Die Hauptdiskussion [Textfassung a]
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Die Hauptdikussion

(Sonnabend, 28. 5. 1960)

[V12:1] H. Eyferth: (als Diskussionsleiter)
[V12:2] Daß wir am Donnerstag nach den ersten Eindrücken, den ersten fragenden Zweifeln, nach dem ersten Gefühl der Ohnmacht gegenüber all dem Neuen nicht weiter diskutiert haben, – ich glaube, das spüren wir alle, war richtig. Wir haben gestern Zeit gehabt, uns immer wieder in unseren Arbeitsgemeinschaften, aber auch einzeln und im Gespräch mit diesen Fragen noch einmal auseinanderzusetzen. Nach dem, was wir von den Arbeitsgemeinschaften hörten, meinen wir, es sei ein Stück klärender, vorbereitender Arbeit für heute geleistet worden.
[V12:3] Aber wir wollten eine kleine Gruppe bitten, die mit Klaus Eyferth zusammen seinen Vortrag noch einmal auseinandergenommen hat und versucht hat, ihn wieder neu zusammenzusetzen, uns zu berichten. Klaus Mollenhauer hat das übernommen. Wir werden dann sehen, was für uns an Fragen übrig bleibt.
[V12:4] Klaus Mollenhauer:
[V12:5] Ich soll Ihnen also berichten von den Ergebnissen, zu denen wir gekommen sind, gesetzt den Fall, man ist überhaupt bereit, das als Ergebnis zu akzeptieren. Vielleicht haben wir uns auch nur im Kreise gedreht. Als ich mir überlegt habe, was ich hier sagen will, wußte ich gar nicht mehr, ob überhaupt von einem Ergebnis die Rede sein kann.
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[V12:6] Vorweg möchte ich hinweisen auf ein ganz merkwürdiges Phänomen, das im Gespräch immer wieder deutlich wurde. Daß nämlich offensichtlich – ich darf es einmal ganz persönlich sagen – Klaus Eyferth und ich, uns viel schneller verständigen konnten als Walter Herrmann und Klaus Eyferth z. B. Ich glaube, das liegt zum großen Teil daran, daß eine Menge Begriffe, die wir gebrauchen, Worte, mit denen wir täglich in der Praxis, wie in der Wissenschaft umgehen, von uns mit ganz bestimmten Bedeutungen angefüllt sind, und dann kommt dann plötzlich jemand und bringt ein Wort aus seinem eigenen Bedeutungszusammenhang, redet z. B. von Verhaltenspannen oder redet von Mechanismen, dort wo wir gewöhnt sind, uns immer gerade dagegen zu wenden, daß da etwas mechanisiert wird. In solch einem neuen Wort, wie es Klaus Eyferth angewandt hat, steckt natürlich auch eine bestimmte Absicht, eine neue Nuance deutlich zu machen. Aber möglicherweise ist diese Nuance so gering, daß sie in gar keinem Verhältnis steht zu dem Riesenmißverständnis, das ein solches neues Wort auslöst.
[V12:7] Das ist, glaube ich, die eine Schwierigkeit. Eine andere Schwierigkeit ist die, daß die vielen Unterscheidungen, die im Laufe der Diskussion zur Sprache kamen, in der Praxis ja gar nicht so geschieden sind. Da liegt alles nah beieinander, eigentlich ineinander. Die Praxis, das, was jemand in seinem erzieherischen Alltag tut, ist ein Komplex von sehr vielen verschiedenen Momenten. Wenn ich nur einmal erinnern darf an diese Trennung zwischen emotionalem und zielgerichtetem Lernen!
[V12:8] Wenn Sie selbst sich Ihre erzieherische Tätigkeit vor Augen halten, würden Sie die Dinge gar nicht mehr trennen in Ihrem Verhalten. Es hat deshalb bisweilen den Anschein, als seien solche Unterscheidungen subtile Spielereien. Aber wie es sich in unserer Gruppe, wie ich meine, gezeigt hat, sind sie es nicht nur.
[V12:9] Dieses Komplexe, was die Praxis ist, in der das Widersprüchlichste und Verschiedenste neben einander und ineinander wohnt, verändert sich ja auch allmählich, obwohl wir so das Gefühl haben, als sei das, was wir heute tun, im Grunde dasselbe, was wir vor 15 Jahren getan haben. Und doch gehen tatsächlich Veränderungen vor sich. Daraus ergibt sich nun ein weiteres Motiv für die Verständnisschwierigkeit. Die Veränderungen gehen sehr langsam vor sich und sind eben z. T. nur Veränderungen in Nuancen. Wir stehen vor der ganz großen Schwierigkeit, uns diese Veränderungen bewußt machen zu sollen, weil wir doch unsere Praxis als eine bewußte vollziehen wollen. Aber man kann sie sich nur bewußt machen durch Worte. Dafür steht uns zur Verfügung die Sprache, in der wir gewohnheitsmäßig miteinander verkehren. Nun kommt jemand, der sagt:
Es sind da ganz kleine Veränderungen im gange, die wesentlich sind, wenn sie auch nicht so deutlich zutage treten. Diese Veränderungen will ich irgendwie bezeichnen.
Er steht jetzt vor der hoffnungslosen Situation, eigentlich keine Worte zu haben, um das zu bezeichnen, und es resultiert daraus das von dem Praktiker sehr oft als überflüssig empfundene Bedürfnis, eine Terminologie auszubilden. So würde ich vermuten, daß die besondere Begrifflichkeit von Klaus Eyferth, die hie und da Verwirrung gestiftet hat, und an der wir gestern |a 11|den ganzen Tag herumdiskutiert haben, eben daher kommt, daß er versucht, mit einem ganz bestimmten Begriffsapparat – in seinem Fall etwas technologisch orientiert, rationalisiert – bestimmte Veränderungen anzudeuten. Ich glaube, diese Schwierigkeiten müssen wir uns vor Augen halten, um nicht immer wieder in diese Schwierigkeiten der Verständigung zu kommen und um das hier gemeinte Phänomen ganz klar zu sehen. Deshalb haben wir nun versucht, einige Grundbegriffe zu klären.
[V12:10] Da ist zunächst der Komplex, zu dem gehört: zielgerichtetes Lernen, emotionales Lernen, Methode und Bewußtmachung. Vielleicht verdeutlicht man es sich, wenn man sich eine Skala einmal vorstellt. Diese Skala hat zwei Extreme. Das eine Extrem ist eine unreflektierte Naivität im Handeln, etwa durch die Mutter repräsentiert. Die Mutter erzieht aus einer Selbstverständlichkeit heraus, die sie nicht in jedem Augenblick reflektieren muß, die nicht Methoden in der Weise anwendet, wie ein Case-worker oder ein Therapeut sie anwendet. Das ist der Bereich, in dem das vorherrscht, was Klaus Eyferth die emotionale Erziehung genannt hat.
[V12:11] Der Gegenpol ist ein ganz anderes Verhalten, das versucht, alle Naivität auszuschalten und jeden Akt der Behandlung von Menschen durch das Bewußtsein zu steuern. Der ideale Vertreter dieses zweiten Extrems wäre der Therapeut.
[V12:12] Nun liegt dazwischen aber doch der breite Raum der Praxis der sozialen Arbeit. Die Frage ist, wie ist dieser Zwischenraum da zu bestimmen? Wenn man das Bild der Skala beibehält, dann ist es deutlich, daß von der Mutter zum Therapeuten hin graduell die Bewußtheit immer mehr ansteigt. Das bemerken Sie wahrscheinlich auch bei sich selbst in dem erzieherischen Verhalten, daß Sie selbst Akte vollziehen, in denen eben diese Naive, Emotionale vorherrscht, wenn sie etwa rein durch Atmosphäre versuchen zu erziehen. Und dazwischen gibt es immer Momente, in denen Sie sich jetzt davon distanzieren, in denen Sie z. B. einen einzelnen aus der Gruppe herausnehmen und mit ihm ein Gespräch führen oder auf ihn eine besondere Wirkung haben wollen und ihn deshalb in eine andere Gruppe versetzen. Da setzen Sie schon in gewisser Weise Rationalität und Bewußtsein ein. Diese Bewußtheit steigert sich graduell durch den ganzen Bereich der Sozialarbeit und erreicht, so könnte man sich vorstellen, in dem Therapeuten das höchste Maß.
