Schlußworte der Gildentagung vom 26. bis 23. Mai 1965 [Textfassung a]
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Schlußworte der Gildentagung vom 26. bis 30. Mai 1965

[023:1] Kinder laufen ängstlich über die Straße. Im Warenhaus werden Bikinis an Achtjährige verkauft. Sachbearbeiter treffen einsame Entscheidungen. Väter erwarten vom Heim, daß es das Böse austreibt. Sozialarbeiter unterliegen der Gehorsamspflicht. Schüler sollen Hochhuth nicht lesen. Die moralischen Werte müssen in jedem Fall erhalten bleiben.
[023:2] Lolita sollen Jugendliche nicht lesen, aber die Bücher von Oberst Rudel sind unbedenklich. Alete macht glückliche Kinder. Sie sollen einmal mündige Bürger werden, aber Ordnung muß sein. Wohlfahrtsschüler sollen Verantwortung übernehmen, aber dürfen nicht demonstrieren.
[023:3] Wo die Verwaltung ist, ist oben. Autoritär sind immer die anderen. Aber die Schuldgefühle bleiben. Man will sich partnerschaftlich verhalten; aber die Wirtschaft braucht das Konkurrenzprinzip. Die materielle Entwicklung schreitet fort, aber wohin? Das deutsche Lesebuch hat ungefähr den Wortschatz der Bildzeitung. Schon das Lesen der Illustrierten
Der Stern
bedeutet für viele eine ungewohnte Anstrengung. Wir haben nichts mehr gegen Freud, aber immer wieder mißlingt uns die Reflexion.
[023:4] Wir hätten zu Beginn der Tagung das Thema mit etwa einer solchen oder ähnlichen Reihung beginnen können. So angeordnet wie hier sind sie plakathaft, impressionistisch, sind sie eigentlich nicht eine Beschreibung dessen, was ist. Aber sie sind vielleicht eine Beschreibung dessen, was zunächst unsere Vorstellung von dem Thema war, vielleicht nicht durchgehend, aber doch wohl streckenweise. Wir wissen jetzt, am Ende unseres fragmentarischen Unternehmens, daß man dem Phänomen der autoritären Strukturen nur auf die Schliche kommt, wenn man solche Impressionen auflöst. Wie mühselig solche Auflösung ist, so amüsant sie sein mag, das, glaube ich, haben wir alle erfahren.
[023:5] Wie war der Gang unserer Erfahrung?
[023:6] Wir kamen hierher in der, zum Teil vielleicht, unerschütterlichen Meinung, daß autoritäre Strukturen etwas schlicht Verwerfliches, ja etwas Gefährliches seien, und wir kamen hierher zugleich in dem Optimismus, man brauchte sich das nur einmal recht klar zu machen, um sie überwinden zu können. Die Diskussion der drei vervielfältigten Texte zu Beginn der Tagung setzte uns daher auf die schöne Spur der Einmütigkeit. Diese Einmütigkeit aber war ein Schein.
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[023:7] Die Referate nämlich – und das war der zweite Schritt der Tagung – haben uns geradezu schockartig darüber belehrt, daß der Anlauf, den wir für unsere Überlegungen genommen hatten, zu kurz war. Unser Engagement reichte zwar aus, dasjenige ausfindig zu machen, was uns an unmittelbarer autoritärer Bedrückung offen entgegentritt. Es hatte uns aber auch blind gemacht dafür, daß unser Thema es notwendig mit Phänomenen, Entwicklungen und Systemen zu tun hat, die hinter solcher Alltagserfahrung stehen und die keinesfalls so eindeutig ein Ziel leichter Kritik sein können. Wir haben erfahren, daß Analyse autoritärer Strukturen im Grunde bedeutet: Analyse unserer Gesellschaft, ihrer Institutionen und der in ihr oder in ihnen miteinander verbundenen Individuen.
