.
|a 120|
[028:220] Solche Strukturen haben eine Sozialisationspraxis zur
Folge, welche dissoziale Verhaltensdispositionen leicht entstehen
läßt und die Wahrscheinlichkeit mindert, daß entstandene
Dispositionen vom gegebenen Erziehungsfeld selbst rückgängig gemacht
werden können. – Oder anders formuliert: Verwahrlosung entsteht in
unserer Gesellschaft dadurch immer neu, daß eine Gruppe durch den
Schichtenaufbau in einer Zwangslage gehalten wird, die sie an der
gleichberechtigten Beteiligung am Sozialprodukt hindert.
[028:221] Bei dem Versuch, die vorliegende Sozialisationsforschung
auf die ermittelten Regelmäßigkeiten hin durchzusehen, das heißt,
die Befunde danach zu ordnen, wie bestimmte familiäre
Erziehungseinstellungen immer wieder bestimmte, dazu passende Folgen
im Verhalten der Kinder nach sich ziehen,
hat Schaeffer ein hypothetisches Modell entwickelt17
|a 122|17E. S. Schaefer, Converging Conceptual Models for Maternal Behavior
and for Child Behavior, in: J. C. Glidewell (Ed.), Parental Attitutes and Child Behavior, Springfield 1961, S.
124-148, und K. Mollenhauer, Sozialisation .... a. a. O.
, das auch für unsere
Zwecke tauglich und erklärungsfähig zu sein scheint. Danach lassen
sich die Erziehungseinstellungen nach zwei Dimensionen ordnen:
[028:222] Jede Erziehungseinstellung, so meinSchaeffer, läßt sich auf der Skala zwischen den beiden
Extremen an irgendeinem Punkt eintragen. Trägt man nun die Merkmale
der Dimension Autonomy – Control in
der Senkrechten, die Merkmale der Dimension Hostility – Love in der Waagrechten ein, dann
entsteht ein Koordinatensystem mit vier Quadranten. Die Quadranten
bezeichnen typische Sozialisationsweisen.
[028:223] Das Modell erlaubt es, die Variablen der Sozialstruktur,
der Genese von Dissozialität und der Formen des pädagogischen
Eingriffs in den entsprechenden Jugendhilfe-Maßnahmen zu verbinden.
Nach allen Befunden zur Erziehungseinstellung der Unterschicht wäre
sie in den unteren Quadranten zu lokalisieren. Sie zeichnet sich
durch ein Überwiegen der Kontrollfunktionen aus, Gehorsam,
kollektivistische Orientierung, hohe Grade von disziplinierenden
Erziehungsweisen, niedriges Aspirationsniveau, geringes
Selbständigkeitstraining. Es handelt sich dabei um Einstellungen,
die im Normalfall für die Kinder geringe Aufwärtsmobilität, das
heißt also zunächst geringen Schulerfolg vorhersagen lassen. Es sind
aber auch diejenigen Einstellungen, die, wenn sie besonders extrem
ausgeprägt sind, Dissozialität vorhersagen lassen.
[028:224] Sehen wir nun aber auf die bei der pädagogischen
Behandlung von dissozialen Jugendlichen übliche Praxis, dann hat es
den Anschein – freilich mit Ausnahme der immer zahlreicher werdenden
kleinen spezialisierten Heime –, als werde hier genau jenes
Sozialisationssyndrom fortgesetzt, das,
durch die ökonomischen Bedingungen der sozialen Schicht erzwungen,
die Entstehung der Dissozialität vordem gerade begünstigt hatte. In
besonders hohem Maße gilt das vom Jugendstrafvollzug. Der Zirkel
schließt sich.
[028:225] Für die Jugendhilfe ist das eine fatale Situation. Denn
selbst wenn sie durch eine konsequente Veränderung der Bedingungen,
unter denen sie zu erziehen sucht, und der Formen, deren sie sich
dabei bedient, den Kreis durchbrechen wollte, würde sie nicht mehr
leisten können, als nun dem einzelnen Probanden nach seiner
Entlassung den Kampf mit der Sozialstruktur aufzubürden. Unter
solchen |a 121|Bedingungen erscheint die alte
sozialpädagogische Formel
“Fürsorge als persönliche
Hilfe”
wie der adäquate Ausdruck einer bewußtlos resignativen
Anpassung in die Unvermeidlichkeit des Zirkels. Das beste, was den
sogenannten Fürsorgeeinrichtungen zu tun bleibt, ist eine
Organisation ihres Erziehungsfelds, die je im einzelnen Fall die
restriktiven Bedingungen aufzuheben versucht. Sie kann nur hoffen,
daß die so neu entwickelten Motivationen des Jugendlichen ihm
selbst, im einzelnen Fall, es möglich machen, den Zirkel zu
durchbrechen. Sie weiß aber schon von vornherein, daß die
Sozialstruktur für die Produktion weiteren Nachwuchses sorgen wird.
Aufgabe einer demokratischen Jugendhilfe aber wäre die Aufhebung der
Gültigkeit des Modells.