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Was ist Erziehung?
Theodor
Wilhelm zum 60. Geburtstag
[025:1] Man kann sehen: Kinder auf einem Spielplatz, wie sie Löcher graben;
Großmütter sitzen am Rand, sie lesen die Morgenpost; einen kleinen Jungen, er hat ein
Spielauto an sich gedrückt, er weint. Man kann Mütter sehen, die sich mit ihren
Kindern nicht getrauen, die Straße zu überqueren.
„Alete“
macht glückliche
Kinder. Hinter einer Schule quillt der Pausenlärm hervor; Kinder drängeln sich
in einen Omnibus; Kinder sitzen vor dem Bildschirm, stehen vor den
Anschlagsäulen und Kinoanzeigen; durch offene Fenster kann man hören, wie Kinder
bestraft werden, Erwachsene sich streiten. In der Regel wird das vom
Verkehrslärm übertönt. Kinder, habt ihr Glück, daß es Kinderkleidung von Diolen gibt. Jugendliche kommen müde
von der Arbeitsstelle, sitzen erschöpft im Omnibus. Die Dame, die gerade vom
Kaffeetrinken kommt, empört sich über
„diese Jugend“
, die ihr keinen Platz anbietet. Junge Mütter, selbst noch jugendlich, bringen ihre Kinder in den Kindergarten; zum Abschied bleibt wenig Zeit, die Frau muß arbeiten. Die Warteliste der Erziehungsberatungsstelle ist überfüllt. Der Strom jugendlicher Berlin-Besucher reißt nicht ab. 17jährige sitzen im Gefängnis in Einzelzellen, liegen in Catania und St. Maxim in der Sonne, werden braun und schlafen mit ihren Freundinnen; sie sind
Angestellte in guten Anzügen, lesen und sehen vom glücklichen Leben, natürlich
keine Krawattenmuffel – aber wo bleibt das Glück?
[025:2] Oder: Im Warenhaus werden zweiteilige Badeanzüge für 8jährige Mädchen
verkauft; die 15jährigen dürfen
„Lolita“
nicht lesen, aber die Bücher von Oberst Rudel. Dokumentarfilme über den Krieg enthält man ihnen vor, in den Spielzeugläden reihen sich die Panzer und Raketenrampen. Jugendliche fallen unter das Jugendschutzgesetz, aber arbeiten müssen sie wie Erwachsene. Sie verdienen viel Geld, aber sie dürfen es nicht frei ausgeben. Sie haben angeblich keine Ideale, also geben wir ihnen Ostland-Parolen. Die Kinder sollen einmal freie Bürger werden, aber
Gehorsam muß sein.
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[025:3] Oder: Jährlich werden in der Bundesrepublik 12 000 Mädchen unter 16
Jahren Mütter; über 60 Prozent der Jugendlichen wechseln ihren Beruf; 48 Prozent
sind in Jugendverbänden organisiert; 5 Prozent der Studenten sind Arbeiterkinder; jeder Jugendliche geht durchschnittlich
dreimal im Monat ins Kino; 12 Prozent der Kinder im Schuleintrittsalter sind
nicht schulreif – oder was immer die Statistik sonst zu sagen weiß.
[025:4] Oder: Der Wortschatz der Bildzeitung ist der Wortschatz des deutschen Lesebuches. Schon die
Illustrierte
„Stern“
zu lesen, ist für viele eine ungewohnte Anstrengung.
Die Jugend soll ihre Freizeit
„gestalten“
, aber den
Erwachsenen fällt nichts ein. Die Kinder sollen auf die
„Freiheit“
vorbereitet werden, aber wir bauen den Familien zu kleine
Wohnungen. Kinder und junge Menschen bevölkern die Reklameanzeigen. Das
angenehme Leben ist zum Greifen nahe.
