[V12:1] H.
Eyferth: (als Diskussionsleiter)
[V12:2] Daß wir am Donnerstag nach den ersten Eindrücken,
den ersten fragenden Zweifeln, nach dem ersten Gefühl der Ohnmacht
gegenüber all dem Neuen nicht weiter diskutiert haben, – ich glaube, das
spüren wir alle, war richtig. Wir haben gestern Zeit gehabt, uns immer
wieder in unseren Arbeitsgemeinschaften, aber auch einzeln und im
Gespräch mit diesen Fragen noch einmal auseinanderzusetzen. Nach dem,
was wir von den Arbeitsgemeinschaften hörten, meinen wir, es sei ein
Stück klärender, vorbereitender Arbeit für heute geleistet worden.
[V12:3] Aber wir wollten eine kleine Gruppe bitten, die
mit Klaus Eyferth
zusammen seinen Vortrag noch einmal auseinandergenommen hat und versucht
hat, ihn wieder neu zusammenzusetzen, uns zu berichten. Klaus Mollenhauer hat das übernommen. Wir
werden dann sehen, was für uns an Fragen übrig bleibt.
[V12:4] Klaus
Mollenhauer:
[V12:5] Ich soll Ihnen also berichten von den Ergebnissen,
zu denen wir gekommen sind, gesetzt den Fall, man ist überhaupt bereit,
das als Ergebnis zu akzeptieren. Vielleicht haben wir uns auch nur im
Kreise gedreht. Als ich mir überlegt habe, was ich hier sagen will,
wußte ich gar nicht mehr, ob überhaupt von einem Ergebnis die Rede sein
kann.
|a 10|
[V12:6] Vorweg möchte ich hinweisen
auf ein ganz merkwürdiges Phänomen, das im Gespräch immer wieder
deutlich wurde. Daß nämlich offensichtlich – ich darf es einmal ganz
persönlich sagen – Klaus
Eyferth und ich, uns viel schneller verständigen konnten als Walter Herrmann und Klaus Eyferth z. B. Ich
glaube, das liegt zum großen Teil daran, daß eine Menge Begriffe, die
wir gebrauchen, Worte, mit denen wir täglich in der Praxis, wie in der Wissenschaft umgehen, von uns mit ganz bestimmten
Bedeutungen angefüllt sind, und dann kommt dann plötzlich jemand und
bringt ein Wort aus seinem eigenen Bedeutungszusammenhang, redet z. B.
von Verhaltenspannen oder redet von Mechanismen, dort wo wir gewöhnt
sind, uns immer gerade dagegen zu wenden, daß da etwas mechanisiert
wird. In solch einem neuen Wort, wie es Klaus Eyferth angewandt hat, steckt
natürlich auch eine bestimmte Absicht, eine neue Nuance deutlich zu
machen. Aber möglicherweise ist diese Nuance so gering, daß sie in gar
keinem Verhältnis steht zu dem Riesenmißverständnis, das ein solches
neues Wort auslöst.
[V12:7] Das ist, glaube ich, die eine Schwierigkeit. Eine andere
Schwierigkeit ist die, daß die vielen Unterscheidungen, die im Laufe der
Diskussion zur Sprache kamen, in der Praxis ja gar nicht so geschieden
sind. Da liegt alles nah beieinander, eigentlich ineinander. Die Praxis,
das, was jemand in seinem erzieherischen Alltag tut, ist ein Komplex von
sehr vielen verschiedenen Momenten. Wenn ich nur einmal erinnern darf an
diese Trennung zwischen emotionalem und zielgerichtetem
Lernen!
[V12:8] Wenn Sie selbst sich Ihre erzieherische Tätigkeit
vor Augen halten, würden Sie die Dinge gar nicht mehr trennen in Ihrem
Verhalten. Es hat deshalb bisweilen den Anschein, als seien solche
Unterscheidungen subtile Spielereien. Aber wie es sich in unserer
Gruppe, wie ich meine, gezeigt hat, sind sie es nicht nur.
[V12:9] Dieses Komplexe, was die Praxis ist, in der das
Widersprüchlichste und Verschiedenste neben einander und ineinander wohnt, verändert sich ja auch allmählich,
obwohl wir so das Gefühl haben, als sei das, was wir heute tun, im
Grunde dasselbe, was wir vor 15 Jahren getan haben. Und doch gehen
tatsächlich Veränderungen vor sich. Daraus ergibt sich nun ein weiteres
Motiv für die Verständnisschwierigkeit. Die Veränderungen gehen sehr
langsam vor sich und sind eben z. T. nur Veränderungen in Nuancen. Wir
stehen vor der ganz großen Schwierigkeit, uns diese Veränderungen bewußt
machen zu sollen, weil wir doch unsere Praxis als eine bewußte
vollziehen wollen. Aber man kann sie sich nur bewußt machen durch Worte.
Dafür steht uns zur Verfügung die Sprache, in der wir gewohnheitsmäßig
miteinander verkehren. Nun kommt jemand, der sagt:
„Es
sind da ganz kleine Veränderungen im gange, die wesentlich sind, wenn sie auch nicht so deutlich
zutage treten. Diese Veränderungen will ich irgendwie
bezeichnen.“
Er steht jetzt vor der hoffnungslosen Situation,
eigentlich keine Worte zu haben, um das zu bezeichnen, und es resultiert
daraus das von dem Praktiker sehr oft als überflüssig empfundene
Bedürfnis, eine Terminologie auszubilden. So würde ich vermuten, daß die
besondere Begrifflichkeit von Klaus Eyferth, die hie und da Verwirrung gestiftet hat, und
an der wir gestern |a 11|den ganzen Tag herumdiskutiert
haben, eben daher kommt, daß er versucht, mit einem ganz bestimmten
Begriffsapparat – in seinem Fall etwas technologisch orientiert,
rationalisiert – bestimmte Veränderungen anzudeuten. Ich glaube, diese
Schwierigkeiten müssen wir uns vor Augen halten, um nicht immer wieder
in diese Schwierigkeiten der Verständigung zu kommen und um das hier
gemeinte Phänomen ganz klar zu sehen. Deshalb haben wir nun versucht,
einige Grundbegriffe zu klären.
[V12:10] Da ist zunächst der Komplex, zu dem gehört:
zielgerichtetes Lernen, emotionales Lernen, Methode und Bewußtmachung.
Vielleicht verdeutlicht man es sich, wenn man sich eine Skala einmal
vorstellt. Diese Skala hat zwei Extreme. Das eine Extrem ist eine
unreflektierte Naivität im Handeln, etwa durch die Mutter repräsentiert.
Die Mutter erzieht aus einer Selbstverständlichkeit heraus, die sie
nicht in jedem Augenblick reflektieren muß, die nicht Methoden in der
Weise anwendet, wie ein Case-worker
oder ein Therapeut sie anwendet. Das ist der Bereich, in dem das
vorherrscht, was Klaus
Eyferth die emotionale Erziehung genannt hat.
[V12:11] Der Gegenpol ist ein ganz anderes Verhalten, das
versucht, alle Naivität auszuschalten und jeden Akt der Behandlung von
Menschen durch das Bewußtsein zu steuern. Der ideale Vertreter dieses
zweiten Extrems wäre der Therapeut.
[V12:12] Nun liegt dazwischen aber doch der breite Raum der
Praxis der sozialen Arbeit. Die Frage ist, wie ist dieser Zwischenraum
da zu bestimmen? Wenn man das Bild der Skala beibehält, dann ist es
deutlich, daß von der Mutter zum Therapeuten hin graduell die Bewußtheit
immer mehr ansteigt. Das bemerken Sie wahrscheinlich auch bei sich
selbst in dem erzieherischen Verhalten, daß Sie selbst Akte vollziehen,
in denen eben diese Naive, Emotionale vorherrscht, wenn sie etwa rein durch
Atmosphäre versuchen zu erziehen. Und dazwischen gibt es immer Momente,
in denen Sie sich jetzt davon distanzieren, in denen Sie z. B. einen
einzelnen aus der Gruppe herausnehmen und mit ihm ein Gespräch führen
oder auf ihn eine besondere Wirkung haben wollen und ihn deshalb in eine
andere Gruppe versetzen. Da setzen Sie schon in gewisser Weise
Rationalität und Bewußtsein ein. Diese Bewußtheit steigert sich graduell
durch den ganzen Bereich der Sozialarbeit und erreicht, so könnte man
sich vorstellen, in dem Therapeuten das höchste Maß.
