Das pädagogische Phänomen „Beratung“ [Textfassung a]
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Das pädagogische Phänomen
Beratung

[021:1] Weniger in der erziehungswissenschaftlichen Fachliteratur als vielmehr im Gespräch derjenigen, die in den pädagogischen Randbezirken tätig sind, gewinnt ein Begriff immer größer werdende Bedeutung, der indessen noch kaum als pädagogischer Begriff, in keinem Falle aber als erziehungswissenschaftlicher Terminus eingeführt ist – und dies sehr zum Nachteil der Erfassung und Analyse dessen, was wir die Erziehungswirklichkeit nennen –: der Begriff
Beratung
. Niemanden wird es verwundern, daß dieser Begriff und seine pädagogische Relevanz sich nicht im Bereich der Schule gebildet hat, an einem pädagogischen Ort nämlich, in dem Dominanzen, hierarchische Verhältnisse, Autoritätsstrukturen, Bildungsgefälle, Unterrichtsformen ihrer geschichtlichen Herkunft nach eine kaum zu übersehende Rolle spielen.
Beratung
als eine Form des zwischenmenschlichen Verhaltens im Alltagssinne des Wortes mußte hier ein Fremdkörper sein, zumal da zunächst schwer einzusehen ist, inwiefern es sich dabei überhaupt um einen pädagogischen Vorgang handeln soll.
[021:2] Am augenfälligsten scheint das Phänomen Beratung an den Institutionen gleichen Namens hervorzutreten, in den Beratungsstellen der verschiedensten Art. Dort liegen außerordentlich reiche und vielseitige Erfahrungen vor, und zwar im wesentlichen in zwei Hinsichten: in Hinsicht auf den Personenkreis der Klienten und in Hinsicht auf die Beratungsgegenstände (Erziehung, Familie, Beruf, persönliche Schicksale usw.). Diese beiden Aspekte verdienen deshalb hier vor möglichen anderen hervorgehoben zu werden, weil sie, wie sich noch zeigen wird, gerade für unsere Erörterungen wichtig sind.
[021:3] Eine zweite Erfahrungsquelle bedeutenderer Art ließe sich gewiß in denjenigen Zeitschriften finden, die die
Beratung
in den Kanon redaktioneller Aufgaben aufgenommen haben und eine regelmäßige, wenn auch nur literarische Praxis dieser Art betreiben. Das gleiche ist von den Rundfunkanstalten zu vermuten. Hier ist wahrscheinlich ein reiches Material zu erwarten, das vielleicht weniger analytische und diagnostische Erfahrung, weniger methodische Mitteilung enthält, dafür aber um so mehr über die Bedürfnislage der Ratsuchenden, deren Zahl, Art und Herkunft, über die |a 26|Beratungsinhalte informieren könnte. So bedürften wir eigentlich derjenigen Erfahrung, die Erziehungsberater und Redakteure haben und die die Voraussetzung dessen zu sein scheint, was im folgenden behandelt werden soll. Unbeschadet dieser Einschränkung halten wir es dennoch für sinnvoll, Überlegungen zu unserem Thema anzustellen, insofern nämlich, als Beratung kein auf die genannten Institutionen beschränktes Phänomen ist, sondern – als pädagogischer Vorgang – innerhalb des gegenwärtigen Erziehungsgeschehens überhaupt an Verbreitung und Bedeutung gewinnt. Jedenfalls ist dies die Hypothese dieser Abhandlung, die hier nicht verifiziert oder falsifiziert werden kann, sondern nur als Hypothese exponiert und in ihren einzelnen Momenten dargestellt werden soll.
[021:4] Die Zunahme der Beratungsstellen in Anzahl und Art sowie die Vergrößerung und Vermehrung der Beratungsspalten in den modernen Massenmedien scheint uns also nur ein Symptom für eine Erscheinung zu sein, die sich nicht nur in diesen Einrichtungen, sondern in der Erziehungswirklichkeit im allgemeinen manifestiert. Vor allem auf zwei Tendenzen der jüngsten Erziehungsgeschichte ist in diesem Zusammenhang hinzuweisen:1
1Aus der Fülle vorliegender Literatur zur Arbeit der Erziehungsberatungsstellen sollen hier wenigstens einige Titel genannt werden, allerdings nur solche, die zum Beratungsvorgang selbst etwas beisteuern: August Aichhorn, Erziehungsberatung und Erziehungshilfe, Bern und Stuttgart 1959; Ernst Bornemann, Erziehungsberatung, München 1963; Handbuch der Erziehungsberatung, hrsg. von H.-R. Lückert, 2 Bände, München/Basel 1964; Ruth Rudert und Rudolf Stein, Erziehungsberatung, in: Handbuch der Psychologie, 10. Band, hrsg. von H. Hetzer, Göttingen 1959; Sozialer Beratungsdienst Nürnberg, hrsg. von der Arbeitsgemeinschaft für Jugendpflege und Jugendfürsorge, Deutsches Jugendarchiv München e. V., München 1951 ff.; Hugo Sauer, Jugendberatungsstellen, Leipzig o. J. (1923). Dieser letzte Titel ist besonders deshalb interessant, weil in ihm das Phänomen Beratung noch nicht unter dem spezialistischen Aspekt der Erziehungsberatung o. ä., sondern das allgemeine Problem einer zu schaffenden Jugendberatung in vielerlei Hinsichten behandelt wird. In diesen Veröffentlichungen findet sich indessen kein verläßliches Material über das in der Bevölkerung vorhandene Beratungsbedürfnis, seine Art und seine Ausmaße. Der von den Erziehungsberatungsstellen konstatierte Anstieg der Beratungsfälle und die zu bemerkende Veränderung in der Problematik läßt nur Rückschlüsse auf jenen Kreis der Ratsuchenden zu, die solche Institutionen aufsuchen; keinen Aufschluß geben diese Beobachtungen über die Lage des Beratungsbedürfnisses im allgemeinen. Auch das bei den Presse- und Rundfunkredaktionen liegende Material, das sehr zahlreich und vielgestaltig ist, ist bisher noch nicht in diesem Sinne gesichtet und ausgewertet worden.
[021:5] 1. Die Zunahme des
Beratungsbedürfnisses
[021:6] Dieser Sachverhalt wird am deutlichsten in den Beratungseinrichtungen selbst, jedenfalls dann, wenn die Zahl der Ratsuchenden als ein Kriterium für das Beratungsbedürfnis gelten darf. Es ist sogar zu vermuten, daß das tatsächliche Bedürfnis größer ist, als es die zahlenmäßigen Daten anzudeuten vermögen. Unter anderem ist es diese latente Bedürfnislage, die eine allgemeine Erörterung des Problems der Beratung sinnvoll erscheinen läßt.
[021:7] 2. Die Zunahme eines neuen pädagogischen Verhaltenstypus
[021:8] Ist die erstgenannte Tendenz vor allem für die Planung und Einrichtung zweckdienlicher pädagogischer Institutionen wichtig, so liegt in dieser zweiten Tendenz ein Problem, das für unsere Erziehungslage wie für die Erziehungswissenschaft von allgemeiner Bedeutung ist. Schon seit längerem läßt sich beobachten, wie – vor allem in der sozialpädagogischen Praxis – ein Typus pädagogischen Verhaltens Verbreitung gewinnt, der mit dem Ausdruck
Beratung
nicht unglücklich bezeichnet wäre: der Umgang zwischen Erwachsenen und jungen Menschen im lenkenden Gespräch außerhalb des Kontinuums nachdrücklich erzieherischer Einwirkungen.2
2Aus zwei Bereichen vor allem dringt dieser neue Verhaltenstypus in unsere Erziehungspraxis ein: aus dem Bereich der Sozialarbeit (Social Case Work und Social Group Work) und dem der gegenwärtigen Jugendarbeit. Vgl. dazu: Ruth Bang, Hilfe zur Selbsthilfe für Klient und Sozialarbeiter, München/Basel 1960; Marie Kamphuis, Die persönliche Hilfe in der Sozialarbeit, Stuttgart 1963; Helmut Kentler, Jugendarbeit in der Industriewelt, 2. Aufl., München 1962; Gisela Konopka, Social Group Work: A Helping Process, New Jersey 1963; Wolfgang Müller, Gruppen in Bewegung, München 1962.
