Verwahrlosung
[011:74] Was ist Verwahrlosung? Die ersten
Antworten, die in der Geschichte der Sozialpädagogik auf diese Frage
gegeben wurden, waren einfach und naiv, zudem für jedermann einleuchtend
und eindeutig. Im Begriff Verwahrlosung faßte man alle jene Merkmale
zusammen, die einen oder viele Menschen kennzeichneten, welche sich
nicht so verhielten, wie man es gewöhnt war: Menschen, die nicht in die
Kirche gingen, die oft in der Schänke saßen, viel tanzten, häufig den
Ort wechselten, keinen festen Beruf hatten; Jünglinge, die ihrem Meister
nicht aufs Wort gehorchen mochten, der Obrigkeit nicht die schuldige Achtung
erwiesen, dem Kartenspiel frönten; |a 282|Kinder, die
bettelten, ohne Eltern herumzogen, die Schule vermieden; schließlich
jede Art unehrenhaften Gesindels, das nirgends zu Hause war, sich in die
neu entstehenden Großstädte verzog, die Schule oder Handwerkerehre
gering achtete, Diebe, Brandstifter, Betrüger, dem Genuß und dem Laster
Verfallene, herkömmlicher Sitte und bewährtem Brauchtum Entfremdete. Wer
diese alle unter dem Begriff der Verwahrlosten subsumierte, urteilte
naiv und richtig; naiv, weil er sich nicht zu heiklen Reflexionen über
die Gültigkeit seines Urteils, gar zu selbstkritischer Prüfung der
Bedingungen seiner eigenen Meinung veranlaßt sah; richtig, weil
Verwahrlosung immer die Abwesenheit einer – inneren oder äußeren –
Ordnung, einer Regelhaftigkeit des Daseins bedeutet, deren Gültigkeit angenommen werden muß, soll der Begriff
sinnvoll sein.
[011:75] So einfach aber das Problem zunächst
zu sein scheint, es wird sehr kompliziert, wenn ernsthaft und kritisch
nach den Ursachen und den Behandlungsmethoden gefragt wird. Eine
Verhaltensabweichung lediglich zu beschreiben, ihre Diskrepanz mit den
geltenden Normen zu bezeichnen ist unbefriedigend für den, der solche Abweichungen rückgängig
machen will, vor allem, wenn sich mit den Überlegungen eine Skepsis
gegenüber traditionellen pädagogischen Mitteln oder gegenüber der Gesellschaft verbindet. Die
Frage, was ist Verwahrlosung?, bleibt nicht mehr naiv, sondern sie wird zu einer kritischen
Frage, die von der Wissenschaft beantwortet werden soll. Das hat zur
Folge, daß nun auch bestimmte Ursachenkomplexe in den
Verwahrlosungsbegriff mit eingehen. Es zeigt sich nämlich, daß
verschiedene Verwahrlosungen höchst unterschiedliche Erscheinungen sein
und auf mindestens ebenso unterschiedliche Ursachen zurückgeführt werden
können. In die Beantwortung der Frage teilen sich daher auch die
verschiedensten Wissenschaften vom Menschen. Medizin, Psychopathologie,
Psychiatrie, Tiefenpsychologie, Entwicklungspsychologie, Jurisprudenz,
Pädagogik. Wir lassen einige Definitionen folgen:
[011:76] Reicher definiert Verwahrlosung als einen
»Zustand der Erziehungsbedürftigkeit infolge
vernachlässigter Erziehung ..., der sich darin äußert, daß das
verwahrloste Kind es an der in seinem Alter sonst üblichen
sittlichen Reife fehlen läßt und damit zu einer Gefahr für
weitere Kreise und die Allgemeinheit wird«
. – Gruhle erweitert diesen Begriff dadurch, daß er festsetzt,
Kinder seien dann verwahrlost, wenn sie nicht das Mindestmaß derjenigen
Erziehung erfahren, die ihrer Anlage entspricht. – Gregor definiert ausschließlich von der Verhaltensnorm her,
wenn er von Verwahrlosung als einem
»moralisch abwegigen Verhalten«
spricht, dem allerdings |a 283|auch eine bestimmte seelische Verfassung entspreche. Ähnlich meint Rehm, daß Verwahrlosung in einer
»Lockerung des sittlichen Haltes«
bestehe. – Für Cimbal ist Verwahrlosung