[V12:13] Und nun die These von Klaus Eyferth, daß das nicht nur so ist
und so bleibt, sondern daß der Anteil dessen steigt, was wir Bewußtheit
oder mit einem geläufigen Wort Methode nennen würden – denn bewußte
Erziehung ist eben zugleich auch methodisierte Erziehung und Methode ist
ohne Rationalität nicht denkbar, daß also unser Verhalten immer mehr zum
Therapeuten hinüberdrängt. Was an seiner Formulierung überspitzt oder
sogar falsch formuliert war, das war seine These, daß wir damit zugleich
den Raum der Erziehung verlassen, denn er hat ja behauptet, die
Erziehung habe innerhalb der Sozialarbeit abgewirtschaftet. Was man
sagen kann, ist, daß das naive Erziehen immer weniger bezeichnend wird
für unsere Arbeitø oder in einiger Übertreibung, daß das naive Erziehen das
früheste ist, und die Entwicklung ist |a 12|gekennzeichnet durch ein immer größeres Einschränken des naiven
Erziehers und ein immer stärkeres Bewußtmachen dieses Aktes.
[V12:14] Unsere heutige Art zu erziehen ist darin
gekennzeichnet, daß dauernd durcheinandergeht ganz naives Verhalten zu
dem Menschen, dem ich gegenüber stehe – im Begriff gefaßt durch das, was
wir pädagogischen Bezug nennen –ø dieses naive Verhalten ist dauernd da, aber durchsetzt von dem
anderen, rationalen Verhalten. Und das Eindringen des Rationalen, der
Methode, schlägt die Erziehung nicht aus dem Feld oder zerstört sie auch
nicht, – wir müssen eben einfach zur Kenntnis nehmen, daß das Phänomen
Erziehung sich verändert hat.
[V12:15] Erziehung faßt in sich zusammen eine Vielzahl von
Verhaltungsweisen, die gar nicht auf einen Nenner zu bringen sind, wie
bewußte Methode oder zielgerichtetes Lernen oder emotionales Lernen. Wir
haben darauf verzichtet, zu sagen, was Erziehung alles ist. Aber eins
ist in ihr nicht erst, seit es die Psychotherapie gibt, sondern schon
länger enthalten, daß man nämlich in bestimmten Fällen das
selbstverständliche Gebaren der alltäglichen Erziehung verläßt und
versucht, Methoden zu finden, die in einer besonderen Schwierigkeit
helfen können. Mit diesem Bemühen hat die Sozialpädagogik nun 100 Jahre
zugebracht bis zu dem Punkt, wo die Schwierigkeiten so groß und
anderseits die wissenschaftlichen Stützen der Psychologie so fest
wurden, daß man es sich leisten konnte, einen Bereich, der ursprünglich
zur Erziehung gehörte, herauszulösen und aus diesem eine besondere
Methode zu machen, eine besondere Institution, die Psychotherapie. D. h.
etwas, was im erzieherischen Verhalten mitenthalten ist, wird isoliert,
herausgelöst aus dem Pädagogischen und gewinnt die Gestalt, die wir eben
Therapie nennen.
[V12:16] Und nun zu diesen merkwürdigen Begriffen:
Wertabstinenz, punktuelles Werten, der Erzieher ohne Eigenschaften. Die
Wertfrage stand ja immer im Hintergrund. Da mußten wir einige Klarheit
hineinbringen, weil sich nämlich im Gespräch zeigte, daß zwar das Wort
Wert immer das gleiche blieb in jedem Diskussionsbeitrag, daß aber die
Phänomene, die gemeint waren, ganz verschieden waren. Es gibt einen,
nennen wir es einmal, Grundbestand von Werten, der zur Aufrechterhaltung
einer Kultur notwendig ist. So gibt es z. B. für unseren kulturellen
Zusammenhang bestimmte Minima: Die Fähigkeit und die Bereitschaft, die
Position des Anderen anzuerkennen, auf Argumente zu hören. Das ist eine
Regel unseres demokratischen Zusammenlebens, so fundamental, daß, wenn
wir sie über Bord werfen, wir damit unsere kulturellen Voraussetzungen
über Bord werfen. Dann müssen wir eben sagen: wir wollen unsere Kultur
nicht mehr.
[V12:17] Es gibt da offensichtlich einen minimalen
Wertbestand, der selbstverständlich ist. Diese kulturellen
Selbstverständlichkeiten sind Wertschätzungen, und man kann sie mit
gutem Recht als Werte bezeichnen. Daneben gibt es aber einen Bereich von
Werten oder Wertschätzungen, der nicht so stabil ist, und von dem nicht
die Kultur auf Gedeih und Verderb abhängt. So z. B. bestimmte Varianten
des Sexuallebens sind nicht notwendig konstituierend für den Bestand
einer demokratischen Gesellschaft. Man |a 13|könnte
sich vorstellen, daß man da variieren kann, ohne daß unsere Kultur
zusammenbricht. Trotzdem ist dieses Verhalten und sind die Werte, die
dort der Einzelne zu verwirklichen sucht, für ihn selbst außerordentlich
wichtig, weil er ja sein Verhalten in irgendeine Form bringen muß. Die
Schwierigkeit, in der wir uns angesichts dieser Frage nach den Werten
befinden, besteht darin, daß der Bereich der selbstverständlichen Werte
für uns ziemlich zusammengeschrumpft ist, und daß der Bereich der
variablen Werte ziemlich groß geworden ist, so daß die Belastung, die
auf dem Einzelnen liegt, der sich ja nun in dieser großen
Variationsmöglichkeit irgendeine suchen muß, gleichfalls recht groß
geworden ist.
[V12:18] Der
„Erzieher ohne
Eigenschaften“
ist nun nicht der, der die Eigenschaften, die die
selbstverständlichen Werte der Kultur ihm beimessen, nicht hat, sondern
ist nur der, der zwar die Selbstverständlichkeiten der Kultur
akzeptiert, der aber nicht wagt, sich irgendeinem der variablen Werte
anzuschließen, weil er weiß, daß sie variabel sind. Eigentlich ist die
Formulierung
„Erzieher ohne Eigenschaften“
ein
Widerspruch. Erziehen ist ja ein Handeln, und Handeln ist überhaupt
nicht möglich, wenn ich nicht
„Eigenschaften“
, d. h.
in diesem Fall Werte habe. Deshalb haben wir gesagt, daß der Erzieher
ohne Eigenschaften – und damit werden wir wohl auch Musils
„Der Mann ohne Eigenschaften“
gerecht, – sozusagen die
Möglichkeit ist, die jeder Erzieher in sich
hat. Ich bin Erzieher ohne Eigenschaften in dem Augenblick, wo
beispielsweise ein Junge mein Zimmer verläßt, und ich mir überlege: Ich
habe ihm zwar mit aller Vorsicht zu verstehen gegeben, daß ich in dieser
Frage der und der Meinung bin, und daß ich für mich dieses Verhalten
gewählt habe, aber ich habe ja eigentlich gar keine Legitimation dazu.
Warum verhalte ich mich eigentlich so? Ich hätte mich doch ebenso gut
ganz anders verhalten können. Diese ersten Schritte setzen eine
Überlegung in Gang, die die Dinge von allen Seiten bedenkt und nun den
naiven erzieherischen Schritt, den ich getan habe, versucht,
wiederaufzuheben, wieder rückgängig zu machen. Das kann man freilich
nicht. Andererseits kann sich aus diesem Reflektieren auch kein
unmittelbares Handeln ergeben. Deshalb haben wir gesagt, der Erzieher
ohne Eigenschaften ist immer nur die Möglichkeit, die jeder hat –
sozusagen in den Pausen zwischen dem Erziehen – der Erzieher im Moment
der Reflexion auf sich selbst und auf sein Tun.