[021:9] Mindestens zwei Gründe scheinen diese Tendenz zu fördern:
Beratung
repräsentiert einen Erziehungsstil3
3Wenn wir hier von
Erziehungsstil
sprechen, dann meinen wir damit – vgl. auch die Einführung und den Beitrag von Wolfgang Müller – ein differenzenreiches Phänomen, das sich nicht in der Alternative autoritär – demokratisch erschöpfen läßt. So wie sich in der Beratung im ganzen ein bestimmter Erziehungsstil dokumentiert, der anders ist, als der im Üben, Unterrichten, Spielen usw., so kann sie selbst auch verschiedene stilistische Formen annehmen. In einer seelsorgerlichen Beratung des 18. Jahrhunderts verwirklicht sich ein anderer Stil als in einer modernen Erziehungsberatungsstelle. Dieser stilistische Unterschied der Epochen ist ein Unterschied der zugrundeliegenden Konzeption; er wird u. a. in der Etymologie des Wortes
Rat
deutlich, das mdh.
rât
noch soviel wie Anweisung, Gebot, sogar Befehl bedeutet, auch Reichtum, Hab und Gut. Zur Geistesgeschichte der Beratung vgl. Wilhelm Hennis, Rat und Beratung im modernen Staat, in: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, Jahrgang 1963, S. 8 ff.
, der unserer Gegenwart in besonderer Weise
liegt
, vor allem aber dem Erziehungsbedürfnis der heranwachsenden Generation entgegenkommt.
Beratung
scheint außerdem ein Moment des Erziehungsgeschehens zu sein, das sich im Vergleich zu den traditionel|a 27|len Verhaltensweisen des Erziehers als gleichsam
unpädagogisches
Phänomen darstellt, als ein Situationstyp, in dem der Ratsuchende nicht in der Rolle des
Zöglings
,
Schülers
oder in weniger definierter Weise Erziehungsbedürftigen auftritt, sondern als jemand, der zu selbständiger Entscheidung und Lebensführung fähig und deshalb dem Erziehungsanspruch, wenn überhaupt, nur noch in begrenztem Sinne unterworfen werden kann. Diese Sachverhalte zeigen sich nun nicht nur in den Beratungsstellen, sondern mindestens im ganzen sozialpädagogischen Bereich, wenn auch mit unterschiedlicher Deutlichkeit. Die institutionalisierte Beratungstätigkeit ist also nur ein Sonderfall eines allgemeineren pädagogischen Phänomens. Dieses allgemeine Phänomen ist es, was uns hier beschäftigt. Nun hätte es nahe gelegen, daß dort, wo die meisten Erfahrungen mit Beratungsvorgängen gemacht werden, etwa in den Erziehungsberatungsstellen, auch die deutlichste Einsicht in die pädagogische Problematik dieser Vorgänge sich zeigt. Überraschenderweise ist das kaum der Fall. Es ist merkwürdig, daß die aus der Erziehungs- oder Berufsberatung hervorgegangene Literatur fast nichts in dieser Richtung enthält. Bei der Durchsicht der einschlägigen Veröffentlichungen findet man zwar viel psychologische Grundlegung, viele Fall-Analysen, viel diagnostische Erörterung, kaum aber pädagogische Reflexionen über die pädagogische Struktur und Relevanz des Beratungsvorganges selbst. 4
4Diejenigen Beiträge, die sich intensiver mit der Beschreibung und Analyse des Beratungsvorganges befassen, entstammen bezeichnenderweise nicht den Erziehungsberatungsstellen, nicht der Feder von Psychologen, sondern vor allem von Sozialarbeitern. Außer der Literatur zum Case Work und Group Work sei hier, neben dem schon zitierten Artikel von W. Hennis, hingewiesen auf Emilie Müller-Zadow, Grundzüge der Beratung in der Jugendhilfe und Sozialhilfe, in: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, Jg. 1963, S. 13 ff., und Die Beratung nach § 8 Abs. 2 BSHG, a.a.O., Jg. 1962, S. 306 ff.
Das mag daran liegen, daß innerhalb eines sehr komplexen und vielseitigen therapeutischen Verfahrens dem Erziehungsberater die Beratungsvorgänge im engeren und wörtlichen Sinne vergleichsweise untergeordnet erscheinen; vielleicht auch daran, daß es sich bei diesen Berufen in der Regel um Psychologen handelt. Wahrscheinlich aber bedarf es einer erziehungswissenschaftlichen Fragestellung, um das hier verborgene Problem ans Licht zu heben. Darin liegt auch die Rechtfertigung dieser Abhandlung.

I. Die Beratung und der Erziehungsbegriff

[021:10] Eine entscheidende Ursache für die mangelhafte Aufmerksamkeit, die die Erziehungswissenschaft bisher der Beratung gewidmet hat, ist vermutlich ein im Hinblick auf den Prozeß des Heranwachsens in unserer Gesellschaft zu eingeschränkter Erziehungsbegriff.5
5Vgl. Klaus Mollenhauer, Einführung in die Sozialpädagogik, Weinheim 1964, S. 19 ff.
Vorgänge wie die nämlich, die sprachgebräuchlich unter dem Ausdruck Beratung zusammengefaßt werden, sind offenbar von einer Art, die unter die herkömmliche Fassung des Begriffes
pädagogischer Bezug
sich nicht subsumieren läßt.
[021:11] Die Begriffe Lenkung, Leitung, Führung, die Bestimmung der Erziehungsvorgänge als Vorgänge einer direkten Einwirkung ebenso wenig wie die Bestimmung der Erziehungsakte als planvolles, auf ein eindeutiges Ziel, Leitbild oder Ideal gerichtetes Handeln am Unmündigen vermögen das zu charakterisieren, was für die Beratung ausschlaggebend wäre. Sie scheint, |a 28|diesem traditionellen Erziehungsverständnis gemäß, nicht in den Kreis erzieherischer Phänomene zu fallen, höchstens ein Randphänomen zu sein, in dem das endet, was sinnvoll noch Erziehung genannt werden kann. Im Sinne dieser Meinung wird daher Beratung auch nur dort vermutet oder dahin verwiesen, wo der Erziehungsauftrag im engeren Sinne des Wortes erloschen ist oder wo es sich um andere, angeblich nichtpädagogische Probleme handelt: im beratenden Umgang Erwachsener miteinander. Aber schon die Berufsberatung müßte zeigen, daß durch solche Sicht der Sache eine entscheidende Dimension verlorengeht, wenn man nicht schlankweg leugnen will, daß es sich hier um Erziehung handelt.
[021:12] Diese durch einen zu beschränkten Erziehungsbegriff bedingte Behinderung der pädagogischen Erkenntnis, die sich übrigens nicht nur im Falle der Beratung bemerkbar macht, wird noch verstärkt durch ein relativ beharrliches Festhalten der Erziehungswissenschaft an ihren traditionellen Themen. Die in die erziehungswissenschaftlichen Erörterungen vornehmlich eingehenden Gegenstände sind Familie, Heim, Beruf, bisweilen noch die in der Form der Jugendgruppe auftretenden Gesellungsformen junger Menschen, vor allem aber die Schule in ihren verschiedenen Ausprägungen. Immer handelt es sich hier um komplexe, vielsinnige, faktorenreiche Prozesse, durch die bestimmte Erziehungsabsichten der Gesellschaft nachdrücklich durchgesetzt werden sollen, um kontinuierlich kontrollierte Vorgänge pädagogischer Einwirkung.
[021:13] Die Konzentration des erziehungswissenschaftlichen Interesses auf diese Gegenstände ist geschichtlich durchaus verstehbar und ist zu rechtfertigen, so lange nicht nur das für die Erziehungspraxis Wesentliche auf diese Weise erkannt, sondern auch der Fortschritt dieser Praxis gefördert werden kann. Nun ist aber gerade die pädagogische Praxis schon seit längerer Zeit dabei, einen Erziehungsbegriff hervorzubringen, der andere Akzente enthält als diejenigen, die den pädagogischen Theorien ausschließlich oder vornehmlich wichtig schienen.6
6In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, daß die m. E. erziehungswissenschaftlich anregendste Literatur der letzten Jahre zum außerschulischen Bereich nicht aus der Feder von Erziehungswissenschaftlern stammt. H. Kentler (Jugendarbeit in der Industriewelt) ist Psychologe, L. Rösner (Jugend in der offenen Tür) ist Philosoph und Psychologe, W. Müller (Jugendpflege als Freizeiterziehung, Was ist Jugendarbeit?) ist ursprünglich Publizist; für einige jugendsoziologische Veröffentlichungen (vor allem L. v. Friedeburg) gilt das ohnehin.