[V12:13] Und nun die These von Klaus Eyferth, daß das nicht nur so ist und so bleibt, sondern daß der Anteil dessen steigt, was wir Bewußtheit oder mit einem geläufigen Wort Methode nennen würden – denn bewußte Erziehung ist eben zugleich auch methodisierte Erziehung und Methode ist ohne Rationalität nicht denkbar, daß also unser Verhalten immer mehr zum Therapeuten hinüberdrängt. Was an seiner Formulierung überspitzt oder sogar falsch formuliert war, das war seine These, daß wir damit zugleich den Raum der Erziehung verlassen, denn er hat ja behauptet, die Erziehung habe innerhalb der Sozialarbeit abgewirtschaftet. Was man sagen kann, ist, daß das naive Erziehen immer weniger bezeichnend wird für unsere Arbeitø oder in einiger Übertreibung, daß das naive Erziehen das früheste ist, und die Entwicklung ist |a 12|gekennzeichnet durch ein immer größeres Einschränken des naiven Erziehers und ein immer stärkeres Bewußtmachen dieses Aktes.
[V12:14] Unsere heutige Art zu erziehen ist darin gekennzeichnet, daß dauernd durcheinandergeht ganz naives Verhalten zu dem Menschen, dem ich gegenüber stehe – im Begriff gefaßt durch das, was wir pädagogischen Bezug nennen –ø dieses naive Verhalten ist dauernd da, aber durchsetzt von dem anderen, rationalen Verhalten. Und das Eindringen des Rationalen, der Methode, schlägt die Erziehung nicht aus dem Feld oder zerstört sie auch nicht, – wir müssen eben einfach zur Kenntnis nehmen, daß das Phänomen Erziehung sich verändert hat.
[V12:15] Erziehung faßt in sich zusammen eine Vielzahl von Verhaltungsweisen, die gar nicht auf einen Nenner zu bringen sind, wie bewußte Methode oder zielgerichtetes Lernen oder emotionales Lernen. Wir haben darauf verzichtet, zu sagen, was Erziehung alles ist. Aber eins ist in ihr nicht erst, seit es die Psychotherapie gibt, sondern schon länger enthalten, daß man nämlich in bestimmten Fällen das selbstverständliche Gebaren der alltäglichen Erziehung verläßt und versucht, Methoden zu finden, die in einer besonderen Schwierigkeit helfen können. Mit diesem Bemühen hat die Sozialpädagogik nun 100 Jahre zugebracht bis zu dem Punkt, wo die Schwierigkeiten so groß und anderseits die wissenschaftlichen Stützen der Psychologie so fest wurden, daß man es sich leisten konnte, einen Bereich, der ursprünglich zur Erziehung gehörte, herauszulösen und aus diesem eine besondere Methode zu machen, eine besondere Institution, die Psychotherapie. D. h. etwas, was im erzieherischen Verhalten mitenthalten ist, wird isoliert, herausgelöst aus dem Pädagogischen und gewinnt die Gestalt, die wir eben Therapie nennen.
[V12:16] Und nun zu diesen merkwürdigen Begriffen: Wertabstinenz, punktuelles Werten, der Erzieher ohne Eigenschaften. Die Wertfrage stand ja immer im Hintergrund. Da mußten wir einige Klarheit hineinbringen, weil sich nämlich im Gespräch zeigte, daß zwar das Wort Wert immer das gleiche blieb in jedem Diskussionsbeitrag, daß aber die Phänomene, die gemeint waren, ganz verschieden waren. Es gibt einen, nennen wir es einmal, Grundbestand von Werten, der zur Aufrechterhaltung einer Kultur notwendig ist. So gibt es z. B. für unseren kulturellen Zusammenhang bestimmte Minima: Die Fähigkeit und die Bereitschaft, die Position des Anderen anzuerkennen, auf Argumente zu hören. Das ist eine Regel unseres demokratischen Zusammenlebens, so fundamental, daß, wenn wir sie über Bord werfen, wir damit unsere kulturellen Voraussetzungen über Bord werfen. Dann müssen wir eben sagen: wir wollen unsere Kultur nicht mehr.
[V12:17] Es gibt da offensichtlich einen minimalen Wertbestand, der selbstverständlich ist. Diese kulturellen Selbstverständlichkeiten sind Wertschätzungen, und man kann sie mit gutem Recht als Werte bezeichnen. Daneben gibt es aber einen Bereich von Werten oder Wertschätzungen, der nicht so stabil ist, und von dem nicht die Kultur auf Gedeih und Verderb abhängt. So z. B. bestimmte Varianten des Sexuallebens sind nicht notwendig konstituierend für den Bestand einer demokratischen Gesellschaft. Man |a 13|könnte sich vorstellen, daß man da variieren kann, ohne daß unsere Kultur zusammenbricht. Trotzdem ist dieses Verhalten und sind die Werte, die dort der Einzelne zu verwirklichen sucht, für ihn selbst außerordentlich wichtig, weil er ja sein Verhalten in irgendeine Form bringen muß. Die Schwierigkeit, in der wir uns angesichts dieser Frage nach den Werten befinden, besteht darin, daß der Bereich der selbstverständlichen Werte für uns ziemlich zusammengeschrumpft ist, und daß der Bereich der variablen Werte ziemlich groß geworden ist, so daß die Belastung, die auf dem Einzelnen liegt, der sich ja nun in dieser großen Variationsmöglichkeit irgendeine suchen muß, gleichfalls recht groß geworden ist.
[V12:18] Der
Erzieher ohne Eigenschaften
ist nun nicht der, der die Eigenschaften, die die selbstverständlichen Werte der Kultur ihm beimessen, nicht hat, sondern ist nur der, der zwar die Selbstverständlichkeiten der Kultur akzeptiert, der aber nicht wagt, sich irgendeinem der variablen Werte anzuschließen, weil er weiß, daß sie variabel sind. Eigentlich ist die Formulierung
Erzieher ohne Eigenschaften
ein Widerspruch. Erziehen ist ja ein Handeln, und Handeln ist überhaupt nicht möglich, wenn ich nicht
Eigenschaften
, d. h. in diesem Fall Werte habe. Deshalb haben wir gesagt, daß der Erzieher ohne Eigenschaften – und damit werden wir wohl auch Musils
Der Mann ohne Eigenschaften
gerecht, – sozusagen die Möglichkeit ist, die jeder Erzieher in sich hat. Ich bin Erzieher ohne Eigenschaften in dem Augenblick, wo beispielsweise ein Junge mein Zimmer verläßt, und ich mir überlege: Ich habe ihm zwar mit aller Vorsicht zu verstehen gegeben, daß ich in dieser Frage der und der Meinung bin, und daß ich für mich dieses Verhalten gewählt habe, aber ich habe ja eigentlich gar keine Legitimation dazu. Warum verhalte ich mich eigentlich so? Ich hätte mich doch ebenso gut ganz anders verhalten können. Diese ersten Schritte setzen eine Überlegung in Gang, die die Dinge von allen Seiten bedenkt und nun den naiven erzieherischen Schritt, den ich getan habe, versucht, wiederaufzuheben, wieder rückgängig zu machen. Das kann man freilich nicht. Andererseits kann sich aus diesem Reflektieren auch kein unmittelbares Handeln ergeben. Deshalb haben wir gesagt, der Erzieher ohne Eigenschaften ist immer nur die Möglichkeit, die jeder hat – sozusagen in den Pausen zwischen dem Erziehen – der Erzieher im Moment der Reflexion auf sich selbst und auf sein Tun.