[023:8] Erst diese durch die Referate geleistete Verbindung von Engagement und leidenschaftsloser Analyse, die Verbindung unserer alltäglichen Erfahrung mit dem, was beständig unsichtbar und verdeckt hinter dieser Erfahrung steht, ermöglichte, den dritten Schritt der Tagung, nämlich die Frage nach denjenigen Strukturen in der Gesellschaft, die autoritäres Verhalten und autoritäre Normen begünstigen, sie am Leben erhalten, sie hervorbringen helfen, etwa
  • [023:9] die mangelhafte parlamentarische Kontrolle –
  • [023:10] das Neben- oder Ineinander von rationalen Verwaltungssystemen und irrationalen Motiven derer, die es ausfüllen –
  • [023:11] die autoritären Erwartungshaltungen, die die Öffentlichkeit den Heimen, den Fürsorgeinstanzen, der Bewährunghilfe usw. entgegenbringt –
  • [023:12] die Struktur von Interessengruppen, die zugleich Machtansprüche stellen und Träger sozialer Arbeit sind –
  • [023:13] die Gefahr, daß auch demokratische Regeln und sogenannte partnerschaftliche Beziehungen in den Dienst autoritärer Zwecke gestellt werden können –
  • [023:14] die Unfähigkeit von Sozialarbeitern und Klienten, die Chancen, die durch die Gesetzgebung der Verwaltung eingeräumt werden, nicht zu nutzen, sondern sich auf die leichter zu handhabenden Schemata autoritären Verhaltens zurückzuziehen –
  • [023:15] das Fehlen von Muße und Zeit –
  • [023:16] die Tatsache, daß nicht-autoritäres Verhalten schwerer ist als autoritäres Verhalten –
  • [023:17] die sozialen Tabus, die das Nachdenken verhindern –
  • [023:18] die Meinung, das Gemeinwohl zu vertreten, wo es sich nur um partielle Interessen handelt – etc.
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[023:19] Dies war der dritte Schritt; gab es einen vierten? Stimmt es, was gestern gesagt wurde, daß der Versuch zu diesem Schritt in der Verworrenheit der Meinungen und Argumente steckenblieb? Ich glaube es nicht. Vielmehr glaube ich dies: daß die Diskussion am Sonnabendvormittag genau den Punkt bezeichnete, an dem die Reflexion, die wir zu durchlaufen versuchten, am schwierigsten wurde, und zwar deshalb, weil unsere Vernunft sich weigerte, in der düsteren Diagnose zu verharren, weil unser Denken sich verhaspelte in dem Versuch, aus der Diagnose heraus zum Handeln zu kommen, weil dieser Versuch wenig Hoffnung sah, dennoch aber wußte, daß er vernünftig war, weil – wie Frau Fromman es formulierte – unsere Intelligenz an den Charakter stieß.
[023:20] Was heißt das, und warum meine ich, daß dieser Versuch vernünftig war und daß dieses Sichverhaspeln der Vernunft oder unserer Gedanken an diesem Vormittag seine Ursache in der Vernunft hat?
[023:21] Warum sind wir eigentlich gegen autoritäre Strukturen? Weil wir schlecht angepaßt sind? Weil wir Außenseiter sind? Weil wir in unserer Kindheit eine großzügigere Reinlichkeitsdressur erfahren haben als andere? Weil wir etwas von der parlamentarischen Demokratie halten? Oder weil wir es als unangenehm empfinden, wenn andere uns bevormunden?
[023:22] Niemand wird im Ernst meinen, daß dies Motive sind, die einigen Bestand haben. Ich glaube deshalb auch, daß es etwas anderes ist. Ich glaube, daß wir deshalb die autoritären Strukturen verwerfen und sie überwinden wollen, weil wir alle beständig eine Utopie vom glücklichen Leben entwickeln. Diese Utopie, scheint mir, ist der Motor dieser Tagung. In dieser Utopie steckt Vernunft, weil die Vernunft immer nach einem Leben ohne Unterdrückung, ohne Dogmatismus trachtet, weil die Vernunft Frieden will, weil sie Glück will. Noch der autoritärste Charakter, noch das autoritärste System reflektiert darauf, daß die Unterworfenen so etwas wollen. Der Wortschatz der Demokratien und der Unterdrückenden ist in diesem Punkte bemerkenswerterweise gleich.
[023:23] Was heißt aber nun hier Utopie? Das heißt, das zeigt sich in diesem Streben nach Vernunft, daß wir immer etwas Besseres denken können, als das, was unsere Praxis ist. Ja, wir können nicht nur etwas Besseres denken, sondern wir werden gleichsam getrieben, aus der Praxis heraus, das Bessere zu denken. Wenn wir es schon nicht realisieren können, so versuchen wir es doch wenigstens zu denken. Aber hier steckt eine große Schwierigkeit, eine Schwierigkeit, der nicht selten Sozialarbeit und alles, was mit Erziehung befaßt ist, verfällt. Offenbar ist die Welt so, daß die Utopie auch im glücklichsten Fall ihren utopischen Charakter nie ganz verliert. Wenn die Verhältnisse so stabil werden, daß auch der, der die Utopie zu denken versucht, selbst kaum noch Möglichkeiten ihrer Realisierung sieht, kann die Utopie in Resignation umschlagen. Sie verzichtet dann auf diese Entwürfe und beschränkt sich auf das, was nun gerade heute einmal möglich ist, ohne eine Perspektive zu entwickeln. Aber genau die Tatsache, das hier mit einer solchen resignativen Selbstbeschränkung und Nichtabfindenwollen zeigt, daß eben diese Utopie derjenige Motor ist, der – glaube ich – nicht nur diese Tagung, sondern alle Tagungen überhaupt in Gang hält.