Vor allem für einige relativ neue Bereiche der Erziehungspraxis läßt sich dieser Sachverhalt konstatieren: Gruppenpädagogik, Case-Work, Beratung, offene Formen moderner Jugendhilfe. Die Erziehungstätigkeit in diesen Bereichen ist durch eine eigentümliche Zurückhaltung der erziehenden Personen gekennzeichnet, durch eine Veränderung dessen, was man den
Pädagogischen Bezug
genannt hat und durch eine Objektivierung des Erziehungsgeschehens dergestalt, daß sachliche Strukturen statt des persönlichen Verhältnisses im Vordergrund stehen. Schließlich findet in solchen Erziehungsformen die Spontaneität des Heranwachsenden nicht nur methodisch-taktische Berücksichtigung, sondern stellt den entscheidenden Faktor – jedenfalls in der Erziehungsabsicht – des erzieherischen Prozesses dar. Der pädagogische Eingriff ist eher vom Typus korrigierender als vom Typus führender Verhaltensweisen.
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[021:14] Diese in neuen Erziehungsformen sich dokumentierende Auffassung von Erziehung ist indessen nur eine Bekräftigung dessen, was bereits in der Praxis der pädagogischen Reformbewegung sich ankündigte, dort freilich in einer mit Skepsis aufzunehmenden ideologischen Überformung. Sie ist überdies eine erziehungspraktische Bekräftigung derjenigen pädagogischen Theorien, die seit der Aufklärung die Erziehungsgeschichte beschäftigen und unter verschiedenen, mehr oder weniger glücklichen Formulierungen aufgetreten sind: Rousseaus These von der
negativen Erziehung
; Herders und Humboldts Ansatz der Bildungstheorie im Phänomen der Selbstbildung; Schleiermachers Versuch, die Erziehungstheorie nicht auf das Verhältnis eines einzelnen Erwachsenen zu einem einzelnen Unerwachsenen, sondern auf das sozio-kulturelle Phänomen des Verhältnisses zweier Generationen zueinander zu gründen; die Versuche einer Theorie der sogenannten
funktionalen Erziehung
in unserem Jahrhundert; die anglo-amerikanischen Theorien der Gruppenpädagogik; die soziale Feldtheorie Lewins; der Begriff der
erzieherisch bedeutsamen Wirklichkeit
Brezinkas; der Begriff des
freien Raumes
in der Erziehung (Raapke).
[021:15] Diesem Zusammenhang, in dem, wie es scheint, der Begriff der Erziehung erweitert bzw. verändert wird, fügt sich auch die Beratung als pädagogisches Phänomen ein, und zwar, im Hinblick auf die Problematik des Erziehungsbegriffes, in exponierter Weise: neben wesentlichen Momenten jenes neueren Erziehungsverständnisses hat sie es an sich, daß sie noch ein greifbares persönlich-pädagogisches Verfahren ist: sie hat es außerdem an sich, daß sie nicht nur nachdrücklicher, sondern auch kontrollierter (darin der Gruppenpädagogik vergleichbar) die Aktivierung des
Klienten
betreibt. In den Beratungseinrichtungen ist dieser pädagogische Vorgang zwar spezialistisch institutionalisiert; indessen ist er doch vor allem ein charakteristisches Element mindestens im Felde moderner Sozialpädagogik, wenn nicht überhaupt ein Stilmerkmal der sich selbst demokratisch verstehenden Erziehungspraxis.

II. Beschreibung des Beratungsvorganges

[021:16] Es wäre unzureichend und dem Phänomen nicht angemessen, wollte man Beratung als spezifische Form pädagogischer Tätigkeit auf den Umgang mit Erwachsenen, vornehmlich Eltern, beschränken. Sie findet auch im erzieherischen Umgang mit jungen Menschen statt und hat hier sogar ihren erzieherisch entscheidenden Ort. In jedem wenig spezialisierten Erziehungsprozeß – und von dieser Art sind vor allem die sozialpädagogischen – kann die Beratung eine Form erzieherischer Hilfe sein, auf die nur zum Schaden der Heranwachsenden selbst verzichtet werden kann, sofern es sich um Altersklassen handelt, die imstande sind, als Ratsuchende aufzutreten. Der Rat, der Eltern erteilt wird im Hinblick auf die Erziehung ihrer Kinder, ist also |a 30|nur ein Sonderfall der pädagogischen Situation, die wir allgemein die Beratung nennen, und des Prozesses, der durch sie in Gang gebracht wird.
[021:17] Die Beratung gehört zu denjenigen Erziehungsvorgängen, die einen Einschnitt im kontinuierlichen Fluß des gesamten Erziehungsprozesses darstellen. Es sind herausgehobene Momente, in denen die Probleme verdichtet hervortreten, artikuliert und formuliert werden, in denen eine besonders dringliche Frage die Unterbrechung des Gewohnten erheischt. Die Beratung beginnt mit einer Frage. Zu einem
fruchtbaren Moment
wird dieser Beginn aber nur, wenn es sich auch in der Tat um eine Frage des Ratsuchenden handelt, wenn er von sich aus in der Tat ein Ratsuchender ist. Es ist ein Erziehungsstil denkbar, in dem die Rolle des zu Erziehenden als eines Ratsuchenden nicht vorgesehen ist, in dem er deshalb in dieser Rolle auch kaum auftreten wird. Dieser Hinweis ist deshalb wichtig, weil, nach allem, was wir über die junge Generation heute wissen, diese nicht von sich aus diese Rolle des Ratsuchenden zum Vorschein bringt, sondern eher in eigenartiger Zurückhaltung sich als eine gibt, die mit dem Leben zurechtkommt. Es bedarf daher eines Stiles in der Erziehung, der die Frage ermöglicht, zu ihr ermuntert, sie evoziert. Eine
autoritätsarme
Erziehung wird diese Bedingungen eher erfüllen als eine, in der die autoritäre Dominanz des Erziehers das pädagogische Feld in hierarchischer Weise gliedert. Damit zeigt sich, wie fundamental die Bedeutung des
Stils
in jeglicher Erziehung ist, wie weitgehend durch ihn die pädagogischen Möglichkeiten begrenzt oder erweitert werden können7
7Der Zusammenhang von Erziehungsstil und Bildsamkeit ist bisher wenig erforscht. Daß eine solche Erforschung aber ergiebige Resultate erbringen könnte, lassen die Untersuchungen von Lewin (vgl. den Beitrag Wolfgang Müllers) und Bernstein (Basil Bernstein, Sozio-kulturelle Determinanten des Lernens, in: Soziologie der Schule, hrsg. von Peter Heintz, Köln 1959, S. 52 ff.) mindestens vermuten, besonders die Feststellung der Studie Lewins, daß die Bildsamkeit, Plastizität, Umstellungsfähigkeit von Kindern, die in einer autoritären Atmosphäre aufwachsen, vergleichsweise reduziert ist.
.
[021:18] Die Funktion der Frage im Beratungszusammenhang ist nicht so problemlos, wie es scheinen könnte. In der Gegenüberstellung der eingangs genannten beiden Erfahrungsquellen – Beratung in eigens dafür eingerichteten pädagogischen Institutionen und Beratung durch die sogenannten Massenmedien – wird, in Verbindung mit der besonderen Art von Erfahrung, die sich dort jeweils angesammelt hat, zugleich ein methodisches Grundproblem dieser Tätigkeit deutlich. Es scheint nämlich, als ließe sich der folgende Unterschied im Verfahren konstatieren:
[021:19] 1. Beratung geschieht nicht als unmittelbare Antwort auf eine Frage. Nicht die formulierte Frage enthält schon den ganzen Beratungsgegenstand; von diesem kann sie sogar noch ziemlich weit entfernt sein. Die Frage ist nur der Ausgangspunkt für einen Vorgang, in dem der Berater von vornherein versucht, einen größeren als den zunächst in der Frage formulierten Zusammenhang von Sachverhalten in den Beratungsprozeß hineinzuziehen. Das zunächst Formulierte wird im Beratungsprozeß Schritt für Schritt, in allmählicher Annäherung an den Kern des Beratungsgegenstandes, präzisiert. Beratung dieses Typs ist nur als Gespräch denkbar.
[021:20] 2. Beratung geschieht als unmittelbare Antwort auf eine Frage. Der Berater |a 31|muß davon ausgehen, daß die Frage des Ratsuchenden wirklich das enthält, was dieser meint. Sein einziger Anhaltspunkt ist die vorliegende Formulierung, die er zwar interpretieren kann, die sich aber nicht – wie im Gespräch – modifizieren und präzisieren läßt. Diesem einmaligen Wortwechsel ist nur ein minimaler Prozeßcharakter zuzusprechen. Was danach geschieht, kann schwerlich noch zur Beratung gerechnet werden. – Wir wollen diese an sich wichtige Unterscheidung hier jedoch noch nicht weiter verfolgen.