[V12:19] Der Mann ohne Eigenschaften in dem Roman von Musil tut den ganzen Roman hindurch nichts, als auf sich selbst und die Bedingungen seiner eigenen Meinungen und die Bedingungen seiner Wertskala, die er dann abbaut, die er eben eigentlich schon gar nicht mehr hat, und auf die Bedingungen der Wertskalen anderer zu reflektieren. Da ist ausgeweitet und zu einem Roman gemacht, was der Erzieher heute notwendig tun muß. Zeiten, in denen die selbstverständlichen Werte einer Kultur einen so breiten Raum einnehmen, daß die variablen Werte nur noch die Leute ganz persönlich angehen, und es ist völlig unerheblich, wie sie sich da verhalten, in denen braucht der Erzieher so nicht zu reflektieren. Wenn der Junge durch die Familienerziehung und dann in sein Handwerk hineingeht, das ihm von der Gesellschaft als ein heilig Amt vorgeschrieben istø und so sich der Entwicklungsgang in die Gesellschaft |a 14|hinein im grunde genommen von naiver zu naiver Position weiterzieht, dann ist es nicht nötig, daß an irgendeiner Stelle jemand sitzt, der reflektiert und sagt, welchen Wert hat denn das Handwerk? Aber in dem Augenblick, wo das Handwerk kein heilig Amt mehr ist, sondern wo man Beliebiges machen kann, da muß der Erzieher in dieser Weise reflektieren.
[V12:20] H. Eyferth:
[V12:21] Es geht uns jetzt so, daß der eine oder andere sich vorgenommen hatte etwas zu sagen, sich nun aber seine Formulierungen noch einmal überlegen muß. Aber wir sollten doch versuchen, über die Dinge weiter zu sprechen. Wir sind, meine ich, noch keineswegs mit diesen bewußt aufs Terminologische, nicht auf die Konsequenzen, auf alles, was dann folgt, eingestellten Bemerkungen am Ende. Wir müssen weiter fragen.
[V12:22] Aber ich habe einige Bitten für unser Gespräch. Zunächst, daß wir uns nicht von vornherein entscheiden, wie lange das Gespräch heute läuft. Vielleicht kommen wir an irgendeinen Punkt zu dem Eindruck, wir müßten abbrechen. Ich würde ferner meinen, wir sollten bis dahin dieses Gespräch wirklich an den Dingen festhalten, um die es in diesen Klärungen gegangen ist. Denn das ist uns wohl allen deutlich, daß hier etwas ein Stück über das Vorjahr hinaus gefördert ist, womit wir uns ein paar Jahre ganz gehörig herumgeschlagen haben, aber worin wir eigentlich wünschen, wir möchten noch ein Stück weiterkommen. Wir sollten zwar immer fragen, wie sieht das nun in der Praxis aus, in der wir stehen? Aber wir sollten doch sehr darauf achten, daß die Grundfragestellung in unserem Gespräch erhalten bleibt.
[V12:23] Frau v. Hippel:
[V12:24] Nur eine Frage an Klaus Mollenhauer, ob ich ihn richtig verstanden habe, wie er vom pädagogischen Bezug sprach, der jetzt wieder in die Diskussion kommt, – daß der pädagogische Bezug in den Bereich des naiven Verhalten gehöre. Er gehört nicht in den Bereich des mütterlichen Verhaltens, auch nicht des naiven mütterlichen Verhalten, sondern er ist eine Voraussetzung jeden pädagogischen Verhaltens und zwar jedes bewußten pädagogischen Verhaltens. Die sittliche Voraussetzung, daß ich mich überhaupt pädagogisch verhalten darf, dem anderen gegenüber. Nach meiner Ansicht das bewußteste Verhalten, das ich haben kann innerhalb des Pädagogischen.
[V12:25] Erwin Schuppe:
[V12:26] Wenn man gehört hat, wie Klaus Mollenhauer den Vortrag interpretiert hat, dann ist es eigentlich sehr plausibel, und ich war zwischendurch so weit, daß ich sagte, da ist eigentlich nichts mehr zu bestreiten, damit bin ich zufrieden. Aber letzten Endes drängt sich mir doch eine Frage auf nach den Konsequenzen, die man aus diesen Einsichten zu ziehen hat. Die Frage nämlich, ob man sich mit diesem Definieren der Sozialarbeit, überhaupt jeder Tätigkeit als Erzieher, – man kann das ja auch auf die Schule oder andere Bereiche ausweiten – zufrieden geben kann, ob dieses Ver|a 15|mischen der Ansätze zwischen den Polen charakteristisch für diese Arbeit genannt werden kann. Ob man diese beiden Pole, die du gekennzeichnet hast, so vereinbaren kann? Ob man nicht durch das Therapeutische etwa ein ganz fremdes Element in den Bezug zu einem anderen Menschen hineinbringt, ob das nicht getrennt bleiben muß?
[V12:27] Klaus Mollenhauer:
[V12:28] Es handelt sich nicht um eine Vermischung von Therapeutischem und Pädagogischem. Das sind zwei getrennte Formen des Verhaltens. Nur so war unsere Meinung in der Gruppe, daß in allem pädagogischen Verhalten schon ein Moment enthalten ist, nämlich das Moment der Bewußtmachung, der Aufklärung über die Welt, der Aufklärung über die Motive, die mich beeinflussen, Aufklärung über Ideologien, denen ich verfallen kann. Ich will ja auch meinen Zögling aufklären, ihn unabhängig machen von Ideologien. Insofern ist ein Moment der Bewußtmachung in der Erziehung enthalten. Und insofern haben Therapie und Erziehung ein Gemeinsames. Das Gemeinsame ist also dieses geistesgeschichtliche Phänomen der Rationalität.
[V12:29] .....
[V12:30] Mir kam es so vor, als ob die Sache sehr entschärft worden ist gegenüber den recht radikalen Forderungen von vorgestern. Wir haben also jetzt einen soziologischen Zustandsbericht gegeben und damit selbstverständlich die Zustimmung der Meisten hier bekommen, die sich einfach bestätigt gesehen haben. Mich würde nur interessieren, halten Sie die Forderung noch aufrecht, daß der Pädagoge nicht nur immer mehr zum Therapeuten tendiert von sich aus, sondern daß er das auch muß? Und daß die Pädagogik in der unreflektierten Form keine Zukunft mehr hat?
[V12:31] Klaus Eyferth:
[V12:32] Ich bin dankbar für die Frage.
[V12:33] Mir scheint, daß noch die pädagogische Bewegung nach dem ersten Weltkrieg daran glauben konnte, daß sie aus der Pädagogik selbst ihre Möglichkeiten zu einer umwälzenden Reform gewinnen könnte. Sie vertraute auf die Eigengesetzlichkeit der Pädagogik und darauf, daß die Werte einen so starken Zusammenhalt bieten könnten, daß man diesen Werten nach einen neuen Menschen entwerfen könnte. Wir sind da heute etwas skeptischer geworden, und ich glaube, daß das mit damit zusammenhängt, daß – wie Klaus Mollenhauer es im letzten Jahr nannte – die Welt immer mehrsinniger wird. Und wenn wir nach der Zukunft gefragt werden, würde ich sagen, es ist doch höchst wahrscheinlich, daß sich unsere Kultur in ihrem in sich geschlossenen Bestand immer mehr auflösen wird, weil wir immer stärker mit anderen Kulturen konfrontiert werden. Wie schnell wir relativieren, wie schnell wir uns z. B. aus unserer gesicherten Haltung haben stoßen lassen, daß unsere Werte die allein gültigen seien, ist doch sehr erstaunlich. Zwanzig Jahre haben dazu schon genügt. Jetzt überlegen Sie sich, wie schnell man mit ganz fremden Kulturen, und nicht bloß mit der englischen, französischen und amerikanischen konfrontiert wird, sondern auch mit der afrikanischen Kultur, den asiatischen Völkern!
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[V12:34] Weil das so bleiben wird, müssen wir Wege finden, unser Verhalten variabel zu machen. Variabel ist aber niemals das Sebstverständliche, das, was wir zum nicht diskutierbaren Bestand unserer Kultur dazurechnen können. Variabel ist auch nicht das, was fest in ein System eingeprägt ist, etwa in das Wertsystem des Patriachalischen. Variabel ist nur, was wir rational beherrschen, nur da können wir uns mit Argumenten und Gegenargumenten immer wieder angleichen. Wir können aber nicht Gefühl gegen Gefühl setzen, das gibt kein Angleichen, sondern das gibt einen Zusammenprall. Wir werden also immer weiter auch in der Erziehung dahin kommen, daß wir rationalisieren. Und mit diesem Rationalisieren der Methode verlassen wir immer weiter das naive Erziehen und kommen immer mehr zu einem quasi-therapeutischen Verhalten.