[V12:19] Der Mann ohne Eigenschaften in dem Roman von Musil tut den ganzen Roman
hindurch nichts, als auf sich selbst und die Bedingungen seiner eigenen
Meinungen und die Bedingungen seiner Wertskala, die er dann abbaut, die
er eben eigentlich schon gar nicht mehr hat, und auf die Bedingungen der
Wertskalen anderer zu reflektieren. Da ist ausgeweitet und zu einem
Roman gemacht, was der Erzieher heute notwendig tun muß. Zeiten, in
denen die selbstverständlichen Werte einer Kultur einen so breiten Raum
einnehmen, daß die variablen Werte nur noch die Leute ganz persönlich
angehen, und es ist völlig unerheblich, wie sie sich da verhalten, in
denen braucht der Erzieher so nicht zu reflektieren. Wenn der Junge
durch die Familienerziehung und dann in sein Handwerk hineingeht, das
ihm von der Gesellschaft als ein heilig Amt vorgeschrieben istø und so sich der Entwicklungsgang in die Gesellschaft |a 14|hinein im grunde genommen von naiver zu naiver Position weiterzieht, dann ist
es nicht nötig, daß an irgendeiner Stelle jemand sitzt, der reflektiert
und sagt, welchen Wert hat denn das Handwerk? Aber in dem Augenblick, wo
das Handwerk kein heilig Amt mehr ist, sondern wo man Beliebiges machen
kann, da muß der Erzieher in dieser Weise reflektieren.
[V12:20] H.
Eyferth:
[V12:21] Es geht uns jetzt so, daß der eine oder andere
sich vorgenommen hatte etwas zu sagen, sich nun aber seine
Formulierungen noch einmal überlegen muß. Aber wir sollten doch
versuchen, über die Dinge weiter zu sprechen. Wir sind, meine ich, noch
keineswegs mit diesen bewußt aufs Terminologische, nicht auf die
Konsequenzen, auf alles, was dann folgt, eingestellten Bemerkungen am
Ende. Wir müssen weiter fragen.
[V12:22] Aber ich habe einige Bitten für unser Gespräch.
Zunächst, daß wir uns nicht von vornherein entscheiden, wie lange das
Gespräch heute läuft. Vielleicht kommen wir an irgendeinen Punkt zu dem Eindruck, wir müßten abbrechen. Ich würde ferner
meinen, wir sollten bis dahin dieses Gespräch wirklich an den Dingen
festhalten, um die es in diesen Klärungen gegangen ist. Denn das ist uns
wohl allen deutlich, daß hier etwas ein Stück über das Vorjahr hinaus
gefördert ist, womit wir uns ein paar Jahre ganz gehörig herumgeschlagen
haben, aber worin wir eigentlich wünschen, wir möchten noch ein Stück
weiterkommen. Wir sollten zwar immer fragen, wie sieht das nun in der
Praxis aus, in der wir stehen? Aber wir sollten doch sehr darauf achten,
daß die Grundfragestellung in unserem Gespräch erhalten
bleibt.
[V12:23] Frau v.
Hippel:
[V12:24] Nur eine Frage an Klaus Mollenhauer, ob
ich ihn richtig verstanden habe, wie er vom pädagogischen Bezug sprach, der
jetzt wieder in die Diskussion kommt, – daß der pädagogische Bezug in den
Bereich des naiven Verhalten gehöre. Er gehört nicht in den Bereich des
mütterlichen Verhaltens, auch nicht des naiven mütterlichen Verhalten,
sondern er ist eine Voraussetzung jeden pädagogischen Verhaltens und zwar
jedes bewußten pädagogischen Verhaltens. Die sittliche Voraussetzung, daß
ich mich überhaupt pädagogisch verhalten darf, dem anderen gegenüber. Nach
meiner Ansicht das bewußteste Verhalten, das ich haben kann innerhalb des
Pädagogischen.
[V12:25] Erwin
Schuppe:
[V12:26] Wenn man gehört hat, wie Klaus Mollenhauer den Vortrag interpretiert hat, dann ist es
eigentlich sehr plausibel, und ich war zwischendurch so weit, daß ich
sagte, da ist eigentlich nichts mehr zu bestreiten, damit bin ich
zufrieden. Aber letzten Endes drängt sich mir doch eine Frage auf nach
den Konsequenzen, die man aus diesen Einsichten zu ziehen hat. Die Frage
nämlich, ob man sich mit diesem Definieren der Sozialarbeit, überhaupt
jeder Tätigkeit als Erzieher, – man kann das ja auch auf die Schule oder
andere Bereiche ausweiten – zufrieden geben kann, ob dieses Ver|a 15|mischen der Ansätze zwischen den Polen
charakteristisch für diese Arbeit genannt werden kann. Ob man diese
beiden Pole, die du gekennzeichnet hast, so vereinbaren kann? Ob man
nicht durch das Therapeutische etwa ein ganz fremdes Element in den
Bezug zu einem anderen Menschen hineinbringt, ob das nicht getrennt
bleiben muß?
[V12:27] Klaus
Mollenhauer:
[V12:28] Es handelt sich nicht um eine Vermischung von
Therapeutischem und Pädagogischem. Das sind zwei getrennte Formen des
Verhaltens. Nur so war unsere Meinung in der Gruppe, daß in allem
pädagogischen Verhalten schon ein Moment enthalten ist, nämlich das
Moment der Bewußtmachung, der Aufklärung über die Welt, der Aufklärung
über die Motive, die mich beeinflussen, Aufklärung über Ideologien,
denen ich verfallen kann. Ich will ja auch meinen Zögling aufklären, ihn
unabhängig machen von Ideologien. Insofern ist ein Moment der
Bewußtmachung in der Erziehung enthalten. Und insofern haben Therapie
und Erziehung ein Gemeinsames. Das Gemeinsame ist also dieses
geistesgeschichtliche Phänomen der Rationalität.
[V12:29] .....
[V12:30] Mir kam es so vor, als ob
die Sache sehr entschärft worden ist gegenüber den recht radikalen
Forderungen von vorgestern. Wir haben also jetzt einen soziologischen
Zustandsbericht gegeben und damit selbstverständlich die Zustimmung der
Meisten hier bekommen, die sich einfach bestätigt gesehen haben. Mich
würde nur interessieren, halten Sie die Forderung noch aufrecht, daß der
Pädagoge nicht nur immer mehr zum Therapeuten tendiert von sich aus,
sondern daß er das auch muß? Und daß die Pädagogik in der
unreflektierten Form keine Zukunft mehr hat?
[V12:31] Klaus
Eyferth:
[V12:32] Ich bin dankbar für die Frage.
[V12:33] Mir scheint, daß noch die pädagogische Bewegung nach dem ersten Weltkrieg daran glauben konnte, daß sie aus der Pädagogik
selbst ihre Möglichkeiten zu einer umwälzenden Reform gewinnen könnte.
Sie vertraute auf die Eigengesetzlichkeit der Pädagogik und darauf, daß
die Werte einen so starken Zusammenhalt bieten könnten, daß man diesen
Werten nach einen neuen Menschen entwerfen könnte. Wir sind da heute
etwas skeptischer geworden, und ich glaube, daß das mit damit
zusammenhängt, daß – wie Klaus Mollenhauer es im letzten Jahr nannte – die Welt immer
mehrsinniger wird. Und wenn wir nach der Zukunft gefragt werden, würde
ich sagen, es ist doch höchst wahrscheinlich, daß sich unsere Kultur in
ihrem in sich geschlossenen Bestand immer mehr auflösen wird, weil wir
immer stärker mit anderen Kulturen konfrontiert werden. Wie schnell wir
relativieren, wie schnell wir uns z. B. aus unserer gesicherten Haltung
haben stoßen lassen, daß unsere Werte die allein gültigen seien, ist
doch sehr erstaunlich. Zwanzig Jahre haben dazu schon genügt. Jetzt
überlegen Sie sich, wie schnell man mit ganz fremden Kulturen, und nicht
bloß mit der englischen, französischen und amerikanischen konfrontiert
wird, sondern auch mit der afrikanischen Kultur, den asiatischen
Völkern!
|a 16|
[V12:34] Weil das so bleiben wird, müssen wir Wege
finden, unser Verhalten variabel zu machen. Variabel ist aber niemals
das Sebstverständliche, das, was wir zum nicht diskutierbaren Bestand unserer Kultur
dazurechnen können. Variabel ist auch nicht das, was fest in ein System
eingeprägt ist, etwa in das Wertsystem des Patriachalischen. Variabel ist nur, was wir rational beherrschen, nur da können
wir uns mit Argumenten und Gegenargumenten immer wieder angleichen. Wir
können aber nicht Gefühl gegen Gefühl setzen, das gibt kein Angleichen,
sondern das gibt einen Zusammenprall. Wir werden also immer weiter auch
in der Erziehung dahin kommen, daß wir rationalisieren. Und mit diesem
Rationalisieren der Methode verlassen wir immer weiter das naive
Erziehen und kommen immer mehr zu einem quasi-therapeutischen
Verhalten.