[021:21] Eine Beratungssituation ist eine Ernstsituation8
8Zum folgenden vgl. Otto Friedrich Bollnow, Existenzphilosophie und Pädagogik, S. 78 ff., ferner die schon genannten Aufsätze von W. Hennis und E. Müller-Zadow. Aus den beiden letzteren Arbeiten einige unseren Zusammenhang betreffende Zitate:
Wie heikel das Beraten eines anderen Menschen in den Dingen der Führung des Lebens ist, ist jedem von uns deutlich, wenn er bedenkt, daß das Aufdrängen eines Rates jedem von uns als indezent erscheinen wird. Rat ist von vornherein nur legitim, wenn es ein erbetener Rat ist; und der Rat steht und fällt damit, daß er Rat bleibt, daß er dem Beratenen die Freiheit der Ausführung des Rates in Gänze beläßt
(W. Hennis, a.a.O., S. 11)
.
Das Höchste, was Beratung heute sich als Ziel setzen kann, ist, dem Ratsuchenden zu eigener Klarheit zu verhelfen, ihm das, worum es ihm wirklich geht, bewußt zu machen, ihm zu helfen, eine Entscheidung zu finden, mit sich selbst zu Rat zu gehen, eine Rangordnung der Ziele für sich zu setzen, ihn zum Denken, zum Nachdenken, zur Überlegung zu bringen, ihm deutlich zu machen, daß die Führung des Lebens nichts ist, was als Produkt einer einfachen Entscheidung dastehen kann, sondern was eine vorherige Reflexion voraussetzt, was ein Mitsichzurategehen zuläßt, ja erfordert
(ebd)
.
Dem Empfänger der Hilfe soll ein Leben ermöglicht werden, das nicht nur seiner individuellen Lage, sondern auch der Würde des Menschen entspricht. Damit kommt ... dem Vorgang der Beratung eine entscheidende Bedeutung zu. Beratung kann vielfältige Elemente der Orientierung und der Belehrung auf sachlichem Gebiet enthalten, aber in ihrem eigentlichen Sinn ist sie mehr als eines von beiden oder auch als beides zusammen. Sie strebt an, daß im Miteinander der überzeugte Entschluß als freie selbstgewählte Entscheidung reift
(E. Müller-Zadow, a.a.O., S. 14)
. Man kann
Beratung nicht gleichsetzen mit Belehrung, wenn auch mancherlei Beratung auf gewissen Spezialgebieten Belehrung enthält. Selbst wenn es sich um eine einfache Orientierung (beispielsweise auf juristischem Gebiet) handelt, ist das Wie der Auskunfterteilung von Bedeutung. Der fragende Mensch muß in seiner Gesamtheit betrachtet werden, damit sich die jeweilige Auskunft seiner Bewußtseinslage anpassen kann
(a.a.O., S. 15)
.
Im Anfangsstadium der Beziehung ist die vorbehaltlose Bejahung des Hilfesuchenden eine notwendige Voraussetzung, aber im Verlauf einer längeren Beratung kommt fast immer der Augenblick, in dem der Helfer es wagen muß, klar zu widersprechen, vielleicht sogar anzugreifen. Daß er nicht nur versteht, sondern auch einmal deutlich sein Nichtbilligen äußert, bedeutet nicht, daß er seine eigenen moralischen Maßstäbe zur Norm für den anderen setzt. Weil er ihn kennt, kann er ihn durch seinen Widerspruch daran erinnern, wie er wirklich ist, wenn nicht der chaotische Widerstreit von Leidenschaften und Empfindungen sein eigentliches Wesen überschattet
(a.a.O., S. 16)
. Es sei in diesem Zusammenhang ausdrücklich hervorgehoben, daß das Fehlen des Beitrags psychoanalytischer Theorie und psychotherapeutischer Praxis zum Thema dieser Abhandlung nicht bedeutet, daß wir diesen Beitrag gering einschätzen. Das Gegenteil ist der Fall. Nur hätte eine Erörterung dieses Zugangs zum Phänomen ein weiteres Ausholen erforderlich gemacht, was unsere Absicht, zunächst nur ein Konzept zu geben, durchkreuzt hätte. Dem Kenner wird ohnehin deutlich sein, an welchen Stellen unseres Gedankenganges die psychoanalytische Theorie einsetzen würde.
. Auch insofern ist sie aus dem alltäglichen Erziehungsgeschehen herausgehoben. Für den Ratsuchenden bedeutet sie die Vorbereitung einer Entscheidung. Er will aus einer Aporie heraus. Bestimmte Erziehungsmittel können hier keine Anwendung mehr finden, denn der Befragte ist nicht in seiner Rolle als Erzieher angesprochen, sondern als jemand, der sich im Geflecht der persönlichen und gesellschaftlichen Existenz besser auskennt. Man erwartet von ihm keine Anweisungen, sondern daß er zuhört und aus vielleicht besserer Übersicht eine Antwort als Möglichkeit gibt. Man erwartet von ihm keinen Zwang, keine Vorschriften, keine unumstößlichen Wahrheiten, kein Urteil, das nicht revidiert werden könnte. In dieser Offenheit liegt die Fruchtbarkeit der Situation.
[021:22] Eine Beratung ist nicht nur eine Auskunft. Zwar genießt auch sie den Vorzug rationaler Distanz. Sie verbindet damit aber den Nachteil, daß der Ratsuchende als zugleich Ratloser sich in einer Abhängigkeit befindet, in die er, im unglücklichen Fall, noch tiefer hineingeraten kann, die aber, soll die Situation pädagogisch, d. h. im Hinblick auf eine Veränderung fruchtbar werden, aufgehoben werden muß. Der Rat hat deshalb zunächst auch keine Verbindlichkeit für den Ratsuchenden. Die Antwort des Beratenden ist allenfalls Beispiel, nicht Vorbild, das zur Nachahmung oder Befolgung auffordert. Insofern liegt der pädagogische Sinn der Beratungssituation gerade darin, daß sie die Selbsttätigkeit, die Produktivität, die Rationalität und Phantasie des Ratsuchenden anspricht und erregt, daß sie ihn instand setzt, selbst auf einen Ausweg zu verfallen bzw. die erteilte Antwort nun als gleichsam selbst vollzogene zu akzeptieren oder auch sie zu verwerfen. Eine Beratung, die das Nein des Ratsuchenden nicht duldet oder ihm diese Möglichkeit nicht beständig ernsthaft zugesteht, verfehlt damit ihren Bildungssinn.
[021:23] Darin erschöpft sich aber nicht der Wert der Beratung. Entscheidend für ihre pädagogische Struktur ist die Tatsache, daß sie ausschließlich im Medium der Sprache, als Gespräch vollzogen wird und damit der Möglichkeit nach immer auch Information ist. Gerade die Sozialpädagogik ist in Gefahr, diese Seite der Erziehungsaufgabe gering zu achten, sie den Beratungsstellen und unterrichtenden Institutionen zu überlassen, sie neben den auf Charak|a 32|ter und Verhalten gerichteten Bemühungen zu vernachlässigen. Information ist unerläßlich, wo der Mensch als jemand betrachtet wird, der sein Leben planen kann und soll. Planung ist indessen nicht nur ein Moment der Erziehungstätigkeit, sondern auch ein notwendiger Bestandteil der Lebensführung. Planung ist nicht möglich ohne Information. Nicht zuletzt ist ja gerade dies ein Motiv für die Einrichtung von Beratungsstellen, was mit besonderer Klarheit in der Berufsberatung hervortritt. Information und Planungshilfe kann aber nicht auf diese Institutionen beschränkt bleiben. Auch die Schule ist nicht in der Lage, die ganze Masse der Information zu vermitteln, die für die heranwachsende Generation im Zusammenhang der modernen Lebensbedingungen unerläßlich ist. Solche Information kann wahrscheinlich überhaupt nicht in systematischen Kursen gegeben werden, sondern nur von Fall zu Fall, in direkter Hinsicht auf die konkrete Lebenssituation, aus der die Frage erwächst, welche die Beratung herbeiführt. Schließlich ist zweifelhaft, ob es zu wünschen ist, daß für die vielen und differenzierten Beratungsbedürfnisse – im Hinblick auf Beruf und Berufschance; auf die realen Möglichkeiten, eine einmal gewonnene Position zu verändern; auf Freizeit und Ferien; auf Probleme des sexuellen Verhaltens; auf Probleme der privaten Lebensführung, Ehe- und Familiengründung, konfessionelle, weltanschauliche, ideologische Fragen; im Hinblick auf Verständnisfragen zur modernen gesellschaftlichen und politischen Existenz des einzelnen (um hier nur einige Fragengruppen zu nennen) – je besondere Institutionen geschaffen werden, oder ob solche Information nicht vielmehr ausdrücklich in jeden Erziehungsprozeß hineingenommen werden sollte. Das bedeutet nicht, daß dann vielleicht auf die zweckentsprechenden Beratungsstellen verzichtet werden könnte; es gibt deren zweifellos viel zu wenige; pädagogische Arbeitsteilung ist unumgänglich, und es wäre eine Utopie, sie prinzipiell zu verwerfen. Sie kann aber dennoch nicht beliebig weit getrieben werden. Vor allem entlastet sie den Erzieher nicht davon, trotzdem die ganze Wirklichkeit des jungen Menschen in seine Konzeption mit aufzunehmen.