[025:5] Worauf beziehen sich alle diese Aussagen? Besteht zwischen ihnen ein
Zusammenhang, der nicht nur der Zusammenhang eines Textes, sondern auch der
Zusammenhang einer Sache ist, die unabhängig von diesem Text existiert? Wie
komme ich dazu, so unterschiedliche Feststellungen wie die über die Lektüre von
Großmüttern, den Jugendstrafvollzug und die Ferien junger Leute in Sizilien in
einem Atem zu machen – so, als handele es sich dabei um eine Sache oder doch um sehr eng zusammenhängende
Sachen?
[025:6] Der Zusammenhang dieser Sätze wird uns nur deutlich, sofern wir uns
erinnern, und zwar, sofern wir uns an ein Stück gesellschaftlicher Praxis
erinnern, deren handelnder oder leidender Teil wir sind oder gewesen sind. In
dieser Erinnerung steckt die Wurzel des Begriffs der Sache, von der wir hier zu
handeln haben, der Sache
„Erziehung“
nämlich.
[025:7] Diese Erinnerung und diese Wurzel des Begriffs der Sache ist nun nicht
eine beliebige, vielleicht selbst wieder zufällige, rein subjektive, die von den
Zufällen eines individuellen Daseins allein bestimmt wäre. Diese Erinnerung ist
vielmehr gesellschaftlich vermittelt. Was heißt das?
[025:8] Bittet man beliebige einzelne, zum Beispiel Studenten zu Beginn ihres
Studiums, um die Beschreibung eines pädagogischen Problems oder einer
pädagogischen Situation, dann bekommt man in der Regel ein Material zusammen,
das aus familiären Konfliktbeschreibungen, Beschreibungen von Strafsituationen,
Disziplinarfällen aus der Schule, Lob und Tadel oder ähnlichem besteht. Die
Erinnerungen, die dabei ans Licht kommen, sind alle aus dem gesellschaftlichen
Zusammenhang gelöst, sie haben einen gleichsam punktuellen Charakter, sie sind
nicht mit gleichzeitigen gesellschaftlichen Daten oder Erinnerungen verbunden,
sondern allenfalls mit dem, was davor lag und danach kam, also verbunden in
einem subjektiv biographischen Zusammenhang.
[025:9] Das kommt zum Vorschein als unmittelbare Reaktion auf die Reizworte
„Erziehung“
oder
„pädagogisch“
. Wie sich
aber in der Reflexion auf solche Beschreibungen zeigt, steckt in der Erinnerung
weit mehr als nur das Aufgehobensein eines einzelnen Vorfalles, mehr als die
zufällige subjektive Erfahrung des Berichterstatters. Analysiert man zum
Beispiel die Erinnerung an einen strafenden Vater, dann findet man nicht nur
eine gewisse Regelhaftigkeit des Strafaktes selber, die vielleicht aus einer vom
Subjekt unabhängigen Erziehungssitte zu verstehen wäre. |a 161|Man findet dann auch, daß dieser Akt gar nicht verständlich wird, wenn ich mir
nicht auch die Vaterrolle in dieser Gesellschaft, die Rollenverteilung innerhalb der Familie, die Identifikationen
mit vaterähnlichen Erscheinungen dieser Gesellschaft, die Rolle der Autorität in
der Familie und vieles andere verdeutliche. Erst im Zusammenhang solcher
„Erinnerungen“
, erst im Kontext einer weiteren
gesellschaftlichen Praxis wird das einzelne Phänomen wirklich, erscheint es dem
Bewußtsein als das, was es ist, stellt sich allmählich sein Begriff her.
[025:10] Der Begriff der Sache Erziehung ist also nicht identisch mit der
landläufigen Bedeutung, die der gleichlautende Ausdruck hat. Auch das bedarf
einer etwas näheren Erläuterung.
