„Sozialarbeit im Spannungsfeld gesellschaftlicher Konflikte –
Aspekte eines zukünftigen Selbstverständnisses“
Kurzfassung eines Vortrages bei der Sozialarbeitertagung 19.–22. Mai 1968 der Arbeiterwohlfahrt zu Braunschweig.
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1.[030:1] Der Ausdruck„Sozialarbeit“umfaßt eine Vielzahl von Hilfstätigkeiten, die durchaus verschieden und begrifflich nur schwer zusammenzufassen sind. Die Schwierigkeit wird besonders groß, wenn auch alle unter dem Namen Jugendhilfe oder Sozialpädagogik zusammengefaßten Tätigkeiten dazu gerechnet werden. Diese Verschiedenartigkeit hat sich schon immer in den Bezeichnungen ein|a 16|zelner Teilbereiche ausgedrückt, wie Jugendpflege, Jugendkriminalrechtspflege, Fürsorge, Jugendarbeit, Heimerziehung u. ä. Zudem unterscheiden sich die Tätigkeitsfelder und ‑arten in der Zielsetzung und den Verfahren, ja sogar in den Prinzipien: es gibt eindeutig erzieherische Tätigkeiten, auf den einzelnen gerichtete Beratungen, kollektive Hilfsmaßnahmen für soziale Gruppen, Tätigkeiten der sozialen Planung, ökonomische Hilfen u. a.
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2.[030:2] Solche Unterschiede sind keine Differenzierungen im Sinne einer Systematik. Es sind vielmehr Unterschiede, die aufgrund unterschiedlicher konkreter Hilfeaufgaben entstanden sind und unter dem Namen„Sozialarbeit“zusammengefaßt wurden. Es kann deshalb auch keine„Theorie der Sozialarbeit“geben.
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3.[030:3] Trotz der Verschiedenartigkeit der Tätigkeitsfelder aber hat es vom Beginn der Sozialarbeit an immer ein Berufsbewußtsein gegeben, in dem alle in diesem Aufgabenfeld Beteiligten sich verbunden fühlen. Dieses Berufsbewußtsein hatte seinen Schwerpunkt in der Formel, alle Sozialarbeit stellte sich in der Form persönlicher Hilfe für den sozial Schwachen dar. An dieser Formel ist folgendes bemerkenswert: Sie ist einmal der Ausdruck einer resignativen Anpassung an den Sachverhalt der bürgerlichen Gesellschaft, die dadurch akzeptiert wird. Sie ist zum anderen ideologisch darin, daß sie kollektive Konfliktlagen in persönlich-individuelle Phänomene uminterpretiert.
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4.[030:4] Diese ideologische Einheit im Selbstverständnis der Sozialarbeiter bekommt eine neue Gestalt dadurch, daß das ganze Feld der Sozialarbeiter sich arbeitsteilig differenziert, solche Differenzierung mit einer zunehmenden Professionalisierung einhergeht, eine neue Generation von Sozialarbeitern mit den alten sozialethischen Motiven sich nicht mehr identifizieren kann.
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5.[030:5] Diese Veränderung im Selbstverständnis scheint sich gegenwärtig vornehmlich in zwei Tendenzen auszudrücken: Das ganze Feld der Sozialarbeit wird zweigeteilt; die im engeren Sinne pädagogisch sich fühlenden Berufe oder Ausbildungsträger wollen sich als sozialpädagogisch verstehen – die eher fürsorgerisch sich verstehenden Berufe nehmen für sich den Begriff der Sozialarbeit im engeren Sinne in Anspruch. Diese Zweiteilung wird scheinbar gestützt durch die Möglichkeit, sich je auf einen besonderen theoretischen Hintergrund beziehen zu können: Auf die Pädagogik im einen und auf eine Technologie der Methoden der Sozialarbeit im anderen Fall.
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6.[030:6] Der Effekt solcher Zweiteilung ist neben anderem vermutlich eine fortschreitende Entpolitisierung der Sozialarbeit; sie wird zu einer immer spezialistischeren Hilfe am einzelnen, ohne die sozialen Konflikte, auf denen sie beruht, noch zu reflektieren. Die immer perfektere Technik der Hilfe wird zu nichts anderem als zu einem Instrument nachträglicher Anpassung.
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7.[030:7] Die unter dem Namen Sozialarbeit zusammengefaßten Tätigkeiten sind schon immer in besonderer Weise durch die Tatsache sozialer Konflikte bedingt gewesen: |a 17|Sozialarbeit hat es vornehmlich mit der Tatsache sozialer Unterprivilegierung zu tun;sie hat es zu tun mit dem moralischen Anspruch eines bürgerlichen Berufsstandes gegenüber Klienten, denen dieser Anspruch fremd ist;sie hat es zu tun mit einer Gesellschaft, die nicht wahrhaben will, was durch die Sozialarbeit immer wieder ans Licht gebracht wird;sie hat es zu tun mit der Tatsache, daß nicht ihre Klientel, sondern die Berufsgruppe der Sozialarbeiter selbst in besonderer Weise eine soziale Minorität darstellt.
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8.[030:8] Diese Konfliktlagen sind politischer Natur, denn sie betreffen die Struktur der Gesellschaft und den Funktionsort von Einrichtungen, die nicht nur persönliche Defizite einzelner Hilfsbedürftiger, sondern kollektive Defizite im Gefüge der Gesamtgesellschaft zum Gegenstand haben. Die These, daß Sozialarbeit persönliche Hilfe sei, hat deshalb nach wie vor eine ideologische Funktion: Sie verschleiert eben diesen Sachverhalt.
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9.[030:9] Der Antrag bedingt, daß die Tätigkeit der Sozialarbeiter durch soziale Interessen geleitet sein muß. Sein Interesse hat legitimen Anknüpfungspunkt im Interesse der von ihm Betreuten an der Emanzipation aus ihrer unterpriviligierten Lage. Das Thema seiner Tätigkeit ist deshalb nicht nur der Konflikt, seine Ursachen und seine Behebung, sondern das interessengeleitete Lernen der Klienten unter den Bedingungen sozialer Konflikte.