»eine soziale Neurose, eine Erkrankung der
Persönlichkeit«
; für Eyferth dagegen, der dies als Schwererziehbarkeit von
Verwahrlosung unterscheidet, besteht sie in mangelhafter Sozialisierung,
zurückzuführen auf das
»Fehlen von notwendigen Forderungen«
; er unterscheidet so den Asozialen
(Verwahrlosten) vom Dissozialen (Schwererziehbaren). – Többen bezeichnet als Verwahrlosung (hier im Unterschied zur
körperlichen die geistige Verwahrlosung) die
»Erschütterung des seelischen Gleichgewichtes in
dem Sinne, daß das Triebleben aus den verschiedensten Ursachen
heraus die Gesamtpersönlichkeit richtunggebend und einseitig beeinflußt und eine Entgleisung von dem geraden Wege der geordneten
Lebensführung herbeigeführt hat«
. – Opitz bestimmt sehr allgemein Verwahrlosung
»als eine abnorme seelische
Erlebnisreaktion«
. –
»Verwahrlosung ist eine gewisse triebbedingte
Unordentlichkeit, etwas Chaotisches, ein gewisses Auseinandergleiten der
Persönlichkeit, weil kein persönlicher Mittelpunkt und keine
Grundsätze vorhanden sind, die einer objektiven Wertordnung entsprechen.«
(Bopp) –
»Wesentlich für alle seelische Verwahrlosung ist
die Hemmungslosigkeit der Ich- und Geschlechtstriebe, die wegen
der Ungehemmtheit zwangsläufig zu einem gemeinschaftswidrigen
Handeln führen.«
(Tumlirz)
– Villinger nennt Verwahrlosung
»eine abnorme charakterliche Ungebundenheit und
Bindungsunfähigkeit, die auf eine geringe Tiefe und
Nachhaltigkeit der Gemütsbewegung und Willensstrebungen
zurückgeht und zu einer Lockerung der inneren Beziehung zu
sittlichen Werten – wie Liebe, Rücksicht, Verzicht, Opfer,
Recht, Wahrheit, Pflicht, Verantwortung und Ehrfurcht – führt«
. – Die Vielfalt der Bestimmungen ist verwirrend, z. T. deshalb, weil sie an je andersartigen Fällen gewonnen wurden.
Dieser Situation trägt die Definition von W. Mollenhauer Rechnung, die das Gemeinsame der vorangegangenen
herausstellt und den vorgängigen Sprachgebrauch mit den logischen
Anforderungen, die an eine Bestimmung des Begriffs zu stellen sind, u.
E. auf glückliche Weise verbindet:
»Mit Verwahrlosung kennzeichnet man Zustände,
die unterhalb einer als feststehend vorausgesetzten Norm liegen.
Insbesondere werden als verwahrlost Kinder und Jugendliche
bezeichnet, die aus der Bewahrung in einer festen, sie tragenden
und schützenden Lebensordnung herausgefallen sind oder die sich
anders verhalten, als es den üblichen und altersgemäßen Normen entspricht«
; zugleich handelt es sich um einen
»abgesunkenen Gesamtzustand der Persönlichkeit«
.
[011:77] Neben dem Bezug auf ein System von
Verhaltensnormen wohnt allen diesen Bestimmungen des Begriffs
Verwahrlosung der Ansatz bei einem bestimmten Ursachenkomplex inne. So
scheint die Divergenz der Begriffe im Phänomen
»Verwahrlosung«
ihren Grund zu haben, und
es wäre demnach sinnvoll, ein Wort, das so Unterschiedliches
zusammenfassen soll, in der Fachsprache fallen zu lassen; denn nicht nur
bestimmte Ursachen, sondern ebenso die dadurch bedingte Behandlungsart werden ja durch den so oder so bestimmten Begriff ins Auge gefaßt. Wenn
man den Begriff vermiede und in seine Aspekte auflöste, wäre offenbar
für die Präzisierung des Problems viel gewonnen. Konsequent schrumpft
das Wort
»Verwahrlosung«
in der Fachliteratur auch
häufig zu grober Angabe der Thematik zusammen, während die Erörterungen
und Darstellungen selbst sich mit den mannigfachen Differenzierungen
beschäftigen, die Verhaltens- und Charakterabweichungen in psychologisch oder
psychiatrisch genau beschreibbaren Klassen zusammenstellen.