[025:11] Die Etymologie kann uns hier böse Streiche spielen, einfach deshalb, weil ein über
Epochen hinweg sich haltendes Wort uns suggerieren könnte, auch die Sache, die
diesem Wort entspricht, sei gleich, Erziehung sei eben immer Erziehung. Das Wort
hat seine Wurzel in
„ziehen“
und
„Zucht“
,
beides Wörter, die im mittelhochdeutschen Sprachzeitraum noch für
„erzieherische“
Sachverhalte verwandt wurden. Noch im 19.
Jahrhundert sprach man von Ziehkindern, von Kindern, die keine leiblichen Kinder
waren, sondern nur zu Pflege und Erziehung anvertraut. Die beiden Worte
„ziehen“
und
„Zucht“
stammen aber
bezeichnenderweise aus dem Umgang mit Tieren, wo sie heute noch ihren Ort haben:
„Ziehen“
und
„Zucht“
bedeuten das
Herausziehen des neugeborenen Tieres aus dem Mutterleib und seine Aufzucht, also
das Gewöhnen an die Bedingungen einer domestizierenden Tierhaltung. Unter
bestimmten gesellschaftlichen Umständen nun ist es nicht weit zur Übertragung
dieser Worte auf Phänomene des menschlichen Daseins: Auch das Handeln des
Erwachsenen am neugeborenen Kind kann verstanden werden als ein Vorgang des
Eingewöhnens und Einfügens des jungen Menschen in einen gegebenen
„Domestikationszusammenhang“
, das heißt hier: in einen
Zusammenhang von Verhaltensregeln, von Sitte, Gesetz, überhaupt von gegebener
Ordnung, von Tugenden und leitenden Vorstellungen. Die Analogie ist nicht so
absurd, wie es uns heute scheinen könnte. Dieses Einfügen geschieht durch Akte
einzelner Erwachsener, durch Vater und Mutter, vielleicht auch durch den
Lehrherren, vielleicht auch durch einen religiösen Repräsentanten. Die Kontakte,
die der junge Mensch erfährt, sind durchweg persönlicher Natur, weil das soziale
Feld, in dem er lebt, ein durch Personen gegliedertes Feld ist. Was ihm an
Tradition, an Verhaltensansprüchen, Leitvorstellungen und Werten gegenübertritt,
ist durchweg persönlich vermittelt. Es ist, unter solchen Umständen, sinnvoll,
Erziehung nur das zu nennen, was in persönlichen Akten zwischen einem
Erwachsenen und einem Unerwachsenen als gezielte Einwirkung sich auf diesen, den Unerwachsenen,
richtet. Diese Bedeutung des Ausdrucks
„Erziehung“
hat sich
im wesentlichen bis heute erhalten, wenn man von den personalistischen
Modifikationen absieht, die er erfahren hat, vor allem unter dem Einfluß der
Existenzphilosophie.
[025:12] Inzwischen hat sich die Gesellschaft entscheidend verändert. Verändert
hat sich die gesellschaftliche Praxis, die ein Ausdruck wie
„Erziehung“
bezeichnen will. Und das begann bereits am Ausgang des 18.
Jahrhunderts, am Ausgang derjenigen Entwicklungen der Gesellschaft, die wir
gewohnt sind, in den Begriffen Industrialisierung
und Demokratisierung uns verständlich zu machen. Damals bereits wurde deutlich,
daß diejenigen Phänomene, die es mit jenem Einfügen der heranwachsen|a 162|den Generation in die Gesellschaft zu tun haben, mit dem
herkömmlichen Begriff von Erziehung nicht mehr zu fassen sind. Es entstand
zusätzlich der Begriff der Bildung, dessen Problematik ich an dieser Stelle
nicht explizieren kann. Seitdem versucht die deutsche Erziehungstheorie, ihren
Gegenstand durch das Begriffspaar
„Erziehung und Bildung“
zu
benennen.