[V12:35] Ich glaube, daß das z. B. auch in der Schule
passieren wird; auch sie wird wahrscheinlich immer mehr davon abrücken,
durch Wertübertragung, durch Vorbildverhalten und ähnliches zu wirken,
sondern von vornherein viel stärker auf eine gewisse Rationalität
eingehen. Ich glaube, daß wir in der Sozialarbeit danach streben werden,
immer stärker Methoden auszubilden, immer stärker auf spezifische
Verhaltensweisen spezifische Mittel aufzusetzen und mehr zu
spezialisieren. Der Spezialisierungsprozeß ist voll im Gange. Es gibt
eine ganze Reihe neue Spezialzweige in unserer Arbeit – case-work ist noch nicht lange da,
Gruppentherapie und ähnliches. Sie wissen ja, wie stark sich die Arbeit
zu spezialisieren beginnt. Damit entwickeln sich immer mehr Methoden,
und Methoden sind rational.
[V12:36] Ich glaube auch nicht, naives Erziehen mit
emotionalem von vornherein gleichsetzen zu können. Es wurde gesagt, auch
im case-work wäre eine ganz starke
emotionale Beteiligung, – es ist aber eine Kontrolle der Emotionen mit
drin. Und diese Kontrolle macht außerordentlich viel aus. Sobald wir die
kontrollierten Emotionen als Vehikel dafür benutzen, um Neues ansetzen
zu lassen, ist das etwas ganz anderes, als ob wir einen simplen
„pädagogischen Bezug“
haben. Dieser pädagogische
Bezug ist zwar etwas Bewußtes, aber er wird nicht als Mittel eingesetzt.
Er ist die Voraussetzung, er ist bewußt, aber er ist nicht ein Mittel.
Und so hatte ich das auch gemeint, als ich sagte, als Methode ist die
Erziehung in der Sozialarbeit nicht einsetzbar.
[V12:37] Walter
Herrmann:
[V12:38] Ich war gebeten worden, für die Älteren von uns
ein Wort von gestern zu wiederholen, das die innere Situation, die
Stellung zueinander etwas beleuchten könnte. Wir sind ja ein Verein, der
seine Wurzeln in der Jugendbewegung hat. Als wir so jung waren, wie
unsere jüngsten Teilnehmer sind, hätten wir, wenn wir geredet hätten,
für die Älteren zweifellos so viele Mißverständnisse hervorgerufen, wie
es gelegentlich uns jetzt mit den Jüngeren geht. Das ist ganz
selbstverständlich. Wenn wir hätten als 20–30jährige sagen sollen,
worauf wir hinauswollen oder welches für uns so selbstverständliche
Worte sind, wie für die Jüngeren unter uns etwa der Mann ohne
Eigenschaften, dann hätten wir Worte gewählt, die älteren, wohlmeinenden
|a 17|Menschen völlig unverständlich gewesen wären.
Ich glaube, im Verlauf der Generationen schlagen ganz bestimmte
Wortbildungen ein, so daß sie wie eine Fahne sind.
[V12:39] Wenn heute ein Wort wie der Mann ohne
Eigenschaften genannt wird, dann versteht sich eine bestimmte
Altersschicht. Es gibt immer Unsagbares, das jede einzelne Generation
als ein in die Zukunft Weisendes oder von der Zukunft her Lockendes oder
Bestimmendes sieht – in dem sie das irgendwie enthalten sieht, was ihr
aufgegeben ist. So etwas haben wir auch gehabt, wenn wir aber diese
Begriffe jetzt und heute nennen würden, dann würde es so blumig werden,
daß uns allen angst und bange würde! Und trotzdem war in diesen
„blumigen“
Begriffen drin, daß eine von uns eine
sehr beachtliche und sehr jung gebliebene Fürsorgerin á la Bertha
Ritter ist und daß einer Gefängnisdirektor geworden ist und zwar ein anderer Gefängnisdirektor, als wenn er nicht dieses
Gemeinsame der Jugendbewegung gehabt hätte.
[V12:40] Ich glaube, daß wir sehr hörsam sein müssen auf
das, was heute an neuen Tönen gar nicht ganz aussprechbar mitklingt. Und esIhnen vielleicht so gegangen wie mir im vorigen Jahr schon, daß
ich gegen Begriffe wie Rollenspiel und diesmal gegen den Mann ohne
Eigenschaften innerlich angegangen bin. Aber ich hatte das Gefühl, es
stimmt doch irgendetwas daran. Ich glaube, wir halten uns für all diese
Gespräche in dieser merkwürdigen Schwebesituation, in der
Spannungssituation, – da ist etwas, was wir nicht verstehen, aber wofür
wir eine Antenne haben sollten.
[V12:41] Dazu gehört nun auch noch ein anderes. Es ist
doch gar keine Frage, daß wir in unserer erzieherischen Arbeit, wie ich
jetzt von der Pädagogik her sage, durch die Hilfswissenschaft der
Psychologie und Soziologie eine größere Breite haben. Es scheint mir
müßig, zu fragen, wird dadurch der pädagogische Bezug in irgendeiner
Weise gefährdet oder wird er irgendetwas anderes. Backhausen, der alte
Fürsorgeerziehungsmann, hat vor vielen Jahren auf dem Fürsorgeerziehungstag in Bamberg einmal ein Wort gesagt, das in der damaligen Situation eingeschlagen hat, das Wort: Unsere Fürsorgezöglinge kann man nicht lieben. Er meinte damit einen Abstand, der uns heute fast
nicht mehr verständlich ist. Ich würde sagen, das, was das einigende
Band ist, das, was für den Pädagogen immer wieder das Beglückende ist,
ist die Erfahrung, daß man trotz all des Hineinnehmens des Rationalen
eine ganz ursprüngliche Beziehung, die mit dem Wort Liebe gemeint ist,
trotzdem haben muß. Es ist keinem von uns verwehrt, die Kraft des
Herzens um das alles herumzuschlagen, und dann können Methoden kommen,
wie sie wollen, ein letztes Ursprüngliches, nennen wir es pädagogischen
Bezug oder wie wir wollen, bleibt immer, und das ist das, was
pädagogische Menschen aller Zeiten immer wieder verbinden
kann!
[V12:42] Olga
Voß:
[V12:43] Dazu muß ich jetzt etwas sagen. Ganz ernsthaft
für die Leute aus der Praxis. Wir reden hier immer wieder von den
Müttern mit dem naiven Bezug und von dem, was wir als selbstverständlich
voraussetzen. In der Praxis wissen wir doch, es ist nicht da! Und die
Mütter müssen es über den Weg des Verstandes lernen. Das ist die Not,
|a 18|vor der wir stehen. Sie müssen lieben lernen.
Und da möchte ich wirklich wissen, wie die Wege dazu sind, Menschen, die
eigentlich erwachsen sein sollten und die diese emotionalen Dinge
wirklich mitgekriegt haben sollten, nun noch lieben zu lehren. Davor
stehen wir, und das ist unsere
„ganz verheerende“
Situation.
[V12:44] Von hier ab verlief die
Diskussion zweigleisig. Zu der Frage, ob di emütter unserer allgemein
oder häufig der Schilderung von Olga Voß entsprächen, ob man diesen Erscheinungen durch
Erziehung entgegentreten könne oder ob unsere Gesellschaft solche
Erscheinungen allzusehr fördere, kam eine Reihe von Äußerungen, ohne daß
es gelungen wäre, diese Fragen zu beantworte. Olga Voß ergänzte ihre Bemerkung noch
durch den Hinweis, es stehe mit den Vätern nicht besser; sie könnten
zwar mit ihren Arbeitskollegen sprechen, mit ihren Frauen aber kaum. –
Leider war es nicht möglich, diese Linie hier gleichfalls zu verfolgen,
ohne den Leser zu verwirren.
[V12:45] H.
Eyferth:
[V12:46] Ich meine, wir sollten an dieser Stelle nicht
mehr zu weit in die Begrifflichkeit hineingehen.