[011:78] So behandelt etwa Gottschaldt unter dem Titel
›Verwahrlosung‹
: Verzögerungen in der allgemeinen Reifung der psychophysischen
Persönlichkeit, passive Verwahrlosung von Schwachsinnigen, Psychopathische Fehlentwicklungen, Verwahrlosung durch Mangelsituationen,
neurotische Fehlentwicklungen, Entwicklungsprägungen durch verwahrloste
Lebensumstände. – Tumlirz gliedert nach typischen Kombinationen, die er bei
den von ihm untersuchten Fällen antraf, wobei unklar bleibt, ob es ihm
dabei auf eine Symptomatologie oder auf Ursachen-Konstellationen
ankommt: Denkschwäche und Willensstärke, Denkschwäche und Haltlosigkeit,
Denkschwäche und Triebhaftigkeit, normale Denkfähigkeit und
Gefühlskälte, pathologische Willensschwäche, umweltbedingte
Verwahrlosung, Verführung, Verwahrlosung durch Gehaßt-Werden. – Die
immer wieder aufgezählten Ursachen der Verwahrlosung sind so vielfältig und umfangreich, daß sie beliebig auch als Ursachen der
»Schwererziehbarkeit«
von
»psychogenen Erkrankungen«
oder
»Verhaltens- und Charakterstörungen«
nachgewiesen
werden können. Analoges gilt von den Symptomen.
»Verwahrlosung«
löst sich so in einer Fülle von Einzelphänomenen auf, die, von der Psyche des Einzelnen
her gesehen, kaum noch unter einem Begriff zusammengefaßt werden können: neurotisch bedingte Fehlentwicklungen, psychopathische Fehlentwicklungen,
Charakterstörungen, psychogene und physiogene Erkrankungen,
entwicklungsbedingte Krisenphänomene, Persönlichkeitszerfall – um nur
einige, sich teils überschneidende Aspekte zu nennen, mit deren Hilfe
man versucht, die Mannigfaltigkeit zu gliedern. |a 285|Die Literatur zeigt, daß ein Begriff von
Verwahrlosung auf psychologische Weise offenbar überhaupt nicht zu
gewinnen ist.
[011:79] Indessen ist auffällig, mit welcher
Hartnäckigkeit alle am Problem Beteiligten, allen voran der Gesetzgeber,
an dem Wort Verwahrlosung festhalten. Mit ihm kann offenbar etwas
bezeichnet werden, das in den psychologischen Analysen nicht aufgeht.
Besonders nach den beiden Weltkriegen wurde deutlich, daß mit
Verwahrlosung nicht eigentlich ein in die psychologischen Disziplinen
gehörendes Phänomen, sondern ein sozialpädagogisches Problem benannt
werden sollte, analog der sozialpädagogischen Ausgangslage im 19.
Jahrhundert, wie wir sie skizziert haben³: Der Begriff Verwahrlosung ist nur sinnvoll in bezug auf den, von dem er
abgeleitet ist, in bezug auf
»Verwahrung«
oder eine – wie auch immer verstandene – geordnete
Existenz. Dieser Komplementärbegriff ist aus der Aufzählung der Verwahrlosungserscheinungen, die wir
aus der Literatur des 19. Jahrhunderts referierten, leicht zu gewinnen.
Versuchten wir das Gleiche aber für unsere Gegenwart, so stünden wir vor
ungleich größeren Schwierigkeiten. Paul Moor bestimmt:
[011:80]
»Mit dem Gegebenen muß er (der Mensch) rechnen, er bleibt an seine
Bindungen gebunden, er kann nichts daran ändern. Im Rahmen des Spielraumes aber, den ihm das Gegebene läßt, liegt es an ihm, ob er
die Aufgabe erfüllt oder der Verheißung teilhaftig wird. Wenig
mag ihm möglich sein, die Aufgabe ist vielleicht klein und die
Verheißung dürftig; immer aber kommt es darauf an, daß er die
Möglichkeit wahrnehme, die Verheißung erkenne und an sie glaube
und die Aufgabe auf sich nehme und sich um sie bemühe ... Für
alle Mängel, Unvollkommenheiten und Verfallserscheinungen, die
daraus hervorgehen, daß unterblieb, was an Aufgegebenem und
Verheißenem möglich gewesen wäre vom Gegebenen her, brauchen wir
die Bezeichnung Verwahrlosung.«
(P. Moor,
Grundlagen der Heilpädagogik.)
[011:81] Dreierlei ist an dieser
Bestimmung wichtig: 1. In
ihr kommt die Schichtung des Problems zur Sprache zugleich mit der
Abhängigkeit der verschiedenen Schichten voneinander;
2.