[025:13] Dessen ungeachtet, treibt der alte Erziehungsbegriff sein Wesen in der
unreflektierten, weil die gesellschaftlichen Bedingungen nicht mitbedenkenden,
Alltagssprache. Wir beobachten hier, was die Soziologie für andere kulturelle
Phänomene nachgewiesen hat: einen
„cultural
lag“
, ein kulturelles Nachhinken des pädagogischen Bewußtseins hinter der
gesamtgesellschaftlichen Entwicklung.
[025:14] Dieses Nachhinken offenbart sich in den erwähnten Beschreibungen, mit
denen eine pädagogische Situation dargestellt werden soll. Obwohl also der
Begriff in der Erinnerung an die erlebte Praxis, die ja eine Praxis von heute
ist, seine Wurzel hat, bleibt er doch unvollkommen, ja falsch, solange das
Subjekt dieser Erinnerung die Erinnerung nicht aufklärt, das heißt, solange es
in subjektiver Befangenheit die Bedingungen jener Praxis und deren
komplexen Zusammenhang wie auch die Bedingungen dieser Erinnerung nicht
reflektiert.
[025:15] Der Erziehungsbegriff und das gesellschaftliche Gesamtsystem, für das
er gilt, sind also unabhängig voneinander nicht zu denken. Erziehungstheorie und
Gesellschaftstheorie gehören zueinander. Erziehungswissenschaft ist eine
Sozialwissenschaft. Wir müssen die Gesellschaft kennen, um zu ermitteln, was in
ihr Erziehung heißen kann.
[025:16] Der gegenwärtige Erziehungsbegriff – und das habe ich in den
einleitenden Impressionen anzudeuten versucht – ist vornehmlich durch drei
formale Merkmale bestimmt:
-
1.
[025:17] Seine Ausdehnung. Es wäre eine
willkürliche und zudem gefährliche Verengung, wollten wir unter Erziehung
nur diejenigen Vorgänge verstehen, die als persönliche Beeinflussungen in
Familie und Schule, allenfalls noch in den ersten Berufsjahren stattfinden.
Schon seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts hat sich das ganze System von
Maßnahmen und Einrichtungen, die der Eingliederung der jungen Generation in
die Gesellschaft dienen, enorm erweitert: Unser Erziehungssystem ist ein höchst komplexes Gebilde geworden,
das nicht nur aus persönlichen Akten und Hilfen besteht, sondern auch aus
einem funktionellen Arrangement von Bedingungen, die das Heranwachsen
ermöglichen und sichern sollen; institutionell wird das am deutlichsten
dadurch, daß der Schulbehörde seit mehr als 40 Jahren eine zweite
Erziehungsbehörde nebengeordnet ist: das Jugendamt. Arbeitszeitverkürzung,
Regelung des Urlaubs für Jugendliche, Einrichtung von Kinderspielplätzen,
Jugendtourismus, Familienberatung sind pädagogisch nicht weniger
bedeutungsvoll als Probleme der Heimatkunde, der Einführung der
Prozentrechnung oder der Frage, ob die Reinlichkeitsdressur von Säuglingen
besser im 13. oder im 18. Monat einzusetzen habe.
-
2.