[V12:47] Was wir zu leisten hätten, wäre m. E. zweierlei. Das ist das Eine, daß wir Fragen beantworten wie die, die Olga Voß jetzt gestellt
hat, und die von den begrifflich-theoretischen Fragestellungen genau
dahin zielt: Wohin führt das? Was bedeutet das für uns? Wie hebt das unsere Arbeit auf,
trägt sie oder zerschlägt sie? Und das verbindet sich mit dem Zweiten. Ich glaube, wir sollten den Ansatz, den
Curt Bondy uns ganz
zu Anfang gegeben hat, doch noch einmal sehr ernst nehmen. Die Frage,
die er an uns gestellt hat, möchte ich ganz kurz noch einmal
wiederholen, weil ich glaube, wir sollten nach der Pause dann die
Fragen, wie Olga Voß und
Curt Bondy sie uns
gestellt haben, in den Mittelpunkt unseres Überlegens rücken. Bondy hat uns gefragt, ob
wir resignieren dürfen in einer Welt pädagogischer Unsicherheiten, und
wenn auch seine Beispiele aus dem sozialpädagogischen Raum, von der
Gefängnisarbeit, von den Jugendämtern, von der Psychotherapie, von der
Nervosität usw. genommen sind, so hat er doch eigentlich die gesamte
pädagogische Unsicherheit gemeint, die Unsicherheit mindestens aller
Eltern. Was Olga Voß
eben sagte, daß diese Mütter ja nicht mehr lieben und also auch nicht
erziehen können, – das ist ja die Frage, vor der wir heute stehen. Was
müßten wir tun? Curt
Bondy hat einen Appell an uns richten wollen, diese Situation
ernst zu nehmen und von hier aus das, was er kurz andeutend social action nannte, von uns gefordert.
Wenn in unserer heutigen Welt die Resignation, die Unsicherheit, die
Unentschlossenheit gegenüber der Erziehung da ist, wie antworten wir
darauf? Sind nur wir in dieser Position der Unsicherheit, der
Unentschlossenheit, sind wir zur Unsicherheit und Unentschlossenheit
vielleicht entschlossen? Oder wie stehen wir dazu? Und wie können wir da
helfen? Konkret gefragt durch Olga Voß!
|a 19|
[V12:48] Keine einfache Aufgabe! Wir haben nicht die
Absicht, das liegen zu lassen, was bisher besprochen ist, sondern wir
müssen uns bemühen, es zu transponieren. Wenn Olga Voß fragt, wie es denn möglich sei,
Mütter, die weder mehr verstehen, naiv in selbtverständlichem Bezug zu ihren Kindern zu leben, noch gelernt haben, zu ihren
Kindern bewußt in Bezug zu treten, – wie wir mit einer solchen Situation
fertig werden, ob wir die Möglichkeiten haben, für ihre Kinder, für
unsere Kinder dieser Generation von nicht naiv und nicht bewußt
erziehungsfähigen, liebesfähigen Menschen zu arbeiten, dann ist an einer
brennenden Frage die Schwierigkeit dieser Transposition
aufgezeigt.
[V12:49] Mey:
[V12:50] Wir befinden uns heute in einer Situation, in der
der Zug, die Sozialarbeit bewußter zu gestalten, zu rationalisieren,
immer stärker wird, in der gleichzeitig die selbstverständlichen Werte
schrumpfen, während die variablen Werte größer werden, und in der der
Erzieher ohne Eigenschaften, der so viele Mißverständnisse schuf,
derjenige ist, der sich der Situation tatsächlich real anpaßt und auch
wirklich mit den variablen Werten kongruent bleibt. Ist diese Tendenz
nun eine Tendenz, die nun begrüßenswert ist, oder hat sie auch
unangenehme Begleiterscheinungen? Ich denke dabei an folgendes: Gerade
der naive pädagogische Bezug, der doch in der Urzelle aller Erziehung,
in der Familie steckt, führt leicht dazu, daß das Bewußtmachen
Unsicherheit mit sich bringt. Auf der anderen Seite ist es ganz gewiß
dem Sozialarbeiter zu wünschen, daß er sein Handeln rationalisiert,
bewußter macht. Aber da könnte eine Gefahr darin liegen, diese Dinge zu
überspitzen. Es gibt in der Neurosenlehre einen Typ, der als
Verkopfungsneurose bezeichnet wird.
[V12:51] Utermann:
[V12:52] Was uns eigentlich geblieben ist, ist das, was
Prof. Bondy uns hinstellte als die einfache Sittlichkeit, die sowohl auf Seiten
der Hilfsbedürftigen als auch auf Seiten der Erzieher eine Grundlage
ausmacht, die noch zu den selbstverständlichen gehört. Wie weit nützt es
dieser Grundlage, bzw. wie weit kann sie uns Haltung werden, wenn wir sie uns
bewußt machen? Die Bewußtmachung des Selbstverständlichen. Es war bei
uns nämlich gestern so, daß wir uns über das Phänomen einig waren, daß
aber in dem Moment die Dinge sehr schwierig wurden, als wir versuchten,
dieser Einigkeit begrifflichen Inhalt zu geben. Wir gerieten da leicht
wieder in die
„große“
Sittlichkeit gegenüber der
einfachen, und es wurden menschliche Handlungsbezüge angeschnitten, die
in dem anklangen, was heute morgen von Prof. Herrmann gesagt worden ist, Dinge, die
unwägbar waren und die man also nicht ganz leicht fassen konnte. Es
bleibt die Frage, kommen wir nicht mit einer zu starken Bewußtmachung
auch den Dingen der einfachen Sittlichkeit, den selbstverständlichen
Dingen so nahe, daß wir sie schließlich auflösen?
[V12:53] Ich weiß nicht, ob wir dem Referat von Klaus Eyferth gerecht
werden, wenn wir Wasser in den Wein gießen, statt Öl in das Feuer. Es glaube, daß es richtiger wäre, |a 20|es so
ernst zu nehmen, wie es gemeint war, als einen Angriff auf bisherige
oder auch jetzige Sozialarbeit von einem bestimmten wissenschaftlichen
Standpunkt der Psychologie her.
[V12:54] Nun meine ich allerdings nebenbei als Wissenschaftler und das ist vielleicht etwas despektierlich: ich halte es
nicht für notwendig, so kompliziert zu sprechen. Ich glaube, daß sich
viele Dinge einfacher sagen lassen. Ich glaube sogar, daß man noch einen
Schritt weitergehen könnte. Ich hatte zu Beginn der Tagung ein kleines
Gespräch mit Herrn Thorun, und er erzählte mir; das kann man alle Tage hören, was Soziologen zur Sozialarbeit
heute zu sagen haben. Sie behandeln die Gesellschaft heute, sie
entwerfen ein Bild von dem, was sie Trend nennen. Die Folge ist immer
bei unsereinem die Desillusionierung.
[V12:55] Aber war nicht das, was Klaus Eyferth hier gesagt hat, dasselbe
von der Psychologie her? Und da frage ich mich, welche Folgerungen wir
daraus ziehen. Selbst wenn ich sage, dahin geht die Entwicklung, kann
das unser letztes Wort sein? Ich hatte geglaubt, mich zu verhören, als
in der Aussprache gestern das Wort fiel:
„Wir sind
Geschöpfe der Gesellschaft“
. Sind wir das? Ich bin Soziologe, ich
habe Sozialforschung getrieben, ich behaupte in einigermaßen intimer
Beziehung zu dieser Gesellschaft zu stehen, habe aber nicht diese
Hochachtung vor dieser Gesellschaft, denn entscheidende Einwirkungen
gehen doch heute von unserer auf Expansion gestellten Wirtschaft
aus.
[V12:56] Die Frage ist doch: Anpassung und Widerstand! Hier möchte ich anknüpfen an das, was Olga Voß gesagt hat, so ist doch die Situation! Liebe nicht mehr
vorhanden. Aber entscheidend scheint mir doch zu sein: hervorrufen
müssen wir sie aus einem Widerstand gegen den
„Trend der
Gesellschaft“
! Ich glaube, daß es beim Erziehen um ganz einfache
Grundtatbestände geht, die immer bestehen bleiben. Wenn wir sie
vergessen, daß man Zeit haben muß, daß die Mutter Liebe haben muß, dann
geht es aber nicht mehr. Diese goldenen Worte haben natürlich auch ihre
Gefahren.