[021:24] Die entscheidende Funktion der Beratung endlich liegt darin, daß sie kritische Aufklärung sein kann. Das Gespräch schafft Distanz, es ermöglicht, das Besprochene objektivierend zu betrachten, es ermöglicht ein rationales Verhalten zu sich selbst und zu den Bedingungen der eigenen Existenz. In der Beratung werden nicht nur Antworten gegeben, sondern zugleich neue Fragen formuliert; die rationale Erhellung eines Problems wird so weit wie möglich versucht, um eine Entscheidung vorzubereiten, die von Vorurteilen und Verfestigungen frei nach dem Abwägen der vernünftig entscheidbaren Fragen getroffen werden kann.
[021:25] Kentler formuliert diese Funktion der Beratung aus der Erfahrung mit der Industriejugend:
Der Industriejugendliche muß aus seiner abgründigen |a 33|Welt- und Selbstvergessenheit herausgerissen werden und sich selbst und die Welt, in der er lebt, kennenlernen, sein geistiger Horizont muß erweitert werden, und er muß Anhaltspunkte finden, nach denen er sich orientieren kann. Während er sonst in einer diffusen Welt ohne Bedeutsamkeitsbeziehungen lebt und aus Mangel an verpflichtenden Formen eines
inneren Weges
auch kein
Koordinatensystem
besitzt, in das er seine Eindrücke von der äußeren Welt einordnen könnte, während er sonst an einer Bewußtseinstrübung leidet, so daß er nicht Stellung nehmen, keine Entscheidungen fällen und Engagements eingehen kann, soll er jetzt auf einen Weg zunehmender Horizonterweiterung und Bewußtseinserhellung gestellt werden, indem er mit der Welt und sich selbst bekannt wird. Es wird dann nicht ausbleiben, daß aus seinem Wissen, was und wie etwas ist, schließlich auch die Fähigkeit entspringt, eine eigene Einstellung zu finden und Stellung zu beziehen. Damit aber hat er sich bereits auch engagiert, denn wenn seine Aufmerksamkeit erst einmal erregt ist, stellt er sich auch bereit für das, was am Horizont des Bemerkens auftaucht, und läßt sich anziehen von dem, das er suchte und nun endlich fand.
9
9Helmut Kentler, Jugendarbeit in der Industriewelt, 2. Aufl., München 1962, S. 54.
[021:26] Zwar können wir uns der von Kentler verwendeten Terminologie und der darin implizierten Analyse und Deutung der Existenz jugendlicher Industriearbeiter kaum anschließen; die formale Struktur der Beratung aber scheint hier deutlich ausgesprochen zu sein, wie denn auch die praktische Tätigkeit selbst, von der Kentler berichtet, die Form des dort praktizierten Umganges mit jungen Menschen auf weiten Strecken nichts anderes ist, als eben Beratung.
[021:27] Kritische Aufgeklärtheit, engagierte Auseinandersetzung setzen Information voraus. Im Akt der Selbstaufklärung wird die Information in ein kritisches Selbst- und Weltverhältnis umgesetzt. Das Maß an Aufgeklärtheit, das erreicht wird, richtet sich freilich nach den jeweils besonderen, mehr oder weniger begrenzten Möglichkeiten des einzelnen Jugendlichen. Prinzipiell aber ist sie, in subjektiv angemessener Weise, im Gefängnis so gut möglich wie im Heim für Verwahrloste, in der Jugendpflege so gut wie in der Fürsorge, der Bewährungshilfe oder irgendeinem anderen Arbeitsgebiet der Sozialpädagogik, ebenso wie in der Schule, der Familie oder an der Arbeitsstelle. In der Einzelfallhilfe (Case-Work) ist diese Annahme sogar zur Grundlage der ganzen Methode geworden, obwohl die angestrebte kritische Distanz des Klienten sich hier mehr auf ihn selbst und seine unmittelbaren Lebensumstände als auf die gesellschaftlichen Bedingungen seiner Existenz zu beziehen scheint. Beratung soll nicht in die Anpassung hineinführen, sondern vom Konformitätszwang befreien. Ein Rat, der keine Alternative erkennen läßt, sondern nur die gleichsam naive normative Eindeutigkeit der Antwort kennt, ist ein schlechter Rat. Er verfehlt die pädagogische Chance, die in ihm liegt.
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[021:28] Versucht man den Bildungssinn der Beratung zusammenfassend zu formulieren, so ließen sich mehrere Momente unterscheiden.
[021:29] 1. Beratung in der hier beschriebenen Weise entsteht nur angesichts einer Frage. In dieser Frage dokumentieren sich nicht nur die relative Selbständigkeit und Distanz des Klienten, sondern in ihr ist auch die methodisch entscheidende Tatsache gesetzt, daß ausschließlich die Erwartungen des Klienten – und nicht die Erwartungen, Wünsche, Normen, Hoffnungen des Beraters – den Ansatz und Fortgang der Beratung bestimmen. Nur was der Ratsuchende formuliert, ist ein vertretbarer Gegenstand der Beratung. Er ist Subjekt der Situation, die damit die pädagogische Provinz verlassen hat.
[021:30] 2. Beratung schreitet fort als Gespräch, d. h. als rein verbales Wechselspiel. Insofern die Frage des Ratsuchenden immer auch eine Frage nach Sachverhalten (nach Wirklichem) ist, enthält das Beratungsgespräch immer auch Information. Eine Beratung kann, wenn nach nichts anderem gefragt ist, damit enden.
[021:31] 3. Insofern die Frage des Ratsuchenden aber eine Frage nach seinen eigenen Möglichkeiten ist, enthält das Beratungsgespräch Elemente einer kritischen Aufklärung bzw. ist selbst diese Aufklärung als Prozeß.
[021:32] 4. Die Beratung endet mit dem Rat, der, wenn er sich nicht als Ergebnis des Gesprächs für den Ratsuchenden selbst ergibt, vom Berater erteilt wird. Dieser Rat ist insofern verbindlich (für den Berater), als er das Engagement des Beraters enthält. Er ist insofern unverbindlich (für den Ratsuchenden), als er auch die subjektiven Motivationen des Beraters enthält, für den Ratsuchenden also nur Beispiel ist. Der Rat verweist nur auf das vom Ratsuchenden einzugehende, für diesen selbst verbindliche Engagement, was nur gelingt, wo die Position des Beraters
nicht mehr so stark von der sozialen Position (des Ratsuchenden) abgehoben ist, daß sich das Verhalten (des Beraters) gar nicht exemplarisch (für den Ratsuchenden) auswirken kann
(W. Müller)
.
[021:33] 5. So wenig indessen der Berater auf eigenes Engagement verzichten bzw. es völlig unterdrücken kann, so sehr kann gerade dies das entschiedene Engagement des Ratsuchenden verhindern. Häufig genug hat der Ratsuchende die Tendenz, in der akuten Unselbständigkeit, in der er sich befindet, zu verharren, noch tiefer in sie hineinzuflüchten dadurch, daß er sich an den Berater anlehnt, sich seiner Meinung unterwirft, sich als selbst Entscheidender und Planender aufgibt. Der Beratungsvorgang würde seiner Möglichkeit als Aufklärung zuwiderlaufen, wenn das Engagement des Beraters entscheidendes Gewicht bekäme. Er würde aber die Möglichkeit der Aufklärung wie die Möglichkeit, zur Selbständigkeit (Autonomie) zu führen, bewahren können, wenn er dem Ratsuchenden dessen Situation zu spiegeln vermöchte, wenn der Bedingungszusammenhang, in dem die vor|a 35|stellbaren Entscheidungen stehen, wenn die realmöglichen Folgen eines Handelns konkret vergegenwärtigt werden. Wenn man gelten lassen will, daß Initiative und Selbständigkeit, die Fähigkeit, subjektive Problemlagen zu formulieren und zu objektivieren, daß Information und Aufklärung, daß Engagement zu konstituierenden Bestandteilen einer modernen Bildung gehören, dann darf man vermuten, daß die Beratung ein pädagogischer Vorgang ist, in dem Bildungsmöglichkeiten in exponierter Weise sich realisieren lassen.