[V12:35] Ich glaube, daß das z. B. auch in der Schule passieren wird; auch sie wird wahrscheinlich immer mehr davon abrücken, durch Wertübertragung, durch Vorbildverhalten und ähnliches zu wirken, sondern von vornherein viel stärker auf eine gewisse Rationalität eingehen. Ich glaube, daß wir in der Sozialarbeit danach streben werden, immer stärker Methoden auszubilden, immer stärker auf spezifische Verhaltensweisen spezifische Mittel aufzusetzen und mehr zu spezialisieren. Der Spezialisierungsprozeß ist voll im Gange. Es gibt eine ganze Reihe neue Spezialzweige in unserer Arbeit – case-work ist noch nicht lange da, Gruppentherapie und ähnliches. Sie wissen ja, wie stark sich die Arbeit zu spezialisieren beginnt. Damit entwickeln sich immer mehr Methoden, und Methoden sind rational.
[V12:36] Ich glaube auch nicht, naives Erziehen mit emotionalem von vornherein gleichsetzen zu können. Es wurde gesagt, auch im case-work wäre eine ganz starke emotionale Beteiligung, – es ist aber eine Kontrolle der Emotionen mit drin. Und diese Kontrolle macht außerordentlich viel aus. Sobald wir die kontrollierten Emotionen als Vehikel dafür benutzen, um Neues ansetzen zu lassen, ist das etwas ganz anderes, als ob wir einen simplen
pädagogischen Bezug
haben. Dieser pädagogische Bezug ist zwar etwas Bewußtes, aber er wird nicht als Mittel eingesetzt. Er ist die Voraussetzung, er ist bewußt, aber er ist nicht ein Mittel. Und so hatte ich das auch gemeint, als ich sagte, als Methode ist die Erziehung in der Sozialarbeit nicht einsetzbar.
[V12:37] Walter Herrmann:
[V12:38] Ich war gebeten worden, für die Älteren von uns ein Wort von gestern zu wiederholen, das die innere Situation, die Stellung zueinander etwas beleuchten könnte. Wir sind ja ein Verein, der seine Wurzeln in der Jugendbewegung hat. Als wir so jung waren, wie unsere jüngsten Teilnehmer sind, hätten wir, wenn wir geredet hätten, für die Älteren zweifellos so viele Mißverständnisse hervorgerufen, wie es gelegentlich uns jetzt mit den Jüngeren geht. Das ist ganz selbstverständlich. Wenn wir hätten als 20–30jährige sagen sollen, worauf wir hinauswollen oder welches für uns so selbstverständliche Worte sind, wie für die Jüngeren unter uns etwa der Mann ohne Eigenschaften, dann hätten wir Worte gewählt, die älteren, wohlmeinenden |a 17|Menschen völlig unverständlich gewesen wären. Ich glaube, im Verlauf der Generationen schlagen ganz bestimmte Wortbildungen ein, so daß sie wie eine Fahne sind.
[V12:39] Wenn heute ein Wort wie der Mann ohne Eigenschaften genannt wird, dann versteht sich eine bestimmte Altersschicht. Es gibt immer Unsagbares, das jede einzelne Generation als ein in die Zukunft Weisendes oder von der Zukunft her Lockendes oder Bestimmendes sieht – in dem sie das irgendwie enthalten sieht, was ihr aufgegeben ist. So etwas haben wir auch gehabt, wenn wir aber diese Begriffe jetzt und heute nennen würden, dann würde es so blumig werden, daß uns allen angst und bange würde! Und trotzdem war in diesen
blumigen
Begriffen drin, daß eine von uns eine sehr beachtliche und sehr jung gebliebene Fürsorgerin á la Bertha Ritter ist und daß einer Gefängnisdirektor geworden ist und zwar ein anderer Gefängnisdirektor, als wenn er nicht dieses Gemeinsame der Jugendbewegung gehabt hätte.
[V12:40] Ich glaube, daß wir sehr hörsam sein müssen auf das, was heute an neuen Tönen gar nicht ganz aussprechbar mitklingt. Und esIhnen vielleicht so gegangen wie mir im vorigen Jahr schon, daß ich gegen Begriffe wie Rollenspiel und diesmal gegen den Mann ohne Eigenschaften innerlich angegangen bin. Aber ich hatte das Gefühl, es stimmt doch irgendetwas daran. Ich glaube, wir halten uns für all diese Gespräche in dieser merkwürdigen Schwebesituation, in der Spannungssituation, – da ist etwas, was wir nicht verstehen, aber wofür wir eine Antenne haben sollten.
[V12:41] Dazu gehört nun auch noch ein anderes. Es ist doch gar keine Frage, daß wir in unserer erzieherischen Arbeit, wie ich jetzt von der Pädagogik her sage, durch die Hilfswissenschaft der Psychologie und Soziologie eine größere Breite haben. Es scheint mir müßig, zu fragen, wird dadurch der pädagogische Bezug in irgendeiner Weise gefährdet oder wird er irgendetwas anderes. Backhausen, der alte Fürsorgeerziehungsmann, hat vor vielen Jahren auf dem Fürsorgeerziehungstag in Bamberg einmal ein Wort gesagt, das in der damaligen Situation eingeschlagen hat, das Wort: Unsere Fürsorgezöglinge kann man nicht lieben. Er meinte damit einen Abstand, der uns heute fast nicht mehr verständlich ist. Ich würde sagen, das, was das einigende Band ist, das, was für den Pädagogen immer wieder das Beglückende ist, ist die Erfahrung, daß man trotz all des Hineinnehmens des Rationalen eine ganz ursprüngliche Beziehung, die mit dem Wort Liebe gemeint ist, trotzdem haben muß. Es ist keinem von uns verwehrt, die Kraft des Herzens um das alles herumzuschlagen, und dann können Methoden kommen, wie sie wollen, ein letztes Ursprüngliches, nennen wir es pädagogischen Bezug oder wie wir wollen, bleibt immer, und das ist das, was pädagogische Menschen aller Zeiten immer wieder verbinden kann!
[V12:42] Olga Voß:
[V12:43] Dazu muß ich jetzt etwas sagen. Ganz ernsthaft für die Leute aus der Praxis. Wir reden hier immer wieder von den Müttern mit dem naiven Bezug und von dem, was wir als selbstverständlich voraussetzen. In der Praxis wissen wir doch, es ist nicht da! Und die Mütter müssen es über den Weg des Verstandes lernen. Das ist die Not, |a 18|vor der wir stehen. Sie müssen lieben lernen. Und da möchte ich wirklich wissen, wie die Wege dazu sind, Menschen, die eigentlich erwachsen sein sollten und die diese emotionalen Dinge wirklich mitgekriegt haben sollten, nun noch lieben zu lehren. Davor stehen wir, und das ist unsere
ganz verheerende
Situation.
[V12:44] Von hier ab verlief die Diskussion zweigleisig. Zu der Frage, ob di emütter unserer allgemein oder häufig der Schilderung von Olga Voß entsprächen, ob man diesen Erscheinungen durch Erziehung entgegentreten könne oder ob unsere Gesellschaft solche Erscheinungen allzusehr fördere, kam eine Reihe von Äußerungen, ohne daß es gelungen wäre, diese Fragen zu beantworte. Olga Voß ergänzte ihre Bemerkung noch durch den Hinweis, es stehe mit den Vätern nicht besser; sie könnten zwar mit ihren Arbeitskollegen sprechen, mit ihren Frauen aber kaum. – Leider war es nicht möglich, diese Linie hier gleichfalls zu verfolgen, ohne den Leser zu verwirren.
[V12:45] H. Eyferth:
[V12:46] Ich meine, wir sollten an dieser Stelle nicht mehr zu weit in die Begrifflichkeit hineingehen.