[V12:57] Ich glaube, daß wir allen Grund haben, Klaus Eyferth ernst zu
nehmen. Aber ist es nicht wirklich so, daß bei aller Methodik es letzten
Endes doch auf die Beziehung von Mensch zu Mensch – das ist falsch, von
Mensch zu Mensch, das genügt natürlich nicht – auf die echte Beziehung
ankommt, die dem Pädagogischen an sich innewohnt. Ich wünsche nicht so
verstanden zu werden, daß ich es uns auf diese Weise leichter machen
will. Man braucht nur die Formulierung zu gebrauchen: gegenüber der
Gesellschaft sowohl Anpassung als auch Widerstand!
[V12:58] ....
[V12:59] Ich habe eine
politische Frage an Herrn Eyferth, die ich gern psychlogisch beantwortet wissen möchte. Ich möchte ihn auch wieder packen
bei der kompromißloseren Fassung seines Referates. Wir haben eine Menge
Begriffe gehört – Unsicherheit, Bewußtmachung, variable Werte,
punktuelles Werten – die doch darauf hindeuten, daß die Starrheit
irgendeines Menschen verschwinden soll, und ich möchte |a 21|jetzt diese Unstarrheit in ein politisches Moment
hineinstellen. Ein Zögling, der in dieser punktuellen Wertung erzogen
worden ist, der die Starrheit verloren hat, wie reagiert dieser Zögling
auf die Starrheit des Ostens, diese massive Starrheit? Wenn er jetzt
anfängt, punktuell zu werten, kann er da nicht zu folgendem Ergebnis
kommen: Die Wirtschaft, die sie drüben bis dato betreiben, ist ganz
plausibel. Barbarisch ist vielleicht, daß sie die Leute einsperren; das
nehme ich nicht an. – Er kommt vielleicht dahin, daß er 40% der Sache
bejahen kann, 60% verneint er, die sind aber für massive Propaganda in
sehr kurzer Zeit auszuräumen! – Ich möchte gar nicht die Theorie von
Klaus Eyferth in
ihrer objektiven Richtigkeit bezweifeln, ich möchte nur bezweifeln, ob
sie politisch tragbar ist. Ob nicht eine Starrheit wie die der
Jugendbewegung viel widerstandsfähiger ist gegenüber der Starrheit eines
kommunistischen Systems als die objektive Labilität seiner
Theorie?
[V12:60] Corves:
[V12:61] Ist es möglich, daß über dem Umweg über Bewußtmachung, also durch rationale Mittel,
Methoden usw. etwas Emotionales in Gang gesetzt wird?
[V12:62] Ziethen:
[V12:63] Was Herr Schuppe versucht hat, klar zu machen, daß er Angst hat, daß
die eigentliche erzieherische Haltung oder das erzieherische Tun
verflacht wird, ist eine Gefahr. Ich meine auch, daß die Theorie der
Sozialpädagogik vielleicht in Gefahr steht, mit der Modepropaganda zu
konkurrieren. Wenn die Mode einen Artikel nicht mehr absetzen kann, dann
gibt sie eine neue Propaganda heraus, und dann wird das Modell verkauft.
Uns sind in der letzten Zelt unheimlich viele Modelle angeboten, manchen
passen sie, und manchen passen sie nicht; aber wenn wir als ganz
schlichtes Fußvolk mal nach einer Möglichkeit ausschauen, z. B. nach
einem Therapeuten, dann finden wir keinen! Die Mode bringt so manche
Formen, die der Großvater schon trug, und manche, die noch früher
getragen wurden, aber ich möchte weder in der Mode noch sonst mein
eigener Großvater sein, ich möchte auch in der Erziehung ich selbst
bleiben. Ich meine, daß wir die Möglichkeit haben, noch erzieherisch zu
wirken, und das sehr stark trennen sollen von all den Möglichkeiten, von
denen wir wirklich nichts verstehen. Wir sollten vielmehr Bescheidenheit
aufbringen; ich glaube, dann kommen wir an mancher Stelle
weiter.
[V12:64] Seibert:
[V12:65] Herr Mey stellte am Anfang die Frage, ob
die Bewußtmachung die Unsicherheit vergrößern würde. Herr Corves
stellte die Frage, ist die Bewußtmachung ein mögliches Mittel,
emotionale Dinge in Bewegung zu bringen? Und zwar als eine Zusatzfrage
oder auch eine halbe Antwort auf die Frage von Olga Voß, was wir tun können, um bei den
Eltern die Liebe zu den Kindern wieder in Gang zu bringen, oder verschüttete Liebe wieder auszugraben. Ich glaube, daß
diese Fragen alle mit ja beantwortet werden können. Zweifellos wird die
Bewußtmachung zu einer Erhöhung der Unsicherheit und zwar einer ganz
bestimmten Unsicherheit führen. |a 22|Ich glaube, daß
wir zu dieser Form der Unsicherheit ja sagen müssen, daß wir uns darüber
klar sein müssen, daß die Auflösung einer starren Haltung, gleichgültig
aus welcher Ursache sie entstandan ist, nur über eine Unsicherheit gehen kann, denn nur der
Unsichere ist in der Lage, sich umzustellen. Also die Unsicherheit ist
eine der Voraussetzungen zu einer beweglichen Pädagogik, und damit
knüpfen wir wieder genau an Klaus Eyferth an, daß wir versuchen müssen, diese
„Labilität“
in der Erziehung dadurch wachzuhalten,
daß wir unsicher bleiben. (Freilich muß ich dies einschränken: Es gibt
eine Unsicherheit, die Erziehung unmöglich macht).
[V12:66] Eltern sind oft hilflos. Sie haben eine
bestimmte Einstellung zur Pädagogik gehabt, sie merken, daß sie mit
dieser Einstellung nicht weiterkommen, sind aber nicht von sich aus in
der Lage, sich umzustellen. Jetzt ist es doch sicherlich unsere Aufgabe,
daß wir zunächst versuchen, die falsche Sicherheit, in der sich die
Eltern bisher befunden haben, abzubauen, um sie dadurch für neue
Möglichkeiten zu öffnen.
[V12:67] ......
[V12:68] Ich wollte noch einmal auf den vorletzten Redner
eingehen. Ich halte Ihren Satz: ich möchte als Erzieher ganz ich selbst
sein, für äußerst gefährlich. Ich möchte gerade einen Gegensatz
aufstellen: Ich möchte als Erzieher ganz und gar der Zögling sein! Ich
muß sehen, daß ich den Zögling direkt verstehe, jedesmal eine andere
Methode anwende, muß sehen, wie ist der Zögling, wie ist er zu fassen?
Er ist nicht zu fassen, wenn ich nur eine
Möglichkeit dort vertrete. Ich muß sehen, daß ich vom Kinde aus vorgehe,
und das ist jedesmal verschieden. Ich meine nicht, daß das eine
Modekrankheit ist, wenn man jetzt neue Methoden übernimmt. Die moderne
Psychologie seit 50 Jahren hat wirklich Wege gefunden, die man nicht
ausschlagen sollte.
[V12:69] Walter
Herrmann:
[V12:70] Darf ich noch ein Wort sagen, das zeigen soll,
wo die Nahtstellen sind. Wie weit kann man die Voraussetzungen für pädagogische
Atmosphäre schaffen? Die Atmosphäre, das ist das, wo beides
zusammentrifft, das Methodische und das Emotionale. Ausgangspunkt etwa
ein Gefängnis. Ich habe es nicht in der Hand, die letzten Inhalte einer
Atmosphäre zu schaffen. Das ist selbstverständlich. Aber ob ich in einem
Haus voll Jugendlicher einen belfernden, gänzlich unpersönlichen
Hauptwachtmeister hinsetze oder jemandem, der Verständnis hat, ob ich die Möglichkeit gebe, daß diese
Jungen dieses Hauses die Erziehungsgruppenleiter sprechen können, wenn
sie das Bedürfnis haben, oder ob sie øerst sprechen können, nachdem sie am Dienstag einen
Vormeldezettel geschrieben haben, der am Donnerstag zum
Hauptwachtmeister, am Sonnabend zum Abteilungsleiter geht, und dann
schließlich am Montag oder Dienstag in die Hände dessen kommt, an den er
gerichtet ist, das habe ich in der Hand. Ob ich daß so mache, daß dauernd Krachø ist oder ein Haus, in dem etwas Ruhe und Besinnungsmöglichkeit
schon einfach von der Akustik her ist, – das sind Dinge, die ich mir
ständig überlegen kann.
|a 23|
[V12:71] Alles das sind Möglichkeiten, die ich mir
überlegen kann, die methodisch sind, und die ungeheuer wichtig sind für
die Bildung der Atmosphäre. Die noch nicht den Inhalt darstellen, aber
indem ich meine Beamten so zu beeinflussen suche, schaffe ich schon
etwas von dem Inhalt der Atmosphäre.