[021:34] Durch ein entscheidendes Merkmal indessen ist die Beratung nicht nur ein pädagogisch exponierter Vorgang, sondern zugleich anders als nahezu alle pädagogischen Vorgänge sonst: Der Berater empfängt seine
pädagogische
Legitimation einzig und allein vom Ratsuchenden. Er ist ausschließlich zu dem befugt, was dieser ihm einräumt. Diese Befugnis kann im Laufe eines Beratungsgesprächs erheblich erweitert werden, sie bleibt aber – auch wenn das Verhalten des Beraters solche Erweiterung fördern mag – an die Initiative des Ratsuchenden gebunden, wenn die Beratung nicht zu einem unmoralischen Verfahren werden soll. Wir dürfen annehmen, daß eine Beratung immer gesucht wird, um von Abhängigkeiten und Zwängen freier zu werden. Nur um dieses Gewinnes an Freiheit willen begibt sich der Ratsuchende in die vorübergehende und von ihm selbst begrenzte Abhängigkeit von dem, den er aufsucht.10
10Dem Augenschein nach mag es häufig anders sein, so nämlich, daß der Ratsuchende gerade die Anlehnung, die Abhängigkeit, die Entlastung von der Freiheit sucht. Versteht man Freiheit aber als Freiheit von Zwang und Unterdrückung, wird jede Situation psychischer und sozialer Belastung zu einer Situation der Unfreiheit. Der Sinn des Ratsuchens ist dann, auch wenn er dem Ratsuchenden selbst verborgen bleibt, auch wenn der Ratsuchende eine Unfreiheit durch eine andere einzutauschen wünscht, von solchem Zwang oder solcher Unterdrückung frei zu werden.
Der Sinn, den der Ratsuchende seinem eigenen Schritt gibt, würde hintergangen, und ein im engeren Sinne des Wortes pädagogisches Verhältnis würde vom Berater erschlichen, wenn er die vorübergehende Abhängigkeit des Ratsuchenden zu etwas benutzen würde, das nicht eindeutig zu dessen größerer Selbständigkeit führt. Gerade weil sich nicht zweifelsfrei vorhersagen läßt, wohin im Lebenszusammenhang des Klienten eine Beratung führt, gerade weil auch jeder Rat des Beraters notwendig subjektiv bleibt, andererseits die Beratung durch nichts anderes als die ratsuchende Frage konstituiert wird, bleibt der Berater an die Legitimation durch den Klienten gebunden, handelt er in dessen Auftrag. Die Verantwortung des Beraters ist die Verantwortung vor der gewollten Freiheit des Klienten.
[021:35] So verstanden, ist die Beratung nicht nur eine ausgebaute und methodisch wie wissenschaftlich gesicherte Institution (im Sinne der Beratungsstellen), sondern ein durchgehendes Moment der Erziehungstätigkeit. Sie ist ein
fruchtbarer Moment
im Erziehungsprozeß, und zwar sowohl im Hinblick auf die Erziehung und Bildung des einzelnen, seine Selbsterkenntnis und Veränderung, wie auch im Hinblick auf den Prozeß selbst: Das Verhältnis des Erziehers zum Heranwachsenden kann sich in solcher Situation von Grund auf verändern, es kann sich hier allererst als persönliches Vertrauensverhältnis konstituieren, es kann die Erziehungsrichtung verändern, die Vorgänge intensivieren oder überhaupt erst ein bestimmtes Erziehungs|a 36|problem stellen, einen Erziehungsvorgang einleiten oder auch ihn abschließen. Dort, wo durch ein pädagogisches Arrangement der Bedingungen der Erziehung der Erzieher selbst hinter seiner Planung, hinter Gruppen und Aktivitäten, hinter der Atmosphäre, dem Stil, der geglückten Ausstattung eines Hauses zurücktritt, holt die Beratungssituation ihn als den persönlichen und einzelnen, der gebraucht wird, immer wieder hervor; dort, wo Erziehung im Kontinuum eines persönlichen Verhältnisses geschieht, setzt die Beratung Einschnitte und Akzente, intensiviert dieses Verhältnis, indem in ihr der Erzieher sich als ein anderer, nicht nur im Erziehungprozeß Engagierter, sondern als Erwachsener unter Erwachsenen Lebender zeigt.

III. Die Funktion der Beratung im Zusammenhang pädagogischer Institutionen

[021:36] Dieser in der Beratung auftauchende und in die pädagogische Praxis eingedrungene Typ erzieherischer Interaktion, den wir im vorangegangenen nicht empirisch, sondern nach Maßgabe seines gleichsam besseren Begriffs beschrieben haben, ist nun – das zeigte sich schon in der Art unserer Darstellung – nicht einfach zu konstatieren. Seine erziehungstheoretische Hervorhebung impliziert ein Postulat: daß nämlich seine Verbreitung und möglichst reine Darstellung zu wünschen ist, weil diejenigen Fähigkeiten und Möglichkeiten des Menschen, die nach unserer Vermutung in der Beratung besonders nachdrücklich angesprochen werden und zum Vorschein kommen, in besonderer Weise wert sind, in der Erziehung berücksichtigt zu werden. Aus welchen Gründen wir dies wünschen, ist eine Frage, die hier nicht ausführlich erörtert werden soll. Nur so viel ist für das Verständnis des Folgenden zu sagen wichtig: Das Postulat ergibt sich aus der Meinung, daß die Beratung in ausgezeichneter Weise ein unserer kulturell-gesellschaftlichen Situation adäquates Verständnis von der Eigenart pädagogischer Vorgänge dokumentiert; es ergibt sich ferner aus der Vermutung, daß ihr spezifische und für die Selbständigkeit und Bildung des Menschen entscheidende Wirkungen innewohnen.
[021:37] Während das erste Motiv des Postulates nicht verifiziert, sondern nur diskutiert werden kann, ist das zweite, die Vermutung, mit den Mitteln empirischer Kontrolle zu prüfen. Viele Untersuchungen sind hier denkbar. Dabei macht sich erneut bemerkbar, wie gering unser Wissen im pädagogischen Detail ist, wie gering besonders im Hinblick auf die Effektivität aller Erziehungsprozesse, die in der Struktur des Dialogs verlaufen. Nahezu alle pädagogischen Aussagen zur Rolle des persönlichen Verhältnisses in Erziehungsvorgängen sind entweder bloße Meinungen oder aus einer philosophischen Anthropologie deduzierte Urteile, bisweilen auch Phänomen- Analysen, die zwar über die Form und die Natur solcher Dialog-Beziehun|a 37|gen Wesentliches mitzuteilen vermögen, im Hinblick auf das Wissen über die pädagogischen Wirkungen uns aber weiterhin im unklaren lassen. Diese Skepsis ist auch in bezug auf das Thema
Beratung
angebracht, was es um so dringlicher erscheinen läßt, hier mit einer wissenschaftlichen Forschung im engeren Sinne des Wortes zu beginnen, d. h. für den pädagogischen Vorgang das zu leisten, was etwa in den Erziehungsberatungsstellen im Hinblick auf das psychologische Handwerkszeug schon geleistet wurde.
[021:38] Dieser Skepsis unbeschadet und solange wir über jenes Detail-Wissen nicht verfügen, bleibt es aber ein sinnvolles und zweckmäßiges Prinzip der Erziehung, also auch der Beratung, sie so zu verwirklichen, daß sie unserem gesellschaftlich-kulturellen Selbstverständnis entspricht, daß das Bewußtsein des Erziehers und seine Praxis als die Objektivation dieses Bewußtseins eine stilistische Einheit bilden, selbst auf die Gefahr hin, daß diese Einheit dem Ideologieverdacht verfallen könnte. Jedenfalls darf dies so lange gelten, wie wir die Praxis nicht an ihrem Erfolg kontrollieren können. In diesem Sinne also scheint das genannte Postulat erhoben werden zu können, daß Beratung ausdrücklich, methodisch artikuliert, vielfältig institutionalisiert und in das Kontinuum der komplexeren Erziehungsverhältnisse integriert, in die Erziehungspraxis einzuführen bzw. dort zu erhalten und zu verbessern ist.
[021:39] Unsere Darstellung blieb bisher weitgehend abstrakt. Sie sah von den institutionellen Konkretionen ab, in denen Beratung im pädagogischen Praxiszusammenhang erscheint. Eine nähere Betrachtung der Praxis erweist nämlich, daß die Beratung in unserem Erziehungswesen, ohne daß das bisher deutlich zum Bewußtsein gekommen wäre, eine schon relativ große Ausbreitung erlebt hat. Teils mehr, teils weniger ausdrücklich findet sie bereits in den verschiedensten Institutionen statt.