[V12:47] Was wir zu leisten hätten, wäre m. E. zweierlei. Das ist das Eine, daß wir Fragen beantworten wie die, die Olga Voß jetzt gestellt hat, und die von den begrifflich-theoretischen Fragestellungen genau dahin zielt: Wohin führt das? Was bedeutet das für uns? Wie hebt das unsere Arbeit auf, trägt sie oder zerschlägt sie? Und das verbindet sich mit dem Zweiten. Ich glaube, wir sollten den Ansatz, den Curt Bondy uns ganz zu Anfang gegeben hat, doch noch einmal sehr ernst nehmen. Die Frage, die er an uns gestellt hat, möchte ich ganz kurz noch einmal wiederholen, weil ich glaube, wir sollten nach der Pause dann die Fragen, wie Olga Voß und Curt Bondy sie uns gestellt haben, in den Mittelpunkt unseres Überlegens rücken. Bondy hat uns gefragt, ob wir resignieren dürfen in einer Welt pädagogischer Unsicherheiten, und wenn auch seine Beispiele aus dem sozialpädagogischen Raum, von der Gefängnisarbeit, von den Jugendämtern, von der Psychotherapie, von der Nervosität usw. genommen sind, so hat er doch eigentlich die gesamte pädagogische Unsicherheit gemeint, die Unsicherheit mindestens aller Eltern. Was Olga Voß eben sagte, daß diese Mütter ja nicht mehr lieben und also auch nicht erziehen können, – das ist ja die Frage, vor der wir heute stehen. Was müßten wir tun? Curt Bondy hat einen Appell an uns richten wollen, diese Situation ernst zu nehmen und von hier aus das, was er kurz andeutend social action nannte, von uns gefordert. Wenn in unserer heutigen Welt die Resignation, die Unsicherheit, die Unentschlossenheit gegenüber der Erziehung da ist, wie antworten wir darauf? Sind nur wir in dieser Position der Unsicherheit, der Unentschlossenheit, sind wir zur Unsicherheit und Unentschlossenheit vielleicht entschlossen? Oder wie stehen wir dazu? Und wie können wir da helfen? Konkret gefragt durch Olga Voß!
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[V12:48] Keine einfache Aufgabe! Wir haben nicht die Absicht, das liegen zu lassen, was bisher besprochen ist, sondern wir müssen uns bemühen, es zu transponieren. Wenn Olga Voß fragt, wie es denn möglich sei, Mütter, die weder mehr verstehen, naiv in selbtverständlichem Bezug zu ihren Kindern zu leben, noch gelernt haben, zu ihren Kindern bewußt in Bezug zu treten, – wie wir mit einer solchen Situation fertig werden, ob wir die Möglichkeiten haben, für ihre Kinder, für unsere Kinder dieser Generation von nicht naiv und nicht bewußt erziehungsfähigen, liebesfähigen Menschen zu arbeiten, dann ist an einer brennenden Frage die Schwierigkeit dieser Transposition aufgezeigt.
[V12:49] Mey:
[V12:50] Wir befinden uns heute in einer Situation, in der der Zug, die Sozialarbeit bewußter zu gestalten, zu rationalisieren, immer stärker wird, in der gleichzeitig die selbstverständlichen Werte schrumpfen, während die variablen Werte größer werden, und in der der Erzieher ohne Eigenschaften, der so viele Mißverständnisse schuf, derjenige ist, der sich der Situation tatsächlich real anpaßt und auch wirklich mit den variablen Werten kongruent bleibt. Ist diese Tendenz nun eine Tendenz, die nun begrüßenswert ist, oder hat sie auch unangenehme Begleiterscheinungen? Ich denke dabei an folgendes: Gerade der naive pädagogische Bezug, der doch in der Urzelle aller Erziehung, in der Familie steckt, führt leicht dazu, daß das Bewußtmachen Unsicherheit mit sich bringt. Auf der anderen Seite ist es ganz gewiß dem Sozialarbeiter zu wünschen, daß er sein Handeln rationalisiert, bewußter macht. Aber da könnte eine Gefahr darin liegen, diese Dinge zu überspitzen. Es gibt in der Neurosenlehre einen Typ, der als Verkopfungsneurose bezeichnet wird.
[V12:51] Utermann:
[V12:52] Was uns eigentlich geblieben ist, ist das, was Prof. Bondy uns hinstellte als die einfache Sittlichkeit, die sowohl auf Seiten der Hilfsbedürftigen als auch auf Seiten der Erzieher eine Grundlage ausmacht, die noch zu den selbstverständlichen gehört. Wie weit nützt es dieser Grundlage, bzw. wie weit kann sie uns Haltung werden, wenn wir sie uns bewußt machen? Die Bewußtmachung des Selbstverständlichen. Es war bei uns nämlich gestern so, daß wir uns über das Phänomen einig waren, daß aber in dem Moment die Dinge sehr schwierig wurden, als wir versuchten, dieser Einigkeit begrifflichen Inhalt zu geben. Wir gerieten da leicht wieder in die
große
Sittlichkeit gegenüber der einfachen, und es wurden menschliche Handlungsbezüge angeschnitten, die in dem anklangen, was heute morgen von Prof. Herrmann gesagt worden ist, Dinge, die unwägbar waren und die man also nicht ganz leicht fassen konnte. Es bleibt die Frage, kommen wir nicht mit einer zu starken Bewußtmachung auch den Dingen der einfachen Sittlichkeit, den selbstverständlichen Dingen so nahe, daß wir sie schließlich auflösen?
[V12:53] Ich weiß nicht, ob wir dem Referat von Klaus Eyferth gerecht werden, wenn wir Wasser in den Wein gießen, statt Öl in das Feuer. Es glaube, daß es richtiger wäre, |a 20|es so ernst zu nehmen, wie es gemeint war, als einen Angriff auf bisherige oder auch jetzige Sozialarbeit von einem bestimmten wissenschaftlichen Standpunkt der Psychologie her.
[V12:54] Nun meine ich allerdings nebenbei als Wissenschaftler und das ist vielleicht etwas despektierlich: ich halte es nicht für notwendig, so kompliziert zu sprechen. Ich glaube, daß sich viele Dinge einfacher sagen lassen. Ich glaube sogar, daß man noch einen Schritt weitergehen könnte. Ich hatte zu Beginn der Tagung ein kleines Gespräch mit Herrn Thorun, und er erzählte mir; das kann man alle Tage hören, was Soziologen zur Sozialarbeit heute zu sagen haben. Sie behandeln die Gesellschaft heute, sie entwerfen ein Bild von dem, was sie Trend nennen. Die Folge ist immer bei unsereinem die Desillusionierung.
[V12:55] Aber war nicht das, was Klaus Eyferth hier gesagt hat, dasselbe von der Psychologie her? Und da frage ich mich, welche Folgerungen wir daraus ziehen. Selbst wenn ich sage, dahin geht die Entwicklung, kann das unser letztes Wort sein? Ich hatte geglaubt, mich zu verhören, als in der Aussprache gestern das Wort fiel:
Wir sind Geschöpfe der Gesellschaft
. Sind wir das? Ich bin Soziologe, ich habe Sozialforschung getrieben, ich behaupte in einigermaßen intimer Beziehung zu dieser Gesellschaft zu stehen, habe aber nicht diese Hochachtung vor dieser Gesellschaft, denn entscheidende Einwirkungen gehen doch heute von unserer auf Expansion gestellten Wirtschaft aus.
[V12:56] Die Frage ist doch: Anpassung und Widerstand! Hier möchte ich anknüpfen an das, was Olga Voß gesagt hat, so ist doch die Situation! Liebe nicht mehr vorhanden. Aber entscheidend scheint mir doch zu sein: hervorrufen müssen wir sie aus einem Widerstand gegen den
Trend der Gesellschaft
! Ich glaube, daß es beim Erziehen um ganz einfache Grundtatbestände geht, die immer bestehen bleiben. Wenn wir sie vergessen, daß man Zeit haben muß, daß die Mutter Liebe haben muß, dann geht es aber nicht mehr. Diese goldenen Worte haben natürlich auch ihre Gefahren.