Verwahrlosung erscheint als ein Phänomen, das nur von einem
kulturellen Horizont her angemessen bestimmt werden kann;
3. Verwahrlosung ist in erster Linie
ein pädagogisches Problem, Verwahrlosung ist ein pädagogischer Begriff, mit dem die
Diskrepanz zwischen der Wirklichkeit und der Möglichkeit eines
Menschen bezeichnet werden soll. Was möglich ist, wird vom Gegebenen
begrenzt, vom
»Aufgegebenen«
her gefordert. Ob
ein Mensch verwahrlost ist, vermag |a 286|nur der
zu entscheiden, der das
»Aufgegebene«
und das
»Verheißene«
kennt. D. h.: Verwahrlosung läßt sich nicht auf Anhieb konstatieren; um
sie zu erkennen, bedarf es einer gründlichen Analyse der
pädagogischen Situation. Nicht ein bestimmtes, vielleicht
auffallendes und dem Betrachter subjektiv als abweichend von
seiner Norm erscheinendes Verhalten darf schon als
Verwahrlosung gelten; sondern erst der Nachweis der Differenz, die
zwischen dem, was dem Menschen seinem psycho-sozialen Bestand nach
möglich war, und dem, was er faktisch erreicht hat, berechtigt zu dem
Urteil
»verwahrlost«
.
[011:82] Die Schwierigkeiten des
Verwahrlosungsbegriffs sind aber damit nicht behoben, sondern umgangen. Jetzt kann nämlich
Beliebiges als Verwahrlosung bezeichnet werden, je nach dem, was dem
Betrachter als das
»Aufgegebene«
erscheint. Nicht nur
Einzelne in Bezug auf eine Gruppe, sondern auch Gruppen, Stände,
Klassen, ganze Kulturen oder Gesellschaften, schließlich
»der moderne Mensch«
können in diesem Rahmen als
verwahrlost gelten. Der Begriff könnte sich schließlich als ein
theologischer herausstellen. Er ist aber ein Begriff
mit Rechtsfolgen
(JWG §§
64 ff.). Es dient weder einer präzisen
Theorie noch der praktischen Brauchbarkeit, wenn es zwei voneinander
abweichende Bedeutungen des Wortes gibt. Allerdings hat auch der im
Gesetz verwendete Begriff nicht die Festigkeit und Präzision, die man
von ihm verlangen könnte. Die erfahrungswissenschaftliche Detaillierung
der
»Verwahrlosungs«
-Phänomene und die gleichzeitigen
gesellschaftlichen Veränderungen haben dahin geführt, daß nicht nur das
Bewußtsein von dem, was als Verwahrlosung bezeichnet werden kann,
sondern auch von ihrem Bezugsrahmen, von dem, was als geordnete Existenz
zu gelten habe, mit Skepsis durchsetzt ist. Nur so ist auch die Ungenauigkeit möglich, mit der bisweilen
pauschal von der Verwahrlosung der Erziehenden, von der verwahrlosten
Gesellschaft gesprochen wird und damit ein gleichsam theologisches
Moment in den Begriff eindringt. Der Verwahrlosungsbegriff ist
pädagogisch nur brauchbar, wenn durch ihn die geltenden und faktischen
Ordnungen und Verhaltensnormen als
»nicht
verwahrlost«
angenommen werden. Das gilt, auch wenn häufig
Uneinigkeit darüber bestehen mag, ob ein konkretes Verhalten noch als
normal oder schon als abweichend bezeichnet, ob es an einer scheinbar im
Schwinden oder an einer scheinbar im Entstehen begriffenen Norm gemessen
werden soll. Ohne diesen sozialen Bezugsrahmen aber wäre der
Verwahrlosungsbegriff leer, pädagogisch bedeutungslos, und es wäre
besser, statt
seiner die psychologisch gewonnenen detaillierten Einteilungen zu ver|a 287|wenden. Verwahrlosung gibt es nur, wo es Kultur
gibt. Verwahrlosung als ein pädagogisches Problem taucht nur dort auf,
wo bestimmte Aufgaben unbewältigt bleiben, verfehlt oder überhaupt nicht
gesehen werden; wo es nicht gelingt, einen gegebenen Bestand von Anlagen
und Dispositionen mit den Normen, dem Aufgaben-System der Gruppen der Kultur in ein gültiges Verhältnis zu setzen. Dieses Mißlingen ist
das Wesentliche. Mit dem Begriff kann nicht die Beziehung psychologisch
erkennbarer Ursachenkomplexe zu Verhaltens- oder Charakterabweichungen
als ihren Wirkungen beschrieben, sondern nur das pädagogische Problem
bezeichnet werden, das sich ergibt, wenn die erzieherische
»Kultivierung«
der Person mißlungen ist.