[V12:72] Hier würde ich einige der Nahtstellen sehen
zwischen dem Emotionalen und dem Methodischen. Z. T. habe ich es in der
Hand, z. T. muß ich immer wieder die Voraussetzungen schaffen und
hoffen, daß hier irgendwo ein Funke überspringt.
[V12:73] Frau Hein:
[V12:74] Zu der Überlegung rationale Methode und
Emotionales: Was will denn der Therapeut erreichen, doch daß seinem
Zögling wieder zur Verfügung gestellt wird, auf der emotionalen Ebene zu
„funktionieren“
? Daß dort etwas wieder in
Bewegung gerät, – dazu überlegen wir uns Methoden, am Ende doch nur, um
wieder etwas von unten herauf, was wir hier mit Liebe bezeichnet haben
oder mit einem natürlichen Empfinden, in Gang zu setzen.
[V12:75] Corves:
[V12:76] Es brannte mir bei dem, was Clara Hein eben sagte. Ich
kriegte es auf einmal mit der Angst, als ob das Gespräch solche Wendung
nähme, als wären alle Methoden, alle rationalen Methoden nur dazu da,
das Emotionale wieder zu wecken, und darin läge das Eigentliche.
Vielleicht war das gar nicht so gemeint, es klang aber so. Ich glaube,
es sitzen zwei Gefahren in diesem Gespräch. Die eine, das ist, was mich
überfiel beim Referat von Klaus
Eyferth, als könnten wir uns als Menschen dahin entwickeln,
daß das Emotionale immer mehr abgebaut und immer mehr durch Rationales
ersetzt wird. (Was ich nicht glaube.) Dagegen würde ich mich wehren.
Sowohl menschlich als auch im Bereich der Pädagogik. Jetzt dagegen wäre
die Gefahr, anzunehmen, man könnte die Entwicklung, daß immer mehr
Irrationales abgebaut wird, durch Bewußtes einfach aufhalten. Mir
scheint dazwischen die Wahrheit zu sitzen. Bloß, daß wir nicht auf
einmal umkippen und sagen, wir könnten zur schönen Emotion zuzück!
[V12:77] Frau von
Unruh:
[V12:78] Zu der mangelnden Liebesfähigkeit der Mütter
möchte ich noch hinzufügen die mangelnde Reife des Sozialarbeiters, des
Lehrers, des materialistischen Wirtschaftlers, des Akademikers, zu der
mangelnden Fülle der Persönlichkeit heute – liegt da nicht im Grunde
Angst? Wir versuchen mit ganz verschiedenen Mitteln, die Mutter mit
Unsicherheit und Fliehen in den materiellen Komfort und in die Ichsucht,
– sie will bewundert werden, sie will hübsch sein, Sex gehört auch
hierher, – der Akademiker, der macht es mit intellektuellen Mitteln. Und
immer steht irgendwo dahinter die Angst. Die Angst: hat es einen Sinn,
daß ich lebe? Was wird einmal? Wo steuere ich hin? Die Angst, was wird
aus meinem Kind, aus meiner Ehe? Ganz verschiedene Angst, aber niemals
der Mut, ja zu sagen zu dieser Angst, und sie immer wieder neu zu
überwinden und zu lösen. Denn dann reift man an seiner Angst.
|a 24|
[V12:79] Klaus
Eyferth:
[V12:80] Es ist nicht ganz einfach, auf diese
verschiedenen Fragen und Einwürfe einzugehen, und ich will auch nicht
den Versuch machen, noch einmal zu einer Systematik zu kommen. Ich
glaube, das würde bloß wieder zu neuen Diskussionen reizen. Ich halte es
für besser, man versucht jetzt einmal einzelne Punkte zu beantworten –
aus dem Versuch einer Systematik heraus, den wir gestern uns vorgestellt
haben. Es wird dabei etwas einseitig zugehen, das läßt sich nicht
vermeiden.
[V12:81] Ich möchte bei der Frage anfangen, ob nicht
vielfach die Liebe fehlt besonders bei den Müttern, aber nachher wurde
ja auch gesagt bei den Vätern, es kam zuletzt noch ein Zusatzgedanke
hinzu, ist es nicht so, daß wir in unserer Gesellschaft gerade durch das
Betonen des Rationalen immer wieder die Emotionen weiter abbauen? Wenn
wir als Sozialarbeiter und Erzieher das Rationale betonen, wie soll es
dann schließlich noch etwas geben, einen Grund, auf dem wachsen kann,
etwas, wo die Liebe eine entscheidende Rolle spielt? Ich glaube, daß wir
nicht allzu viel Angst haben müssen, bei den heutigen Müttern fehle die
Liebe. Ist das nicht immer ähnlich gewesen? Ist bei denen, die wir als
Sozialarbeiter zu Gesicht kriegen, der Prozentsatz besonders hoch? Ich
möchte warnen, generelle Aussagen zu machen. Wir kennen das Maß nicht.
Aber für Sie würde genügen, wenn Sie 3-4 Familien aufzählen könnten, wo
es so ist! Die allgemeinen kulturkritischen
Aussagen sind im Grunde inhaltlos geworden, weil wir ja gar nicht
wissen, in welche Relation wir sie einbauen sollen, wenn wir z. B.
sagten, in den deutschen Familien gibt es keine Liebe mehr. Aber wenn
Sie sagen:
„In diesem konkreten Fall möchte die Mutter
viel lieber, daß sie im Mittelpunkt steht als daß sie einsähe, daß
das Kind nicht nur zu ihrer Verherrlichung da ist, daß sie es
anderen vorzeigen kann, damit ein heller Schein auf sie fällt usw.
Was soll ich da tun?“
Dann ist das ein sehr ernstes Problem für
Sie. Ich glaube nicht, daß wir in diesem Fall in unserer Lage als
Beratende wirklich sehr viel helfen können. Das klingt sehr böse. Aber
ich meine es wirklich so. Es gibt wahrscheinlich in der Erziehung nichts
Schlimmeres als ichbezogene Mütter! Und es gibt bei den Versuchen, in
der Familie etwas zu ändern, nichts, wo es hartnäckiger zugeht als bei
diesen etwas hysterischen, etwas infantilen Fällen, wo das Kind nicht
als ein Wesen eigenen Rechts angesehen wird, sondern immer bloß als
etwas, was überhaupt noch nicht von der Mutter sich getrennt hat. Aber
wir sollten nicht versuchen, hier generelle Schlüsse zu ziehen. Es ist
auch möglich, daß die Liebe nur verschüttet ist, daß die Mutter eben
nicht eine so infantile Person ist, die gar kein Gefühl dafür hat, daß
da ein neues, eigenes Leben entsteht. Es kann wirklich so sein, daß das
Goggomobil zunächst wichtiger ist, und daß das Kind eben gekommen ist,
und daß es belastet.
[V12:82] Wir sollten auch hier versuchen, nicht nach
Regeln zu suchen und zu sagen, da machen wir eben das und das. Besonders
möchte ich, und das klang zweimal an, doch warnen davor, da gleich zu
sagen:
„Das ist der Materialismus!“
Das Goggomobil
ist ein Wert. Es hat jede Zeit ihre
Wertmaßstäbe entwickelt, und wir können uns nicht darüber
hinwegtäuschen, daß ein Wertmaßstab in unserer Gesellschaft das |a 25|Autohaben oder Nichtautohaben und nachher die
PS-Zahl des Autos ist. Aber was heißt das? Das heißt doch genau dasselbe
wie für einen Schüler in der Klasse, ob er ein schlechter oder ein guter
Schüler ist.
[V12:83] Das Guterschülersein ist für das Gesamtverhalten
des Jungen so wichtig wie für den Vater der Erwerb eines größeren Wagens
und die höhere Achtung der Nachbarn. Der größere Wagen wird auch der
Familie zugutekommen. Es gibt allgemein das Bestreben danach, etwas
darzustellen, und wenn wir es nicht zu etwas bringen, dann werden wir
auch in seltenen Fällen wirklich gute Erzieher sein können, da wir mit
uns selbst nicht zufrieden sind. Zu sagen, hier sei der Materialismus
und dort die Liebe, halte ich für eine recht grobe
Vereinfachung.