[V12:57] Ich glaube, daß wir allen Grund haben, Klaus Eyferth ernst zu nehmen. Aber ist es nicht wirklich so, daß bei aller Methodik es letzten Endes doch auf die Beziehung von Mensch zu Mensch – das ist falsch, von Mensch zu Mensch, das genügt natürlich nicht – auf die echte Beziehung ankommt, die dem Pädagogischen an sich innewohnt. Ich wünsche nicht so verstanden zu werden, daß ich es uns auf diese Weise leichter machen will. Man braucht nur die Formulierung zu gebrauchen: gegenüber der Gesellschaft sowohl Anpassung als auch Widerstand!
[V12:58] ....
[V12:59] Ich habe eine politische Frage an Herrn Eyferth, die ich gern psychlogisch beantwortet wissen möchte. Ich möchte ihn auch wieder packen bei der kompromißloseren Fassung seines Referates. Wir haben eine Menge Begriffe gehört – Unsicherheit, Bewußtmachung, variable Werte, punktuelles Werten – die doch darauf hindeuten, daß die Starrheit irgendeines Menschen verschwinden soll, und ich möchte |a 21|jetzt diese Unstarrheit in ein politisches Moment hineinstellen. Ein Zögling, der in dieser punktuellen Wertung erzogen worden ist, der die Starrheit verloren hat, wie reagiert dieser Zögling auf die Starrheit des Ostens, diese massive Starrheit? Wenn er jetzt anfängt, punktuell zu werten, kann er da nicht zu folgendem Ergebnis kommen: Die Wirtschaft, die sie drüben bis dato betreiben, ist ganz plausibel. Barbarisch ist vielleicht, daß sie die Leute einsperren; das nehme ich nicht an. – Er kommt vielleicht dahin, daß er 40% der Sache bejahen kann, 60% verneint er, die sind aber für massive Propaganda in sehr kurzer Zeit auszuräumen! – Ich möchte gar nicht die Theorie von Klaus Eyferth in ihrer objektiven Richtigkeit bezweifeln, ich möchte nur bezweifeln, ob sie politisch tragbar ist. Ob nicht eine Starrheit wie die der Jugendbewegung viel widerstandsfähiger ist gegenüber der Starrheit eines kommunistischen Systems als die objektive Labilität seiner Theorie?
[V12:60] Corves:
[V12:61] Ist es möglich, daß über dem Umweg über Bewußtmachung, also durch rationale Mittel, Methoden usw. etwas Emotionales in Gang gesetzt wird?
[V12:62] Ziethen:
[V12:63] Was Herr Schuppe versucht hat, klar zu machen, daß er Angst hat, daß die eigentliche erzieherische Haltung oder das erzieherische Tun verflacht wird, ist eine Gefahr. Ich meine auch, daß die Theorie der Sozialpädagogik vielleicht in Gefahr steht, mit der Modepropaganda zu konkurrieren. Wenn die Mode einen Artikel nicht mehr absetzen kann, dann gibt sie eine neue Propaganda heraus, und dann wird das Modell verkauft. Uns sind in der letzten Zelt unheimlich viele Modelle angeboten, manchen passen sie, und manchen passen sie nicht; aber wenn wir als ganz schlichtes Fußvolk mal nach einer Möglichkeit ausschauen, z. B. nach einem Therapeuten, dann finden wir keinen! Die Mode bringt so manche Formen, die der Großvater schon trug, und manche, die noch früher getragen wurden, aber ich möchte weder in der Mode noch sonst mein eigener Großvater sein, ich möchte auch in der Erziehung ich selbst bleiben. Ich meine, daß wir die Möglichkeit haben, noch erzieherisch zu wirken, und das sehr stark trennen sollen von all den Möglichkeiten, von denen wir wirklich nichts verstehen. Wir sollten vielmehr Bescheidenheit aufbringen; ich glaube, dann kommen wir an mancher Stelle weiter.
[V12:64] Seibert:
[V12:65] Herr Mey stellte am Anfang die Frage, ob die Bewußtmachung die Unsicherheit vergrößern würde. Herr Corves stellte die Frage, ist die Bewußtmachung ein mögliches Mittel, emotionale Dinge in Bewegung zu bringen? Und zwar als eine Zusatzfrage oder auch eine halbe Antwort auf die Frage von Olga Voß, was wir tun können, um bei den Eltern die Liebe zu den Kindern wieder in Gang zu bringen, oder verschüttete Liebe wieder auszugraben. Ich glaube, daß diese Fragen alle mit ja beantwortet werden können. Zweifellos wird die Bewußtmachung zu einer Erhöhung der Unsicherheit und zwar einer ganz bestimmten Unsicherheit führen. |a 22|Ich glaube, daß wir zu dieser Form der Unsicherheit ja sagen müssen, daß wir uns darüber klar sein müssen, daß die Auflösung einer starren Haltung, gleichgültig aus welcher Ursache sie entstandan ist, nur über eine Unsicherheit gehen kann, denn nur der Unsichere ist in der Lage, sich umzustellen. Also die Unsicherheit ist eine der Voraussetzungen zu einer beweglichen Pädagogik, und damit knüpfen wir wieder genau an Klaus Eyferth an, daß wir versuchen müssen, diese
Labilität
in der Erziehung dadurch wachzuhalten, daß wir unsicher bleiben. (Freilich muß ich dies einschränken: Es gibt eine Unsicherheit, die Erziehung unmöglich macht).
[V12:66] Eltern sind oft hilflos. Sie haben eine bestimmte Einstellung zur Pädagogik gehabt, sie merken, daß sie mit dieser Einstellung nicht weiterkommen, sind aber nicht von sich aus in der Lage, sich umzustellen. Jetzt ist es doch sicherlich unsere Aufgabe, daß wir zunächst versuchen, die falsche Sicherheit, in der sich die Eltern bisher befunden haben, abzubauen, um sie dadurch für neue Möglichkeiten zu öffnen.
[V12:67] ......
[V12:68] Ich wollte noch einmal auf den vorletzten Redner eingehen. Ich halte Ihren Satz: ich möchte als Erzieher ganz ich selbst sein, für äußerst gefährlich. Ich möchte gerade einen Gegensatz aufstellen: Ich möchte als Erzieher ganz und gar der Zögling sein! Ich muß sehen, daß ich den Zögling direkt verstehe, jedesmal eine andere Methode anwende, muß sehen, wie ist der Zögling, wie ist er zu fassen? Er ist nicht zu fassen, wenn ich nur eine Möglichkeit dort vertrete. Ich muß sehen, daß ich vom Kinde aus vorgehe, und das ist jedesmal verschieden. Ich meine nicht, daß das eine Modekrankheit ist, wenn man jetzt neue Methoden übernimmt. Die moderne Psychologie seit 50 Jahren hat wirklich Wege gefunden, die man nicht ausschlagen sollte.
[V12:69] Walter Herrmann:
[V12:70] Darf ich noch ein Wort sagen, das zeigen soll, wo die Nahtstellen sind. Wie weit kann man die Voraussetzungen für pädagogische Atmosphäre schaffen? Die Atmosphäre, das ist das, wo beides zusammentrifft, das Methodische und das Emotionale. Ausgangspunkt etwa ein Gefängnis. Ich habe es nicht in der Hand, die letzten Inhalte einer Atmosphäre zu schaffen. Das ist selbstverständlich. Aber ob ich in einem Haus voll Jugendlicher einen belfernden, gänzlich unpersönlichen Hauptwachtmeister hinsetze oder jemandem, der Verständnis hat, ob ich die Möglichkeit gebe, daß diese Jungen dieses Hauses die Erziehungsgruppenleiter sprechen können, wenn sie das Bedürfnis haben, oder ob sie øerst sprechen können, nachdem sie am Dienstag einen Vormeldezettel geschrieben haben, der am Donnerstag zum Hauptwachtmeister, am Sonnabend zum Abteilungsleiter geht, und dann schließlich am Montag oder Dienstag in die Hände dessen kommt, an den er gerichtet ist, das habe ich in der Hand. Ob ich daß so mache, daß dauernd Krachø ist oder ein Haus, in dem etwas Ruhe und Besinnungsmöglichkeit schon einfach von der Akustik her ist, – das sind Dinge, die ich mir ständig überlegen kann.
|a 23|
[V12:71] Alles das sind Möglichkeiten, die ich mir überlegen kann, die methodisch sind, und die ungeheuer wichtig sind für die Bildung der Atmosphäre. Die noch nicht den Inhalt darstellen, aber indem ich meine Beamten so zu beeinflussen suche, schaffe ich schon etwas von dem Inhalt der Atmosphäre.