[023:24] Aber schlimmer als die Resignation ist die schlechte Utopie. Die schlechte Utopie, die dann entsteht, wenn man vor den gewerkschaftlichen Bedingungen zu scheitern meint, |a 8|wenn man resigniert vor der Möglichkeit, etwas zu leisten, und statt dessen sich zurückzieht auf Partnerschaftlichkeit, auf Mitmenschlichkeit, indem man versucht, hier nun im rein Menschlichen miteinander von Sozialarbeiter und Klient, von Erzieher und jungen Menschen das zu verwirklichen, was in der Gesellschaft einem ständig versagt wird. Sozialarbeit und Erziehung wird so zur Kompensation eines resignierten Bewußtseins, zur schlechten Utopie, zur Ideologie.
[023:25] Das scheint mir die größte Gefahr, in dem die Sozialarbeit steht, an diesem Punkt des Gedankenganges. Stehen wir damit vor einer Mauer, vor einer unübersteigbaren Grenze? Ich glaube nicht, ich glaube vielmehr, daß Theorie von der Mitmenschlichkeit diese Mauer nur verschleiern hilft, indem sie uns einredet, diesseits der Mauer sei auch etwas zu erreichen. Die Mauer aber ist übersteigbar, und unsere Praxis wird nur realistisch, wenn wir die Übersteigbarkeit der Mauer mit reflektieren, denn – seit Marx kann man das nie deutlich genug wiederholen – wir sind die Subjekte unserer Geschichte, auch wenn wir es häufig nicht wissen, aber wir können davon erst einen rechten und einen vernünftigen Gebrauch machen, wenn wir es wissen.
[023:26] An dieser Stelle nun wird eigentlich deutlich, was eine Tagung leisten kann, die so versucht, sich strikt auf Kritik zu beschränken. Mir scheint manchmal, daß die Vernunft heute nur noch als Negation auftreten kann, d. h., daß die gesellschaftlichen Verhältnisse einen Zustand erreicht haben, dem nur noch mit entschiedener Kritik zu begegnen ist, ohne ihm ein gleichwertiges, ein positives Gegenbild entgegenzusetzen. Es ist interessant zum Beispiel, zu bemerken, wie die literarischen Utopien zunehmend negativistisch werden. Es gibt heute kaum noch positive Utopien, so wie es bis zu Marx eigentlich selbstverständlich gewesen ist. Orwell, Huxley und wie sie alle heißen, entwerfen Schreckbilder, entwerfen Visionen der Entwicklung, wie sie laufen würde, wenn wir nichts täten. Kaum noch erscheint das Positive. Das, glaube ich, liegt an den Umständen und an dem Zwang, in dem die vernünftige Reflexion sich heute befindet. Nur noch bei Pädagogen, bei Sozialarbeitern, bei Künstlern und bei Spiegel-Redakteuren findet sich der positive Charakter der Kritik.
[023:27] In einer solchen Rolle, in einer solchen Situation kann es kaum etwas Wichtiges geben, als so lange wie möglich bei der Kritik zu verharren, um wirklich die Widerstände, die sich entgegenstellen, nicht nur irgendwie zu bezeichnen oder zu orten, sondern sie genau zu beschreiben, um wirklich in kritische Analyse einzutreten, um wirklich die Schwierigkeiten zu sehen, die jene Grenze oder jene Mauer stellt. Der Verzicht auf eine solche Analyse würde nicht etwa das Handeln früher einsetzen lassen können, sondern würde den Realismus dieses Handelns schwächen, indem es beständig der Gefahr ausgesetzt wäre, kurzschlüssig in jenes Gefilde der Mitmenschlichkeit zurückzuweichen. Die kritische Analyse also stärkt den Realismus und verhindert, daß die Utopie zum bloßen Schein wird, zur beruhigenden Ideologie. Ja, sie erst macht unser utopisches Bewußtsein und das utopische Denken zu einem trächtigen.