[V12:84] Hier ist wohl etwas Methode am Platze. Wie man
diese konkurrierenden Ziele ins Bewußtsein hebt und die Konkurrenz erst
einmal bewußt macht, das wissen Sie vermutlich in der praktischen
Fürsorgearbeit sehr viel besser als ich. Ich glaube, daß hier genau das
stattfinden kann, was Bewußtmachung bedeutet. Ist es nun möglich, daß
auf so rationalem Boden etwas wächst, das nachher emotional wirklich
begründet ist?
[V12:85] Ich glaube es ganz bestimmt. Es wäre ziemlich
unheimlich, wenn wir diese neuen Methoden einsetzen wollten und
annähmen, sie hielten sich nur durch ihre Rationalität, dadurch daß sie
logisch stimmen. Wir würden wahrscheinlich dann eine Therapie nur
anfangen können, wenn wir sie ewig fortsetzen, wenn sich die Dinge nicht
einschleifen, nicht zur Gewohnheit werden, sagen wir ganz grob: zu
Vorurteilen, zu Möglichkeiten, das Leben in Komplexen zu sehen, die es
einem erleichtern, die es nicht nötig machen, sich immer wieder neu zu
entscheiden. Ich glaube, das ist notwendig, und es ist wahrscheinlich
für den Sozialarbeiter sehr viel leichter als für den Therapeuten, hier
weiterzukommen, wenn man z. B. zeigt, wie es auch emotional befriedigend
ist, Kinder zu haben und nicht nur einen Wagen zu haben, vergleicht und
auch die emotionalen Dinge mit hervorhebt.
[V12:86] Jetzt ein anderer Punkt.
Mir scheint, daß gelegentlich in der Diskussion doch Begriffe
herausgekommen sind, die zeigen, daß wir uns mit vollem Recht hier um
Definitionen raufen. Wenn ich z. B. die Bewußtmachung der Väterlichkeit
nehme, – diese Väterlichkeit gibt es nicht, und mit der
Instinktlosigkeit junger Mütter ist es im Grunde genau dasselbe. Als ob
es einen Mutterinstinkt gäbe! Wir sind uns doch darüber einig, daß es
hoffnungslos ist, von
„ursprünglichen Antrieben“
zu
reden. Wir alle haben die Erfahrung gemacht, daß das alles gelernt
werden muß, und davon sprechen wir ja auch dauernd. Wir können weder den
Versuch machen, die Väterlichkeit bewußt zu
machen, noch die Mütterlichkeit. Wir müssen immer
wieder den Versuch machen, von Denkschemata freizukommen.
Selbstverständlich sitzen wir alle, und da nehme ich mich nicht aus, in
einer Kultur, die ein Erbe mit sich bringt, das unserer gegenwärtigen
Situation nicht angemessen ist. Das müssen wir uns selbst immer wieder
bewußt machen, und das, was wir erlernen, dauernd wieder
überprüfen.
|a 26|
[V12:87] Der Vater als Gesprächspartner! Es kam auch
irgendwann in der Diskussion, mir fiel es bloß so als Formel ein.
Überlegen Sie einmal, wenn Sie in einem ländlichen Kreis arbeiten, was
ein Gespräch in der Ehe dieser Menschen zum Gegenstand haben kann. Ist
nicht dieses Gesprächspartner-Sein ein Ideal, das uns selbst angeht,
aber nicht generalisiert und zur Formel erhoben werden kann für das
Ideal der Ehe? Ist das Miteinandersprechen überhaupt so wichtig für
jeden wie für uns? Ist es unentbehrlich? Geht es nicht genauso, daß man
seine Liebe, seine Zuneigung dem Andern dadurch ausdrückt, wie man ihm
sein Frühstück zubereitet? Oder daß man pünktlich von der Arbeit
zurückkommt oder den Sonntag zusammenbleibt?
[V12:88] Wir wollen auch hier nicht unseren eigenen
Standpunkt generalisieren und meinenø wir könnten oder müßten da etwas fordern, das nicht ankommen
kann. Wenn wir das nämlich fordern, dann sind selbstverständlich 70% der
Ehen in Deutschland völlig hoffnungslos, weil nicht miteinander
gesprochen wird. Aber das Sprechen spielt ja nicht überall die Rolle,
die es bei uns hat.
[V12:89] Mir scheint wirklich in den Rahmen dessen zu
gehören, das wir eben behandelt haben: Das Werten nach dem eigenen
Standpunkt, das Suchen nach einem festen verbindlichen Leitbild für die
gesamte Gesellschaft, das wir in dieser Weise nicht besitzen.
–
[V12:90] Nun zwei Spezialpunkte, die mit dem
Vorhergehenden wenig zu tun haben. Einmal die Angst. Wir könnten nun Theorie treiben. Vielleicht stehe ich
hier, weil ich Angst habe. Das ist durchaus möglich. Vielleicht sitzen
Sie alle hier, vielleicht sind Sie ein Fürsorger, weil Sie Angst haben.
Aber was sagt so etwas? Wir können einen Ursprung
des Verhaltens heraussuchen, das kann die Angst sein, das kann das
Streben nach Macht sein oder sonst etwas – wichtig ist nur, daß wir uns
mit solchen Theorien verständigen können. Wenn wir alle annehmen, es sei
die Angst, gut, dann ist es die Angst. Wenn wir nur einen Grund des Verhaltens annehmen, dann können wir
vielleicht irgendeine Theorie darauf aufbauen und uns mit ihr
verständigen. Aber wenn wir alles Angst nennen, ist es zwar ein sehr
globaler Begriff, aber gleichzeitig ein fast bedeutungsloser Begriff
geworden. Was sagt das dann noch, wenn es überall ist? Alle diese
psychologischen Begriffe, die ihr Recht haben in speziellen Fällen,
sollten nicht zu allgemein angewandt werden!
[V12:91] Lassen Sie uns also nicht ideologisieren, auch
unsere eigene Ratio müssen wir immer wieder neu prüfen. Es gibt kein
System für immer für uns! Das ist etwas unbequem, aber wir müssen uns
darauf einstellen, daß wir immer wieder neu fragen in jeder Situation.
Immer abtasten die vielen verschiedenen Möglichkeiten, das gilt sowohl
für das Werten wie für das Erklären wie für die Vorschläge wie für die
Absichten, Hilfe zu leisten. Auch da gibt es keine
Patentlösungen!
[V12:92] Das letzte die Politik! Ich glaube bestimmt, daß
es ein Risiko ist, auf stabilisierende Faktoren zu verzichten. Ich
glaube auch, der Vorschlag, alle jungen Mädchen zusammenzufassen und zu
schulen, wäre ein solcher stabilisierender Faktor. Wir verzichten
darauf. Wir verzichten darauf, weil wir etwas ganz Besonderes im Kopf
haben, wenn wir erziehen, auch wenn wir uns inhaltlich nicht ganz
festlegen wollen.
|a 27|
[V12:93] Wir haben uns gestern
darüber schon einmal unterhalten und haben als ganz vage Formulierung
von dem, was wir noch anstreben, die Formel vom mündigen Menschen
gebraucht. Der mündige Mensch ist der, der sich aus eigenem Antrieb
behaupten kann, der nicht immer jemand braucht, der ihn stützt, der auf
der einen Seite etwas hilft und dort wieder davor warnt, der dort ein
Loch zuschüttet, damit er nicht hineinfällt usw. Wenn wir versuchen, die Löcher dauernd zuzuschütten vor ihm, dann
werden wir dahin kommen, daß er das Laufen lernt, solange er auf der
geraden Straße ist, aber er wird nicht mündig, weil unsere Gesellschaft
diese gerade Straße nicht sein wird. Wenn wir versuchen, von vornherein
die Gefahren zu vermeiden und die Stabilität zu erreichen, indem wir
immer wieder äußerlich abstützen oder ganz feste Gehalte geben, indem
wir seinen Kreiselkompaß auf ein Ziel einstellen, dann werden wir nie
den mündigen Menschen erziehen können, den wir im Grunde anstreben. Ich
glaube nicht, daß man dem Risiko in der Erziehung ausweichen kann, wenn
man das haben will, was wir etwas global Demokratie nennen.