[V12:72] Hier würde ich einige der Nahtstellen sehen zwischen dem Emotionalen und dem Methodischen. Z. T. habe ich es in der Hand, z. T. muß ich immer wieder die Voraussetzungen schaffen und hoffen, daß hier irgendwo ein Funke überspringt.
[V12:73] Frau Hein:
[V12:74] Zu der Überlegung rationale Methode und Emotionales: Was will denn der Therapeut erreichen, doch daß seinem Zögling wieder zur Verfügung gestellt wird, auf der emotionalen Ebene zu
funktionieren
? Daß dort etwas wieder in Bewegung gerät, – dazu überlegen wir uns Methoden, am Ende doch nur, um wieder etwas von unten herauf, was wir hier mit Liebe bezeichnet haben oder mit einem natürlichen Empfinden, in Gang zu setzen.
[V12:75] Corves:
[V12:76] Es brannte mir bei dem, was Clara Hein eben sagte. Ich kriegte es auf einmal mit der Angst, als ob das Gespräch solche Wendung nähme, als wären alle Methoden, alle rationalen Methoden nur dazu da, das Emotionale wieder zu wecken, und darin läge das Eigentliche. Vielleicht war das gar nicht so gemeint, es klang aber so. Ich glaube, es sitzen zwei Gefahren in diesem Gespräch. Die eine, das ist, was mich überfiel beim Referat von Klaus Eyferth, als könnten wir uns als Menschen dahin entwickeln, daß das Emotionale immer mehr abgebaut und immer mehr durch Rationales ersetzt wird. (Was ich nicht glaube.) Dagegen würde ich mich wehren. Sowohl menschlich als auch im Bereich der Pädagogik. Jetzt dagegen wäre die Gefahr, anzunehmen, man könnte die Entwicklung, daß immer mehr Irrationales abgebaut wird, durch Bewußtes einfach aufhalten. Mir scheint dazwischen die Wahrheit zu sitzen. Bloß, daß wir nicht auf einmal umkippen und sagen, wir könnten zur schönen Emotion zuzück!
[V12:77] Frau von Unruh:
[V12:78] Zu der mangelnden Liebesfähigkeit der Mütter möchte ich noch hinzufügen die mangelnde Reife des Sozialarbeiters, des Lehrers, des materialistischen Wirtschaftlers, des Akademikers, zu der mangelnden Fülle der Persönlichkeit heute – liegt da nicht im Grunde Angst? Wir versuchen mit ganz verschiedenen Mitteln, die Mutter mit Unsicherheit und Fliehen in den materiellen Komfort und in die Ichsucht, – sie will bewundert werden, sie will hübsch sein, Sex gehört auch hierher, – der Akademiker, der macht es mit intellektuellen Mitteln. Und immer steht irgendwo dahinter die Angst. Die Angst: hat es einen Sinn, daß ich lebe? Was wird einmal? Wo steuere ich hin? Die Angst, was wird aus meinem Kind, aus meiner Ehe? Ganz verschiedene Angst, aber niemals der Mut, ja zu sagen zu dieser Angst, und sie immer wieder neu zu überwinden und zu lösen. Denn dann reift man an seiner Angst.
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[V12:79] Klaus Eyferth:
[V12:80] Es ist nicht ganz einfach, auf diese verschiedenen Fragen und Einwürfe einzugehen, und ich will auch nicht den Versuch machen, noch einmal zu einer Systematik zu kommen. Ich glaube, das würde bloß wieder zu neuen Diskussionen reizen. Ich halte es für besser, man versucht jetzt einmal einzelne Punkte zu beantworten – aus dem Versuch einer Systematik heraus, den wir gestern uns vorgestellt haben. Es wird dabei etwas einseitig zugehen, das läßt sich nicht vermeiden.
[V12:81] Ich möchte bei der Frage anfangen, ob nicht vielfach die Liebe fehlt besonders bei den Müttern, aber nachher wurde ja auch gesagt bei den Vätern, es kam zuletzt noch ein Zusatzgedanke hinzu, ist es nicht so, daß wir in unserer Gesellschaft gerade durch das Betonen des Rationalen immer wieder die Emotionen weiter abbauen? Wenn wir als Sozialarbeiter und Erzieher das Rationale betonen, wie soll es dann schließlich noch etwas geben, einen Grund, auf dem wachsen kann, etwas, wo die Liebe eine entscheidende Rolle spielt? Ich glaube, daß wir nicht allzu viel Angst haben müssen, bei den heutigen Müttern fehle die Liebe. Ist das nicht immer ähnlich gewesen? Ist bei denen, die wir als Sozialarbeiter zu Gesicht kriegen, der Prozentsatz besonders hoch? Ich möchte warnen, generelle Aussagen zu machen. Wir kennen das Maß nicht. Aber für Sie würde genügen, wenn Sie 3-4 Familien aufzählen könnten, wo es so ist! Die allgemeinen kulturkritischen Aussagen sind im Grunde inhaltlos geworden, weil wir ja gar nicht wissen, in welche Relation wir sie einbauen sollen, wenn wir z. B. sagten, in den deutschen Familien gibt es keine Liebe mehr. Aber wenn Sie sagen:
In diesem konkreten Fall möchte die Mutter viel lieber, daß sie im Mittelpunkt steht als daß sie einsähe, daß das Kind nicht nur zu ihrer Verherrlichung da ist, daß sie es anderen vorzeigen kann, damit ein heller Schein auf sie fällt usw. Was soll ich da tun?
Dann ist das ein sehr ernstes Problem für Sie. Ich glaube nicht, daß wir in diesem Fall in unserer Lage als Beratende wirklich sehr viel helfen können. Das klingt sehr böse. Aber ich meine es wirklich so. Es gibt wahrscheinlich in der Erziehung nichts Schlimmeres als ichbezogene Mütter! Und es gibt bei den Versuchen, in der Familie etwas zu ändern, nichts, wo es hartnäckiger zugeht als bei diesen etwas hysterischen, etwas infantilen Fällen, wo das Kind nicht als ein Wesen eigenen Rechts angesehen wird, sondern immer bloß als etwas, was überhaupt noch nicht von der Mutter sich getrennt hat. Aber wir sollten nicht versuchen, hier generelle Schlüsse zu ziehen. Es ist auch möglich, daß die Liebe nur verschüttet ist, daß die Mutter eben nicht eine so infantile Person ist, die gar kein Gefühl dafür hat, daß da ein neues, eigenes Leben entsteht. Es kann wirklich so sein, daß das Goggomobil zunächst wichtiger ist, und daß das Kind eben gekommen ist, und daß es belastet.
[V12:82] Wir sollten auch hier versuchen, nicht nach Regeln zu suchen und zu sagen, da machen wir eben das und das. Besonders möchte ich, und das klang zweimal an, doch warnen davor, da gleich zu sagen:
Das ist der Materialismus!
Das Goggomobil ist ein Wert. Es hat jede Zeit ihre Wertmaßstäbe entwickelt, und wir können uns nicht darüber hinwegtäuschen, daß ein Wertmaßstab in unserer Gesellschaft das |a 25|Autohaben oder Nichtautohaben und nachher die PS-Zahl des Autos ist. Aber was heißt das? Das heißt doch genau dasselbe wie für einen Schüler in der Klasse, ob er ein schlechter oder ein guter Schüler ist.
[V12:83] Das Guterschülersein ist für das Gesamtverhalten des Jungen so wichtig wie für den Vater der Erwerb eines größeren Wagens und die höhere Achtung der Nachbarn. Der größere Wagen wird auch der Familie zugutekommen. Es gibt allgemein das Bestreben danach, etwas darzustellen, und wenn wir es nicht zu etwas bringen, dann werden wir auch in seltenen Fällen wirklich gute Erzieher sein können, da wir mit uns selbst nicht zufrieden sind. Zu sagen, hier sei der Materialismus und dort die Liebe, halte ich für eine recht grobe Vereinfachung.