[025:18] Seine Differenziertheit. Erziehung
geschieht nicht nur in einer, sondern in vielen
Ebenen. Die traditionellen Erziehungsfelder, die eindeutig-konkreten
Sozialformen, in denen sie geschieht, sind gleichsam durchlöchert. Erziehung
geschieht |a 163|unter dem Eindruck der Öffentlichkeit. Die
Faktoren, die innerhalb der Familie auf die heranwachsenden Kinder
einwirken, die das Heranwachsen befördern, hemmen, umbiegen oder auf andere
Weise beeinflussen, sind nicht nur der Zahl nach mehr, sondern auch der Art
nach andere geworden. Die Anwesenheit von technischen Geräten, die
Notwendigkeit, separate Kinderzimmer zu halten, das Fehlen eines Spielraums
in der unmittelbaren Umgebung des Hauses, die Anwesenheit von
Massenkommunikationsmitteln wie Rundfunk, Fernsehen, Presseprodukte, daraus
ergibt sich insgesamt ein Komplex von Beeinflussungen, der von großer
Vielschichtigkeit ist. Was für die Familie gilt, gilt für die Schule nicht
minder. Die Institution Schule ist heute etwas qualitativ anderes als das,
was etwa Pestalozzi oder
Herbart sich vorstellen
konnten, wenn sie davon sprachen. Beide Phänomene, obwohl sie mit dem
gleichen Ausdruck benannt werden, haben kaum mehr gemein als die Tatsache,
daß im einen wie im anderen Fall bei Anwesenheit von mehr als fünf Kindern
eine bestimmte Klasse von Informationen vermittelt werden soll. Das Gewebe
von Zwängen, mit dem die Gesellschaft den einzelnen gefangen hält und in
ihre Bahnen lenkt, ist dichter geworden. Dieser Prozeß zunehmender
Vergesellschaftung kann den Begriff der Erziehung nicht unberührt lassen.
Eine Erziehungstheorie, die von solcher Veränderung in der Struktur aller
Erziehungsfelder keine Notiz nimmt, wird zu wenig ermunternden Aussagen
kommen. Sie wird, da sie in der Theorie einen vergangenen gesellschaftlichen
Zustand reproduziert, notwendig ein falsches Bewußtsein produzieren. Dieser
Gefahr ist die Erziehungswissenschaft nicht selten erlegen. Und dies ist
auch der Grund, warum heute Soziologie und Sozialpsychologie bisweilen mehr
über Erziehung zu sagen wissen als die Erziehungswissenschaft selbst.
-
3.
[025:19] Die innere Problematik des
Erziehungsbegriffes. In meinen einführenden Impressionen habe ich
nicht nur Urteile formuliert, in denen Wahrnehmungsinhalte zur Sprache
kommen wie
„Ich höre den Pausenlärm einer Schule“
,
sondern ich habe auch solche Sätze zitiert, in denen einem
Wahrnehmungsurteil ein Postulat entgegengesetzt wird, und solche, in denen
zwei Urteile oder Postulate in einem problematischen Verhältnis zueinander
stehen. Zum Beispiel:
„Die Kinder sollen freie Bürger werden, aber Gehorsam muß sein.“
Oder:
„
Sie dürfen
‚Lolita‘
nicht lesen,
aber die Bücher von Oberst Rudel.“
Was liegt hier vor? Kommt dadurch nicht ein
normatives Element in den Begriff hinein? Assoziiert sich da nicht mit dem
Versuch, das Faktische zu beschreiben, eine subjektive Setzung, eine
vielleicht ehrenwerte, aber hier besser zu vermeidende Option für ein bestimmtes Erziehungsziel? Handelt es sich hier nicht, statt
um wissenschaftliche Beschreibung und Analyse, vielmehr um Wertungen?
[025:20] Nun – solche Sätze spielen auf eine bemerkenswerte Differenz im
Erziehungsbegriff selbst an. Es wäre nämlich eine unserem Bewußtsein
unangemessene Verkürzung, würden wir den Erziehungsbegriff nur als dasjenige
fassen, was sich als einschlägige Phänomene und Vorgänge der Wahrnehmung zeigt.
Der Begriff der Erziehung enthält nämlich mehr als den Inbegriff des nur
Faktischen. Er enthält einen Anspruch der Vernunft,
das heißt heute: einen Anspruch auf Emanzipation. Was bedeutet das?