[021:40] 1. Von den Beratungsstellen zu sprechen, ist hier kaum erforderlich. Daß ihre Vermehrung zu wünschen ist, auch ihre größere thematische Reichweite, die Einrichtung von Beratungsstellen neuer Art, besonders für die Beratung der Jugend selbst, ergibt sich aus der Einsicht in die faktische und kaum zu übersehende Bedarfslage. Allerdings ist zu vermerken, im Hinblick auf die Erziehungsberatungsstellen, daß hier der gemeinsame Ausdruck
Beratung
zu Mißverständnissen Anlaß geben kann. Was in den Erziehungsberatungsstellen geschieht, ist nur zum Teil Beratung zu nennen. Diese Einrichtungen haben sich in bemerkenswertem Umfang zu therapeutischen Institutionen entwickelt, in denen Beratung im engeren Sinne des Wortes nur noch eine, dem Umfang nach, geringe Rolle spielt. Ihre Arbeit besteht aus einer Kombination verschiedener, aufklärender, therapeutischer, unterstützender Verfahren, wobei die Beratung nur eine Funktion unter anderen zu erfüllen hat.11
11Das wird bestätigt durch die geringe Bedeutung und die untergeordnete Behandlung, die der Beratungstätigkeit als solcher in der Erziehungsberatungsliteratur eingeräumt wird. Vgl. Anm. 1.
Trotz dieser Veränderung in der Praxis der Erziehungsberatung hat man aber den Ausdruck beibehalten, |a 38|der nun hier zur Bezeichnung der ganzen Tätigkeit dieser Einrichtungen verwendet wird. Im Sinne unserer Verwendung des Ausdrucks wäre Beratung nur ein Aspekt der sogenannten
Erziehungsberatung
.
[021:41] 2. Eine zweite Gruppe von Erziehungsinstitutionen läßt sich unter dem Begriff der
beratungsreichen
Erziehungsfelder zusammenfassen. Hier hat die Beratungsabsicht zwar nicht die Institution konstituiert, aber das Verfahren der Beratung ist dennoch für die geschehende Praxis charakteristisch. Dazu wäre die Erziehungsbeistandschaft zu rechnen, die Jugendgerichtshilfe, die Familienfürsorge, die Bewährungshilfe. Beratung macht in allen diesen Einrichtungen einen zum Teil sogar gesetzlich vorgeschriebenen wesentlichen Bestandteil der Erziehungstätigkeit aus. Dennoch wissen wir wenig darüber, ob überhaupt in nennenswertem Umfang und in welcher Weise hier beraten wird, welchen Ort und welche Funktion die Beratung im Zusammenhang aller in diesen Einrichtungen Verwendung findenden Maßnahmen erfüllt. Gerade angesichts der Tatsache, daß noch wenig Klarheit über die faktisch angewandte und zweckmäßig anzuwendende Methodik in diesen Bereichen herrscht, könnte ihre Durchforschung unter dem Gesichtspunkt der Beratung einiges zur methodischen Erhellung beitragen.
[021:42] 3. Anders ist die Lage der Sache in jenen Erziehungseinrichtungen, in denen die Beratung lediglich eine marginale Rolle spielt, für die Beratungsvorgänge also weder konstituierend noch charakteristisch sind. Wenn hier auch vielleicht alle Erziehungseinrichtungen, nur diejenigen für die Erziehung von Kindern ausgenommen, genannt werden müßten, so sollen doch der Jugendstrafvollzug, die Heimerziehung, die Einrichtungen der Jugendarbeit und die Schule (und hier die
beratungsfähigen
Altersklassen) besonders genannt werden. Die institutionelle Strenge des Jugendstrafvollzuges läßt die Beratungssituation besonders deutlich als Einschnitt und Akzent im Erziehungsprozeß hervortreten, weil hier von dem jungen Menschen ein Schicksal zu bewältigen ist, das der Verbalisierung und Bewußtmachung, einer distanzierten und kritischen Verarbeitung bedarf, die der beratenden Hilfe durch den Erwachsenen, den Erziehungsgruppen- oder Vollzugsleiter, kaum entbehren kann. Ähnliches, wenn auch nicht in so exponierter Weise, finden wir in der Heimerziehung, jedenfalls dort, wo der Heimerzieher sich seiner Rolle als Berater bewußt geworden ist.
[021:43] Die Jugendarbeit verdient, als das vorläufig letzte der Beratung ausdrücklich eingeräumte Erziehungsfeld, besonders hervorgehoben zu werden. Bäumler hat in einer sehr treffenden Charakterisierung der Jugendarbeit diese unter anderem als eine Erziehungstätigkeit bezeichnet, in der die Funktion des erziehenden Erwachsenen im wesentlichen in einer beratenden Lenkung und Begleitung des Heranwachsenden besteht.12
12Christoph Bäumler, Anspruchsvollere Jugendarbeit, in: Die Deutsche Jugend, 9. Jg., 1961, S. 157 ff.
Solche Formulierung drückt nicht nur programmatisch eine bestimmte Erziehungshaltung aus, sondern bezeichnet zugleich eine institutionelle Struktur der Jugend|a 39|arbeit: auch in der Erziehungsarbeit der Jugendverbände wird zunehmend nicht mehr nur
Jugend durch Jugend geführt
, sondern entsteht eine Schicht von Erziehern, die im Hinblick auf das pädagogische Geschehen in den einzelnen Gruppen als Berater fungieren.13
13Das zeigen Berichte aus der Praxis immer deutlicher, wie z. B. der folgende Auszug aus einem Gruppenbericht
(Dorothea Rohlfs und Jörg Ziegenspeck, Bericht aus der Gruppe; Beitrag zu einem Wettbewerb des Deutschen Bundesjugendringes, 1964, unveröffentlicht):
... Einer der entscheidendsten Punkte, warum die Mitgliederzahl so gestiegen ist, war der, daß sich der Gemeindepfarrer und die Berater der Gruppe nie als Leiter oder gar Führer der Gruppe fühlten. Ihnen fiel das oft besonders schwer, denn sie hatten Vorstellungen für noch zielgerichtetere, koordinierendere, schnellere Arbeit und hätten diese Vorstellungen allzugern verwirklicht. Aber gerade die Zurückhaltung dieser Erwachsenen tat der Gruppe gut, verhalf ihr zur weitestgehenden Verselbständigung. Es kam außerdem nie zu der Diskrepanz, die häufig dort angetroffen werden kann, wo die Gruppenarbeit vom Führer zur Gruppe noch hierarchisch gegliedert ist, wo übermäßige Abhängigkeit bis zur verhärteten Ablehnung herrschen. Diese Gefahren waren in diesem Jugendclub nicht gegeben. Als Berater hatten die Erwachsenen zwar Mitspracherecht, jedoch kein Mitbestimmungsrecht, d. h. Stimmrecht bei Wahlen und Abstimmungen. So wurden die Berater in diesem Club zu dem, was moderne Jugendarbeit wohl in Zukunft auszeichnen kann: zum neutralen Punkt innerhalb der Gruppe, zum erfahrenen Begutachter, zum Wahrer der demokratischen Spielregeln, zum Orientierungspunkt, an den man sich immer wenden kann, der jedem einzelnen und der Gruppe in ihrer Gesamtheit gerecht zu werden versucht, d. h. Verständnis entgegenbringt.
Vgl. auch Hans Maasch und Wolfgang Müller, Gruppen in Bewegung, München 1962; ferner ist hier die Einrichtung der
consultants
in der amerikanischen Pfadfinderschaft zu nennen.
Die neu geschaffene Rolle des
Jugendbildungsreferenten
ist von dieser Art, wie vor allem die Arbeit der Jugendbildungsstätten, die neben der unmittelbaren Jugendbildung sich eben jener Praxisberatung angenommen haben.
[021:44] Schließlich ist auch im Hinblick auf die Schule zu fragen, ob in ihr die Beratung nicht eine wichtige Funktion zu erfüllen hätte. Sicherlich widerspricht die in der Beratung zum Vorschein kommende pädagogische Haltung dem durch das Geschäft des Unterrichtens geprägten Stil der Schule. Aber Nähe und Dauer des Zusammenseins von Lehrer und Schüler lassen vermuten, daß hier eine vielleicht besonders fruchtbare Form von Beratung möglich wäre, wenngleich nicht zu übersehen ist, daß dazu ein Rollenwechsel des Lehrers und eine Änderung der schulischen Erwartungshaltung von seiten der Schüler notwendig wäre, die zu bewerkstelligen wahrscheinlich nicht leicht fallen würde. Zweifellos gibt es besonders geglückte Fälle dieser Art. Ob sie indessen ausreichen, um für die Schule im Ganzen vermuten zu können, daß sie die Beratung als ein durchgehendes Moment ihrer Erziehungstätigkeit realisieren kann, vermag ich nicht zu entscheiden. Möglicherweise wird das Problem dann mit Nachdruck akut werden, wenn die Ganztagsschule aus ihrem programmatischen Stadium in das einer bildungspolitischen Realisierung eintritt.