[023:28] Das alles heißt, wenn wir denken wollen, wie eine andere Erziehung sein könnte; denn nur auf diesem Hintergrund, daß auch eine andere, eine bessere Erziehung sein könnte, geschieht ja die ganze Kritik. Wenn wir denken wollen, wie eine andere Erziehung sein könnte, müssen wir auch denken, wie eine andere Gesellschaft sein |a 9|kann. Dieser Zusammenhang ist nicht zu durchschauen. Das Glück der Kinder und Klienten ist nicht das Werk eines einzelnen Sozialarbeiters, sondern das Werk der ganzen Gesellschaft und, wie Pestalozzi sagt, das Werk seiner selbst. Das Anstoßen der Intelligenz an den Charakter, d. h. dieser Prozeß der Reflexion des in der Praxis stehenden Aufsichselber – ein Prozeß, in dem versucht wird, den unheilvollen Kreislauf des immer Gleichen einmal aufzubrechen – dieses Anstoßen der Intelligenz an den Charakter aber ist der Anfang, der als Analyse und Kritik, als Selbstreflexion und Reflexion der gesellschaftlichen Bedingungen beginnt. In die volle Utopie wird er freilich nicht führen, aber er ist eine notwendige Bedingung jedes zweiten und dritten Schrittes. Zum Schluß, damit Sie auch etwas Besseres hören, als was mir nur so einfällt, denn etwas Gedrucktes ist ja immer etwas besser, will ich Ihnen einen kurzen Abschnitt aus dem Buch vorlesen von Herbert Markuse,
Eros und Kultur
, der sich genau mit unserem Problem befaßt:
[023:29]
Sigmund Freud's These, daß Kultur und Zivilisation auf der permanenten Unterjochung der menschlichen Triebe beruhten, diese These Freud's ist unwidersprochen hingenommen worden. Seine Frage, ob das dabei dem einzelnen auferlegte Leid die Vorteile der Kultur aufwiege, wurde nicht allzu ernst genommen, um so weniger, als Freud selbst den Vorgang für unvermeidlich, für nicht rückgängig zu machen hielt. Die freie Befriedigung der Triebansprüche des Menschen ist unvereinbar mit einer kultivierten Gesellschaft. Triebverzicht und Aufschub der Befriedigung sind die Voraussetzungen des Fortschritts. Die individuelle Freiheit, meint Freud, ist kein Kulturgut. Das Glück muß der Disziplin der Arbeit als Volltagsbeschäftigung untergeordnet werden, der Disziplin der monogamen Fortpflanzung dem geltenden System von Recht und Ordnung. Die methodische Aufopferung der Libido, ihre strikt erzwungene Ablenkung auf sozial nutzbringende Tätigkeiten und Ausdrucksformen ist Kultur. Das Opfer hat sich bezahlt gemacht. In den technisch entwickelten Gebieten ist die Unterwerfung der Natur fast vollständig gelungen. Höhere Bedürfnisse einer größeren Anzahl von Menschen als je zuvor werden befriedigt. Weder Mechanisierung noch die Standardisierung des Lebens, noch die seelische Verarmung, noch die wachsende Destruktivität des modernen Fortschritts bieten genügend Grund, um an dem Prinzip zu zweifeln, unter dessen Regiment der Fortschritt der westlichen Kultur sich entwickelte. Die ständige Steigerung der Produktivität läßt das Versprechen eines sogar noch verbesserten Lebensstandards für alle als durchaus realistisch erscheinen. Allerdings scheint der immer intensivere Fortschritt mit einer Intensivierung der Unfreiheit verknüpft zu sein. Überall in der Welt der industriellen Zivilisation ist die Beherrschung des Menschen durch den Menschen nach Ausmaß und Wirkung im Wachsen begriffen. Auch erscheint diese Tendenz nicht als ein zufälliger, voübergehender Rückschritt auf dem Wege des Fortschritts. Konzentrationslager, Massenvernichtung, Weltkriege, Atombomben sind kein Rückfall in die Barbarei, sondern die hemmungslose Auswirkung der Errungenschaften der modernen Wissenschaft, Technik und Herrschaftsform über Menschen. Und diese erfolgreichste Unterwerfung und Vernichtung des Menschen durch den Menschen geschieht auf der Höhe der Kultur in einem Zeitpunkt, wo die materiellen und intellektuellen Errungenschaften der Menschheit die Schaffung einer wirklich freien Welt zu erlauben scheinen.