[V12:84] Hier ist wohl etwas Methode am Platze. Wie man diese konkurrierenden Ziele ins Bewußtsein hebt und die Konkurrenz erst einmal bewußt macht, das wissen Sie vermutlich in der praktischen Fürsorgearbeit sehr viel besser als ich. Ich glaube, daß hier genau das stattfinden kann, was Bewußtmachung bedeutet. Ist es nun möglich, daß auf so rationalem Boden etwas wächst, das nachher emotional wirklich begründet ist?
[V12:85] Ich glaube es ganz bestimmt. Es wäre ziemlich unheimlich, wenn wir diese neuen Methoden einsetzen wollten und annähmen, sie hielten sich nur durch ihre Rationalität, dadurch daß sie logisch stimmen. Wir würden wahrscheinlich dann eine Therapie nur anfangen können, wenn wir sie ewig fortsetzen, wenn sich die Dinge nicht einschleifen, nicht zur Gewohnheit werden, sagen wir ganz grob: zu Vorurteilen, zu Möglichkeiten, das Leben in Komplexen zu sehen, die es einem erleichtern, die es nicht nötig machen, sich immer wieder neu zu entscheiden. Ich glaube, das ist notwendig, und es ist wahrscheinlich für den Sozialarbeiter sehr viel leichter als für den Therapeuten, hier weiterzukommen, wenn man z. B. zeigt, wie es auch emotional befriedigend ist, Kinder zu haben und nicht nur einen Wagen zu haben, vergleicht und auch die emotionalen Dinge mit hervorhebt.
[V12:86] Jetzt ein anderer Punkt. Mir scheint, daß gelegentlich in der Diskussion doch Begriffe herausgekommen sind, die zeigen, daß wir uns mit vollem Recht hier um Definitionen raufen. Wenn ich z. B. die Bewußtmachung der Väterlichkeit nehme, – diese Väterlichkeit gibt es nicht, und mit der Instinktlosigkeit junger Mütter ist es im Grunde genau dasselbe. Als ob es einen Mutterinstinkt gäbe! Wir sind uns doch darüber einig, daß es hoffnungslos ist, von
ursprünglichen Antrieben
zu reden. Wir alle haben die Erfahrung gemacht, daß das alles gelernt werden muß, und davon sprechen wir ja auch dauernd. Wir können weder den Versuch machen, die Väterlichkeit bewußt zu machen, noch die Mütterlichkeit. Wir müssen immer wieder den Versuch machen, von Denkschemata freizukommen. Selbstverständlich sitzen wir alle, und da nehme ich mich nicht aus, in einer Kultur, die ein Erbe mit sich bringt, das unserer gegenwärtigen Situation nicht angemessen ist. Das müssen wir uns selbst immer wieder bewußt machen, und das, was wir erlernen, dauernd wieder überprüfen.
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[V12:87] Der Vater als Gesprächspartner! Es kam auch irgendwann in der Diskussion, mir fiel es bloß so als Formel ein. Überlegen Sie einmal, wenn Sie in einem ländlichen Kreis arbeiten, was ein Gespräch in der Ehe dieser Menschen zum Gegenstand haben kann. Ist nicht dieses Gesprächspartner-Sein ein Ideal, das uns selbst angeht, aber nicht generalisiert und zur Formel erhoben werden kann für das Ideal der Ehe? Ist das Miteinandersprechen überhaupt so wichtig für jeden wie für uns? Ist es unentbehrlich? Geht es nicht genauso, daß man seine Liebe, seine Zuneigung dem Andern dadurch ausdrückt, wie man ihm sein Frühstück zubereitet? Oder daß man pünktlich von der Arbeit zurückkommt oder den Sonntag zusammenbleibt?
[V12:88] Wir wollen auch hier nicht unseren eigenen Standpunkt generalisieren und meinenø wir könnten oder müßten da etwas fordern, das nicht ankommen kann. Wenn wir das nämlich fordern, dann sind selbstverständlich 70% der Ehen in Deutschland völlig hoffnungslos, weil nicht miteinander gesprochen wird. Aber das Sprechen spielt ja nicht überall die Rolle, die es bei uns hat.
[V12:89] Mir scheint wirklich in den Rahmen dessen zu gehören, das wir eben behandelt haben: Das Werten nach dem eigenen Standpunkt, das Suchen nach einem festen verbindlichen Leitbild für die gesamte Gesellschaft, das wir in dieser Weise nicht besitzen. –
[V12:90] Nun zwei Spezialpunkte, die mit dem Vorhergehenden wenig zu tun haben. Einmal die Angst. Wir könnten nun Theorie treiben. Vielleicht stehe ich hier, weil ich Angst habe. Das ist durchaus möglich. Vielleicht sitzen Sie alle hier, vielleicht sind Sie ein Fürsorger, weil Sie Angst haben. Aber was sagt so etwas? Wir können einen Ursprung des Verhaltens heraussuchen, das kann die Angst sein, das kann das Streben nach Macht sein oder sonst etwas – wichtig ist nur, daß wir uns mit solchen Theorien verständigen können. Wenn wir alle annehmen, es sei die Angst, gut, dann ist es die Angst. Wenn wir nur einen Grund des Verhaltens annehmen, dann können wir vielleicht irgendeine Theorie darauf aufbauen und uns mit ihr verständigen. Aber wenn wir alles Angst nennen, ist es zwar ein sehr globaler Begriff, aber gleichzeitig ein fast bedeutungsloser Begriff geworden. Was sagt das dann noch, wenn es überall ist? Alle diese psychologischen Begriffe, die ihr Recht haben in speziellen Fällen, sollten nicht zu allgemein angewandt werden!
[V12:91] Lassen Sie uns also nicht ideologisieren, auch unsere eigene Ratio müssen wir immer wieder neu prüfen. Es gibt kein System für immer für uns! Das ist etwas unbequem, aber wir müssen uns darauf einstellen, daß wir immer wieder neu fragen in jeder Situation. Immer abtasten die vielen verschiedenen Möglichkeiten, das gilt sowohl für das Werten wie für das Erklären wie für die Vorschläge wie für die Absichten, Hilfe zu leisten. Auch da gibt es keine Patentlösungen!
[V12:92] Das letzte die Politik! Ich glaube bestimmt, daß es ein Risiko ist, auf stabilisierende Faktoren zu verzichten. Ich glaube auch, der Vorschlag, alle jungen Mädchen zusammenzufassen und zu schulen, wäre ein solcher stabilisierender Faktor. Wir verzichten darauf. Wir verzichten darauf, weil wir etwas ganz Besonderes im Kopf haben, wenn wir erziehen, auch wenn wir uns inhaltlich nicht ganz festlegen wollen.
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[V12:93] Wir haben uns gestern darüber schon einmal unterhalten und haben als ganz vage Formulierung von dem, was wir noch anstreben, die Formel vom mündigen Menschen gebraucht. Der mündige Mensch ist der, der sich aus eigenem Antrieb behaupten kann, der nicht immer jemand braucht, der ihn stützt, der auf der einen Seite etwas hilft und dort wieder davor warnt, der dort ein Loch zuschüttet, damit er nicht hineinfällt usw. Wenn wir versuchen, die Löcher dauernd zuzuschütten vor ihm, dann werden wir dahin kommen, daß er das Laufen lernt, solange er auf der geraden Straße ist, aber er wird nicht mündig, weil unsere Gesellschaft diese gerade Straße nicht sein wird. Wenn wir versuchen, von vornherein die Gefahren zu vermeiden und die Stabilität zu erreichen, indem wir immer wieder äußerlich abstützen oder ganz feste Gehalte geben, indem wir seinen Kreiselkompaß auf ein Ziel einstellen, dann werden wir nie den mündigen Menschen erziehen können, den wir im Grunde anstreben. Ich glaube nicht, daß man dem Risiko in der Erziehung ausweichen kann, wenn man das haben will, was wir etwas global Demokratie nennen.