[025:21] Überall, wo erzogen wird, ist im Begriff dieser Tätigkeit nicht nur
der Komplex |a 164|von Maßnahmen, Einrichtungen und Handlungen
zusammengefaßt, die das Erwachsenwerden des jungen Menschen ermöglichen sollen,
sondern zugleich die damit zu leistende Aufgabe mitgemeint. Der
Erziehungsbegriff kann nur zureichend bestimmt werden im Hinblick auf den
Begriff des Erwachsenseins. Erst von diesem her wird die besondere pädagogische
Problematik einer Gesellschaft oder Kultur ganz verständlich, da er es ist, der
dem jeweiligen Erziehungssystem seine sinnvolle Ordnung, seine Struktur
verleiht. Erwachsensein bedeutet je etwas anderes in einer primitiven Kultur, in
der griechischen Antike, in der römischen res
publica, im mittelalterlichen Feudalismus, im absolutistischen
Gemeinwesen, in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft oder in einer
sozial sich demokratisierenden offenen Industriegesellschaft.
[025:22] Die problematische Differenz im gegenwärtigen Erziehungsbegriff, von der ich gesprochen habe, ergibt sich nun aus dem besonderen Begriff des Erwachsenseins, der in unserer Gesellschaft gilt. Diese Differenz hat ihren geschichtlich-gesellschaftlichen Ursprung in den Emanzipationsbewegungen seit der Aufklärung. Seitdem enthält der Begriff des Erwachsenseins heterogene Elemente. Er bezeichnet nicht – wie noch am eindeutigsten in primitiven Gesellschaften – die pure Übereinstimmung
des Bewußtseins und Verhaltensstils eines einzelnen mit seinem sozialen Milieu,
sondern darüber hinaus auch die Fähigkeit, dieses Milieu zu verändern. Das setzt
Kritik voraus. Infolgedessen enthält auch der Erziehungsbegriff ein Element der
Kritik. Erziehung bedeutet nicht mehr nur Integration in ein gegebenes System
von Herrschaftsverhältnissen und Ordnungen, sondern ebenso Emanzipation aus
solchen Verhältnissen, Fähigkeit der Befreiung. Hier liegt vornehmlich die
Bedeutung der Erziehungstheorie Rousseaus. Sein
„Emile“
ist die entschlossene Abwendung
von einem in die Gesellschaft total integrierten Erwachsenenbegriff und der
Versuch, im Begriff des
„guten Kindes“
jene problematische
Differenz in das Erziehungsdenken einzubringen. Schleiermacher hat dann, 50 Jahre später, dieses Problem in systematischem Zusammenhang formuliert, indem er sagte, die Aufgabe der Erziehung sei es nicht nur, die Jugend tüchtig zu machen, das vorhandene Gute zu bewahren, sondern auch, sie instand zu setzen, in die gesellschaftlichen Verhältnisse verbessernd einzugreifen.
[025:23] Wenn es die Funktion der Erziehung ist, Kritik und
Veränderungsfähigkeit hervorzubringen nach Maßgabe eines Fortschrittes der
Emanzipation, muß auch die Erziehungstheorie genau diesen Sachverhalt beständig
bedenken. Sie muß eine Theorie emanzipierter Erziehung sein, oder genauer: die
Theorie einer Erziehung unter dem Anspruch der Emanzipation. Sie entfaltet sich
deshalb in dem Widerspruch wirklicher Unfreiheit und möglicher Freiheit. Sie
kann sich auf den schlichten Sachverhalt berufen, daß unser Begriff von einem
realisierbar glücklichen Dasein besser ist als dessen tägliche Faktizität.
Dieser Begriff des Besseren ist nicht irgendein der gesellschaftlichen Gegenwart
gegenübergestelltes freundliches Wunschbild ohne Aussicht auf Verwirklichung –
wie es etwa in den Utopien von Platon über Thomas Morus und Campanella bis Bacon der Fall war –, sondern ist ein
greifbar Realisierbares. Es schließt in der detaillierten Kritik der Gegenwart
unmittelbar an diese an, jedenfalls, wenn der Begriff der Demokratie irgendeine
Entsprechung im Bewußtsein und der Praxis der freien, das heißt der in
Emanzipation begriffenen Bürger haben soll.