[021:45] 4. Mit der Charakterisierung der Jugendarbeit als einer u. a. beratenden Erziehungstätigkeit ist ein Beratungstypus angedeutet, der uns unter dem Namen
Supervision
aus dem anglo-amerikanischen Sprachbereich bekannt geworden ist. Bei diesem Typus, von dem die Supervision nur einen Sonderfall darstellt, handelt es sich um Beratung derjenigen, die selbst unmittelbar erziehend tätig sind. Je komplexer die pädagogischen Situationen sind, denen die Erzieher gegenüberstehen, je größer die Zahl derer wird, die nur eine begrenzt pädagogische Ausbildung genießen, je komplizierter die Fälle werden, und je wirkungsvoller die Erziehung sein soll, um so mehr wird es nötig, eine Beratung der Praktiker am Standort ihrer eigenen Praxis durchzuführen. Besonders dort, wo emotionale Phänomene einen bedeutenden Anteil am Erziehungsvorgang haben, wo infolgedessen Distanzierung und Objektivierung auch der eigenen Situation dem Erzieher besonders schwer fallen mögen (so zum Beispiel im Case-Work und in der Gruppenpädagogik), scheint diese Form von Praxisberatung unerläßlich zu werden. Kaum ein Erziehungsbereich könnte hier prinzipiell ausgenommen werden, besonders da sich bereits erwiesen hat, wie zweckmäßig solche Beratung in der Fürsorge und der Gruppenpädagogik, in Schule (Schulberatung) und Heim, in der Jugendarbeit und der Elternberatung ist. Was für |a 40|die Beratung im allgemeinen gilt, gilt auch in diesem Fall: hierarchische Abhängigkeitsverhältnisse zerstören die pädagogische Fruchtbarkeit, die Rolle des Beraters ist die eines Beistandes und nicht die eines Vorgesetzten, das Medium der Beratung ist das aufklärende Gespräch.

IV. Das didaktische Problem in der Beratung

[021:46] Eine bisher noch nicht zur Sprache gekommene Eigentümlichkeit der Beratung ist von besonderem erziehungswissenschaftlichen Interesse. Wie jeder Erziehungsvorgang, so hat es auch die Beratung mit Inhalten zu tun. Es ist bisher zwar üblich geblieben, inhaltlich-kritische, also didaktische Erwägungen nur im Hinblick auf die Schule anzustellen. Es gibt daher nennenswerte didaktische Theorien nur als Theorien des Unterrichts. Neuerdings hat sich das durch Überlegungen zur außerschulischen politischen Bildung geändert. Dies könnte der Anfang sein, für die außerschulische Erziehung im allgemeinen die Lage der didaktischen Problematik zu erörtern. Die Beratung ist dafür ein glückliches Beispiel.
[021:47] Didaktische Theorien in der Sozialpädagogik oder der außerschulischen Pädagogik überhaupt können nicht – das unterscheidet sie prinzipiell von schulbezogenen Didaktiken – von einem vorgegebenen inhaltlichen Kanon der Lerngegenstände ausgehen oder einen solchen Kanon herzustellen versuchen. So besteht die didaktisch ausschlaggebende Eigenart des Beratungsvorganges darin, daß die Inhalte im aktuellen Beratungsvollzug erst hervorgebracht werden, und zwar so, daß der Klient sie in den Vorgang einbringt. Dieses Einbringen ist allerdings nicht nur Angelegenheit des Klienten. Er macht allein nur den ersten Schritt, nach welchem im Beratungsgespräch – im
consilium
– die für den Vorgang wichtigen Inhalte in Erscheinung treten, sich entfalten, in den Formulierungen artikulieren. Das schließt nicht aus, daß es in vielen Beratungsfällen doch wesentlich auf ein Vermitteln bestimmter Kenntnisse ankommt, über die dann auch der Berater vorweg verfügen muß. Nur werden solche Kenntnisse nicht systematisch vorgetragen oder
erarbeitet
, sondern nur nach Maßgabe der ratsuchenden Frage bzw. des Gesprächsverlaufs in Spiel gebracht. Kenntnisse als didaktische Voraussetzung sinnvoller Beratung also gibt es auch hier. Was von ihnen allerdings zum Inhalt des Beratungsvorganges wird, entscheidet sich immer erst im Prozeß selbst und kann nicht vorweg entschieden werden. Dieser Typus pädagogischer Vorgänge ist der einzige, in dem Methodik und Didaktik nicht nur verschränkt oder abhängig voneinander sind, sondern nahezu identisch werden. Die Methode der Beratung, die Art der Gesprächsführung – und darüber liegen in der Erziehungsberatung wie im Case-Work wertvolle Erfahrungen vor – ist unmittelbar Bedingung für |a 41|die in Rede kommenden Inhalte. So wie das Beratungsgespräch immer
Diagnose
und
Therapie
zugleich ist, sind auch die Diagnose und Therapie selbst immer auch der didaktische Gegenstand. Inhalt der Erziehungssituation
Beratung
ist die im Verlauf des Beratungsgesprächs zum Vorschein kommende Diagnose. Hier gilt exemplarisch, was Wolfgang Müller über den
Stil
sagt: Beratung geschieht nicht nur in einer
stilistischen Form, in der das
Eigentliche
(die Information, die Mitteilung vorgegebener Kenntnisse) des Sachzusammenhanges vermittelt wird, sondern (sie) stellt als ein in sich
Eigentliches
den zu lehrenden Handlungszusammenhang her
, d. h. hier, sie ist, als aufklärender Prozeß, selbst das, was vermittelt werden soll, jedenfalls in ihrer einen Funktion als Aufklärung.14
14Die Lage der didaktischen Problematik ist allerdings verschieden, je nach dem, ob es sich um institutionelle (in Beratungsstellen) oder funktionelle (im Zusammenhang komplexerer pädagogischer Vorgänge) Beratung handelt – eine in der einschlägigen Literatur geläufige Unterscheidung übrigens, die wir hier nur deshalb nicht expliziert haben, weil sie für unsere Absicht, das Gemeinsame aller Beratungstätigkeit zu bestimmen, wenig zweckmäßig gewesen wäre. Für jede Form institutioneller Beratung spielen die Inhalte – man denke nur an die Didaktik der Berufsberatung – eine bedeutende Rolle.
[021:48] Die didaktische Reflexion ist durch diese Struktur des pädagogischen Verlaufs von vornherein Sache des Praktikers, und zwar als Teil der Praxis selbst. Das macht die große Schwierigkeit aus, vor der jeder Berater beständig steht, eine Schwierigkeit deshalb, weil diese Situation ein hohes Maß an pädagogischer Reflexion, an Distanzierungs- und Objektivierungsfähigkeit voraussetzt und wahrscheinlich weit weniger mechanisierbar und in technischem Sinne methodisierbar ist als die unterrichtende Tätigkeit.
[021:49] Damit soll allerdings nicht gesagt sein, daß sich die Beratungsinhalte nicht in Klassen zusammenfassen ließen und es so etwas geben könne, wie einen gegenständlichen didaktischen Kanon auch hier, zum Beispiel den Kanon möglicher Gegenstände einer Berufsberatung, möglicher Gegenstände in Beratungssituationen eines Heims der offenen Tür, einer Abschlußklasse der höheren Schule. Das ergibt sich schon aus der Funktion der Beratung als Information. Der vorläufige Charakter solcher Inhalte ist indessen unübersehbar: was als Gegenstand im einzelnen Beratungsfall fungiert, ist immer die besondere Lebensproblematik des einzelnen Ratsuchenden, ist nicht der Beruf, die Freizeit, die Sexualität, das politische Verhalten usw., sondern die spezielle Situation des ratsuchenden Subjektes, in die zwar die allgemeinen Bedingungen seiner gesellschaftlichen Existenz mit eingehen, aber ausschließlich in der subjektiven und individuellen Darstellung zum Gegenstand und Inhalt der Beratung werden. Das schließt nicht aus, sondern nachdrücklich ein, daß im Beratungsvorgang gerade jene objektiven gesellschaftlichen Bedingungen als Bedingungen der eigenen Problematik zum Bewußtsein gebracht werden.
[021:50] Da der Bildungsinhalt von Beratungsvorgängen nichts anderes ist als das unmittelbar dargestellte Problem der eigenen Lebensführung, nichts anderes als die Diagnose der eigenen Lage bzw. deren Bedingungen, ist die Beratung der exponierteste Teil einer modernen Bildung, dadurch nämlich, daß sie Aufklärung ist im fast reinen Fall.